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Die Sinne

Ich erwähnte früher, daß der Blutkreislauf, trotzdem er schon einige Jahrhunderte entdeckt ist, und trotzdem alle unsre medizinischen Kenntnisse und unsre gesamte Wissenschaft darauf fußt, der Masse aller Gebildeten so gut wie unbekannt ist. Dafür aber hat diese Masse eine Kenntnis vor uns Ärzten voraus, sie hat durch die Jahrhunderte hindurch den Begriff der Säfte gerettet.

Das Wort: schlechte und gute Säfte enthält eine verborgne Wahrheit; der Hohn, mit dem man diese Wahrheit ihres altertümlichen Klanges wegen lange Jahre hindurch behandelte und noch behandelt, ist ein Beweis, daß, was einmal einen großen Fortschritt bedeutete, ein Hemmnis der Entwicklung wird, sobald es dogmatisch erstarrt. Mühsam und langsam auf dem Umwege der Bakterienforschung und der Behandlung mit Blutserum und Organsäften gelangen wir wieder auf das Gebiet, von dem uns die Blut- und Zellenlehre weggeführt hatten, und auf dem das Studium der Körpersäfte, ihres Kreislaufs und ihrer Bedeutung für alle Lebensprozesse eine große Umwälzung aller medizinischen Anschauungen hervorbringen wird. Wir sind für dieses Studium weit besser ausgerüstet als unsre Vorfahren, von deren Arbeit fast nur das Wort Säfte übriggeblieben ist, gerade weil wir Blut und Zelle kennengelernt haben. Aber leugnen läßt es sich nicht, daß die Ärzte vor Hunderten von Jahren das Ziel deutlicher sahen als wir, wenn auch ihre Mittel zur Erreichung des Ziels nicht ausreichten. Dem kommenden Geschlecht ist es beschieden, diese Frage der Lebenssäfte zu lösen.

Bisher ist man der Frage, wie ich schon sagte, kaum nahegetreten. In den medizinischen Lehrbüchern und im Unterricht existiert für die Körpersäfte nur ein einziges Kapitel, das ist das von der Lymphe. Nun ist ja gegen das Wort Lymphe an sich nichts einzuwenden, wenn sich damit nicht auch schon wieder der Begriff einer geschlossen Kreislaufbahn verbunden hätte, wenn man nicht auch schon vom Lymphgefäß spräche, während es gerade das charakteristische der Körpersäfte ist, daß sie nicht in Gefäßen, nicht in geschlossnen Röhren fließen. Sie finden sich zwischen den Geweben und zwischen den Zellen, und der Ausdruck Lymphwurzeln, den man für diese mit Flüssigkeit gefüllten Zwischenräume erdacht hat, ist deshalb schon unzulänglich, weil er die Vorstellung erweckt, als ob diese Flüssigkeit aus den sogenannten Lymphwurzeln in die Lymphgefäße fließen müsse; das ist aber gewiß falsch. Weiter aber, der wichtigste Teil aller Körpersäfte, der innerhalb des Zelleibs selbst, wird bei dem Ausdruck Lymphe vollständig ausgeschaltet, mit andern Worten, so wie wir die Dinge bisher zu betrachten pflegten, ist jede Möglichkeit zum Verständnis der innern Lebensvorgänge, der Vorgänge in der Zelle, ausgeschlossen. Solange wir nicht zu der Erkenntnis gekommen sind, daß nicht das Blut, sondern die viel verspotteten Säfte das Leben der Zelle beherrschen, solange gehn wir einfach in die Irre.

Ich habe schon eben darauf hingewiesen, daß im Glaskörper des Auges keine einzige Ader vorhanden ist, daß aber trotzdem in diesem wichtigen Gebilde Veränderungen vor sich gehn, die sich nur durch Vermittlung von Flüssigkeit erklären lassen. Das Auge bietet uns für diese Tätigkeit der Körpersäfte so viele Beispiele, daß seine Betrachtung schon genügen sollte, um die Wahrheit davon einzusehn, daß der Blutkreislauf nur einen scharf begrenzten Teil des Lebens beherrscht. Die Linse des Auges hat ebensowenig Gefäße wie der Glaskörper, und die Hornhaut hat auch keine, ja selbst die Netzhaut ist in allen Teilen, die wirklich zum Sehn gebraucht werden, völlig blutleer. Und dann ist im Auge weiter ein Organ, dessen Tätigkeit uns ganz deutlich zeigt, wie die Verhältnisse liegen, das sind die Tränendrüsen. Wir weinen nicht Blut, sondern Tränen, und die Träne ist nicht etwa Blutwasser, das nur so geradezu farblos unter Zurückbleiben der roten Körperchen aus den Adern austritt, etwa wie eine Aufschwemmung von Mennige in Wasser farblos aus dem Filter abfließt. Vielmehr hat das Blutwasser, ehe es zur Träne wird, einen langen Weg zwischen den Zellen und in den Zellen der Tränendrüsen zurückzulegen, auf dem es seine Beschaffenheit völlig verändert, auf Bahnen, die mit dem Blutadernetz nichts zu tun haben.

Über dieses merkwürdige Wasser der Tränen, diese wunderbare Verwandlung von Blut in Wasser, haben die Menschen seltsame Vorstellungen. Sie nehmen an, die Mutter Natur habe ihnen die Tränen gegeben, um ihren Schmerz zu zeigen, auszuweinen. Aber sie sollten nur besser zuschaun, dann würden sie sehn, daß die Tränen immer fließen. Stets bis zum Tode ist das Auge mit einer dünnen Schicht des Tränenwassers überzogen; das fängt den Staub und Wust des Lebens auf, damit sie nicht das klare Auge trüben, ohne Aufhören waschen Tränen jede Trübung von dem hellen Augenspiegel fort. Und wer ein einziges Mal sein Augenlid betrachtet hat, der hat die kleinen Öffnungen gesehn, durch die dieses reinigende und schützende Wasser zur Nase abfließt. Nur wenn das Auge die Tränen nicht mehr bergen kann, fließen sie die Wangen herab. Das sind die kurzen Zeiten höchster Erregung. Doch unablässig das ganze Leben hindurch rinnt Tropfen für Tropfen durch die Tränenkanäle vom Auge nieder zur Nasenhöhle, um dort die Schleimhaut feucht zu halten. Das muß so sein; wem einmal Nase und Mund vom Winde ausgetrocknet worden sind, der weiß, daß die Atemwege feucht sein sollen.

Diese Tränen sind aber auch das einzige, was von oben herab zur Nase fließt. Ach ja, man muß auch das erst sagen, so fest hängt der Mensch am längst verlachten Irrtum. Es gibt ja immer noch genug, die, wie die alten Griechen, an eine geheimnisvolle Öffnung zwischen Nase und Hirn glauben, durch die beim Schnupfen oder sonst der Inhalt des Schädels ausläuft. Und das läuft dann in der Welt herum, redet mit und schämt sich nicht zu Tode. Wann endlich wird der Tag kommen, wo der Mensch sich selbst betrachtet statt seiner Kleider?

Auch für den Geruchssinn ist es nötig, daß die Tränen das Naseninnre benetzen. Allerdings wenn man sieht, mit welcher Brutalität die Welt und ihre Gewohnheiten diesen feinen Sinn behandeln, was sie ihm alles zumuten und wie sie ihn schändlich abzustumpfen versuchen, so könnte man wünschen, ein ledernes Schnupfenfutteral zu haben statt einer lebendigen Nase. Und doch, wie vermöchte die Narrheit des Menschen die Größe des Lebens gänzlich zu töten? Ich gebe zu, es gibt Leute, die den Küchengeruch der Erbsensuppe nicht von dem Duft eines Veilchens unterscheiden können, oder vielmehr, die beides nicht wahrnehmen. Aber selbst der stumpfste Mensch bleibt für einen Geruch empfindlich, für den seines Mitmenschen.

Der Geruchssinn ist, das sollte man wissen, der hauptsächliche Vermittler von Sympathie und Antipathie, er führt Menschen zusammen und trennt sie für immer, ja für das, was man Wohlgefallen nennt, ist er in viel höherm Grade entscheidend als das Auge oder selbst das Ohr oder das Gefühl. Über ein häßlich Gesicht kann man hinwegsehn in eine schöne Seele hinein, eine widrige Stimme erträgt die Zuneigung schon schwerer, aber sie erträgt sie, und der Widerwille gegen die Berührung wird in tausend Ehen überwunden. Aber eine Liebe wider den Willen des Geruchssinns ist unmöglich. Freilich eins muß man dabei bedenken; ein jeder Mensch hat seine eigne Nase, und was dem einen angenehm ist, schreckt den andern zurück. Es gibt Menschen, gesunde, ästhetisch hoch entwickelte, durchaus nicht hysterische Menschen, denen der Geruch der Rose unerträglich ist und die den stinkenden Asant lieben, und wenn du einen Menschen fliehst wie die Pest, weil deine Nase sich vor ihm ekelt, sei gewiß, der dritte Mensch neben dir fühlt sich gerade durch das angezogen, was dich abschreckt.

Man kennt die Geschichte von dem Reisenden, der in China zu einem Gastmahl des Mandarins eingeladen war. Mitten zwischen all den Höflichkeiten, die ihm erwiesen werden und die er erwidert, sagt er zum Dolmetscher, der zwischen ihm und den fremden Herrn vermittelt: Reizende Leute, diese Chinesen, wahrhaftig, sie geben das Muster der Gastfreundschaft. Wenn sie nur nicht so stänken. Da lacht der Dolmetscher und erwidert: Wissen Sie, was eben der Mandarin zu seinem Nachbar sagte? Angenehme Menschen, diese Europäer, aber sie stinken. – Und da gibt es noch Leute, die uns erzählen, die Chinesen seien unsre Brüder. Nun, wie gesagt, ich hoffe auf eine neue Serumreaktion. Sonst muß man sich mit dem Geruch begnügen, um nicht allzu menschheitsliebend zu werden. Aber schließlich genügt das auch. Wie heißt es doch: Dich stinkt's? Mich riecht's wunderschön.

Man glaubt es vielleicht nicht, daß der Geruchssinn so entscheidend ist; man glaubt ja vieles nicht, wenn es nicht allstündlich wiederholt wird. Aber man achte einmal darauf, was am lebhaftesten Erinnerungen wachruft, das ist der Geruch. Du sitzt im Theater, im Konzert, in der Eisenbahn, oder du gehst auf der Straße, und plötzlich überrieselt dich ein Grauen, ein unerträglicher Widerwille, und du siehst Bilder aus deiner Kindheit oder deiner Jugend aufsteigen, an die du nie gedacht hast. Neben dir sitzt ein Mensch oder er ging an dir vorbei, der denselben Geruch hatte wie einer, den du gehaßt hast, der deine kindliche Seele verletzte, und unwillkürlich überträgst du diesen Haß auf deinen Nachbar. Und mit der Freundschaft ist es nicht anders. Das Leben hat tausend Wege, Menschen unlösbar zusammenzuketten oder ewig zu trennen, nicht bloß den einen Weg innrer Seelenharmonie, wie uns schöne Geister weismachen wollen.

Der Mensch ist ein Wunder, man sollte es nicht vergessen. Denn ist es nicht Zauber, daß ein Stückchen Drüsensubstanz, nicht größer als der Schwamm einer Puppenschiefertafel, Blut in salziges Wasser zu verwandeln vermag? Und was in der Tränendrüse geschieht, das geschieht in andrer Weise und mit andern Kräften in den Nieren, in jedem Stückchen der Mundschleimhaut, der Magenwand, in den Hoden und Eierstöcken, in dem innern Ohr und in den Hirnkanälen, das geschieht fortwährend in der Haut; eine wunderbare Wandlung geht da neben der andern vor sich, ohne Unterbrechung immer und immer, und so, daß der Mensch nicht einmal ahnt, was vor sich geht. Es muß schon arg kommen, ehe er merkt, daß er schwitzt. Aber die Schweißdrüsen sondern fortwährend Flüssigkeit ab, in Schweiß verwandeltes Blut, und wenn diese Tätigkeit einmal stillsteht oder nicht ausreicht, so ist Gefahr im Anzug. Im Grunde genommen geht das Leben ja unterhalb unsres Bewußtseins vor sich, wir nehmen es gar nicht wahr, und für uns gilt das Wort, daß wir geschoben werden, wenn wir zu schieben glauben.

Da gibt es Gebilde in der menschlichen Haut, die sind ununterbrochen tätig, lebendige Zellen zu zerstören, um daraus Fett zu bilden, mit dem die Haut sich selbst schmeidigt und glättet, die Talgdrüsen; wir merken nicht das geringste von ihrer Arbeit. Still wie diese kleinen verachteten Drüsen sind die Diener des Lebens in uns geschäftig, tun ihre Arbeit und leben den Menschen. So kann man es nennen, so kann man sagen: nicht wir leben, sondern wir werden gelebt.

Es ist auch solch ein ewig mißhandeltes Wesen, unsre Haut. Wenn sie an Gesicht und Händen glatt ist, ist's genug. Alles andre decken die Kleider, und wenn sich hie und da einer wirklich wäscht, so glaubt er schon wunder was für seine Haut getan zu haben. Ihr Luft und Sonne bieten? Die Wilden laufen nackt, denn sie sind schamlos. Wir aber, wir Europäer stehn so hoch in der Kultur, daß die Atmosphäre unsrer Ausdünstungen weit besser ist als die freie Himmelsluft und Gottes Sonne. Man sei ehrlich gegen sich selbst und überlege! Die meisten meiner Leser werden nur für die Sekunden des Hemdwechsels unbekleidet sein, ein großer Teil – so nehme ich an, vielleicht denke ich da zu gut – wird während des Waschens, also etwa eine Viertelstunde täglich nackt sein, sehr wenige wird aber dabei die Sonne bescheinen und die sonnige Luft umwehn, denn Fenster und Vorhänge pflegen geschlossen zu sein. Städtische und private Sonnenbäder tun es nicht, und für die Masse der Bevölkerung wird es lange Zeit ein frommer Wunsch bleiben, im eignen Heim in Licht und Luft zu baden. Wohlhabende Leute aber haben wohl ein Zimmer, in dem sie unbelästigt von den Blicken andrer der Haut das geben, was sie braucht, Reinlichkeit. Wer immer in den Kleidern steckt, ist nicht reinlich. Er lebt ununterbrochen in einer Dampfwolke seines eignen Schweißes.

Hier, bei Gelegenheit der Haut, möchte ich eine Bemerkung über den Wert der Krankheitsuntersuchung und Krankheitsdiagnose machen. Die Erscheinungen auf der Haut lassen sich leicht mit den Augen und mit dem Gefühl feststellen. Man sollte denken, daß eine Krankheit, die man sieht, viel leichter zu erkennen und deshalb auch mit besserm Erfolg zu behandeln sei. Das erste ist nur zum Teil richtig, das zweite ist ganz und gar falsch. Im allgemeinen läßt sich die Diagnose der Hautkrankheit mit leidlicher Sicherheit stellen, einfach ist das aber nicht, es gehört schon viel Erfahrung, ein gutes Auge und eine Menge gesunder Menschenverstand dazu. Und selbst wenn das alles zur Verfügung steht, bleiben noch genug Fälle übrig, in denen drei Sachverständige dem Leiden vier verschiedne Namen geben.

Nun gar die Behandlung. Die Behandlung der Hautkrankheiten ist fast die schwierigste, die es für den Arzt gibt. Sie könnte auch lehrreich sein; denn sie beweist mit zwingender Deutlichkeit, daß ein und dieselbe Krankheit an zwei verschiednen Menschen oft nicht in derselben Weise behandelt werden kann, und daß zwei ganz verschiedne Krankheiten unter ein und derselben Behandlung heilen. An gewissen Erscheinungen der Haut, etwa am Ekzem oder der Furunkelbildung oder der Schuppenflechte, läßt es sich selbst dem eingeschwornen Anhänger der Krankheitsbehandlung zeigen, daß der Gegenstand der ärztlichen Tätigkeit nicht die Krankheit, sondern der kranke Mensch ist, daß wir nicht Krankheiten zu heilen, sondern kranke Menschen zu behandeln haben. Wer das nicht glaubt, der probiere seine Geschicklichkeit einmal an einem chronischen Ekzem. Diagnostizieren wird er es wohl können, aber darauf kommt es nicht an, sondern auf das Behandeln. In Büchern kann er viel über die Behandlung dieser Krankheit lesen, ganze Bände, ganze Bibliotheken; aber es wird ihm nichts nützen. Wenn er sich dagegen entschlösse, statt der Bücher den Menschen, der vor ihm steht, in all seinen Beziehungen zu studieren, so wäre es leicht möglich, daß er das Rechte fände.

Ich erwähnte früher, daß die Haut mit das blutreichste Organ des menschlichen Körpers ist. Das gilt aber nur von ihren tiefern Teilen, die obersten Schichten enthalten überhaupt keine Adern. Trotzdem sind sie saftreich, und das Abschuppen der Haut, wie es nicht nur nach Krankheiten, sondern fortdauernd das ganze Leben hindurch stattfindet, beweist, daß gerade in diesen blutleeren Schichten ein reger Stoffwechsel stattfindet. Die Zellen dieser Hautpartien liegen nicht dicht nebeneinander, sondern zwischen ihnen sind saftgefüllte Lücken, die durch Fortsätze der Zellen in regelmäßigen Zwischenräumen überbrückt sind. Das mikroskopische Bild der Haut gibt eine deutliche Vorstellung von den Wegen, in denen die Körpersäfte fließen. Auch ihre Bedeutung tritt klar hervor. Gerade diese blutlosen Teile der Haut gestalten unser Gefühlsleben; jeder, der sich einmal die Oberhaut abgeschürft hat, weiß, daß eine solche entblößte Stelle wohl noch Schmerz empfinden kann, daß sie aber nicht imstande ist, irgendein angenehmes, wohltuendes Gefühl auszulösen. Der Volksmund, der gerade bei den Hautkrankheiten von schlechten Säften spricht, hat eben ganz recht. Weitaus der größte Teil aller Hautkrankheiten hat direkt nichts mit dem Blut zu tun, sie verlaufen in Schichten, die gar kein Blut enthalten.

Es ist nicht anders, alle Organe, durch die uns Sinneseindrücke vermittelt werden – und die Sinneseindrücke machen ja erst das Leben inhaltsreich und lebenswert –, stehn nur in lockrem Zusammenhang mit dem Blutkreislauf, ja in ihren wesentlichen Teilen sind sie ganz unabhängig davon. Auch das Ohr arbeitet mit einer Flüssigkeit, die weder Blut noch Blutwasser noch Lymphe ist, sondern ihren eignen Charakter hat. Das innre Ohr, in dem erst der Ton wahrgenommen wird, ist mit dieser Flüssigkeit angefüllt.

Wie alles im Körper, ist auch das Ohr mit größter Genauigkeit für seinen Zweck eingerichtet. Jedes Geräusch und jeder Ton lassen die Luft erzittern; das weiß ein jeder vom Kanonenschuß her, bei dem man nicht nur die Erde deutlich beben fühlt, sondern auch die Luft. Aber auch jeder andre Ton bringt eine Bewegung in der Luft hervor, selbst das leiseste Flüstern, und jedesmal ist diese Bewegung eine andre, je nachdem der Ton laut oder leise, tief oder hoch war. Diese verschiedenartige Luftbewegung ist es nun, die wir wahrnehmen, die wir hören.

Das Ohr funktioniert ähnlich wie ein Telefon. Da spricht der eine gegen eine Metallplatte und erschüttert sie durch den Klang seiner Worte. Diese Erschütterungen der Sprechplatte werden durch elektrische Drähte der Hörplatte mitgeteilt, so sicher, daß in ihr genau dieselben Bewegungen entstehn wie in der Sprechplatte, und diese Bewegungen der Empfangsplatte bringen den gleichen Laut, das gleiche Wort hervor, das in den Sprechtrichter hineingerufen wurde. So ungefähr ist das Ohr auch eingerichtet; ein Geräusch, ein Klang, ein Ton, ein Wort treffen das Trommelfell, das zwischen den Wänden des äußern Gehörgangs ausgespannt ist. Wie die Platte des Telefons wird es in Schwingungen versetzt, die dann von den Gehörknöchelchen in das innre Ohr und auf die dort befindliche Flüssigkeit übergeleitet werden. Durch die Erschütterung entstehn Wellen in dem Ohrwasser, und die Wellen schlagen gegen kleine Falten und Härchen der innern Ohrwand an, gleichsam gegen Hörplatten, deren Bewegung der Hörnerv dann wahrnimmt. Es spricht jemand mit dir, und bei jedem Wort, jeder Silbe, jedem Buchstaben wird die Luft in Bewegung gebracht; genau in derselben Zeitfolge und Stärke wie jener spricht, schwingen in deinem Ohr beim Hören kleine Platten, so daß dir nichts entgeht. Man sieht, an der Gehörsempfindung ist ebenso wie beim Sehn und Fühlen der Blutkreislauf nicht unmittelbar beteiligt, und ebensowenig ist er es bei der eigentlichen Gehirntätigkeit. Auch dorthin bringt das Blut die Lebensstoffe; damit sie aber wirksam werden, das Denken, Wahrnehmen, Wollen ermöglichen, müssen sie aus der Blutbahn austreten, sich den Säften des Gehirngewebes beimischen, und erst von diesen Säften aus werden sie wirksam. Wir erkennen deutlich aus diesen Erwägungen, wie beschränkt die Rolle des Bluts im Organismus ist. Das Blut transportiert die Stoffe, die das Leben braucht; damit sie aber lebendig werden, in den Lauf der lebendigen Vorgänge eingreifen können, müssen sie erst aus dem Blut in die Säfte übergehn. Den Säftekreislauf zu kennen ist für das Verständnis des Menschen ebenso wichtig wie der Überblick über den Blutkreislauf. Nur leider, uns fehlt diese Kenntnis, man kann fast sagen, vollständig. Wir wissen im Grunde genommen nicht mehr von ihm, als daß er existiert, ja daß er schon seiner Ausdehnung nach eine größre Rolle spielen muß als der des Bluts; denn die Gesamtmenge des Bluts beträgt nur etwa den siebenten Teil der Flüssigkeit, die jeder Körper in sich birgt.

Aber selbst die Kenntnis dieses Säftekreislaufs in den Geweben würde uns noch nicht viel weiterbringen. Nahrung, Bau- und Heizmaterial, wie es dem Körper durch Essen, Trinken und Atmen zugeführt wird, alles ist für die Lebensprozesse nutzlos, solange es in den Gefäßen ist, es ist auch in den Säften der Gewebe nicht brauchbar; erst dann wird es das geheimnisvolle Geschehn beeinflussen können, wenn es in die Lebenseinheit der Zelle eingedrungen ist und von deren Kräften zum Leben verwendet wird. Und auch in der Zelle muß dieses flüssige Lebensmaterial strömen und kreisen, um jedem einzelnen Teilchen des Zelleibs Erfrischung zu bringen. Denn die Zelle ist ein wunderbar verwickelter Bau, in deren seltsamen Gänge, Räumen und Wänden sich noch kein menschliches Auge auskennt. Als man die Zellen entdeckte, hielt man sie für ein leicht zu überschauendes Gebilde; aber von Jahr zu Jahr werden in diesem winzigen Körperchen, das erst unter dem Mikroskop sichtbar wird, neue verwirrende Einzelheiten entdeckt, so daß uns diese Lebenseinheit jetzt ebenso unbegreiflich ist, wie der Mensch selbst. Eins aber wissen wir, daß in der Zelle nicht Ruhe herrscht, sondern daß unablässig ein Flüssigkeitsstrom hindurchzieht, der Leben bringt und Totes wegspült.

Ich bin mir durchaus nicht sicher, ob es mir gelungen ist, die verwickelten Verhältnisse des Körperkreislaufs zur klaren Anschaulichkeit zu bringen. Es ist aber unbedingt nötig, diese eine Sache richtig aufzufassen, wenn man ein leidliches Urteil über den gesunden und kranken Menschen gewinnen will. Denn der Mensch, der fortwährend Stoffe in sich und in allen seinen Teilen durch das Leben, das Sein verbraucht, muß auch fortwährend neue Stoffe in sich aufnehmen und sie allen seinen Teilen, auch den kleinsten, auch den Zellen, jeder einzelnen Zelle und jedem einzelnen Teilchen dieser Zelle zuführen. Zu diesem Zweck kreisen in ihm Nährflüssigkeiten, von denen die eine, an Menge geringste, das Blut ist, während andre sich zwischen den Geweben und Zellen fortbewegen, und noch andre in den Abteilungen und Kanälen der Zelle selbst fließen. Nur vom Blut ist Strombett und Beschaffenheit der Flüssigkeit einigermaßen bekannt, dagegen wissen wir über die Eigenschaften und die Fortbewegung der andern Säfte wenig mehr, als daß sie existieren und eine außerordentlich große Bedeutung für das Wohlergehn des Menschen haben.

Um wenigstens diese geringen Kenntnisse recht klar darzustellen, lohnt es sich vielleicht, das Schicksal eines Glases Wasser von dem Moment des Trinkens bis zu dem der Ausscheidung zu verfolgen. Zunächst kommt das Wasser in den Magen und Darm. Dort mischt es sich mit allerlei andern Nahrungsstoffen. Ein Teil des Wassers wandert mit den Speiserückständen durch den ganzen Darmkanal und wird im Kot ausgeschieden, ohne überhaupt in das Innre des Körpers zu gelangen. Der andre Teil wird mitsamt den in ihm gelösten Nahrungsstoffen von der Darmwand aufgesogen und gelangt in den Blutkreislauf. In dem wird es eine Zeitlang als Blutflüssigkeit umhergetrieben. Gewisse Mengen geraten dabei in die Nieren, werden dort in Harn verwandelt und abgesondert. Wieder andre treten irgendwo aus den kleinsten Adern, den Haargefäßen, aus, fließen eine Zeitlang zwischen den Geweben und Zellen und werden dann entweder an einer andern Stelle wieder in das Blut aufgenommen, um dort von neuem zu kreisen, oder es wird hier oder dort ein Tropfen davon in einen Zelleib eingesogen. Dort in der Zelle fließt der Tropfen von einem Teilchen zum andern, gibt Nahrung ab und nimmt Rückstände auf, ein Teil davon wird auch wohl zum Bau der Zelle benutzt. Ist die Zelle gesättigt und ausgewaschen, so tritt der Tropfen mitsamt den in ihm gelösten Rückständen aus dem Zelleib heraus, mischt sich mit den Säften der Umgebung und fließt mit ihnen zu einer Stelle hin, wo er in ein Blutgefäß eindringen kann. Diese Wanderung kann sich lange Zeit wiederholen, so daß dasselbe Wasser bald im Blut kreist, bald als Ohr- oder Gehirn- oder Gelenkwasser gebraucht wird, bald in die Augenkammer gerät oder in die oberflächlichen Schichten der Haut. Jedesmal verändert es dabei seine Eigenschaften, weil jedesmal andre Bestandteile in ihm gelöst sind, so daß es im Lauf der Zeit ein wechselvolles Schicksal hat. Irgendwann aber kommt der Augenblick wo es auf seinem Wege, sei es durch die Haut oder die Lungen oder die Darmwand oder die Tränendrüsen oder die Nieren, aus dem Körper entfernt wird.


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