Jacob und Wilhelm Grimm
Kinder- und Hausmärchen
Jacob und Wilhelm Grimm

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Kinderlegenden

1. Der heilige Joseph im Walde.

Es war einmal eine Mutter, die hatte drei Töchter, davon war die älteste unartig und bös, die zweite schon viel besser, obgleich sie auch ihre Fehler hatte, die jüngste aber war ein frommes, gutes Kind. Die Mutter war aber so wunderlich, daß sie gerade die älteste Tochter am liebsten hatte und die jüngste nicht leiden konnte. Daher schickte sie das arme Mädchen oft hinaus in einen großen Wald, um es sich vom Halse zu schaffen, denn sie dachte es würde sich verirren und nimmermehr wiederkommen. Aber der Schutzengel, den jedes fromme Kind hat, verließ es nicht, sondern brachte es immer wieder auf den rechten Weg. Einmal indessen that das Schutzenglein, als wenn es nicht bei der Hand wäre, und das Kind konnte sich nicht wieder aus dem Walde herausfinden. Es ging immerfort, bis es Abend wurde, da sah es in der Ferne ein Lichtchen brennen, lief darauf zu und kam vor eine kleine Hütte. Es klopfte an, die Thür ging auf, und es gelangte zu einer zweiten Thür, wo es wieder anklopfte. Ein alter Mann, der einen schneeweißen Bart hatte und ehrwürdig aussah, machte ihm auf, und das war niemand anders als der heilige Joseph. Er sprach ganz freundlich: »Komm, liebes Kind, setze dich ans Feuer auf mein Stühlchen und wärme dich, ich will dir klar Wässerchen holen, wenn du Durst hast; zu essen aber hab' ich hier im Walde nichts für dich als ein paar Würzelchen, die mußt du dir erst schaben und kochen.« Da reichte ihm der heil. Joseph die Wurzeln; das Mädchen schrappte sie säuberlich ab, dann holte es ein Stückchen Pfannkuchen und das Brot, das ihm seine Mutter mitgegeben hatte, und that alles zusammen in einem Kesselchen bei das Feuer, und kochte sich ein Mus. Als das fertig war, sprach der heil. Joseph: »Ich bin so hungrig, gieb mir etwas von deinem Essen.« Da war das Kind bereitwillig und gab ihm mehr als es für sich behielt, doch war Gottes Segen dabei, daß es satt ward. Als sie nun gegessen hatten, sprach der heil. Joseph: »Nun wollen wir zu Bett gehen; ich habe aber nur ein Bett, lege du dich hinein, ich will mich ins Stroh auf die Erde legen.« »Nein,« antwortete es, »bleib du nur in deinem Bett, für mich ist das Stroh weich genug.« Der heil. Joseph aber nahm das Kind auf den Arm und trug es ins Bettchen, da that es sein Gebet und schlief ein. Am anderen Morgen, als es aufwachte, wollte es dem heil. Joseph guten Morgen sagen, aber es sah ihn nicht. Da stand es auf und suchte ihn, konnte ihn aber in keiner Ecke finden: endlich gewahrte es hinter der Thür einen Sack mit Geld, so schwer, als es ihn nur tragen konnte, darauf stand geschrieben, das wäre für das Kind, das heute nacht hier geschlafen hätte. Da nahm es den Sack und sprang damit fort und kam auch glücklich zu seiner Mutter, und weil es ihr alle das Geld schenkte, so konnte sie nicht anders, sie mußte mit ihm zufrieden sein.

Am folgenden Tage bekam das zweite Kind auch Lust in den Wald zu gehen. Die Mutter gab ihm ein viel größer Stück Pfannkuchen und Brot mit. Es erging ihm nun gerade wie dem ersten Kinde. Abends kam es in das Hüttchen des heil. Joseph, der ihm Wurzeln zu einem Mus reichte. Als das fertig war, sprach er gleichfalls zu ihm: »Ich bin so hungrig, gieb mir etwas von deinem Essen.« Da antwortete das Kind: »Iß als mit.« Als ihm danach der heil. Joseph sein Bett anbot und sich aufs Stroh legen wollte, antwortete es: »Nein, leg dich als mit ins Bett, wir haben ja beide wohl Platz darin.« Der heil. Joseph nahm es auf den Arm, legte es ins Bettchen und legte sich ins Stroh. Morgens, als das Kind aufwachte und den heil. Joseph suchte, war er verschwunden, aber hinter der Thür fand es ein Säckchen mit Geld, das war händelang, und darauf stand geschrieben, es wäre für das Kind, das heute nacht hier geschlafen hätte. Da nahm es das Säckchen und lief damit heim und brachte es seiner Mutter, doch behielt es heimlich ein paar Stück für sich.

Nun war die älteste Tochter neugierig geworden und wollte den folgenden Morgen auch hinaus in den Wald. Die Mutter gab ihr Pfannkuchen mit, so viel sie wollte, Brot und auch Käse dazu. Abends fand sie den heil. Joseph in seinem Hüttchen gerade so, wie ihn die zwei anderen gefunden hatten. Als das Mus fertig war und der heil. Joseph sprach: »Ich bin so hungrig, gieb mir etwas von deinem Essen,« antwortete das Mädchen: »Warte, bis ich satt bin, was ich dann übrig lasse, das sollst du haben.« Es aß aber beinahe alles auf und der heil. Joseph mußte das Schüsselchen ausschrappen. Der gute Alte bot ihm nachher sein Bett an und wollte auf dem Stroh liegen, das nahm es ohne Widerrede an, legte sich in das Bettchen und ließ dem Greis das harte Stroh. Am anderen Morgen, wie es aufwachte, war der heil. Joseph nicht zu finden, doch darüber machte es sich keine Sorgen: es suchte hinter der Thür nach einem Geldsack. Es kam ihm vor, als läge etwas auf der Erde, doch weil es nicht recht unterscheiden konnte, was es war, bückte es sich und stieß mit seiner Nase daran. Aber es blieb an der Nase hängen, und wie es sich aufrichtete, sah es zu seinem Schrecken, daß es noch eine zweite Nase war, die an der seinen festhing. Da hub es an zu schreien und zu heulen, aber das half nichts, es mußte immer auf seine Nase sehen, wie die so weit hinausstand. Da lief es in einem Geschrei fort, bis es dem heil. Joseph begegnete, dem fiel es zu Füßen und bat so lange, bis er aus Mitleid ihm die Nase wieder abnahm und noch zwei Pfennige schenkte. Als es daheim ankam, stand vor der Thür seine Mutter und fragte: »Was hast du geschenkt kriegt?« Da log es und antwortete: »Ein großen Sack voll Geldes, aber ich habe ihn unterwegs verloren.« »Verloren!« rief die Mutter, »o, den wollen wir schon wiederfinden,« nahm es bei der Hand und wollte mit ihm suchen. Zuerst fing es an zu weinen und wollte nicht mitgehen, endlich aber ging es mit, doch auf dem Wege kamen so viele Eidechsen und Schlangen auf sie beide los, daß sie sich nicht zu retten wußten; sie stachen auch endlich das böse Kind tot und die Mutter stachen sie in den Fuß, weil sie es nicht besser erzogen hatte.

 

2. Die zwölf Apostel.

Es war dreihundert Jahre vor des Herrn Christi Geburt, da lebte eine Mutter, die hatte zwölf Söhne, war aber so arm und dürftig, daß sie nicht wußte, womit sie ihnen länger das Leben erhalten sollte. Sie betete täglich zu Gott, er möchte doch geben, daß alle ihre Söhne mit dem verheißenen Heiland auf Erden zusammen wären. Als nun ihre Not immer größer ward, schickte sie einen nach dem anderen in die Welt, um sich ihr Brot zu suchen. Der älteste hieß Petrus, der ging aus, und war schon weit gegangen, eine ganze Tagereise, da geriet er in einen großen Wald. Er suchte einen Ausweg, konnte aber keinen finden und verirrte sich immer tiefer; dabei empfand er so großen Hunger, daß er sich kaum aufrecht erhalten konnte. Endlich war er so schwach, daß er liegen bleiben mußte und glaubte dem Tode nahe zu sein. Da stand auf einmal neben ihm ein kleiner Knabe, der glänzte und war so schön und freundlich wie ein Engel. Das Kind schlug seine Händchen zusammen, daß er aufschauen und es anblicken mußte. Da sprach es: »Warum sitzest du da so betrübt?« »Ach,« antwortete Petrus, »ich gehe umher in der Welt und suche mein Brot, damit ich noch den verheißenen lieben Heiland sehe: das ist mein größter Wunsch.« Das Kind sprach: »Komm mit, so soll dein Wunsch erfüllt werden.« Es nahm den armen Petrus an der Hand und führte ihn zwischen Felsen zu einer großen Höhle. Wie sie hineinkamen, so blitzte alles von Gold, Silber und Krystall, und in der Mitte standen zwölf Wiegen nebeneinander. Da sprach das Englein: »Lege dich in die erste und schlaf ein wenig, ich will dich wiegen.« Das that Petrus, und das Englein sang ihm und wiegte ihn so lange, bis er eingeschlafen war. Und wie er schlief, kam der zweite Bruder, den auch sein Schutzenglein hereinführte, und ward wie der erste in den Schlaf gewiegt, und so kamen die anderen nach der Reihe, bis alle zwölf da lagen in den goldenen Wiegen und schliefen. Sie schliefen aber dreihundert Jahre, bis in der Nacht, worin der Weltheiland geboren ward. Da erwachten sie und waren mit ihm auf Erden und wurden die zwölf Apostel genannt.

 

3. Die Rose.

Et was mal eine arme Frugge, de hadde twei Kinner; dat jungeste moste olle Dage in en Wald gohn un langen (holen) Holt. Asset nu mal ganz wiet söken geit, kam so en klein Kind, dat was awerst ganz wacker to em un holp (half) flietig Holt lesen un drog et auck bis für dat Hus; dann was et awerst, eh en Augenschlägsken (Augenblick) vergienk, verswunnen. Dat Kind vertelde et siner Moder, de wul et awerst nig glöven. Up et lest brochte et en Rause (Rose) mit un vertelde, dat schöne Kind hädde em deise Rause gieven un hädde em sägt, wenn de Rause upblöhet wär, dann wull et wier kummen. De Moder stellde dei Rause in't Water. Einen Morgen kam dat Kind gar nig ut dem Bedde, de Moder gink to dem Bedde hen un fund dat Kind daude (tot); et lag awerst ganz anmotik. Un de Rause was den sulftigen Morgen upblöhet.

 

4. Armut und Demut führen zum Himmel.

Es war einmal ein Königssohn, der ging hinaus in das Feld und war nachdenklich und traurig. Er sah den Himmel an, der war so schön rein und blau, da, seufzte er und sprach: »Wie wohl muß einem erst da oben im Himmel sein!« Da erblickte er einen armen greisen Mann, der des Weges daher kam, redete ihn an und fragte: »Wie kann ich wohl in den Himmel kommen?« Der Mann antwortete: »Durch Armut und Demut. Leg an meine zerrissenen Kleider, wandere sieben Jahre in der Welt und lerne ihr Elend kennen; nimm kein Geld, sondern wenn du hungerst, bitte mitleidige Herzen um ein Stückchen Brot, so wirst du dich dem Himmel nähern.« Da zog der Königssohn seinen prächtigen Rock aus und hing dafür das Bettlergewand um, ging hinaus in die weite Welt und duldete groß Elend. Er nahm nichts als ein wenig Essen, sprach nichts, sondern betete zu dem Herrn, daß er ihn einmal in seinen Himmel aufnehmen wollte. Als die sieben Jahre herum waren, da kam er wieder an seines Vaters Schloß, aber niemand erkannte ihn. Er sprach zu den Dienern: »Geht und sagt meinen Eltern, daß ich wiedergekommen bin.« Aber die Diener glaubten es nicht, lachten und ließen ihn stehen. Da sprach er: »Geht und sagt's meinen Brüdern, daß sie herab kommen, ich möchte sie so gern wiedersehen.« Sie wollten auch nicht, bis endlich einer von ihnen hinging und es den Königskindern sagte, aber diese glaubten es nicht und bekümmerten sich nicht darum. Da schrieb er einen Brief an seine Mutter und beschrieb ihr darin all sein Elend, aber er sagte nicht, daß er ihr Sohn wäre. Da ließ ihm die Königin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm täglich durch zwei Diener Essen bringen. Aber der eine war bös und sprach: »Was soll dem Bettler das gute Essen!« behielt's für sich oder gab's den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm, was er für ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeitlang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwächer ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heil. Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu läuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da tot, in der einen Hand eine Rose, in der anderen eine Lilie, und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte aufgeschrieben.

Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabes eine Rose, auf der anderen eine Lilie heraus.

 

5. Gottes Speise.

Es waren einmal zwei Schwestern, die eine hatte keine Kinder und war reich, die andere hatte fünf Kinder und war eine Witwe und war so arm, daß sie nicht mehr Brot genug hatte, sich und ihre Kinder zu sättigen. Da ging sie in der Not zu ihrer Schwester und sprach: »Meine Kinder leiden mit mir den größten Hunger, du bist reich, gieb mir einen Bissen Brot.« Die steinreiche Frau war auch steinhart, sprach: »Ich habe selbst nichts in meinem Hause,« und wies die Arme mit bösen Worten fort. Nach einiger Zeit kam der Mann der reichen Schwester heim und wollte sich ein Stück Brot schneiden, wie er aber den ersten Schnitt in den Laib that, floß das rote Blut heraus. Als die Frau das sah, erschrak sie und erzählte ihm, was geschehen war. Er eilte hin und wollte helfen, wie er aber in die Stube der armen Witwe trat, so fand er sie betend; die beiden jüngsten Kinder hatte sie auf den Armen, die drei ältesten lagen da und waren gestorben. Er bot ihr Speise an, aber sie antwortete: »Nach irdischer Speise verlangen wir nicht mehr; drei hat Gott schon gesättigt, unser Flehen wird er auch erhören.« Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so thaten die beiden Kleinen ihren letzten Atemzug, und darauf brach ihr auch das Herz und sie sank tot nieder.

 

6. Die drei grünen Zweige.

Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden, Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Tier wurde damit getränkt und manche Pflanzen damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah, wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vor sich hin: »Jetzt widerfährt diesem sein Recht.« Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, prüfte sein Herz und bedachte, womit er wohl könnte gesündigt haben, weil Gott also zürne, aber er wußte es nicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hörte er ein Vöglein, das sang so schön und herrlich, da ward er noch betrübter und sprach: »Wie singst du so fröhlich! Dir zürnt der Herr nicht; ach, wenn du mir sagen könntest, womit ich ihn beleidigt habe, damit ich Buße thäte, und mein Herz auch wieder fröhlich würde!« Da fing das Vöglein an zu sprechen und sagte: »Du hast unrecht gethan, weil du einen armen Sünder verdammt hast, der zum Galgen geführt wurde, darum zürnt dir der Herr; er allein hält Gericht. Doch wenn du Buße thun und deine Sünde bereuen willst, so wird er dir verzeihen.« Da stand der Engel neben ihm und hatte einen trockenen Ast in der Hand und sprach: »Diesen trockenen Ast sollst du so lange tragen, bis drei grüne Zweige aus ihm hervorsprießen, aber nachts, wenn du schlafen willst, sollst du ihn unter dein Haupt legen. Dein Brot sollst du dir an den Thüren erbitten und in demselben Hause nicht länger als eine Nacht verweilen. Das ist die Buße, die dir der Herr auferlegt.«

Da nahm der Einsiedler das Stück Holz und ging in die Welt zurück, die er so lange nicht gesehen hatte. Er aß und trank nichts, als was man ihm an den Thüren reichte; manche Bitte aber ward nicht gehört, und manche Thür blieb ihm verschlossen, also daß er oft ganze Tage lang keine Krume Brot bekam. Einmal war er vom Morgen bis Abend von Thür zu Thür gegangen, niemand hatte ihm etwas gegeben, niemand wollte ihn die Nacht beherbergen, da ging er hinaus in einen Wald und fand endlich eine angebaute Höhle, und eine alte Frau saß darin. Da sprach er: »Gute Frau, behaltet mich diese Nacht in Euerm Hause.« Aber sie antwortete: »Nein, ich darf nicht, wenn ich auch wollte. Ich habe drei Söhne, die sind bös und wild, wenn sie von ihrem Raubzug heimkommen und finden Euch, so würden sie uns beide umbringen.« Da sprach der Einsiedler: »Laßt mich nur bleiben, sie werden Euch und mir nichts thun,« und die Frau war mitleidig und ließ sich bewegen. Da legte sich der Mann unter die Treppe und das Stück Holz unter seinen Kopf. Wie die Alte das sah, fragte sie nach der Ursache; da erzählte er ihr, daß er es zur Buße mit sich herumtrage und nachts zu einem Kissen brauche. Er habe den Herrn beleidigt, denn als er einen armen Sünder auf dem Gange nach dem Gericht gesehen, habe er gesagt, diesem widerfahre sein Recht. Da fing die Frau an zu weinen und rief: »Ach, wenn der Herr ein einziges Wort also bestraft, wie wird es meinen Söhnen ergehen, wenn sie vor ihm im Gericht erscheinen.«

Um Mitternacht kamen die Räuber heim, lärmten und tobten. Sie zündeten ein Feuer an, und als das die Höhle erleuchtete und sie einen Mann unter der Treppe liegen sahen, gerieten sie in Zorn und schrien ihre Mutter an: »Wer ist der Mann? Haben wir's nicht verboten, irgend jemand aufzunehmen?« Da sprach die Mutter: »Laßt ihn, es ist ein armer Sünder, der seine Schuld büßt.« Die Räuber fragten: »Was hat er gethan? Alter,« riefen sie, »erzähl' uns deine Sünden.« Der Alte erhob sich und sagte ihnen, wie er mit einem einzigen Worte schon so gesündigt habe, daß Gott ihm zürne und er für diese Schuld jetzt büße. Den Räubern ward von seiner Erzählung das Herz so gewaltig gerührt, daß sie über ihr bisheriges Leben erschraken, in sich gingen und mit herzlicher Reue ihre Buße begannen. Der Einsiedler, nachdem er die drei Sünder bekehrt hatte, legte sich wieder zum Schlafe unter die Treppe. Am Morgen aber fand man ihn tot, und aus dem trockenen Holze, auf welchem sein Haupt lag, waren drei grüne Zweige hoch emporgewachsen. Also hatte ihn der Herr wieder in Gnaden zu sich aufgenommen.

 

7. Muttergottesgläschen.

Es hatte einmal ein Fuhrmann seinen Karren, der mit Wein schwerbeladen war, festgefahren, sodaß er ihn trotz aller Mühe nicht wieder losbringen konnte. Nun kam gerade die Mutter, Gottes des Weges daher, und als sie die Not des armen Mannes sah, sprach sie zu ihm: »Ich bin müde und durstig, gieb mir ein Glas Wein, und ich will dir deinen Wagen frei machen.« »Gern,« antwortete der Fuhrmann, »aber ich habe kein Glas, worin ich dir den Wein geben könnte.« Da brach die Mutter Gottes ein weißes Blümchen mit roten Streifen ab, das Feldwinde heißt und einem Glase sehr ähnlich sieht, und reichte es dem Fuhrmann. Er füllte es mit Wein, und die Mutter Gottes trank ihn, und in dem Augenblick ward der Wagen frei und der Fuhrmann konnte weiter fahren. Das Blümchen heißt noch immer Muttergottesgläschen.

 

8. Das alte Mütterchen.

Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß abends allein in seiner Kammer; es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefstem Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich, daß es die ganze Nacht also in Leid durchwacht hätte, zündete seine Leuchte an und ging zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Licht. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitze kam, war er auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandte, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern, aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es ging aber ein leises Summen und Wehen durch die Kirche. Da stand eine Muhme auf, trat vor und sprach zu dem Mütterlein: »Dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen.« Die Alte blickte hin und sah ihre beiden Kinder, der eine hing am Galgen, der andere war auf das Rad geflochten. Da sprach die Muhme: »Siehst du, so wäre es ihnen ergangen, wären sie im Leben geblieben und hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen.« Die Alte ging zitternd nach Hause und dankte Gott auf den Knien, daß er es besser mit ihr gemacht hätte als sie hätte begreifen können; und am dritten Tage legte sie sich und starb.

 

9. Die himmlische Hochzeit.

Es hörte einmal ein armer Bauernjunge in der Kirche wie der Pfarrer sprach: »Wer da will ins Himmelreich kommen, muß immer geradeaus gehen.« Da machte er sich auf und ging immer zu, immer gerade, ohne abzuweichen, über Berg und Thal. Endlich führte ihn sein Weg in eine große Stadt und mitten in die Kirche, wo eben Gottesdienst gehalten wurde. Wie er nun all die Herrlichkeit sah, meinte er, nun wäre er im Himmel angelangt, setzte sich hin und war von Herzen froh. Als der Gottesdienst vorbei war und der Küster ihn hinausgehen hieß, antwortete er: »Nein, ich gehe nicht wieder hinaus, ich bin froh, daß ich endlich im Himmel bin.« Da ging der Küster zum Pfarrer und sagte ihm, es wäre ein Kind in der Kirche, das wollte nicht wieder heraus, weil es glaubte, es wäre im Himmelreich. Der Pfarrer sprach: »Wenn es das glaubt, so wollen wir es darin lassen.« Darauf ging er hin und fragte, ob es auch Lust hätte zu arbeiten. »Ja,« antwortete der Kleine, »ans Arbeiten wäre er gewöhnt, aber aus dem Himmel ginge er nicht wieder heraus.« Nun blieb er in der Kirche, und als er sah, wie die Leute zu dem Muttergottesbild mit dem Jesuskinde, das aus Holz geschnitten war, kamen, knieten und beteten, dachte er: »Das ist der liebe Gott« und sprach: »Hör einmal, lieber Gott, was bist du mager! Gewiß lassen dich die Leute hungern; ich will dir aber jeden Tag mein halbes Essen bringen.« Von nun an brachte er dem Bilde jeden Tag die Hälfte von seinem Essen, und das Bild fing auch an die Speise zu genießen. Wie ein paar Wochen herum waren, merkten die Leute, daß das Bild zunahm, dick und stark ward, und wunderten sich sehr. Der Pfarrer konnte es auch nicht begreifen, blieb in der Kirche und ging dem Kleinen nach. Da sah er, wie der Knabe sein Brot mit der Mutter Gottes teilte und diese es auch annahm.

Nach einiger Zeit wurde der Knabe krank und kam acht Tage lang nicht aus dem Bette; wie er aber wieder aufstehen konnte, war sein erstes, daß er seine Speise der Mutter Gottes brachte. Der Pfarrer ging ihm nach und hörte wie er sprach: »Lieber Gott, nimm's nicht übel, daß ich dir so lange nichts gebracht habe; ich war aber krank und konnte nicht aufstehen.« Da antwortete ihm das Bild und sprach: »Ich habe deinen guten Willen gesehen, das ist mir genug; nächsten Sonntag sollst du mit mir auf die Hochzeit kommen.« Der Knabe freute sich darüber und sagte es dem Pfarrer, der bat ihn hinzugehen und das Bild zu fragen, ob er auch dürfte mitkommen. »Nein,« antwortete das Bild, »du allein.« Der Pfarrer wollte ihn erst vorbereiten und ihm das Abendmahl geben, das war der Knabe zufrieden; und nächsten Sonntag, wie das Abendmahl an ihn kam, fiel er um und war tot und war zur ewigen Hochzeit.

 

10. Die Haselrute.

Eines Nachmittags hatte sich das Christkind in sein Wiegenbett gelegt und war eingeschlafen, da trat seine Mutter heran, sah es voll Freude an und sprach: »Hast du dich schlafen gelegt, mein Kind? Schlaf sanft, ich will derweil in den Wald gehen und eine Handvoll Erdbeeren für dich holen; ich weiß wohl, du freust dich darüber, wenn du aufgewacht bist.« Draußen im Walde fand sie einen Platz mit den schönsten Erdbeeren, als sie sich aber herabbückt, um eine zu brechen, so springt aus dem Grase eine Natter in die Höhe. Sie erschrickt, läßt die Beeren stehen und eilt hinweg. Die Natter schießt ihr nach, aber die Mutter Gottes, das könnt ihr denken, weiß guten Rat, sie versteckt sich hinter eine Haselstaude und bleibt da stehen, bis die Natter sich wieder verkrochen hat. Sie sammelt dann die Beeren, und als sie sich auf den Heimweg macht, spricht sie: »Wie die Haselstaude diesmal mein Schutz gewesen ist, so soll sie es auch in Zukunft anderen Menschen sein.« Darum ist seit den ältesten Zeiten ein grüner Haselzweig gegen Nattern, Schlangen und was sonst auf der Erde kriecht, der sicherste Schutz.

 


 


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