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Achtzehntes Kapitel

Berthilde hatte ihre Einkäufe besorgt und eilte nun nach der Wohnung des Lohnkutschers, der sie nach Hause fahren sollte. Dabei schritt sie quer über einen kleinen Platz, als sie Grésil erblickte. Der einstige Schulkamerad ließ den Kopf hängen und hatte eine so schlaffe Haltung, daß sie ihn kaum erkannt hätte. Die Begegnung war ihr unerwünscht und rief doch so viele Erinnerungen wach, daß sie unwillkürlich stehen blieb. Grésil, der sie bisher nicht bemerkt hatte, blickte plötzlich auf und wurde dunkelrot, als er sie erkannte.

»Fräulein Berthilde ... ach, verzeihen Sie ... gnädige Frau,« stotterte er. »Ich weiß nicht, ob mich's freut, oder kränkt, daß ich Sie sehe!«

»Wieso, Grésil?« fragte die junge Frau, die mit Erstaunen wahrnahm, daß dieser sich mit scheuen Blicken nach allen Seiten umsah.

»Ach, weil Sie gar so viel Not und Elend mit mir hatten, gnädige Frau, und vielleicht ist's damit noch nicht einmal zu Ende! Die Großmutter ist krank und verlangt sehr nach Ihnen. Ich hab's Ihnen nicht schreiben mögen, weil ich nicht recht wußte, wie ich's angreifen sollte und ob's Ihnen nicht unangenehm wäre ... aber sehen Sie wohl, Fräulein ... gnädige Frau ... sie ist so alt und möchte Sie so sehr gern noch einmal sehen ... ich weiß, daß ich viel verlange, aber weil ich Sie nun eben getroffen, will ich meinen Auftrag wenigstens bestellt haben!«

Währenddessen beobachtete er alle Vorübergehenden mit wachsamen Blicken.

»Ich weiß nicht, ob ...«

»Sie will Sie nämlich um etwas bitten, um was, das kann ich Ihnen nicht sagen, und dann möchte sie Ihnen danken. Sie weiß ja, ohne daß ich nötig gehabt hätte, es ihr zu sagen, daß ohne Sie ... kurz, sie möchte, wie sie sagt, ihre Rechnungen ins reine bringen ... ich kann nur sagen, sie würde ruhiger sterben, wenn Sie ihr den Willen thäten, und schließlich ... ein Unrecht geschieht ja niemand damit, meine ich.«

Der junge Mann sah sie so flehend und zugleich so verängstigt an, daß Berthilde sich halb gerührt, halb beklommen fühlte; aber die herzliche Zuneigung, die sie der alten Frau von Kinderzeiten her bewahrt hatte, gebot ihr, diesem Ruf zu folgen.

»Nun denn,« sagte sie, nach der Uhr sehend, »weil es schon spät ist, will ich sofort zu ihr gehen. Morgen käme ich vielleicht nicht dazu, und in den nächsten Tagen werden wir auf Reisen gehen.«

»Dann ist's um so besser, wenn Sie's heute thun!« stimmte Grésil bei. »Wenn ich Sie auch nie mehr sehen sollte, Frau Berthilde, so schadet's nicht ... die Großmutter wird Ihnen schon alles Nötige sagen! Leben Sie wohl, Frau Berthilde!«

»Begleiten Sie mich denn nicht zu ihr?« fragte sie.

»Ich? Keine Rede! Leben Sie wohl, Frau Berthilde.«

Damit zog er seine Mütze und machte kehrt. Höchlich verwundert über diesen jähen Abschied schlug Berthilde den Weg nach dem ihr so wohlbekannten alten Häuschen ein. Die Stube war heute nicht mehr so sonnig, wie bei ihrem letzten Besuch, dafür strahlte das damals vergrämte Antlitz der Greisin von heiterer Zuversicht, und bei Berthildes Anblick leuchteten ihre Augen vor Freude.

»Endlich!« sagte sie mit schwacher Stimme. »Ich wußte es ja, daß Sie kommen würden! Hat er Ihnen geschrieben?«

»Nein, ich begegnete Grésil auf der Straße und er sagte, Sie wollten mich um etwas bitten ...«

»Ja, ich will's Ihnen gleich sagen.«

Sie schickte das Nachbarskind, das in Grésils Abwesenheit bei ihr war, fort und bat Berthilde, sich an ihr Bett zu setzen.

»Sie haben mir mehr Gutes gethan, als irgend ein Mensch auf Erden, und daß ich's weiß und Ihnen dankbar bin, das wollte ich Ihnen sagen, ehe der liebe Gott mich abruft ...«

Berthilde hielt den Blick gesenkt. Jede Anspielung auf ihren Eingriff in die traurigen Vorgänge berührte sie peinlich, und es war ihr auffallend, daß die sonst so feinfühlige alte Frau dieses Gefühl weder voraussetzen, noch schonen zu wollen schien.

»Und doch,« fuhr die Kranke fort, »gibt es jemand, dem ich noch mehr verdanke als Ihnen, und dieser Person möchte ich danken ... der Frau Notar nämlich ...«

Berthilde schreckte sichtlich zusammen, und die müden Augen der Greisin füllten sich mit Thränen.

»Wundert Sie das?« fragte sie sanft. »Ja, sehen Sie, wenn die Frau Notar geschwiegen hätte, so wäre die Sache den Herren vom Gericht sonnenklar vorgekommen, und mein Junge säße jetzt im Zuchthaus. Manche andre an ihrer Stelle hätte geschwiegen ... es ist was Schönes, wenn einer seine Schuld gesteht, um einen Unschuldigen zu retten! Sie sagen vielleicht, das sei ja ihre Pflicht gewesen ... Freilich, aber wie viele würden diese Pflicht erfüllt haben? Drum möcht' ich sie sehen und ihr danken, und lange warten kann ich nicht mehr ... wollen Sie ihr's sagen?«

»Ja, das will ich, aber ob sie kommen wird, weiß ich nicht. Sie verschließt sich vor aller Welt ...«

»Ich bin nicht alle Welt,« versetzte die Kranke mit Würde, »sondern eine Sterbende. Zu einer solchen kommt unser Herrgott, da kann auch die Frau Notar zu mir kommen.«

Berthilde beugte sich über die alte Frau und küßte ihre weiße Stirn.

»Bestellen werde ich's ihr, Mutter Grésil, und ich hoffe, daß sie kommen wird. Ich jedenfalls ...« sie kämpfte mit ihren Thränen ... »danke Ihnen, daß Sie daran dachten, sie herbeizurufen, danke Ihnen in meinem und in ihrem Namen für all die guten Worte ...«

Seltsam bewegt verließ sie die alte Frau. Sollte sie ihrem Mann von diesem Besuch erzählen, ihm sagen, daß sie das Haus betreten hatte, von dessen Schwelle sie allerdings nichts fernhielt als ein gewisses Schicklichkeitsgefühl, im Grund nur die Rücksicht auf andrer Meinung? Würde sie den Mut haben. Grésils Namen zu nennen, während Armand doch mit krankhafter Beharrlichkeit alles mied, was ihn an sein Unglück erinnerte.

Von diesen Gedanken erfüllt, eilte sie flüchtigen Fußes dahin, ohne ihren Gatten zu bemerken, der, wie er sich einredete, rein zufällig, in Wahrheit aber von innerer Unruhe getrieben, auch in diesen Stadtteil geraten war. Sie eilte ahnungslos an ihm vorüber, er aber hatte sie gesehen.

Sie kam noch eine halbe Stunde vor der Essenszeit nach Hause, wo sie mit Erstaunen hörte, daß Armand ausgegangen sei. Ohne länger darüber nachzudenken, kleidete sie sich mit Sorgfalt um, denn sie wollte ihn frisch und heiter empfangen. Er kam ziemlich spät nach Hause, verstimmt und verstaubt.

»Du bist doch noch ausgegangen?« fragte sie, als sie sich zu Tisch gesetzt hatten.

»Ja ... Hast du all deine Einkäufe besorgt?«

»Gewiß, morgen früh wird Mama alles erhalten, was sie braucht,« versetzte sie nicht ohne Befangenheit.

Die Augen kaum von seinem Teller erhebend, blieb er wortkarg und verdrießlich, so daß sie den Gedanken, ihm von Grésil zu erzählen, vollends aufgab. Er dagegen erwartete mit Spannung eine Erklärung des Besuchs in jenem Hause, und weil jedes dem andern seine Gedanken verschwieg, senkte sich ein dichter Nebelschleier über das Einzige, was ihnen geblieben war, ihre Liebe.


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