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Elftes Kapitel

Der Schwurgerichtssaal in Riom war gedrängt voll Wer in Clermont Zeit und Geld übrig hatte, war herübergefahren.

Das Zeugenverhör war beendigt. Von Karoline Brichol an, die nicht einmal gewußt haben wollte, wovon die Rede sei, bis auf den Schutzmann, der Grésil in jenem ersten Fall in der Nähe des Geprügelten getroffen hatte, war von jedem ein kleines Steinchen herbeigetragen worden, und mit all diesen winzigen Steinchen wollte nun der Staatsanwalt die Steinigung ausführen.

Im Publikum hatten sich zwei Parteien gebildet; die eine hielt Grésil für den Verbrecher, die andre für einen Dummkopf.

»Sich kein Alibi verschaffen können, wenn man thatsächlich unschuldig ist! Das ist so dumm, daß es auch Strafe verdient!«

Andre behaupteten sogar, ein Mörder, der so gewitzt sei, um keinerlei Spur zu hinterlassen, bedeute eine größere Gefahr für die öffentliche Sicherheit als jeder andre und müsse beseitigt werden. Ein Todesurteil verlangte die öffentliche Meinung indessen nicht, der Notar war nicht beliebt genug gewesen, als daß man nach blutiger Rache für ihn geschrieen hätte.

Tiefe Stille trat ein, als der Staatsanwalt sich erhob, um die Anklage zu vertreten. Er zögerte aber, seine Rede zu beginnen, weil dem Präsidenten in diesem Augenblick durch einen Gerichtsdiener ein Schreiben zugestellt wurde, das er sofort öffnete.

Die Ankunft dieses Schriftstückes war so auffällig, daß die Blicke aller Anwesenden an den Zügen des Präsidenten hingen, der einen kurzen Brief las. Sobald er ihn durchflogen hatte, reichte er ihn seinem Nachbar zur rechten, während er selbst mehrere dicht beschriebene Blätter aus dem nämlichen Briefumschlag zog. Die Menge hielt förmlich den Atem an.

»Führen Sie den Angeklagten ab – der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück,« erklärte der Präsident.

Halb unterdrückte Laute der Ueberraschung wurden von allen Seiten hörbar, jeder blieb aber an seinem Platz, um die weiteren Ereignisse abzuwarten, aller Blicke richteten sich auf den Ausgang, durch den Richter und Geschworene den Saal verlassen hatten, tausenderlei Vermutungen und Gerüchte schwirrten umher.

Nach Verlauf einer halben Stunde lehrten Richter und Geschworene zurück, auch der Angeklagte wurde wieder hereingeführt. Eine unsägliche Verblüffung herrschte, als der Präsident jetzt dem Publikum die Mitteilung machte, der wahre Thäter habe sich genannt, und das Verfahren gegen die Anklage Ludwig Grésil werde eingestellt.

»Endlich! Was müssen die lieben Menschen nicht für mich gearbeitet haben!« sagte Grésil leise vor sich hin. »Gott lohn's ihnen! Meine alte Großmutter! Wenn sie mir nur nicht stirbt vor Freude!«

Alles drängte sich zu ihm her; er hatte aus einmal mehr Freunde, als er sich je hätte träumen lassen, und wurde von allen begeisterten Anhängern der Gerechtigkeit und Unschuld förmlich im Triumph auf die Straße begleitet.

»Jetzt mach' ich, daß ich zu meiner Großmutter komme!« sagte er zu seinem Advokaten, der die ausgefallene Verteidigungsrede nicht so schnell verwinden konnte, »und dann muß ich Herrn Armand danken, denn ich weiß ja, daß er es ist ...«

»Damit brauchen Sie sich nicht gerade zu überstürzen, mein Bester!« sagte der Anwalt warnend, der durch jene unerklärlichen Verbindungsdrähte, die Zeit, Ort, Wahrscheinlichkeit und Gesetze der Akustik verhöhnen, die Wahrheit bereits kannte.

* * *

Von dem Augenblicke an, wo sie das verhängnisvolle Manuskript in die Hand ihres Verlobten gelegt hatte, drängte sich Berthilde immer wieder die Frage auf: »Habe ich auch recht gehandelt?«

Solange sie von Zweifeln gequält, vom Drang nach Klarheit erfüllt und vom Verlangen der Rettung eines unschuldig Angeklagten beseelt, ihren Weg gegangen war, hatte sie die Folgen dieser Enthüllung nie ins Auge gefaßt.

Niedergeschmettert von einer Gewißheit, die nicht so furchtbar erschienen war, solange noch ein Zweifel übrig blieb, hatte Armand ohne bewußte Ueberlegung gehandelt – er hatte fast unwillkürlich die Schrift, die sein ganzes Lebensglück zerstörte, dem Gericht übergeben. Noch wußte Berthilde nicht, in welchem Seelenzustand er sich jetzt befinde. Sie hätte zu ihm eilen mögen, aber das durfte sie ja nicht, das schickte sich nicht, ein kleiner Zettel, den sie ihm geschickt hatte und der nur die vier Worte enthielt: »Komm, ich beschwöre dich!« war unbeantwortet geblieben.

»Habe ich auch recht gehandelt?« fragte sie sich. »Ohne mich hätte Armand nie gewagt, die Richtigkeit seiner Ahnungen zu ergründen ... wird er mir nicht im Grunde seines Herzens den Vorwurf machen, das Geständnis seiner Mutter erzwungen zu haben? Und doch ... konnte ich Grésil verurteilen lassen? Was ist mir aber dieser junge Mensch? Nichts! Und Frau Loysel ist mir eine Mutter! War es nicht unrecht?«

Doch ihr Gewissen ließ sich nicht irre führen.

»Nicht diesen Grésil habe ich beschützt, sondern das Recht,« sagte sie sich. »Hätte es mein eigenes Leben gekostet, ich würde es willig eingesetzt haben!«

Noch war sie in den Kampf mit ihren eigenen Gedanken versunken, als ihre alte Kinderfrau mit ganz verstörter Miene ins Zimmer trat.

»Der Grésil ist unten und will das gnädige Fräulein sprechen,« meldete sie. »Ja, wie ist er denn aus dem Gefängnis gekommen? Hat er denn den Herrn Notar nicht umgebracht?«

Berthilde gab ihr keine Antwort; langsam ging sie die Treppe hinunter. Die Mütze in der Hand, stand Grésil im Speisezimmer. Er war in der Haft mager und hohläugig geworden; sein Gesicht war blaß, und die Augen funkelten seltsam.

»Fräulein Berthilde,« begann er, und sein ganzes Herz lag in dem Ton, »ich bin frei! Sie haben's eingesehen, daß ich unschuldig bin! Und das weiß ich ja, daß niemand als Sie und Herr Armand mich denen vom Gericht aus den Krallen gerissen haben ... ich kann's nicht so sagen, wie ich Ihnen beiden dankbar bin ... nicht einmal so sehr für mich, als für die alte Großmutter!«

Seine Stimme hatte einen neuen, tiefen Klang, Verzweiflung und Empörung hatten den jungen Menschen verunstaltet gehabt, die Wonne der Erlösung umgab ihn mit einer Verklärung.

»Mein erster Gang war zu Herrn Armand, aber er lasse niemand vor, hieß es, drum bin ich jetzt zu Ihnen gekommen, Fräulein Berthilde! Ach, wenn Sie wüßten, wie die alte Frau sich freut! Bis zum letzten Atemzuge wird sie beten, für Sie und für die Frau Notar ...«

Berthilde machte ein so seltsames Gesicht, daß er innehielt.

»Ist's Ihnen vielleicht nicht recht, daß ich so unversehens daherkam?« fragte er eingeschüchtert. »Ich weiß wohl, man hat nicht gern einen Menschen im Hause, der gerade aus dem Gefängnis kommt, aber Sie haben sich ja meiner so freundlich angenommen ...«

»Nein, Grésil, Ihr Besuch ist mir nicht lästig,« beruhigte sie ihn. »Es hätte mir weh gethan, wenn Sie nicht gekommen wären.«

»So, aber ... was ist's denn dann? Sie sehen so gar nicht vergnügt aus, Fräulein Berthilde?«

Sie senkte den Blick vor seinen ehrlichen Augen, und nun fiel ihm plötzlich ein, was er hatte fragen wollen.

»Fräulein Berthilde, wie kommt's denn, daß man mich so schnell freiließ? Der wahre Thäter habe sich gestellt, hieß es ... wissen Sie, wer es ist?«

»Ja,« sagte Berthilde, in sich zusammenschauernd.

»Und mir wollen Sie's nicht sagen? Das werd' ich ja doch bald erfahren, solche Dinge reden sich schnell herum ... Ich möcht' ihn wohl sehen, den Kerl, der mir diese Suppe eingebrockt hat! Bei der Verhandlung werd' ich nicht fehlen, meiner Seel! Ja ... was haben Sie denn nur, Fräulein Berthilde?«

»O, reden Sie nicht so, Grésil!« sagte sie flehend. »Sie wissen ja nicht ... haben Sie Erbarmen mit dem Unglücklichen! Bedenken Sie, daß er noch schlimmer leidet als Sie ... leben Sie wohl, Grésil!«

Damit war sie verschwunden. Verblüfft sah der junge Mann ihr nach, dann ging er, allerlei Vermutungen aufwerfend, nach Hause.


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