Balduin Groller
Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer. Band IV - VI
Balduin Groller

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Eine Verhaftung.

Man saß im Hause Grumbach im Rauchzimmer beisammen beim kleinen Schwarzen. Eine kleine Gesellschaft: der Hausherr Andreas Grumbach, der verdienstvolle Präsident des Klubs der Industriellen, seine anmutige Gemahlin Frau Violet und der alte getreue Hausfreund Dagobert Trostler.

Heute gab es nichts Neues zu erzählen. Dagobert hatte sich eine Zeit der Ruhe und der Erholung gegönnt, die er ja auch wohl verdient hatte, denn die letzten Wochen waren recht anstrengend gewesen und hatten seine geistigen und körperlichen Kräfte sehr in Anspruch genommen. Er hatte erst ein dunkles Verbrechen der Kindesunterschiebung und der damit verbundenen bedeutenden Vermögensentziehung, das vor nahezu sechzig Jahren begangen worden war, mit ungewöhnlichem Scharfsinn aufgehellt, und bald darauf war es ihm gelungen, einem groß angelegten verbrecherischen Börsenmanöver auf den Grund zu kommen, durch das alle europäischen Börsen erschüttert wurden, und das namentlich der Internationalen Kommission, deren Präsident ebenfalls Andreas Grumbach war, geradezu verhängnisvoll hätte werden können. Zu diesen Zwecken hatte er aber fast in ganz Europa herumkutschieren müssen. Da war es denn kein Wunder, wenn er sich hinterher ein wenig ruhebedürftig fühlte.

18 Ein leises Mißvergnügen ergriff die Hausfrau, als ihr die beiden Herren eröffneten, daß sie am nächsten Donnerstag – es wäre wieder der Tag Dagoberts gewesen – nicht bei und mit ihr speisen würden, da sie beide eine Einladung erhalten hätten, die nicht wohl abgelehnt werden konnte.

Frau Violet machte ein Mäulchen.

»Das sehe ich nun nicht ein,« entgegnete sie ein wenig gekränkt, »warum das nicht möglich sein soll, wenn man selbst schon Verpflichtungen hat. Von meinem Mann hätte ich erwarten dürfen, daß er sich auf den korrekten Standpunkt stellen werde, eine Einladung für sich allein nicht anzunehmen!«

»Liebes Kind,« beeilte sich der Hausherr sie zu beruhigen, »den korrekten Standpunkt habe ich sonst immer eingenommen, hier war es aber ein Ausnahmefall. Die Einladung lautete ausdrücklich für einen – Herrenabend.«

»Ach sooo! Ja dann – natürlich!«

»Du hegst wieder gleich den schwärzesten Verdacht, Violet. Mit Unrecht. Die Einladung lautet auf einen Herrenabend – bei Tage!«

»Das ist mir sehr gleichgültig, ob die Herren die Nacht zum Tage oder den Tag zur Nacht machen wollen. Daß sie – angeblich – unter sich sein wollen, das ist das Entscheidende. Bei so pikanten Unterhaltungen müssen wir natürlich zurückstehen. Natürlich, ich begreife vollkommen!«

»Dein Verdacht ist wirklich unbegründet, Violet. Es soll eine sehr harmlose garden-party werden.«

»Was es immer sei – du hattest die sehr triftige Entschuldigung, daß du selbst einen Gast hättest, und ebenso Dagobert, daß er bereits versagt sei. Aber ich 19 werde natürlich sofort in den Hintergrund geschoben, wenn sich etwas ›Besseres‹ bietet! Bitte, legt euch nur keinen Zwang auf, ich halte euch nicht!«

»Aber allergnädigste Frau Violet,« legte sich nun Dagobert ins Mittel, »es ging wirklich nicht anders! Baron Weisbach hat uns eingeladen. Er ist, wie Sie wissen, der Vizepräsident der Internationalen Kommission, und er ist bei fast allen anderen Gesellschaften Vizepräsident, an deren Spitze Ihr Gemahl steht. Da konnte Andreas gar nicht absagen.«

»Mein Gott – der neugebackene Baron!«

»Sie sollten nicht geringschätzig von ihm reden, Frau Violet; er verdient unsern Respekt. Mir hat er ein hübsches Wort auf meinen Glückwunsch geschrieben: Andere Aristokraten sind stolz auf ihren alten Adel, ich auf meinen jungen.«

»Wie ist das eigentlich zugegangen mit seiner ›Erhebung‹ in den Adelstand,« fragte Frau Violet, nun schon halb versöhnt.

»Es war eigentlich sehr hübsch. In Wien wie vielleicht in allen großen Städten herrscht Not an öffentlichen Krankenhäusern, insbesondere an Kinderspitälern. Eines schönen Tags griff nun Herr Weisbach – damals nur noch kurzweg Herr Weisbach und sonst nichts – in die Tasche und widmete eine Million für den Bau eines Kinderhospitals. Als dieses aber aufgerichtet stand und eingerichtet nach den neuesten Vorschriften und Errungenschaften der Wissenschaft und der Menschlichkeit, da griff Frau Weisbach, seine Gattin, ihrerseits in die Tasche und widmete ebenfalls eine Million zu dauernder Sicherung der Erhaltung und des Betriebes. Zur Eröffnungsfeier vor acht Tagen war auch der Kaiser mit Gefolge erschienen. 20 Als ihm der Stifter und die Stifterin vorgestellt wurden, sagte er: ›Herr Baron Weisbach, ich spreche Ihnen meine rückhaltlose Anerkennung, und Ihnen, Frau Baronin, meinen Dank für Ihre großherzige Tat aus.‹ Damit war die Nobilitierung vollzogen; in Österreich vielleicht der erste Fall der Nobilitierung vom Fleck weg.«

Frau Violet fand alles sehr nett, sowohl das von Weisbachs wie das vom Kaiser. Sie war auch über das andere schon ziemlich getröstet, nur einen Ausfall machte sie noch.

»Ich gebe zu,« sagte sie, »daß André nicht leicht absagen konnte, aber Sie, Dagobert, hätten sich ganz gut losschrauben können. Sie waren doch schon eingeladen!«

»Auch ich konnte mich nicht losmachen, Gnädigste. Denn eigentlich bin ich doch ein wenig schuld an allem.«

»Woran sollen Sie schuld sein?«

»An allem, an der Spitalsgründung und an der Baronie und so. Ganz eigentlich sind aber Sie, Frau Violet, an allem schuld!«

»Wie käme ich dazu?!«

»Ganz einfach. Sie wissen sehr wohl, Frau Violet, daß ich in Ihrem Auftrag alle Augenblicke mal fechten gehen muß für Ihre wohltätigen Vereine.«

»O, wenn Ihnen das eine Last ist, Dagobert –«

»Ich bitte – ich beklage mich nicht; ich stelle nur eine Tatsache fest. Mein erster Weg war immer zu Weisbach. Dort war ich immer sicher, etwas zu kriegen. Gewöhnlich tausend Kronen, manchmal auch zehntausend. Einmal haben wir ihm sogar zwanzigtausend Kronen abgedrückt. Dabei machte ich aber doch niemals ein so begeistertes Gesicht, wie er es 21 wohl erwartet haben mochte. Einmal machte er mir auch eine spitze Bemerkung darüber, ob denn das gar so selbstverständlich sei, daß er mir das Geld in den Rachen stopfe. Ich erwiderte, daß das gar nicht so selbstverständlich, sondern sehr schön von ihm und lobenswert sei, im allgemeinen müßte ich aber doch sagen, daß unsern reichen Leuten bei ihren Wohltätigkeitsakten der rechte Schwung und der große Zug fehle. Er sagte darauf nichts und sah mich nur an, wie einer, der wirklich nichts zu sagen hat. Über diesen Punkt war dann nicht wieder die Rede zwischen uns. Bei der Eröffnung vor acht Tagen aber nahm er mich auf die Seite und fragte mit unverkennbarer innerer Befriedigung in den Augen, ob mir nun das an ›Schwung‹ und ›Zug‹ genug sei.«

Frau Violet sah nun ein, daß allerdings auch Dagobert keine Absage schicken konnte, und fand sich darein, daß sie, wie sie scherzhaft bemerkte, am Donnerstag ihre Jugend einsam vertrauern solle. Dagobert antwortete ebenfalls scherzhaft mit einem seiner zwölf stehenden Witze: »Das Mittagsessen bleibt Ihnen deshalb nicht geschenkt, meine Gnädigste. Wie käme ich dazu? Mir schenkt doch auch niemand etwas. Ich werde mir also mein Teil, wenn's Ihnen recht ist, einen Tag später, am Freitag, herausessen.«

Frau Violet war damit sehr einverstanden. Sie ging sogar noch weiter; sie machte noch einen letzten Vorstoß, um wenigstens etwas von ihrem Donnerstag zu retten: »Mein Mann sagte, daß der Herrenabend am Tag abgehalten werden solle. Da könnte ja der Abend vielleicht wirklich noch frei werden. Ich will keine Spielverderberin sein und will nicht drängeln, aber wenn es nicht zu spät werden sollte, könnten 22 die Herren mir immer noch bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten. Bis zehn Uhr will ich gern warten.«

»Das ist eine glänzende Idee, Gnädigste!« rief Dagobert begeistert. »Nach einem scharfen Gefecht, und es dürfte ein solches werden, trinke ich immer noch gern eine Tasse Tee, und einen besseren als bei Ihnen, Frau Violet, kriege ich doch nirgends. Auch wird es nicht so spät werden, wie Sie meinen. Auf der Einladung heißt es deutlich ›10–6 Uhr‹. So klare Bestimmungen sind immer angenehm. Wir werden also ganz gut schon um sieben Uhr unseren Tee bei Ihnen nehmen und dabei gleich die Leute ein bisserl ausrichten können.«

* * *

Und so geschah es. Am Donnerstagabend – es war noch nicht einmal ganz sieben Uhr – traten die beiden Herren bei Frau Violet an und machten ungestüm ihre Rechte auf ihre Tasse Tee geltend. Sie waren sehr gut aufgelegt, insbesondere Herr Grumbach, der aus dem Lachen gar nicht herauskam. Ganz gegen seine sonstige ernste und würdige Gepflogenheit machte er massenhaft und wahllos »Witze«, die doch sehr gut gewesen sein müssen, sonst hätte er unmöglich so laut und so herzlich über sie lachen können.

Der Tee war bald besorgt, und nun saßen sie wieder vergnügt beisammen im Rauchzimmer. Frau Violet war schon furchtbar neugierig, und ihre erste Frage war natürlich: »Nun, wie war es?«

»O, es war einfach großartig!« erklärte der Hausherr, der nun das große Wort führte. Es war erstaunlich, wie er redselig geworden war. »Es war übrigens vorauszusehen, daß Weisbach – ach, 23 tausendmal um Entschuldigung! – Baron Weisbach – man wird sich doch daran gewöhnen müssen – eine elegante Wendung – was?!«

Die »elegante Wendung« schien ihm ausnehmend zu gefallen; er hörte gar nicht auf, über sie zu lachen.

»Die Beschränkung 10–6 war doch zweckmäßig,« wandte sich Dagobert, während Grumbach in seinem geräuschvollen Lachen fortpolterte, leise und mit einem Seitenblick auf ihn an Frau Violet, »guter Wein macht fröhlich!«

»Daß also Baron Weisbach,« nahm Grumbach wieder das Wort, »hahahaha – sehr gut – wo bin ich denn eigentlich stehengeblieben, und was habe ich nur sagen wollen?«

»Daß Baron Weisbach sich nicht lumpen lassen werde!« half Dagobert aus, der bei weitem mehr vertragen konnte als sein verehrter Freund.

»Richtig – sehr gut – das war's! Also alles großartig, fein, in großem Stile, seigneurial – gut gesagt, was?! – Der Mann versteht zu leben und Gäste zu empfangen. Und unterhalten haben wir uns – famos! Ich muß jetzt noch lachen.« – Und er lachte. »Das beste war – du hättest dabei sein sollen, Violet – wie uns Dagobert mit seiner Detektivwissenschaft die Zähne lang machte, und wie er dann einging wie böhmische Leinwand, als der Kriminalkommissar Dr. Weinlich erschien und einen brillanten Fang machte und Dagobert dasaß wie ein Häufchen Unglück. So blamiert hat sich noch selten ein Europäer!«

Grumbach schüttelte sich vor Lachen, als er daran dachte. Frau Violet aber machte große Augen. Was?! Da hatte es auch etwas Kriminelles gegeben?! Es ist doch merkwürdig, wo Dagobert hinkommt, ist so 24 was los. Sie war sehr gespannt, Näheres zu erfahren, hatte aber zu der Erzählungskunst ihres Gatten, zumal bei seiner momentanen Heiterkeit, kein besonderes Vertrauen. Sie wandte sich daher an Dagobert, daß er erzählen solle.

»Er wird dir nicht viel erzählen wollen, Violet,« fiel ihr Grumbach ins Wort, »denn diesmal ist er kläglich reingefallen. Er hat etwas angestellt, und nun sollte Weinlich drauf reinfallen. Der ist aber nicht reingefallen, sondern hat den Richtigen hopp genommen. Da hättest du Dagoberts Gesicht sehen sollen. Es war zu köstlich!«

»Ist's wahr, Dagobert,« fragte Frau Violet, »haben Sie einmal Pech gehabt?«

»Im Gegenteil, Gnädigste. ich habe Glück gehabt. Ohne ein bißchen Glück geht es bei meinem Metier überhaupt nicht.«

»Und doch ein Mißerfolg?«

»Wer sagt das?«

»Mein Mann sagte doch eben –«

»Er!« Dagobert widmete dem fröhlichen Hausherrn einen mitleidigen Blick. »Mein Gott, er versteht es eben nicht besser, der Arme!«

»Also dann erzählen Sie.«

»Ja, er soll erzählen,« stimmte nun auch der Hausherr zu. »Ich bin neugierig, wie er sich da herausschwindeln wird!«

Dagobert ging mit stiller Verachtung über diese beleidigende Insinuation hinweg und begann zu erzählen, indem er das Wort an die Hausfrau richtete und nur an sie. Das war die Strafe für Grumbach.

»Baron Weisbach hat sich, wie Sie vielleicht wissen, Frau Violet, eine herrliche Villa in Sievering erbauen 25 lassen. Sie gehört eigentlich mit zu den Sehenswürdigkeiten von Wien. Den Hintergrund bilden die Höhen des Wienerwaldes, und wenn man den Blick diesem zuwendet, könnte man glauben, sich in einer stillen Waldeinsamkeit, viele Meilen weg vom lärmenden Weltverkehr, zu befinden. Eine halbe Drehung um die eigene Achse, und man sieht den glitzernden Donaustrom und die Millionenstadt in ihrer schimmernden Pracht zu seinen Füßen ausgebreitet. Die Villa ist von Otto Wagner erbaut, also auf den ersten Anblick ein wenig verrückt, in Wahrheit aber mit geradezu raffinierter Bedachtnahme auf alle einschlägigen Bedürfnisse und auf allen erdenklichen Komfort disponiert. Otto Wagners Kunstweise unterscheidet sich nämlich von den andern bisher gebräuchlichen Baustilen – Sie erlauben doch, Gnädigste, daß ich Ihnen das auseinandersetze –?«

»Nein, Dagobert, das erlaube ich durchaus nicht. Ästhetik und Kunstkritik kommen später; meinetwegen – ich will dann stillhalten, jetzt aber haben Sie bei der Stange zu bleiben.«

»Gut. Als Ästhetiker bin ich immer unterschätzt worden. Diese ungerechte Behandlung bin ich schon gewöhnt. Das eine darf ich aber doch wohl noch bemerken, daß zu der Villa selbstverständlich noch ein wohlgepflegter Garten und ein herrlicher Park gehören?«

»Ja, Dagobert, das dürfen Sie.«

»Danke ergebenst. Das gehört nämlich mit zur Geschichte. Also Weisbach hatte uns eingeladen aus einem doppelten Grund. Erstlich einmal gewissermaßen zur Einweihung der neuen Villa und zweitens, um seinen Dank abzustatten für unsere Glückwünsche. 26 Wir waren vierzehn Mann hoch, seine intimsten Freunde, die nun mit ihm sich über die ihm erwiesene kaiserliche Huld freuen sollten.«

»Und warum nur – Herren?« fragte Frau Violet, deren leiser Ärger über den Punkt doch nicht ganz verwunden war.

»Weil nur noch ein Herr, er selber, im Hause war. Seine Frau, seine Söhne und Töchter waren alle schon ausgeflogen – nach der Nordsee, nach Paris, nach der Schweiz.«

»Das hätte man mir aber gleich sagen sollen!«

»Jawohl, Grumbach, das hättest du gleich sagen müssen!« stimmte Dagobert zu, so alle Schuld kameradschaftlich auf die Schultern des Freundes wälzend. »Das Frühstück war für zehn Uhr angesagt, wir waren aber alle schon etwas früher da, und Weisbach begann damit, uns das Haus zu zeigen. Er machte den Cicerone und führte die Gesellschaft. Ich blieb etwas zurück, da ich ja alles schon wiederholt gesehen hatte. Vom Stiegenhaus aus warf ich als letzter der Gruppe zufällig einen Blick durch ein Guckfensterchen in das Vorzimmer im Erdgeschoß, wo unsere Überröcke hingen. Da war mir's, als hätte ich in dem Halbdunkel einen weißen Schimmer wahrgenommen. Ich mußte mir das erst zurechtlegen. Ein Arm, eine Hand, der helle Schimmer – da hatte jemand aus einem unserer Überzieher eine silberne Zigarettendose gestohlen.«

»Halt, da habe ich ihn nun ertappt, Violet!« rief Grumbach mit besonderer Befriedigung dazwischen. »Glaube ihm nicht! Uns hat er die Geschichte ganz anders erzählt. Uns sagte er, daß er die Dose selber gestohlen habe, um damit eine Falle für Doktor Weinlich aufzurichten!«

27 »Das habe ich allerdings gesagt, weil ich meine Gründe dafür hatte. Sie werden ja sehen, Gnädigste, ob ich recht getan habe. – Ich lasse also die Gesellschaft ruhig die Stiege hinaufgehen und renne ums Haus herum, um meiner interessanten Persönlichkeit dann von der anderen Seite ganz unverdächtig begegnen zu können.«

»Und ist Ihnen das gelungen?« fragte Frau Violet.

»Ganz nach Wunsch, nur hätte mir Weisbach selbst beinah einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte mich von einem Fenster des ersten Stockwerks aus erspäht und rief mich an, gerade als ich meinen Mann auf mich zukommen sah. Weisbach hatte es sehr dringend; ich sollte doch gleich hinaufkommen; es sei etwas da, was ich noch nicht gesehen hätte. Ich mußte dem Rufe wohl oder übel Folge leisten, sah mir aber erst meinen Mann gut an, der mich riesig interessierte. Zu meiner Beruhigung ließ mich sein ganzer Habitus gleich erkennen, daß er zum Hause gehöre. Ich ging also hinaus, in der Zuversicht, daß ich ihn später auch noch finden würde.«

»Ja, aber eine schöne Gelegenheit wäre doch verpaßt gewesen,« meinte Frau Violet, »er hätte dann vielleicht die Dose nicht mehr bei sich gehabt.«

»Das ist sehr richtig bemerkt, Frau Violet; wie ich denn überhaupt wahrnehme, daß Sie weitaus mehr Talent für die edle Detektivkunst zeigen als Ihr sehr geschätzter Herr Gemahl. Nun kam es mir aber auf die Dose auch nicht im geringsten mehr an, da mich schon andere und wichtigere Dinge beschäftigten. Also ich ging hinauf. Was mir Weisbach zeigen wollte, das war ein Aquarell Rudolf Alts, ein wahrhaftiges Kabinettstück, das der greise Meister nur wenige Wochen 28 vor seinem Tode gemalt hatte. Was die Besonderheit der Altschen Technik betrifft . . .«

»Wir haben ausgemacht, Dagobert: die Kunstkritik kommt später!«

»Gut. Ich geriet also mit Weisbach ins Plauschen, erfuhr, wie trefflich das Bildchen sei, und was es gekostet habe. Ich ließ das über mich ergehen und lenkte dann das Gespräch, wie ich es haben wollte. Ob er den Mann gesehen hätte, der mir unten eben begegnet sei.

›Ach ja, das ist mein Gärtner – ein prächtiger Mensch!‹

›Warum ein prächtiger Mensch?‹

›In jeder Beziehung. Erstens einmal versteht er sein Geschäft aus dem Grunde. Wenn Sie sich meinen Garten, die Glashäuser und den Park ansehen werden, dann werden Sie schon darauf kommen, was das für eine Perle ist.‹

›Davon habe ich mich zum Teile schon überzeugt – und sonst?‹

›Die Hauptsache – treu wie Gold! Ein bißchen entlegen und einsam ist die Villa ja doch. Meine ganze Familie ist fort. Ich bin allein im Haus. Ich war niemals ein großer Held. Die Unsicherheit in den Villen um Wien herum ist sprichwörtlich. So allein in der Villa bei Nacht – ich könnte kein Auge zutun, und darum lasse ich, seit ich allein in der Villa bin, den Gärtner Trautwein bei mir im Zimmer schlafen. Seitdem schlafe ich königlich. Das ist doch ein beruhigender Schutz. Sehen Sie sich einmal, wenn Sie hinunterkommen, seine Hände an. Wenn dem einmal ein Einbrecher in die Hände gerät – der hat nichts zu lachen!‹

29 Ich machte mich los, sobald ich nur konnte, um diese Seele von einem Menschen wieder aufzusuchen. Ich traf ihn auch bei den Glashäusern mit der berühmten blauen Wundergrotte beschäftigt, die ein einziger Stock der herrlichen Bougainvilleanea bildete. Ich fand bestätigt, was ich vorhin schon beim ersten Anblick als bestimmt annehmen zu können geglaubt hatte. Ich kann Ihnen sagen, Gnädigste, ich habe da eine Stunde reiner, sinniger Freude verlebt.«

»Von der berühmten Grotte habe auch ich schon gehört.«

»Die meinte ich nun eigentlich doch nicht. Es war etwas anderes. Ich hatte da das wahrhaft seltene Glück, mich mit einem der nichtswürdigsten Raubmörder unterhalten zu können, von denen unsere Kriminalchronik zu berichten weiß.«

»Ich verstehe, das muß eine ausnehmend sinnige Freude sein!«

»So ist es, Gnädigste. Man kommt nur leider so sehr selten dazu. Ich gestehe, ich hatte Glück dabei. Das gehört zu allem, zu meinem Handwerk insbesondere. Es wäre geradezu trostlos, wenn man nicht gelegentlich auch etwas Glück hätte.«

»Wie wußten Sie aber nur gleich, daß das ein Raubmörder sei, und dann – Leute, von denen man schon weiß, daß sie Raubmörder sind, die laufen doch nicht nur so herum?!«

Der Hausherr machte bei dieser Erzählung große Augen. Von alledem hatte er nicht ein Sterbenswörtchen gewußt, und er war nun durchaus nicht im klaren, ob auch er da etwas glauben dürfe, oder ob nicht etwa gar Dagobert seiner Frau nur einen ungeheuren Bären aufbinde. Die Erfahrung sprach gegen 30 letzteres. Dagobert hatte früher in seinen Erzählungen niemals eine Unwahrheit oder eine Übertreibung eingeflochten. Nun aber klang die Sache doch furchtbar romanhaft, und wenn doch alles auf Wahrheit beruhen sollte, so war es für ihn recht beschämend, daß er, obschon er bei dem weiteren Verlaufe selbst dabei war, doch nicht das mindeste sollte bemerkt haben.

Dagobert knüpfte an die letzten Fragen Frau Violets an und berichtete weiter: »All das kann ich Ihnen leicht aufklären, Gnädigste, wenn's auch ein bißchen umständlich ist. Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß ich einen großen Teil meiner freien Zeit im Erkennungsamt unserer Polizeidirektion zuzubringen pflege. Dieses Amt steht in engster Verbindung mit unserem Polizeimuseum, das geradezu mustergültig und schulbildend auf dem Kontinent geworden ist. Beide Institutionen unterstützen sich und arbeiten sich gegenseitig in die Hände. Ich bin also fast täglich dort und arbeite ziemlich viel, lernend und lehrend, jawohl, auch lehrend! In enger Fühlung mit dem Museum steht nämlich auch die vor kurzem gegründete Detektivschule, in welcher der jüngere Nachwuchs im polizeilichen Kundschafterdienst herangebildet wird. Da halte nun auch ich verschiedene Kurse und vermittle den jüngeren aufstrebenden Kräften die Ergebnisse meiner Studien und Erfahrungen. Dr. Weinlich, der sich insbesondere um die Einrichtung der anthropometrischen Abteilung hervorragende Verdienste erworben hat, und der überhaupt der Leiter des ganzen Ausforschungsdienstes ist, ist mir sehr dankbar für meine Mitwirkung. Der Staat bewilligt für diese Zwecke nur sehr unzulängliche Mittel, und da ist ihm eine Lehrkraft, zu der er im Laufe der Zeit doch einiges 31 Vertrauen gewonnen hat, und die zudem unbesoldet ist und nur aus Liebe zur Sache mittut, doppelt willkommen.«

»Ich glaube wohl, daß sich da nicht viele . . .«

»Nicht viele solcher Narren finden werden, wollen Sie sagen, Frau Violet. Sprechen Sie's nur ruhig aus. Ich bin derlei schon gewöhnt und dagegen ziemlich abgestumpft. Was wollen Sie? Jeder hat seinen Sport! Gerade in dem letzten Zyklus meiner Vorträge, die ich dort in der Schule gehalten habe, spielte der Mann, den ich bei Weisbach entdeckt hatte, eine besondere Rolle. Trautwein, wie er sich hier nannte – wahrscheinlich hatte er die auf diesen Namen passenden Papiere und Zeugnisse irgendwo gestohlen, denn in Wirklichkeit heißt er Anton Riederbauer – ist einer der gefährlichsten Verbrecher, über die im Erkennungsamt Buch geführt wird. Er steht mit seinem prachtvollen, glattrasierten Cäsarenkopf im blühendsten Mannesalter, und doch hat er schon die Kleinigkeit von dreiundzwanzig Jahren im Zuchthaus abgesessen.«

»Um Gottes willen!« Frau Violet war bei dieser Mitteilung ganz blaß geworden, und auch Herr Grumbach wurde ernst gestimmt. Nun fing er doch wieder an, Vertrauen zu Dagobert zu gewinnen.

»Ja,« fuhr Dagobert fort, »er ist eigentlich eine Reklamefigur für unser Gefängniswesen. Nach seinem Aussehen zu urteilen, müssen unsere Zuchthäuser wahre Sanatorien oder hygienische Kurorte sein. Die Sache verhält sich mit ihm so: er hat vor fünfundzwanzig Jahren einen Raubmord – seien wir genau – einen Doppelraubmord begangen. Es war ein bestialisches Verbrechen, bei dem keinerlei mildernde Umstände in Betracht kamen. Er hatte ein altes Ehepaar, 32 Hausmeistersleute, die ihm gutherzig Unterkunft gewährt hatten, meuchlings und mit viehischer Grausamkeit im Schlaf ermordet, um sich in den Besitz ihrer dürftigen Habseligkeiten zu setzen. Aufhängen konnte man ihn nicht, dazu war er nach den Ansprüchen des Gesetzes noch zu jung; er zählte erst achtzehn Jahre. Das ging nicht, und so kam er denn mit achtzehn Jahren schweren Kerkers davon. Die achtzehn Jahre hat er auch redlich abgesessen. Das ist aber auch das einzige Redliche, was er in seinem Leben getan hat. Dann ging er frei, wurde aber bald wiedergeholt und nun – vorher kannte man das nicht – auch anthropometrisch aufgenommen. Er hatte einen Einbruch begangen und bekam dafür fünf Jahre. Auch diese hat er abgesessen, aber nun sucht ihn Dr. Weinlich wieder, und zwar schon seit fast einem Jahre. Es gibt da nämlich einen polizeilich noch immer unerledigten Einbruch – das ist immer sehr verdrießlich! – von dem Dr. Weinlich schwört, daß ihn Riederbauer begangen habe. Und er schwört nicht ohne Grund. Denn er hat auf dem Schauplatz der Tat einen Fingerabdruck gefunden.«

»Mein Gott, und gerade an einen solchen Menschen mußte der arme Weisbach geraten!«

»Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals. In der Schule nun habe ich mit besonderem Bedacht das Bild Riederbauers bei einem Vortrage zum Objekt der Demonstration gewählt. Erstlich war er noch ein ›Ausständiger‹; es konnte also nur von Nutzen sein, wenn sie sich seine Züge für alle Fälle gut einprägten, und zweitens ist der Kopf überhaupt ein dankbares und sehr interessantes Demonstrationsobjekt in mehrfacher Hinsicht. Ich habe deshalb auch die im Archiv 33 befindlichen kleinen photographischen Aufnahmen von ihm im Atelier des Erkennungsamtes bis zur Lebensgröße vergrößert, und diese Vergrößerungen hängen nun auch im Lehrsaal als Wandtafeln zu Studienzwecken, und zwar an der rechten Wand zweite Reihe von unten links an der Ecke.«

»Sagen Sie, Dagobert,« unterbrach hier Frau Violet, »warum erschien Ihnen gerade sein Kopf so interessant und lehrreich?«

»Wie ich Ihnen schon sagte, Gnädigste, in mehrfacher Hinsicht. Ich müßte auch Ihnen einen ganzen Vortrag halten, um alles zu sagen. In aller Kürze darum nur folgendes: es ist selbstverständlich, daß wir uns in der Schule mit Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher nicht minder eifrig beschäftigen als mit den mehr auf das Praktische gerichteten, wissenschaftlichen Werken von Prof. Dr. H. Groß u. a. Die Lombrososchen Folgerungen werden in unserer Zeit vielfach bekämpft und sogar ein wenig von oben herunter behandelt. Doch nicht mit Recht, wie ich nach meinen einschlägigen Beobachtungen und Erfahrungen behaupten möchte. Die Degenerationsmerkmale treten in der Verbrecherwelt so häufig auf, daß sie doch zu gewissen Schlüssen berechtigen. Riederbauer bildet in dieser Hinsicht eine glänzende Ausnahme, die ebendeshalb doch noch nichts gegen die Regel beweist. Als solche aber ist sie besonders beachtenswert. Sein Körper ist durchaus ebenmäßig und wohlgebildet, und sein Kopf bietet den tadellosen Typus eines Cäsarenkopfes dar. Man müßte höchstens, was doch wohl nicht angeht, diesen Typus selbst schon als ein verdächtiges Merkmal ansehen.

Aber auch in anderer Hinsicht bieten Riederbauers 34 Bildnisse interessante Studienobjekte. Er ist im Profil und en face aufgenommen, mit Bart und ohne Bart. Die Feststellung der Identität lediglich auf Grund von Photographien ist keine so einfache Sache, wie es auf den ersten Anblick scheinen mag. Wir haben da in der Schule sehr lehrreiche Gegenüberstellungen gemacht von Köpfen, die bei unglaublicher Unähnlichkeit doch erwiesenermaßen die Identität für sich hatten, und anderseits von Bildern, die bei geradezu verblüffender Ähnlichkeit doch nicht identisch waren.

Riederbauers Bildnisse als die eines ›doppelten Raubmörders‹ und als die eines noch gesuchten Einbrechers wurden von uns natürlich mit einer besonders liebevollen Sorgfalt und sogar mit einer gewissen Hochachtung behandelt, und nun werden Sie es begreifen, Gnädigste, daß es für mich in der Tat eine stille und innige Freude sein mußte, dieser interessanten Persönlichkeit so unvermutet zu begegnen.«

»In der Tat das reizendste Vergnügen, das sich denken läßt, so plötzlich einem gesuchten Raubmörder gegenüberzustehen!«

»Da hätte ich ihn also nun gehabt, und jetzt handelte es sich noch darum, wie ich ihn in Sicherheit bringe. Während ich mich also mit dem Gärtner unterhielt, natürlich über botanische Themata, überlegte ich hin und her, wie ich ihn dingfest machen sollte. Ich konnte nicht recht zu einem Entschluß kommen. Vorläufig wußte ich nur, was ich nicht tun durfte. Ich durfte das Haus nicht alarmieren. Die ganze Festlichkeit wäre gestört gewesen, und was noch mehr ins Gewicht fiel: Weisbach ist ein vollblütiger, sehr nervöser und ungemein ängstlicher Herr. Der plötzliche Schreck und die Aufregung über die große 35 Gefahr, in der er sich befunden, hätten doch nachteilig auf seine Gesundheit wirken können. Erinnern Sie sich nur: den Reiter über den Bodensee hat der Schlag getroffen. Und das war vielleicht noch ein weniger ängstlicher Herr als Baron Weisbach, sonst wäre er überhaupt nicht zu nachtschlafender Zeit in so einsamer Gegend und bei der Kälte allein ausgeritten. Weisbach hätte das entschieden nicht getan. Die Sache mußte also anders gemacht werden, und ich beschloß, sie elegant zu machen.«

»Dagobert macht alles elegant!«

»Danke für das Kompliment. Man gibt sich Mühe. Ich war noch in der besten Unterhaltung begriffen, als ich mit Gewalt zum Frühstück geholt wurde. Man hatte schon ohne mich angefangen und war endlich ungeduldig geworden. Darauf wurden Baron Fries und der junge Nettelbach, als die Jüngsten, die Benjamine der Gesellschaft, ausgesendet, mich bei Todesstrafe tot oder lebendig zur Stelle zu schaffen. Ich wurde also fortgeschleift, obschon ich mich noch sehr gern ein wenig mit meiner neuen Bekanntschaft unterhalten hätte. Wir hatten uns nämlich rasch gut angefreundet.«

»Angefreundet auch noch!«

»Warum nicht? Ich wußte ihn zu nehmen und in seiner Sprache mit ihm zu reden. Auf dem Wege durch den Garten flüsterte mir Baron Fries zu: ›Denken Sie sich, Dagobert, meine silberne Zigarettendose ist futsch, aus meinem Überzieher verschwunden. Und ich war so stolz auf sie – Ehrenpreis im Tennis-Handikap! Im Hause Weisbach wird einem doch nichts gestohlen, aber ich könnte schwören darauf, daß ich sie bei der Herfahrt noch hatte! Ich weiß 36 bestimmt, daß ich im Wagen geraucht habe. Woher hätte ich denn die Zigarette nehmen sollen?‹

Das war nun eine glänzende Gelegenheit, mich aufs hohe Roß zu setzen, und ich benutzte sie. ›Seien Sie froh, lieber Baron,‹ erwiderte ich ihm, ›daß ich zur Stelle bin. Nach Ihren Angaben scheint die Dose allerdings gestohlen zu sein, aber man stiehlt nicht ungestraft, wenn ich in der Nähe bin. Ich verbürge mich dafür, daß Sie, bevor die Sonne untergeht, Ihre Dose wieder haben sollen, aber unter einer Bedingung – keine Silbe verraten!‹ Er versprach das, ich aber hatte nun meinen Plan fertig. Ich brauche immer eine kleine Anregung von außen, wenn ich im Zweifel über einen Kriegsplan bin. Diese Anregung hatte mir der kleine Fries gegeben. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte.

Beim Frühstück begannen die üblichen kleinen Sticheleien auf meine große Passion. Etwas Respekt haben die Leute ja doch schon, das hindert sie aber nicht, sich gelegentlich in ihren kleinen Hänseleien zu gefallen. Diesmal kamen mir die Scherze sehr gelegen, und ich griff das Thema auf, um es nicht wieder loszulassen. Ich erzählte die haarsträubendsten Detektivgeschichten und die erstaunlichsten Wunder, die mit Hilfe der Daktyloskopie vollführt worden sind. Der Hausherr interessierte sich riesig für diese Sachen, und das war mir sehr recht. Denn auf ihn hatte ich ja alles aufgerichtet.

›Schade, daß Dr. Weinlich nicht auch da ist,‹ rief ich bedauernd aus. ›Der könnte Ihnen noch ganz andere Geschichten erzählen. Der Mann hat Praxis und ist überhaupt einer unserer fähigsten Kriminalisten.‹

37 ›Daß mir aber gerade der nicht eingefallen ist!‹ entgegnete der Hausherr ebenfalls bedauernd. ›Ich hätte ihn wirklich auch einladen müssen!‹

Dr. Weinlich gehört nämlich, wie ich sehr wohl wußte, ebenfalls zu Weisbachs engerem Freundeskreis. Ich benutzte die Stimmung und fuhr fort: ›Es ist doppelt schade, daß er nicht hier ist. Er hätte jetzt eine wunderschöne Gelegenheit, seine Kunst zu zeigen und uns damit eine brillante Unterhaltung zu bereiten.‹

›Wieso denn?‹ Alles war neugierig, das zu erfahren, am neugierigsten der Hausherr.

›Ganz einfach,‹ erklärte ich. ›Ich habe, rein aus Liebe zur Sache und nur um meine Geschicklichkeit zu erproben, einem der anwesenden Herrn etwas gestohlen.‹

Alle griffen sich unwillkürlich an die Taschen und brachen dann in einstimmiges Lachen aus, um sich mit diesem gewissermaßen bei mir zu entschuldigen.

›Wie schön wäre es nun,‹ fuhr ich fort, ›wenn er hier wäre und wir ihm die Aufgabe stellen könnten, den Missetäter ausfindig zu machen.‹

›Das ließe sich vielleicht immer noch arrangieren,‹ rief der Hausherr erfreut aus. ›Ich schicke ihm den Wagen, und da es doch auch eine dienstliche Sache ist, wird er sich wohl losmachen. Ich schreibe ihm ein paar Zeilen und verständige ihn, daß es für ihn auch amtlich zu tun gibt. Er könne hier mit einem Schlage zwei gute Werke verrichten, erstlich mit uns zu Mittag essen und dann einen Übeltäter verhaften. Jawohl, lieber Dagobert, wenn es ihm gelingt, Sie zu überführen, dann lassen wir Sie verhaften! Wir tun es nicht anders. Das wird einen Hauptspaß geben.‹

Da hatte ich ihn nun, wo ich ihn haben wollte. Der aufwartende Diener brachte auf Geheiß 38 Briefpapier – mit der Krone! – und das Schreibzeug an den Frühstückstisch, und Weisbach wollte gleich zu schreiben beginnen. Da aber legte ich mich ins Mittel: ›Meine Herren, wir dürfen nichts Unmögliches verlangen! Stellen Sie sich nur die Sachlage vor. Ihnen habe ich gestanden, daß ich etwas gestohlen habe. Sie dürfen ihm aber das nicht verraten, sonst ist ja überhaupt kein Witz dabei. Anders kann er aber gar nicht darauf kommen, und wir unsererseits können es doch nicht darauf ankommen lassen, daß er in dieser illustren Gesellschaft einen nach dem andern verdächtige. Denn, ich bitte um Entschuldigung, weniger unwahrscheinlich als Diebe denn ich sind auch Sie alle miteinander nicht. Wir müssen ihm also doch irgendeinen Anhaltspunkt bieten. Ich möchte vorschlagen, daß wir ihm einen Daumenabdruck von mir schicken. Dann werden wir ja gleich sehen, was es mit der Daktyloskopie auf sich hat.‹

›Das ist eine herrliche Idee,‹ rief der neugebackene Freiherr begeistert. ›Wir schicken ihm den Abdruck, verraten sonst nichts und sagen nur: So, nun suche dir den Übeltäter!‹

›Ich glaube nicht, daß die Idee sehr gut ist,‹ mengte sich nun Freund Grumbach hinein. ›Der Abdruck könnte ihm nur in dem Fall etwas nützen, wenn er die Analogie dazu in seinem Archiv zu finden vermöchte. Das ist aber nicht möglich, da in dem Archiv sich nur die Fingerabdrücke von notorischen Verbrechern befinden. Zu diesen gehört unser Freund Dagobert doch noch nicht. Was sollte also dann die Übersendung seines Abdruckes für einen Zweck haben?‹

Der Einwand Ihres Herrn Gemahls, Frau Violet, war ja im allgemeinen vollkommen triftig, wenn er 39 auch im übrigen sonst gerade so willig aufsaß wie alle anderen Mitglieder der verehrlichen Gesellschaft. Ich konnte aber auch seine Bedenken zerstreuen.«

»Wie haben Sie das angefangen?« forschte Frau Violet. »Auch mir scheint nämlich sein Einwand vollkommen stichhaltig zu sein.«

»Was ich bereits zuzugestehen so frei war. Meine Aufklärung war folgende: Natürlich ist das Archiv nur für Fingerabdrücke von Verbrechern da. Nun hatten aber Dr. Weinlich und ich uns mehrere Monate mit gewissen Untersuchungen beschäftigt, die bis jetzt leider völlig unfruchtbar geblieben sind. Wir wollten nämlich erforschen, ob nicht schon aus der Zeichnung der Fingerlinien der Verbrecher sich gewisse Schlüsse ableiten ließen, so daß am Ende sich schon nach der Zeichnung vielleicht die verbrecherische Anlage erkennen ließe. Dazu mußten wir Hunderte von Abdrücken, die von notorischen Verbrechern herrührten, mit solchen vergleichen, die von Leuten stammten, die notorisch keine Verbrecher waren. Zu letzteren gestatteten wir uns, Dr. Weinlich und ich, uns selbst zu zählen, und so kamen auch unsere Fingerabdrücke ins Archiv.«

»Das ist immerhin eine Aufklärung, Dagobert,« meinte Frau Violet.

»Wenigstens erfüllte sie ihren Zweck. Ihnen darf ich es aber verraten, gnädige Frau, daß das mit dieser Aufklärung nur ein großer Schwindel war. Wir haben selbstverständlich niemals so unsinnige Studien gemacht, und unsere Abdrücke befinden sich ebenso selbstverständlich nicht im Archiv.«

»Jetzt, Dagobert, verstehe ich Sie aber wirklich nicht!«

»Ich verfolgte meinen Plan. Ich wollte, daß dem 40 Dr. Weinlich ein Blättchen mit einem Fingerabdruck in dem Briefe mitgeschickt werde. Ich hatte das Blättchen in meiner Brieftasche und holte es hervor. Die ganze Gesellschaft betrachtete ›meinen‹ Daumenabdruck mit großem Interesse.«

»War es denn nicht Ihr Abdruck?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Sondern?«

»Selbstverständlich von Anton Riederbauer alias Trautwein.«

»Ja, brauchten Sie denn noch den Abdruck?«

»Wenn es sich um die Freiheit und die ganze Existenz eines Menschen handelt, meine Gnädige, da möchte ich mich doch nicht ausschließlich auf mein Auge verlassen, das durch eine trügerische Ähnlichkeit doch vielleicht getäuscht worden sein konnte. Da mußten schon kräftigere Beweismittel zur Stelle geschafft werden.«

»Wie kam es aber, daß Sie zufällig seinen Daumenabdruck bei sich hatten?«

»Das war gar nicht zufällig. Den hatte ich mir, bevor ich zum Frühstück ging, von ihm geholt.«

»Davon hatten Sie aber noch gar nichts gesagt!«

»Ich kann es ja nachholen.«

»Das wird auch nötig sein. Man geht doch nicht zu einem Raubmörder und sagt ihm in aller Gemütlichkeit: Sei so gut und gib mir einen Fingerabdruck!«

»Sehr richtig; insbesondere nicht einem Menschen, der einmal schon im Erkennungsamt satzungsmäßig behandelt worden ist, der also den Rummel schon kennt. Ich mußte also zu einer Überlistung meine Zuflucht nehmen, die übrigens gar nicht so schwer war.«

»Wie haben Sie das angefangen, Dagobert?«

41 »Ich hatte von vornherein die Absicht, mir den Abdruck zu verschaffen, und verwickelte ihn daher in eine Unterhaltung, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wir waren im Warmhause bei den exotischen Pflanzen, für die ich ein besonderes Interesse zeigte, und über die ich mir eingehend Belehrungen erteilen ließ. An jeder der Pflanzen hing ein Täfelchen mit der genauen Bezeichnung, die ich mir notieren wollte. Ich schützte nämlich vor, daß ich in meinem Garten ebenfalls ein Warmhaus für exotische Pflanzen errichten wolle. Ich begann zu notieren und fand das bald unbequem, da es viel zu schreiben gab. Ich gab ihm also meinen Notizblock in die Hand und bat ihn, mir zu folgen und mir immer im Bedarfsfall ein Blättchen zu reichen. Als Unterlage beim Schreiben diente mir eine Brieftasche, in der ich die Blättchen dann auch gleich versorgen konnte. Riederbauer hatte, wie ich mit Vergnügen bemerkte, von der Gartenarbeit recht schmutzige Hände. Ich notierte sehr hastig, und er hatte Mühe, mit der Darreichung der Blättchen nachzukommen. Diese lösten sich nämlich gar nicht leicht von dem stark zusammengepreßten Block. Ich mahnte in meinem Eifer ungeduldig zur Eile: Rasch, rasch! Und da begab sich, worauf ich gerechnet hatte. In seiner Dienstbeflissenheit befeuchtete Riederbauer unwillkürlich den Daumen mit der Zunge, um mit den dünnen Blättchen leichter fertig zu werden. Es war so eine Art unbewußter Reflexbewegung.

›So schön,‹ sagte er dann sich entschuldigend, ›jetzt ist das Blattl ganz schmutzig!‹

›Tut nichts,‹ erwiderte ich und ließ das Blättchen achtlos fallen, ›nur rasch das nächste!‹

Nun legte ich die Blättchen nicht mehr in die 42 Brieftasche, sondern ließ sie vorläufig neben mir auf dem Boden liegen, von wo ich sie schließlich alle auflas. Natürlich auch in meiner Zerstreutheit das ›verdorbene‹ mit. Bald darauf wurde ich zum Frühstück geholt. Vorher aber schon hatte ich Gelegenheit gehabt, mich zu überzeugen, daß ich einen ganz ausgezeichneten Daumenabdruck erwischt hatte. Wenn der dem Dr. Weinlich ohne Verzug in die Hände gespielt werden konnte, war die Sache erledigt. Weisbach schrieb also seine Einladung. Während er schrieb, ging ich hinaus, um einspannen zu lassen. Draußen stenographierte ich hastig auf ein Blättchen: ›Sehr dringlich! Vertraulich! Weisbach hat keine Ahnung, was vorgeht. Kollationieren Sie den Abdruck, und holen Sie sich den Mann. Bringen Sie dazu zwei elegante, aber handfeste Leute mit. Sie werden bei ihm eine silberne Dose finden, die liefern Sie der Gesellschaft ab, ohne den Täter zu nennen. Fahren Sie nicht beim Haupteingang vor, sondern rückwärts beim Parktor. Sie haben den Gärtner zu suchen. Re bene gesta erscheinen Sie zur Tafel, ohne etwas zu verraten. Gruß! Dagobert.‹ Als ich wieder zurückkam, schob ich selbst ›meinen‹ Fingerabdruck in den Briefumschlag. Er mußte ja mit Vorsicht behandelt werden, und ich hatte ihm deshalb eine schützende Papierhülle gegeben – das war mein stenographierter Brief.

Das Frühstück verlief sehr angenehm, und nicht minder angenehm wurde die Pause zwischen dem Frühstück und dem Mittagsessen ausgefüllt. Es etablierten sich zwei Kartenpartien, mehrere Herren ritten und fuhren spazieren, der Rest erging sich im Park. Ich sorgte dafür, daß die Zurückgebliebenen den Gärtner in Atem hielten. Ich sprengte sie ratenweise nach den 43 Glashäusern, damit sie dort die exotischen Naturwunder studierten. Riederbauer hatte unausgesetzt den Führer zu machen, was ihm manch gutes Stück Trinkgeld eintrug. Mir war es nur darum zu tun, ihn festzuhalten, damit nicht am Ende der ihm zugedachte Besuch das Mißvergnügen habe, ihn nicht anzutreffen.

Wir saßen schon bei Tisch, als, mit allgemeiner Begeisterung begrüßt, Dr. Weinlich bei uns eintrat. Ein Blick sagte mir, daß unsere Angelegenheit glatt geordnet sei. Sie können sich den Jubel denken, Frau Violet, als er gleich bei seinem Erscheinen die gestohlene Dose vorwies.

›Den Täter brauche ich wohl nicht erst namhaft zu machen,‹ sagte er, eingedenk meiner Weisung.

›Nein, Doktor,‹ rief alles unter vergnügtem Lachen, ›das ist ganz überflüssig!‹

Man unterhielt sich köstlich. Zumeist auf meine Kosten. So ein Professionalkriminalist ist halt doch etwas anderes als ein dilettierender Liebhaber vom Schlage Dagoberts! Ich ließ das gern über mich ergehen. Die Stimmung wurde immer vergnügter, und ich wurde immer mehr verhöhnt. Was tat's? Ich hatte meinen Zweck erreicht. Der Verbrecher war unschädlich gemacht und in Sicherheit gebracht, und das war gelungen, ohne daß das Fest gestört und damit die festliche Stimmung verdorben worden wäre.

Wir aßen und tranken gut und letzteres gewiß auch nicht wenig, soweit die abgeprotzten Flaschenbatterien ein Urteil ermöglichten. Dr. Weinlich ist ein brillanter Gesellschafter und hat eine famose Singstimme. Er war Vorsänger, und uns paukte er als Chor ein. Ich kann Ihnen verraten, Gnädigste, daß 44 Ihr Herr Gemahl, wenn er ein paar Glas Sekt untergebracht hat, auch ein ganz brauchbarer Sänger wird.

Beim allgemeinen Aufbruch nahmen wir Baron Weisbach, der unter allen in der fidelsten Laune war, gleich mit und übergaben ihn dann einigen bewährten jüngeren Kräften, die mit ihm in ›Venedig in Wien‹ noch ein wenig ›drahen‹ und ihn dann für die Nacht im Palais seines gräflichen Schwiegersohnes abliefern sollten. Das hielt ich für nötig, weil ihm in seiner Villa nun doch für die Nacht der treue Wächter entzogen war, und ohne diesen hätte er sich doch zu sehr gefürchtet. Es wird noch immer zeitlich genug sein, wenn er den wahren Zusammenhang erst morgen erfährt.

Was nun aber meinen ganz besonders geschätzten Freund Grumbach betrifft, so hat er beim Abfahren etwas läuten gehört, daß Dr. Weinlich in der Villa einen Diener habe verhaften lassen, und daraus folgerte er dann sofort, daß ich mich riesig blamiert hätte. Sagen Sie selbst, Frau Violet, ob er mir ein besseres Lob hätte erteilen können!« 45

 


 


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