Rudolf Greinz
Krähwinkel
Rudolf Greinz

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Die Geschichte meines Stipendiums

Ich habe arm studiert. Wenn es mir nicht geglückt wäre, ein kleines Familienstipendium zu erlangen, dann hätte ich wohl überhaupt mein Licht unter den Scheffel stellen müssen.

Nach absolviertem Gymnasium wandte ich mich dem Studium der Kunstgeschichte zu. Das Doktordiplom hatte ich endlich in der Tasche. Mein Stipendium war mit dem Abschluß meiner Studien eingestellt. Nur noch eine einzige Rate war zu beheben.

Meine gute Mutter, die ich früh verlor, stammte aus einer freiherrlichen Familie. Diesem Umstande hatte ich auch mein Stipendium zu verdanken. Die Auszahlung desselben erfolgte regelmäßig am Landgericht gegen Quittung und Ausfolgung des von Fall zu Fall von dem Amtsgericht eines entlegenen Nestes unterzeichneten Stiftsbriefes. Dort hausten die Nachkommen des Stifters.

Es war mir einmal mitgeteilt worden, daß die Besitztümer dieser mir gänzlich unbekannten 186 Verwandtschaft aus Olims Zeiten an eine alte ledige Dame übergegangen seien, die nicht von dem liebenswürdigsten Charakter sein sollte.

Ich hatte eine Probe davon bereits zu Beginn meiner akademischen Studien erhalten. Da kam von dem Amtsgericht Lingenau . . . so hieß das Nest . . . an mich im Auftrage der gegenwärtigen Majoratsherrin Ulrike Freifräulein von Zierfeld, der strikte Befehl, mich dahin zu äußern, ob ich wohl keiner schlagenden Verbindung angehöre. Ich war aber trotzdem die letzten zwei Jahre meiner Universitätszeit ein flotter Korpsbruder, soweit es meine beschränkten Mittel erlaubten.

In meiner Brusttasche steckte die unterschriebene Quittung für die letzte Rate meines Stipendiums. Ich wollte heute noch nach dem Landgericht, um mir das Geld zu holen. Eine Viertelstunde später stand ich vor der Liquidatur, wo mir die Summe und der quittierte Stiftsbrief eingehändigt wurden. Zum letzten Male.

In nicht gerade rosiger Stimmung kam ich nach Hause. Ich entfaltete zufällig den Stiftsbrief, als mir die Unterschrift bei der letzten Auszahlung auffiel: Königliches Amtsgericht Lingenau. Dr. Wilhelm Born, Amtsrichter.

187 Den kannte ich ja! Als ich noch krasser Fuchs bei den Vandalen war, machte er seine Gerichtspraxis und war unser Konkneipant. Ich hatte sogar mit ihm Bruderschaft getrunken. Dann waren wir uns entschwunden, wie es im Leben zu gehen pflegt. Also schon Amtsrichter! Hat rasch vorwärts gemacht, der Born! Sonderbar, auf welchen Wegen man von einem Menschen wieder erfährt . . .

Zu dem einzigen Fenster meiner Bude im vierten Stock, der ich durch Jahre treu geblieben war, wob die Abenddämmerung ihre Schleier herein. Da kam es plötzlich wie eine innere Erleuchtung über mich. Ich zündete hastig meine kleine Studierlampe an, setzte mich zum Tisch, nahm einen großen Bogen vor und schrieb in eiligen Zügen folgenden Brief an meinen Freund Born . . .

»Lieber Wilhelm! Mit lebhafter Freude las ich Deinen Namen unter dem letzten Auszahlungsvermerk meines Stipendiums. Und nun falle ich sofort mit der Türe ins Haus. Ich habe vor kurzem meinen Doktor gemacht und gedenke mich baldmöglichst zu habilitieren. Dazu braucht's aber Geld und wieder Geld. Mit ein paar hundert Mark wäre ich schön heraus. Könnte eine kleine Studienreise machen und mich während der nächsten 188 Zeit ungestört meiner Wissenschaft widmen. Ich habe nicht im entferntesten die Absicht, Dich anzupumpen. Jedoch dürfte es vielleicht Deinen persönlichen Beziehungen zu meiner mir unbekannten Urtante Ulrike von Zierfeld gelingen, eine außerordentliche Unterstützung für mich herauszuschlagen. Ich habe allerdings nicht viel Erfreuliches über die Liebenswürdigkeit der Majoratsherrin gehört. Erwähne ja nichts von meinem Vandalentum! Die alte Dame scheint keine Freundin von schlagenden Verbindungen zu sein. Sprich also für mich bei dem alten Drachen. Fressen wird er Dich wohl nicht. Du bist ja als Amtsrichter eine Respektsperson. Mit großer Spannung sehe ich Deinen Nachrichten entgegen. Fiduzit! Dein alter treuer

Dr. Edgar Reinfels.«

Eilig adressierte ich den Brief, sprang über die vier Treppen hinunter und trug ihn zum nächsten Postschalter. Das war ein Einfall gewesen! . . .

Eine ganze Woche verging unter Hoffen und Harren. Dann kam ein kurzes Schreiben von Born: »Lieber Alter! Deinen Brief erhalten. Ich glaube, es wird besser sein, wenn Du selber kommst. Ich habe dem ›Drachen‹ von Deinem Anliegen bereits Mitteilung gemacht. Er wünscht persönliche 189 Vorstellung. Aussichtslos ist Deine Sache keineswegs. Ich will Dir ein getreuer Schildknappe sein. Salem Aleikum! Ich bin seit anderthalb Jahren verheiratet und sehr glücklich. Wir haben kürzlich einen kräftigen Jungen aus der Taufe gehoben. Melde Deine Ankunft!«

Besonders beruhigend klang das gerade nicht. Etwas war's aber doch. Ich würde mich auch leichteren Herzens zu der Fahrt nach dem Glück entschlossen haben, wenn mich der Spiegel nicht jeden Tag darüber belehrt hätte, daß eine regelrechte hohe Quart meine Physiognomie verschönern half. Und damit sollte ich der Majoratsherrin begreiflich machen, daß ich nie einer schlagenden Verbindung angehört habe . . .

Ich beschloß trotzdem, sofort abzureisen. Meinem Freund telegraphierte ich, daß ich morgen mit dem Mittagzuge am Ende des verfügbaren Schienenweges ankommen und von dort meinen Weg per Post weiter suchen würde.

Als am nächsten Tage die schnaubende Lokomotive der Sekundärbahn mit 35 Minuten Verspätung ihr Endziel erreicht hatte, war ich nicht wenig erstaunt, Freund Born mit seiner Frau, einer herzigen, kleinen Brünette, auf dem Bahnhof zu finden. Als wir vom 190 Perron ins Freie traten, wartete auf uns eine herrschaftliche Equipage mit livriertem Kutscher.

»Das sieht aber verdammt feierlich aus!« rief ich.

»Wir werden dich doch nicht in dem miserabeln Rumpelkasten von einem Postwagen fahren lassen! Der Wagen ist natürlich vom Schloß. Du siehst, es läßt sich gar nicht so unfreundlich an!« klopfte mich Born auf die Achsel.

Er nötigte mich einzusteigen. Auf meine Erkundigungen nach der Majoratsherrin gab er ziemlich ausweichende Antworten. Dann fragte er mich eindringlich, ob ich auf der Bahn vielleicht zufällig Leute aus der Gegend gesprochen habe, die mir von dem alten Freifräulein näheres erzählt hätten. Als ich es verneinte, war er sichtlich befriedigt.

In nicht viel mehr als zwei Stunden erreichten wir das Städtchen, das sich malerisch am Fuße eines langgestreckten Höhenzuges ausbreitete. Das »Schloß meiner Ahnen« lag noch etwa eine Viertelstunde außerhalb des Ortes auf einer kleinen Anhöhe, von einem riesigen Park umgeben.

Eine breite Fahrstraße führte durch den Park, um den eine ziemlich hohe Umfassungsmauer lief. Auf der Straßenseite war die Mauer durch ein elegantes Gitter unterbrochen.

191 Freund Born sprang aus dem Wagen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloß das Gitter auf. Er schien hier wie zu Hause zu sein. Das Gitter wurde hinter uns gesperrt, und es ging in langsamem Tempo den sorgfältig geschotterten, sich in weiten Serpentinen windenden Weg empor.

Der Wagen hielt an einer großen Rampe. Ein livrierter Diener öffnete den Schlag und belud sich mit meinem kleinen Reisekoffer. Wir stiegen eine prachtvolle Freitreppe empor. Der Diener mit dem Koffer voran. Wir langsam hinterdrein.

Ein Stockwerk. Ein zweites Stockwerk. Wir traten in ein geräumiges Zimmer. Der Diener stellte den Koffer auf den Boden und entfernte sich schweigend mit einem Bückling.

»Und jetzt?« fragte ich meinen Freund in etwas unbehaglicher Stimmung.

»Jetzt lassen wir dich allein!« entgegnete er. »Du mußt doch Toilette machen.«

»Wir gehen einstweilen in den Salon hinunter zu dem gnädigen Fräulein und erwarten Sie dort,« sagte Frau Born. »Das Stubenmädchen oder ein Diener wird Sie führen. Läuten Sie, sobald Sie fertig sind!« Sie deutete nach einem gestickten Glockenband neben der Tür.

192 »Kneife mir nicht aus!« flüsterte ich meinem Freunde zu.

»Verlaß dich auf mich! Eine halbe Stunde wird für deine Vorbereitungen wohl genügen?«

»Ich denke!« Ich schüttelte ihm die Hand.

Herr und Frau Born verließen mich. Ich war allein in meinem neuen Heim. Äußerst komfortables Zimmer. Die Fenster gingen nach dem Park. Draußen der blaue Himmel und lichter Sonnenschein. Es wäre märchenhaft schön gewesen, wenn mir meine erste Aufwartung bei der freiherrlichen Urtante nicht noch bevorgestanden hätte . . .

Als ich mich vom Fenster wegwandte, fiel mein Blick auf ein Bild, das an der einen Längswand des Zimmers hing. Es stellte die heilige Familie dar. Ein Sonnenstrahl spielte auf den goldenen Locken des Kindes. Das war ein guter alter Meister. Ein Kunstwerk ersten Ranges. Ich trat näher, legte die Hand über die Augen, um alle Einzelheiten plastischer hervortreten zu lassen. Hier stand ich vor etwas Außergewöhnlichem.

Es ließ mir keine Ruhe mehr. Ich stieg auf einen Stuhl, nahm das Gemälde vom Nagel, brachte es ans Fenster und ließ das Sonnenlicht, gedämpft durch den halb zugezogenen Vorhang, auf all die 193 Farbenpracht fallen. Ein lauter Jubelschrei entrang sich meiner Brust. Ich konnte mich unmöglich täuschen. Das war ein echter Tintoretto!

Ich hatte unwillkürlich die Hände vor der Brust gefaltet und war in andächtiges Beschauen ganz versunken. Alles um mich hatte ich vergessen. Nur der Gesang der Vögel aus dem Park drang ab und zu an mein Ohr . . . Plötzlich kehrte ich wieder in die Wirklichkeit zurück und sah hastig nach der Uhr. Es war bereits mehr als eine Stunde vergangen, seit sich Freund Born und Frau von mir verabschiedet hatten.

Eilig ergriff ich das Bild, brachte es an seinen Platz, sperrte den Koffer auf, riß meinen Frackanzug heraus und kleidete mich so schnell als möglich um. Nach einem verzweiflungsvollen letzten Kampf zwischen einem Menschen und einer schwarzen Halsbinde war ich fertig. Vor einem mannshohen Spiegel in goldenem Barockrahmen hielt ich Generalprobe. . . . Die verdammte hohe Quart! . . .

Jetzt geschwind noch die Glacéhandschuhe. Der Claque, der hatte seine Geschichte. Er konnte nur noch zusammengeklappt Effekt machen. Aufklappen ließ er sich nicht mehr. Die Sprungfeder war zerbrochen, und der seidene Überzug hatte mehrere 194 unheilbare Risse bekommen. Meine alte Quartierfrau war daher auf den großartigen Einfall gekommen, den Deckel mit der Krempe in so genialer Weise zu verbinden, daß die ganze Maschine immer noch einem regelmäßig funktionierenden Claque glich.

Ich ging langsam nach dem Glockenband, zog kräftig an und hörte es in der Ferne läuten. Dann Stille. Bald darauf kamen trippelnde Schritte über den Korridor. Es klopfte fast schüchtern an.

Auf mein lautes »Herein!« trat ein bildschönes Mädchen ins Zimmer. Ein einfaches, schwarzes Kleid, über das eine weiße Schürze gelegt war, umhüllte die schlanke Gestalt. Auf dem reichen, dunkelblonden Haar trug sie ein neckisches Spitzenhäubchen. Zwei große Augen sahen mich ängstlich und fragend an. Ich schaute unwillkürlich nach der Madonna des Tintoretto.

»Sie wünschen zum gnädigen Fräulein geführt zu werden, Herr Doktor?« fragte das schöne Kind verlegen.

»Aber das hat ja gar keine Eile!« meinte ich. »Wie heißen Sie denn?«

»Ich? Agnes!« sagte sie und warf mir einen scheuen Blick zu. »Das gnädige Fräulein erwartet Sie schon längst.«

195 »Ich komme gleich!« rief ich. Dabei hatte ich sie um die Mitte gefaßt und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf die vollen Lippen. Sie war glutrot geworden. Es schien mir fast, als ob sie mit den Tränen kämpfen würde. Zwei vorwurfsvolle Augen starrten mich aus ihrem erschreckten Gesicht an.

»Ich wollte Sie nicht kränken, Agnes . . . Fräulein Agnes!« setzte ich unwillkürlich hinzu. »Es war ein unüberlegter Scherz. Seien Sie mir nicht bös! So sprechen Sie doch ein Wort! Sind Sie mir wirklich bös?«

Sie schwieg und biß sich auf die Lippen.

»Was denken Sie jetzt wohl über mich?« fragte ich.

»Das kann Ihnen ja gleichgültig sein!« erwiderte sie abweisend.

»Das ist mir durchaus nicht gleichgültig!« rief ich. »Ich will es wissen.«

»Nun, wenn Sie es wissen wollen . . .« sprach sie und warf den Kopf in den Nacken, während sie mir ernst in die Augen sah. »Ich dachte mir, daß ich von einem Gelehrten mehr Bildung erwartet hätte.«

Der Hieb saß. Lieber noch eine hohe Quart und ein paar Terzen dazu. Ich fühlte, wie mir das Blut bis in die Schläfen stieg. Merkwürdig, wie sie mir zu imponieren wußte. Und dieses Mädchen mit den 196 stolzen Mienen einer Königin, mit den Augen, in denen Strafe und Lohn zugleich lag, mit den herben Lippen, die sich gegen einen Kuß gesträubt hatten . . . dieses holde Kind war die Kammerzofe, die mich führen sollte.

Ich klemmte den Claque krampfhaft unter den rechten Arm und zog mir in aller Eile die Handschuhe an. Sie ging voraus. Wenn sie sich nur ein einziges Mal nach mir umgesehen hätte. Aber nein. Ich sollte keinen Blick mehr erhaschen. Sie ließ mich in ein Vorzimmer treten und verschwand.

Mein Freund Born schob sich durch einen Flügel der Doppeltüre, die offenbar in den Salon führte. »Aber Junge, wo bleibst du denn?« sprach er halblaut und vorwurfsvoll zu mir.

»Ich habe einen Tintoretto entdeckt!« entschuldigte ich mich.

»Ach was! Tintoretto her, Tintoretto hin!« meinte der Barbar etwas unwirsch. »Wir warten schon seit einer Stunde auf dich!« Er geleitete mich durch die Tür in einen mit gediegener Pracht ausgestatteten Salon. »Da bringe ich den Säumigen!« sagte er.

Ich verbeugte mich tief. An einem kleinen Tisch am Erkerfenster des Salons saß neben der Frau meines Freundes eine alte Dame mit Schmachtlocken. 197 Das gnädige Fräulein preßte ein Lorgnon auf die Nase und fixierte mich von oben bis unten.

»Also Sie sind der Doktor Reinfels?« sprach sie. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie scheinen es etwas zu sehr mit dem akademischen Viertel zu halten, Herr Doktor. Ich war heute Ihretwegen genötigt, unsere Teestunde zu verschieben.«

Stotternde Entschuldigung meinerseits. Mein Hemdkragen bekundete die unverkennbare Absicht, mich zu strangulieren . . . und die Krawatte schien sich auf den Klettersport verlegen zu wollen.

»Nehmen Sie Platz!« kommandierte das gnädige Fräulein.

Es war wirklich der reinste Kommandoton. Ich ließ mich mechanisch auf den nächsten Stuhl nieder. Na, der Empfang war so ziemlich, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

Ich war herzlich froh, daß mir Fräulein Ulrike, die sich mit Frau Born unterhielt, in der nächsten halben Stunde nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit schenkte und mich fast ausschließlich meinem Freund überließ. Ich fand dadurch Gelegenheit, mir meine »Urtante« verstohlen näher zu betrachten. Ich taxierte sie hoch Fünfzig. Sie konnte auch noch älter sein.

Agnes servierte den Tee. Sie sah mich nicht ein 198 einziges Mal an. Endlich empfahlen sich Born und Frau. Das gnädige Fräulein erklärte, wir wollten unseren gemeinsamen Freund bis an das Tor des Parkes begleiten.

Wir waren über die Freitreppe in den Park gelangt und schlenderten langsam dahin. Ich mit meinem Claque unter dem Arm.

»Aber bitte, Herr Doktor, setzen Sie doch auf!« sagte das gnädige Fräulein in bestimmtem Ton. Ich sollte meinen Claque aufsetzen! Das war gelungen. Ich geriet in tödliche Verlegenheit. »Bitte, genieren Sie sich doch nicht! Wir sind ja im Freien!« drängte sie.

»O, mir ist gar nicht kühl!« entgegnete ich verzweifelt. »Ich leide sehr an Kongestionen nach dem Kopf. Da tut mir die Luft wohl.«

So tappte ich barhaupt neben der Gesellschaft her. Ich kam mir unsagbar komisch vor. Beim Parktor verabschiedeten wir uns von Amtsrichters. Die gleiche Schließszene. Nur daß diesmal Fräulein Ulrike den Schlüssel hatte.

»Aber so setzen Sie doch auf, Herr Doktor!« fing sie abermals an.

Es war zum Verrücktwerden. Ich berief mich energisch auf meine Kongestionen und hatte endlich Ruhe.

199 Es ging sehr einsilbig zwischen uns her. Auf der Terrasse vor dem Schloß entließ sie mich.

»In einer Stunde wird soupiert!« sagte sie mit einem leichten vornehmen Kopfnicken. »Ich wünsche aber Pünktlichkeit. Wir wollen dann alles näher besprechen.«

Ich verbeugte mich. Sie verschwand am Eingang des Treppenhauses. Ich stand allein auf der Terrasse und schöpfte tief Atem. Bei diesem Seufzer der Erleichterung fiel mein Claque zu Boden.

»Warte, Bestie!« knirschte ich und bückte mich nach dem Ungetüm. Im nächsten Augenblick flog das Kunstwerk mit der Schnelligkeit eines australischen Bomerang durch die Luft und blieb in dem dichten Astwerk einer prachtvollen Linde hängen.

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich Agnes, wie sie mit einer kleinen Gießkanne sich um einige Oleanderstöcke auf der Terrasse zu schaffen machte. Sie hatte mein Beginnen gesehen. Offenbar hielt sie mich für verrückt.

»Guten Abend, Fräulein Agnes!« sprach ich und trat auf sie zu. »Wollen Sie mir jetzt vielleicht wieder sagen, was Sie von mir denken?«

Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht.

200 »Sie hatten jedenfalls Ihren Grund dazu!« meinte sie mit einem neckischen Ton in ihrer Stimme und sah mich fragend an.

Aha, sie ist doch neugierig! . . . dachte ich mir. Wenigstens spricht sie wieder mit mir. Vielleicht finde ich auf diesem Wege Verzeihung.

»Wenn Sie schweigen können,« sagte ich, »dann will ich Ihnen den wahren Grund enträtseln.« Sie nickte leicht. »Also hören Sie!« fuhr ich fort. »Dieser Hut birgt ein düsteres Geheimnis. Er ist nämlich gar kein Hut.«

»Was denn?« fragte sie jetzt wirklich neugierig.

»Eine moderne Schwindelexistenz. Ein Industrieritter. Ein Hochstapler. Er besteht aus nichts anderem mehr, als aus Krempe und Deckel. Verstehen Sie mich?«

Sie hatte sofort begriffen und lachte herzlich. Gottlob! Sie war doch nicht mehr bös. Aber ich wollte es aus ihrem eigenen Munde hören.

»Nicht wahr, das ist lustig?« sagte ich. »Und dieses Möbel hätte ich aufsetzen sollen! Sie können sich meine Situation lebhaft vorstellen. Sehen Sie, meine Ungezogenheit ist gleich empfindlich bestraft worden. Zürnen Sie mir noch, Fräulein Agnes? Es soll gewiß niemals wieder geschehen.« Sie hatte 201 die Augen niedergeschlagen. »Ein einziges Ja oder Nein!« drang ich in sie.

Sie sah mich forschend an. Dann sagte sie ruhig: »Nein!«

»Ich danke Ihnen!« rief ich lebhaft und ergriff ihre Hand, die ich unwillkürlich an die Lippen führte. Sie wurde wieder rot, nahm eilig die Gießkanne, nickte mir flüchtig zu und trat in das Treppenhaus . . .

Die Stunde zum Souper hatte geschlagen. Mit gemischten Gefühlen ging ich in den Salon. Alles hell erleuchtet. Ein Diener wies mich in das Speisezimmer. Es war für zwei Personen gedeckt. Die Schloßherrin hatte sich noch nicht eingefunden. Der Unpünktlichkeit konnte ich also nicht mehr geziehen werden.

Im Speisezimmer stand ein Flügel. Ich klappte den Deckel auf und begann leise auf den Tasten zu präludieren, als ich einen Schritt auf dem weichen Teppich vernahm. Ich sprang empor. Da war sie. Ulrike nämlich.

»Schon hier, Herr Doktor?« sagte sie mit einem leichten Kopfnicken. »Ich sehe, daß Sie sich in die Hausordnung überraschend schnell gefunden haben.« Sie deutete nach einem der beiden Stühle an dem gedeckten Tisch. Ich nahm Platz. Ein Druck auf die Glocke, und der Diener servierte.

202 »Jetzt wollen wir auf Ihre Angelegenheit zu sprechen kommen!« sagte die Majoratsherrin, als wir mit dem Braten zu Ende waren. Dabei fixierte sie mich über den Tisch wieder in höchst unangenehmer Weise durch ihr Lorgnon. »Sie werden es jedenfalls seltsam von mir gefunden haben, daß ich Sie hierher zitierte.«

»O, bitte, gar nicht!« beeilte ich mich zu versichern. »Wenn Ihnen, verehrte Gönnerin, nur nicht mein Ansuchen seltsam vorgekommen ist.«

»Nun, ich muß sagen,« meinte sie, »ich war anfangs etwas überrascht.« Wieder das Lorgnon. »Aber da der Herr Amtsrichter Sie mir in so warmen Worten empfahl, glaubte ich die ganze Angelegenheit doch in nähere Erwägung ziehen zu müssen.«

Vollständiger Amtsstil. Es machte mir den Eindruck, als ob sie sich jedes Wort sorgfältig vorher einstudiert hätte.

»Zu liebenswürdig!« verbeugte ich mich über die Bratenreste hinweg, die der Diener im nächsten Augenblick abräumte.

»Wir stehen allerdings in sehr weitläufigen Beziehungen . . .« Abermals das Lorgnon. »Ich habe mich um die Herren, denen das in unserer Familie bestehende Stipendium zufiel, nie gekümmert, da alle 203 damit verbundenen Angelegenheiten ausschließlich dem hiesigen Amtsgerichte anheimfallen . . . Einen praktischen Beruf haben Sie sich gerade nicht gewählt!« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

»Es sind nicht alle zu Kanzleimenschen geboren!« erwiderte ich etwas pikiert. Ich wollte sie schon auf den Tintoretto aufmerksam machen. Jetzt gerade nicht. »Mein Beruf ist Nebensache!« fuhr ich fort. »Es handelt sich darum, ob Sie, gnädiges Fräulein, geneigt sind, einem Menschen den Weg zu ebnen, der bisher seine Pflicht nach bestem Können erfüllt hat. Ich will auch durchaus nicht lediglich als Verwandter Ihrer Güte teilhaft werden. Es ist der junge Gelehrte, der seiner Wissenschaft und seinem Vaterland dereinst zur Ehre gereichen möchte, der sich an Sie gewendet hat.«

Meine Rede schien sichtlich Eindruck zu machen. »Bitte mir also im Laufe der nächsten Tage eine annähernde Berechnung aufzustellen, wieviel Sie bedürfen!« meinte sie nicht unfreundlich. »Spielen Sie Schach?« lenkte sie gleich darauf ab. Ich bejahte es. Der Diener brachte ein Schachbrett.

Während wir die Figuren zu der ersten Partie aufsetzten, kam Agnes in das Speisezimmer. Sie hatte die weiße Schürze abgebunden. Auch das 204 Häubchen fehlte. Das einfache, schwarze Kleid stand ihr vortrefflich. Sie setzte sich schweigend an das untere Ende des Tisches und nahm eine Stickerei hervor. Ich machte einen Fehler nach dem andern. Mußte ich doch über das Schachbrett hinweg beständig nach dem lieben Kind schielen, das von mir gar keine Notiz zu nehmen schien.

Ich verlor drei Partien hintereinander. Nachdem ich zum dritten Male mattgesetzt war, hob das gnädige Fräulein die Gesellschaft auf. Ich war entlassen. Der Diener begleitete mich auf mein Zimmer. Zum Abschied hatte mir Agnes doch noch einen Blick geschenkt. Sie erwiderte sogar meinen stummen Gruß mit einer leichten Verbeugung.

Der Diener entzündete auf meinem Zimmer die zwei Kerzen eines Armleuchters. Ich war allein. Durch die Fenster strich die kühle Nachtluft. Draußen lag der Park, aus dem das Plätschern eines Springbrunnens vernehmbar war. Sonst regte sich kein Laut. Kaum daß hier und da ein leichter Windhauch die Wipfel der Bäume bewegte, die sich dunkel und hoch gegen den prachtvollen Sternenhimmel abhoben. Der zunehmende Mond ging gerade hinter einem sanften Bergrücken unter.

An den Zweck meines Hierseins dachte ich 205 eigentlich gar nicht mehr, während ich am Fenster stand und die ganze schweigende Schönheit auf mich wirken ließ. Das holde Mädchenbild, dem ich heute begegnet war, herrschte allein in meiner Erinnerung.

Neben der Sehnsucht nach dem gelobten Lande der Kunst hatte auch ein anderer Traum frühzeitig in meiner Seele Platz gefunden. Es war der Traum von dem eigenen Heim.

Mit leuchtenden Farben hatte ich mir dasselbe oft genug ausgemalt . . . Ein liebes, verständnisvolles Weib. Und wenn ich oft über meinen Büchern und Schriften saß, überkam mich ein seliges Verlangen, daß sich jetzt leise die Tür öffnen möge . . . und dann ein leichter Schritt. Jetzt stand sie hinter mir, verdeckte mir neckisch mit den Händen die Augen und fragte mit einer silberhellen Stimme: »Rate, wer ich bin?« . . . Und ich zog sie an meine Seite und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. Und sie machte mir besorgte Vorwürfe, daß ich wieder zu angestrengt arbeite, nahm mir die Feder aus der Hand, setzte sich mir auf den Schoß und zauste mich bei Haaren und Ohren, daß ein Weiterarbeiten wahrhaft unmöglich gewesen wäre . . . Und dann fragte sie mich zum ungezählten Male, ob ich sie gewiß lieb habe, weil sie diese Versicherung am liebsten hörte . . .

206 Alles nur ein Luftschloß, ein Traum. Während ich früher doch noch manchmal im Zweifel war, in welche Kategorie ich eigentlich meine zukünftige Frau einreihen sollte, ob in die schwarze, brünette, blonde . . . war ich über diesen Punkt jetzt plötzlich zu einer ganz überraschenden Klarheit gekommen. Ich hätte es nicht mehr übers Herz gebracht, diese Rolle in meinem Traumbild einer andern Vertreterin zu geben, als dem herrlichen Mädchen, das ich erst heute kennengelernt hatte.

Wenn ich statt desjenigen, was ich eigentlich hier anstreben wollte, einen ganz andern und viel größeren Schatz fände? Diesem Mädchen zuliebe wollte ich ja auf alles verzichten. Sie war offenbar arm. Sonst würde sie nicht dienen. Das brachte mich ihr nur näher. Würde sie mich lieben können? . . . Aber alles schon am ersten Tage wissen wollen! . . .

Mild lächelte die Madonna des Tintoretto . . . Der Christusknabe sah mir mit seinen großen fragenden Augen überall nach, wo ich ging und stand . . . Das sinnende Haupt des heiligen Josef schien mir freundlich zu nicken . . .

Im Herzen einen lichten Traum von Glück und Liebe. Und vor den Augen im halben Dämmerschein eine himmlische Offenbarung unvergänglicher, ewiger 207 Kunst . . . draußen der Sternenhimmel . . . drei leuchtende Ewigkeiten in mir und um mich. Und so ein armes Menschenherz will noch verzagen inmitten von Liebe, Kunst und Weltall? . . .

Gute Nacht für heute. Ich will träumen von dem schönen Kind und der Madonna des Tintoretto. – –

Fast eine Woche war seit meiner Ankunft in Lingenau verflossen. Das gnädige Fräulein hatte mir eine ganz namhafte Summe für eine Studienreise nach Italien ausgesetzt.

Freund Born hatte sich nur noch einmal auf einen kurzen Besuch sehen lassen. Ich hatte es erwartet, daß er mich zu sich einladen würde, um mir seine glückliche Häuslichkeit zu zeigen. Es geschah nicht. Ich selbst war zu stolz, ihn mit der Nase auf das Schickliche einer solchen Einladung zu stoßen. Wenn er mich nicht empfangen wollte, sollte er es bleiben lassen!

Ich war, seit ich durch das Parktor des Schlosses gefahren, nicht mehr außerhalb desselben gelangt und hatte Lingenau selbst noch mit keinem Fuß betreten. Ich konnte doch nicht direkt den Torschlüssel verlangen!

Gesellschaften schien man auf dem Schlosse keine zu geben. Besuche wurden offenbar auch nur selten empfangen.

208 Ich kam wenigstens nie mit fremden Leuten in Berührung. Die Dienerschaft schien mich überhaupt möglichst zu ignorieren. Auf Fragen erhielt ich die einsilbigsten Antworten.

Mein Aufenthalt hätte eigentlich mit jeder Stunde seinen Abschluß finden können. Ich hatte gar nichts mehr zu suchen. Meinen Zweck hatte ich erreicht, und das überraschend schneller und vorteilhafter, als ich jemals träumte. Nicht einmal der hohen Quart war Erwähnung geschehen. Hatte Born vielleicht etwas dazu beigetragen, hatte meine eigene Person einen so günstigen Eindruck auf das gnädige Fräulein gemacht?

Das Südland, eine aussichtsvolle Zukunft stand vor mir. Ich hätte aufjubeln müssen vor Glückseligkeit, wenn ich in meinem so kühn gewagten und glücklich vollendeten Feldzug nicht eine tiefere Wunde davongetragen hätte, als mir auf andere Weise je geschlagen worden wäre.

Das macht die Liebe, die Liebe ganz allein . . .^ konnte ich mir jetzt fortwährend vorpfeifen, wenn ich über meinen Seelenzustand einen gründlichen Aufschluß wünschte. Ohne mein Urteil von ihren Lippen selbst vernommen zu haben, wollte ich Lingenau nicht verlassen.

209 Gelegenheit, mit Agnes allein länger zu sprechen, war nie vorhanden. Daß sie mir nicht mehr zürnte, war ich fest überzeugt. In meiner Nähe war sie sonst ziemlich viel, aber nur, wenn das gnädige Fräulein zugegen war.

Manchmal machte es mir den Eindruck, als ob sie ein Alleinsein mit mir absichtlich vermeiden wollte. Regelmäßig wurde sie rot, wenn ich ihr zufällig allein begegnete.

Eine peinliche Situation, die ihren Abschluß finden mußte. So oder so. Ganz gleichgültig schien ich ihr doch nicht zu sein. Ich beschloß schon, meine Gefühle zu Papier zu bringen, ihr zu schreiben. Aber das kam mir wieder gar zu albern vor.

Wenn ich nicht bereits den unüberlegten Streich auf dem Gewissen gehabt hätte, würde ich das liebe Kind bei der nächsten Begegnung einfach in meine Arme geschlossen und sie gefragt haben, ob sie meine Frau werden wolle.

Das ging aber nicht an. Sie hätte es als eine Fortsetzung meines anfänglichen Benehmens auffassen können. Irgend eine Einleitung war also unbedingt notwendig.

Wenn ich ihr nur ein einziges Mal im Park begegnet wäre! Bei jeder Biegung des Weges gab ich 210 mich der Illusion hin, auf einmal ihr schwarzes Kleid mit der weißen Schürze zu erblicken. Immer war es wieder nichts.

Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte es, auf einem großen Teich im Schloßpark Kahn zu fahren. Der kleine Wasserspiegel war ein liebliches Idyll inmitten hochstämmiger Tannen und Fichten. Das Ende des Teiches mündete in eine künstliche Grotte, die wiederum durch eine Tür mit dem Park in Verbindung stand.

Eine alte Steinbank, in deren Lehnen Satyrköpfe eingehauen waren, lud zur Rast ein. Regelmäßig fuhr ich bis in die Grotte, setzte mich auf die Bank und ließ die Blicke hinausschweifen auf das im leichten Windhauch sich kräuselnde Wasser und die ernsten Waldbäume . . .

Nach einem vergeblichen Versuch, an meiner Habilitationsschrift weiter zu arbeiten, war ich an einem Abend in das untere Stockwerk geschlendert, als ich aus dem Speisezimmer auf dem Flügel spielen hörte . . .

Dieser reine Anschlag! Diese Vollendung in jedem Ton! Ich lauschte entzückt. Sollte ich eintreten? Warum nicht? Das Musikstück mußte gleich zu Ende sein . . .

Auf den Zehen, um ja nicht zu stören, schlich ich 211 durch den Salon nach dem Speisezimmer, in dessen Tür ich stehen blieb. Ich hatte Mühe, einen lauten Ruf des Erstaunens zu unterdrücken . . . Agnes saß am Klavier.

Sie hörte mich nicht. Das Haupt mit den dichten Flechten hatte sie zurückgelegt. Die Strahlen der untergehenden Sonne woben um ihre zarte Gestalt. Sie schien mir wie ein Himmelsbild im Glorienschein . . . Jetzt verklangen die letzten Töne. Sie legte die Hände auf die Tasten und saß wie nachhorchend da. Länger hielt ich es nicht mehr aus. Ich klatschte in die Hände und rief laut: »Bravo! Bravo!«

Jäh erschreckend fuhr sie empor. Eine tödliche Verlegenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Sie wurde bald rot, bald blaß und schöpfte mühsam Atem.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe!« sagte ich und machte ein paar Schritte auf sie zu.

Als sie meine Annäherung bemerkte, wollte sie einen Augenblick fliehen; dann ließ sie sich mechanisch auf den kleinen Rohrstuhl vor dem Klavier nieder. Ich zog mir, als ob das selbstverständlich wäre, einen andern Stuhl zum Klavier und setzte mich ihr gegenüber.

»Ihr Spiel verrät eine ganz außerordentliche Begabung!« sagte ich.

212 »Sie hätten mir das wohl gar nicht zugetraut?« lächelte sie, noch immer mit ihrer Verlegenheit kämpfend.

»Bei Ihnen, Fräulein Agnes,« versetzte ich, »überrascht mich gar nichts mehr. Wenn Sie sich eines Tages als eine verwunschene Prinzessin entpuppen sollten, dann würde ich das ganz natürlich finden.«

»Trage ich denn die Physiognomie eines Drachen, daß Sie an eine solche Entpuppung denken?« fragte sie neckisch.

Ich horchte unwillkürlich auf.

»Sie wollen uns jetzt bald verlassen, Herr Doktor?« fuhr sie fort.

»Sehen Sie mich ungern scheiden?«

»Ich? Ich habe doch überhaupt nichts zu sagen!« erwiderte sie plötzlich herb, daß ich von ihrem Ton ganz überrascht war. Hatte ich sie mit meiner Frage verletzt? . . .

Jetzt war ich mit ihr allein und war doch ganz außerstande, ihr alles zu sagen. Wenn das Gespräch irgend eine verfängliche Wendung nehmen wollte, dann wich sie mir aus oder machte Miene, zu gehen, so daß ich in der Sorge, mir ihre Nähe so lange wie möglich zu erhalten, alsbald in einen harmlosen Plauderton verfiel.

213 Ich erzählte ihr von meinem bisherigen Leben, von meinen Studien, meinen Aussichten und Plänen. Sie hörte mir aufmerksam und gespannt zu, unterbrach mich manchmal mit einer Frage, die mir eine durchgreifende Bildung verriet und mir dieses Mädchen nur noch mehr als ein Rätsel erscheinen ließ.

Sie sah mir voll in die Augen. Jede Spur von Befangenheit war verschwunden. Wenn ich auf mannigfache harte Schicksale zu sprechen kam, sah ich es feucht in ihren Augen schimmern. Dann, wenn ein lustiger Studentenstreich an die Reihe gelangte, konnte sie herzlich lachen.

Ich hatte noch keinem Menschen in gedrängten Umrissen eine so aufrichtige Beichte über mein Leben abgelegt. Aber es drängte mich ordentlich dazu. Ich befand mich in einem Gefühle wohltuendster Seligkeit, wenn ich sah, wie innig sie an allem Anteil nahm, wie sich die freudigen und leidvollen Stationen meines Erdenwallens auf ihrem lieben Gesicht lebhaft widerspiegelten.

Wir mochten wohl eine Stunde so geplaudert haben. Die Sonne war längst untergegangen. Ein lichter Juniabend schaute zu den Fenstern des Speisezimmers herein. Ich dachte, daß es nie mehr anders sein könne, als gegenwärtig . . . daß ich immer dem 214 geliebten Mädchen gegenübersitzen und mit ihr sprechen würde in alle Ewigkeit . . .

Da kam das gnädige Fräulein durch die in den Salon führende Tür herein. Agnes enteilte verwirrt.

Als ich nach dem Abendessen auf mein Zimmer kam, feierte ich ein gerührtes Wiedersehen. Auf dem Schreibtisch thronte mein mißhandelter Claque. Der so schnöde Verstoßene war mit einem duftenden Blumenstrauß geschmückt. Die Blumen mußten von Agnes sein. Das war gewiß.

Ich tanzte wie närrisch mit meinem so unerwartet wieder zu Ehren gelangten Hut im Zimmer herum. Ich küßte den Strauß und liebkoste meinen hochstaplerischen Gefährten. Ich befand mich in einem Rausch von Glückseligkeit. Sie liebte mich! Warum sonst die Blumen? Ein Scherz konnte das nicht sein. Das hätte mit ihrem sonstigen Wesen nicht gestimmt. Das war die erste schüchterne Annäherung einer liebenden Mädchenseele.

Alle Einzelheiten unseres heutigen Gesprächs kamen mir wieder ins Gedächtnis zurück. Ihre innige Teilnahme. Ja, sie liebte mich! Es konnte nicht anders sein. Morgen mußte sich alles entscheiden.

Ich löschte die Kerzen aus dem Leuchter. Ich wollte 215 allein sein mit dem Glück in meinem Innern und der herrlichen Mondnacht draußen.

Vollmondnacht über den Bäumen des Parkes. Silberglänzende, weltdurchflutende Vollmondnacht. Allein mit dem Himmelslicht und meiner Liebe.

Der Schein des Mondes fiel auf das Gemälde dem Fenster gegenüber. Die Züge der Madonna traten in ganz eigenartiger Beleuchtung deutlich hervor. Wieder lächelte sie mild und fast zustimmend. Ich fühlte mich mit diesem Bild schon so innig verwandt, als ob es an allen meinen Schicksalen Anteil nehmen würde.

Unwillkürlich stieg ich auf einen Stuhl, reckte mich zu dem Bild empor und drückte einen leisen und andächtigen Kuß auf die klare Stirn der Madonna des Tintoretto. Es war mir feierlich zumute wie in einer Kirche. Das Plätschern des Springbrunnens im Garten wollte sich mir zu hellem, fernem Glockengeläute verwandeln, das ein junges, himmelan jauchzendes Glück einläutete hier auf Erden . . .

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ein herrlicher Morgen. Ich hatte nach dem Frühstück meinen gewöhnlichen Spaziergang durch den Park angetreten, war zu dem Weiher gekommen, band den Kahn los und fuhr eine Zeitlang am Ufer hin. Dann steuerte ich schief gegen die Grotte, ihren Eingang von der 216 Seite gewinnend. Noch ein Ruderschlag, und der Kiel des kleinen Bootes bog in den dämmerigen Raum ein.

Ich sah, wie sich jemand von der Steinbank erhob, als gelte es zu fliehen.

»Fräulein Agnes!« rief ich. »Sie hier?«

Im nächsten Augenblick war ich aus dem Kahn gesprungen und an ihrer Seite. Ich hatte ihre Hand ergriffen.

»Lassen Sie mich!« bat sie halblaut.

»Bin ich Ihnen denn gar so schrecklich?« fragte ich und zog die Widerstrebende langsam neben mich auf die Steinbank. »Fräulein Agnes, bleiben Sie!« bat ich. »Wer weiß, wann wir uns wieder allein sprechen können. Und ich habe Ihnen so viel zu sagen.«

»Mir?« fragte sie aufatmend und schlug die Augen nieder.

»Vor allem muß ich Ihnen vom Herzen danken für Ihre liebe Blumenspende.«

»Ich? Blumen?« sagte sie verwirrt.

»Leugnen Sie es nicht!« rief ich, ihre beiden Hände ergreifend. »Sie waren es! Wer denn sonst? Es hat Sie doch nicht gereut? Wenn Sie wüßten, mit welcher Seligkeit mich diese duftenden Boten erfüllten!«

217 Sie errötete tief und suchte mir ihre Hände zu entziehen.

»Was müssen Sie von mir denken!« sprach sie leise.

»Daß Sie das liebste, beste, herrlichste Mädchen sind! Sie wissen, bald soll es wieder hinausgehen in die weite Welt, die mir einsamer erscheint als jemals. Und doch würde mir diese Welt zum Himmel werden, wenn ich auf ein einziges Wort von Ihren Lippen hoffen dürfte. Wenn ich Sie jetzt frage, Agnes . . . Willst du mein Weib werden, du süßes, gutes Mädchen? Kannst du nein sagen? Du kannst es nicht! Nicht wahr? Du kannst es nicht! Ich habe dich ja so lieb. So unsäglich lieb. Ich kann nicht mehr leben ohne dich!«

Ihre Brust hob sich stürmisch. Sie hatte den Kopf wie müde zurückgelegt. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war ganz blaß geworden.

»Agnes!« rief ich und zog sie an mich. »Ein einziges Wort! Liebst du mich? Willst du mein werden?«

Da verbarg sie ihr Gesicht an meiner Brust. Leise nahm ich ihre Arme und legte sie mir um den Hals. Sie ließ es geduldig geschehen.

»Du liebst mich, Agnes! Du liebst mich!« rief 218 ich jubelnd. Ich hob ihren Kopf. Ich nahm ihn zwischen beide Hände und bedeckte ihre Lippen, Wangen und Augen mit heißen Küssen. »Du bist mein!« sprach ich und drückte die bebende Gestalt des jungen Mädchens fest an mich. »Jetzt verlange ich kein höheres Glück mehr; denn du bist mein höchstes Gut auf dieser Welt!«

»Ich liebe dich . . .« flüsterte sie, »über alles . . .« Hastig, wie verschämt kam dieses Geständnis von dem herben Mädchenmund. Und jetzt strebten ihre Lippen den meinen entgegen. Ein langer Kuß. Die Welt war um uns versunken. Nur leise vernahm ich das Plätschern des Wassers, das sich am Eingang der Grotte brach.

»Ich habe dir kein glänzendes Los zu bieten, Agnes!« sagte ich. »Und du machst vielleicht keinen guten Tausch. Aber auf den Händen will ich dich tragen mein Leben lang, wie ein mir anvertrautes Heiligtum! Hast du den Mut, mir anzugehören fürs ganze Leben?«

»Ja,« sagte sie leise und schmiegte sich dicht an meine Wange.

»Ich will noch heute mit dem gnädigen Fräulein sprechen, Agnes!« sagte ich. »Denn es ist kein Grund, unsere Liebe zu verhehlen.«

219 »Und wirst du mich auch dann noch lieben,« fragte sie plötzlich, »wenn ich das nicht bin, was ich scheine?«

Was wollte sie damit nur sagen?

»Ich weiß, wer du bist!« rief ich. »Du bist mein alles auf dieser Welt!«

Sie war aufgestanden, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich lange an. Wieder war es, als ob sie etwas erforschen wollte.

»Zweifelst du an mir, Agnes?« fragte ich.

»Nein!« entgegnete sie ruhig und einfach. »Ich weiß, daß ich dein bin.«

Dann schlang sie noch einmal die Arme um meinen Hals, küßte mich rasch und eilte gegen die in den Park führende Tür der Grotte, die sie im nächsten Augenblick öffnete.

»Laß mich jetzt!« sagte sie lächelnd. »Ich will selbst mit dem gnädigen Fräulein sprechen.« Sie wand sich sanft los, da ich sie noch zurückhalten wollte, und eilte mit raschen Schritten über den Kies des Parkweges. Bei der nächsten Biegung sah sie sich noch um, winkte mir und verschwand . . .

Als ich nach einer Stunde in das Speisezimmer trat, saß Agnes am Flügel. Sie war in einer sehr eleganten Gesellschaftstoilette. Ich glaubte meinen 220 Augen nicht zu trauen. Und doch fand ich es wieder ganz selbstverständlich, daß dieses Mädchen sich kleidete wie eine vornehme Dame.

Sie hatte sich lächelnd erhoben und kam mir entgegen. Noch ehe ich Zeit fand, sie nach dem Grunde dieser Veränderung zu fragen, trat das gnädige Fräulein in das Zimmer.

Auch sie hatte sich verändert. Entschieden zu ihrem Vorteil. Sie trug keine Schmachtlocken mehr. Mit ihrer neuen geschmackvollen Frisur war sie wirklich eine ganz stattliche alte Dame. Ich war sprachlos.

»Ach, Herr Doktor! Sie sind schon hier?« sagte sie mit einer leichten Verbeugung. »Nun, ich will nicht länger stören.«

»Gnädiges Fräulein!« rief ich.

Sie schritt gegen die Tür und deutete mit einer flüchtigen Handbewegung auf Agnes. »Sie irren sich in der Adresse!« sagte sie. »Ich lasse Sie ja ohnedies mit dem gnädigen Fräulein allein.«

»Mit dem gnädigen Fräulein?« fragte ich ganz verwirrt.

»Nun ja!« lachte sie herzlich und ging. Ich war mit Agnes wieder allein.

Einen Augenblick glaubte ich wirklich, nicht recht gehört zu haben oder plötzlich übergeschnappt zu sein. 221 Dann schoß mir blitzschnell der Gedanke durch den Kopf, ob nicht am Ende alles verloren sei und die Majoratsherrin mich und Agnes nur zum Gegenstand ihres Spottes machen wollte.

Ich lasse Sie mit dem gnädigen Fräulein allein? . . .

Ich griff nach meiner Stirn, um mich zu überzeugen, ob ich wache oder träume. Dann sah ich wieder nach Agnes. Sie war tief errötet.

»Es ist schlimm ausgefallen, Agnes?« fragte ich. »Was soll sonst das alles bedeuten?«

Sie schien nach einer Einleitung zu suchen.

»Zuerst mußt du mir versprechen, daß du auf mich nicht böse sein willst!« meinte sie zögernd.

»Ich dir böse?« sagte ich. »Wie könnte ich dir böse sein?« Ich wollte sie an mich ziehen. Sie wehrte mich ab und deutete auf einen Stuhl neben dem Klavier, während sie selbst auf dem niedern Rohrsessel Platz nahm.

»Wollen wir nicht wieder plaudern wie gestern?« sprach sie.

Befand ich mich wirklich in einem Märchen oder sollte ich erst eines erleben? Ich ließ mich völlig willenlos auf meinem Platz nieder.

»Es war einmal ein junges übermütiges Mädchen . . .« begann Agnes im Tone einer 222 Märchenerzählerin. »Und das hauste auf einem Schloß mit seiner alten Erzieherin. Da kam eines Tages ein Brief, der in dem tollen Kind einen gar argen Plan reifen ließ.«

Ich lauschte atemlos. Sie hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr sie in verändertem, lebhaftem Tone fort: »Ich bin aber nicht allein schuld daran. Doktor Born war der erste Erfinder, und meine treue Gesellschafterin, Fräulein Henriette Arnwald, war auch gleich mit bei der Sache. Da haben sie mich so lange hineingehetzt, bis ich selbst nicht mehr anders konnte. Es hat mich zwar gleich gereut. Aber ich mußte die übernommene Rolle weiter spielen, weil, weil . . . ich mich mit mir selbst nicht mehr auskannte. Am Tage nach deiner Ankunft sollte der ganze Scherz bereits aufgeklärt werden. Ich fand aber nicht den Mut, der Komödie ein so rasches Ende zu bereiten, weil . . . ich weiß selbst nicht, warum. Endlich habe ich recht darunter gelitten. Und der Kuß hat mich lange gekränkt. Dann dachte ich mir wieder, eine kleine Strafe habest du doch verdient, weil du meine selige Tante für einen Drachen gehalten hast. Sie war ja so herzensgut . . .«

Das alles brachte sie in fieberhafter Eile hervor. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen, als 223 ob sie sich schämen würde. Ich war aufgesprungen und hielt mir die Schläfen. Ich begriff und begriff doch nicht ganz. Es kam alles zu plötzlich, zu überraschend.

»Die alte Dame mit den Schmachtlocken ist nicht Ulrike Freifräulein von Zierfeld?« fragte ich, verzweifelt nach irgend einem Ausweg aus diesem Labyrinth suchend.

»Nein, nein!« versetzte sie eifrig. »Das ist meine Erzieherin.«

»Und Ulrike . . .«

»Meine selige Tante.«

»Dann bist du . . . dann sind Sie?« brachte ich stotternd hervor.

»Ich bin Agnes von Zierfeld. Meine Tante starb vor zwei Jahren. Mir ist nach ihrem Tode das Erbe zugefallen. Aber das konntest du . . . das konnten Sie ja nicht wissen. Es war unrecht von mir. Ich sehe es ein. Am nächsten Morgen wollte ich schon in der heutigen Toilette erscheinen. Wir hatten es uns schon so prächtig ausgedacht, wie wir alle lachen wollten, Fräulein Henriette, Herr und Frau Born und Sie mit, wenn Sie die Bekanntschaft des ›Drachen‹ gemacht hätten. Und da ist vieles dazwischengekommen. Man soll sich nichts ausmalen!«

224 Sie hatte sich schon längst von ihrem Sitze erhoben. Eine wirklich vornehme Erscheinung, wie sie so vor mir stand.

Das war also die Majoratsherrin . . . Von diesem Mädchen, dem meine ganze Seele gehörte, hatte ich in den beiden letzten Jahren mein Stipendium bezogen . . . Ihre Gesellschafterin hatte die nur in meiner Illusion noch lebende alte Tante gespielt . . . Zu Agnes war ich eigentlich als Bittender gekommen . . .

Das Zimmer drehte sich um mich im Kreise. Das war ja alles noch gar nicht zu fassen, war ja der reinste Hexensabbath von neuen Gedanken und Empfindungen!

Man hatte mit mir einen Scherz getrieben. Nun, ich mochte es verdient haben. Wenn aber alles nur ein Scherz war? . . . Wenn das gnädige Fräulein auch mit meinem Herzen nur gespielt hatte? . . . Ein bitterer Verdacht stieg in mir auf und bemächtigte sich meines ganzen Innern.

Ja, ich war der arme Schlucker gewesen, der für ein paar Tage die Gesellschaft des Schlosses erheitern half. Jetzt konnte er offenbar wieder gehen, nachdem er sein Herz verloren hatte, nachdem sein ganzes Lebensglück in Trümmer geschlagen war . . . Denn, 225 daß die reiche Erbin meine Frau werden sollte . . . undenkbar!

Die ganze leuchtende Welt, die ich mir aufgebaut hatte, versank plötzlich vor meinen Füßen, tief, abgrundtief . . . Ich wandte mich ab, ging gegen ein Fenster und drückte die brennende Stirn an die Scheiben.

»Sie haben ein grausames Spiel mit mir getrieben, gnädiges Fräulein!« sprach ich. »Ein Scherz ist ja ganz gut. Aber wenn dadurch ein Menschenleben zugrunde geht . . .«

Da hörte ich einen raschen Schritt hinter mir.

Ich wandte mich um. Sie stand in meiner unmittelbaren Nähe. Sie war blaß geworden bis in die Lippen. Ihre Augen senkten sich tief in die meinen.

»Für wen hältst du mich?« fragte sie halblaut mit bebender Stimme.

Da stürzte ich zu ihren Füßen und umklammerte ihre Knie.

»Edgar!« schrie sie auf.

»Agnes! Du mein einziges, geliebtes Weib!« rief ich. »Willst du mich nicht von dir stoßen?«

Sie beugte sich zu mir nieder und küßte mich auf die Stirn. Dann zog sie mich empor. Ich drückte sie stürmisch an die Brust.

226 »Bist du nicht mehr böse?« fragte sie leise, während es feucht in ihren Augen schimmerte. »Du armer, gequälter Mann, der mir alles ist! Wie viel habe ich an dir gutzumachen!«

Und so hielt ich sie in meinen Armen, bis es an die Tür des Speisezimmers klopfte.

Sie wand sich los und öffnete selbst. Born und Frau traten ein. Hinter ihnen die Gesellschafterin meiner nunmehrigen Braut.

Fräulein Arnwald reichte mir die Hand und scherzte: »Nichts für ungut, Herr Doktor! Aber Sie müssen mir wenigstens das Zeugnis ausstellen, daß ich meine Rolle gut gespielt habe. Hier steht übrigens der Anstifter alles Unheils!« deutete sie auf Freund Born.

»Ich soll Unheil gestiftet haben?« lachte Born. »Gnädiges Fräulein, protestieren Sie nicht feierlich gegen eine solche Zumutung?«

Agnes nickte halb verlegen stillschweigend und lächelte.

»Komm an meine Brust, alter Junge!« rief Born und umarmte mich. »Daß ich dir vom Herzen gratuliere, ist selbstverständlich!«

Das war ein froher Abend an jenem Sonntag. Born überbot sich selbst an Toasten. Ich saß zwischen 227 seiner Frau und Agnes. Ich mußte mich erst allmählich in alles hineinfinden. Noch immer kam es mir wie ein schöner Traum vor, aus dem ich plötzlich erwachen könnte . . .

Am nächsten Tage mußte ich einer Einladung meines Freundes Folge leisten, nun auch für eine Zeit sein Gast zu sein. Ich blieb noch eine ganze Woche in Lingenau, verbrachte allerdings den größten Teil des Tages auf dem Schloß . . . Sonnenschein . . . Glück . . . Zukunftspläne . . .

Dann kehrte ich nach der Universitätsstadt zurück, um dort noch einiges zu ordnen. – – –

Drei Monate später wurde Agnes in der alten romanischen Kirche von Lingenau meine Frau. Wir machten unsere Hochzeitsreise nach Italien.

Im darauffolgenden Frühjahr habilitierte ich mich an der Universität und habe gegenwärtig bereits alle Anwartschaft, in nächster Zeit meine eigene Lehrkanzel zu erhalten. Meine wissenschaftlichen Arbeiten finden allseitige Anerkennung. Wer sollte auch nicht das Beste leisten neben Agnes, die mir alles geworden ist, Freundin, Beraterin . . . mein Weib!

Die reichlichen Ferien meines Berufes bringen wir, wenn nicht eine kleinere Kunstreise unternommen wird, regelmäßig auf dem Schlosse in Lingenau zu, 228 dem ersten Schauplatz unserer jungen Liebe, wo die Geschichte meines Stipendiums einen so herrlichen Abschluß fand. Fräulein Arnwald ist dort als Verwalterin geblieben und bereitet uns stets einen besonders feierlichen Empfang.

Die heilige Familie des Tintoretto ist nach unserer Stadtwohnung gewandert und hängt über meinem Schreibtisch . . .

Und es ist alles so gekommen, wie ich es mir geträumt habe. Wenn ich etwas zu lange bei der Arbeit gesessen bin, dann kommt Agnes leise, ganz leise in das Zimmer und nimmt mir die Feder.

Bei Haar und Ohren hat sie mich auch schon gezaust, mußte aber seit einiger Zeit der Konkurrenz meines eigenen Sohnes weichen, der dieses Geschäft mit seinen kleinen Patschhändchen noch viel radikaler besorgt als Mama.

Der Bub entwickelt übrigens ein unleugbares Kunstverständnis . . . offenbar ein Erbteil von seinem Papa. Wenn ich ihn zu dem Bilde über meinem Schreibtisch emporhebe und frage: »Du, Ernst, wer hat das gemalt?« . . . dann haspelt das kleine Kerlchen nach kurzer Überlegung, jede Silbe genau bedenkend, etwas mühsam hervor . . . Tintoetto! . . . 229

 


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