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Eine Reihe von Jahren floß dahin und alle schienen spurlos an den drei Alten vorüberzugleiten. Otto Magnus hatte innerhalb dieser Frist nicht sehr häufig die Rheinreise mitmachen können. Als Achtzehnjähriger, kurz bevor er die Universität bezog, verbrachte er erst wieder lange und herrliche Wochen, nun auch so recht des Großohms reiche, innere Schätze würdigend, auf der Felsenburg. Darauf, gerade in herben Lehr- und etwas wilden Brausejahren, waren die Besuche wieder seltener geworden, ohne daß er selber so recht hätte sagen können, wie das gekommen. Kurz nach absolviertem juristischem Staatsexamen holte er indessen wieder vieles nach. Reiche Erntetage waren es dann gewesen, die Otto Magnus auf Rheinerhaus verlebte; die letzten mit Großchen zusammen. Beim Abschied war es dem jungen Manne schon aufgefallen, wie stark der Kontrast zwischen Bruder und Schwester und zwischen dieser und der Jugendfreundin plötzlich geworden. So aufrecht und ungebrochen, im Kranze der Silberlocken, die das frische Gesicht umrahmten, stand der Großohm da und daneben auch Ursula, die einem alten Baum glich, der, allen Wetterstürmen zum Trotz, getreulich Jahr auf Jahr noch blüht und Früchte trägt und seine schöne Form und volle Krone dabei bewahrt. Großchen indessen schien kleiner und gebeugter geworden, und die Beine versagten ihr den Dienst. Auch nicht hell und scharf wie sonst blickten ihre Augen aus dem guten, jetzt so verblichenen, greisen Gesicht. Weihnachten stand vor der Türe, da zerriß sie zuerst den Dreibund, der so eisern gefügt, viele, viele Jahrzehnte überdauert hatte. Damals erhielt Otto Magnus den ersten und einzigen Brief, den er je von Ohm Peerls bekommen. Auch darin aber ward keine Klage laut. Otto, der selbst mit der alten Frau, die ihm die kaum gekannten Eltern so treu und liebevoll zu ersetzen bemüht gewesen, so Unendliches verloren hatte, mußte trotz des eigenen Schmerzes doch immer des Ohms gedenken und dessen aus allem ersichtlichen heißen Liebe zu ›Schwester Binchen‹. Hatte diese es doch so gut verstanden, lichte und festgefügte Fäden herüberzuspinnen aus lange, lange versunkener, verklungener Jugendzeit.

Wie der Sommer dann wieder kam, empfing Gottlieb Peerls den Großneffen wie früher, ohne des Todes der Heißgeliebten mit einem Worte zu gedenken. Viel später erst sagte er eines Abends, als Otto von ihr sprechen wollte:

»Laß sie ruhen, mein Junge. Ihr ist wohl, denn sie hat viel gelitten. In ihr aber war die Liebe und eine unendliche Kraft. Mein gutes, mein tapferes Binchen!«

Jene Lücke, die der Tod in diesen Kreis gerissen, schloß sich nie wieder. Wollte Otto indessen zu einer Klage ansetzen, schnitt der Greis sie ab.

»Wo und wann währen Menschenleben so lange, so über die von der Natur gesetzte Frist hinaus, gleich den unsrigen? Eines mußte ja den Anfang machen, und der Letzte zu sein ist dann das Allerhärteste. Aber wen es trifft, den trifft es eben, und auch dieses Warten wird dann für den vereinsamten Allerletzten ein Ende haben.«

Von da ab unterließ der junge Mann es, mit dem Großohm über dessen Schwester und deren Tod zu sprechen, hielt sich aber dafür in manch traulicher Dämmerstunde bei Tante Ursula schadlos, der es selbst ein Bedürfnis zu sein schien, von der Verstorbenen zu reden.

Es war gar nicht so leicht, den Alten zum Erzählen zu bringen von all dem Interessanten und Merkwürdigen, das ihm sein langes und reiches Leben als Kaufmann, besonders in den überseeischen Ländern, geboten. Gelang es dem Verwandten aber einmal, vielleicht angeregt durch das Besichtigen der vielen Raritäten und ausländischen Schätze, die mit schönen Bildern und anderen Kunstwerken das ganze, große Haus zierten, dann konnte es auch nichts Fesselnderes für den Zuhörer geben. Was dabei der Knabe nie bemerkt hatte, das fiel dem Herangewachsenen und dem Manne auf: Den Erzählungen fehlte ein ›Ich‹. Sie trugen sozusagen gar keinen persönlichen Charakter, und es war stets, als habe all diese Dinge gar nicht dieser Mann, sondern irgend ein Dritter, ein Fremder erlebt. So farbig die Bilder auch waren, die der Greis vor seinem Zuhörer zu entrollen verstand, so blutleer wollten sie diesem oft scheinen. Hätte nicht reiche Erfahrung Otto Magnus gelehrt, daß man bei dem Ohm unter Umständen das Fragen lassen müsse, so hätte er sich wohl hundertmal, heute wie zur Kinderzeit, in einen hohen, undurchdringlichen Berg, der sich immer wieder vor ihm aufrichtete, hineinzufragen bemüht. Vom eigenen, inneren Denken und Fühlen, all dem, was er an sich, in sich und durch sich selber erlebt hatte, sprach Gottlieb Peerls niemals. Nun erst hatte der Greis sein Letztes, sein Bestes gegeben, jetzt, da er tot und begraben war. –

Der Mann, hoch beim Rebgarten auf der kleinen Bank, hat Zeit und Stunde vergessen und nicht bemerkt, daß die blasse Märzsonne gegangen war, wie vorher der tolle Sturmwind sich hinter die Berge verkrochen hatte. Es ist kalt geworden. Wie Otto Magnus dann emporsieht zu dem sonnenlosen, bleiigen Himmel, der wie eine Glasglocke das Land überspannt, kehren all die wandernden Gedanken aus der Ferne längst entschwundener Vergangenheit wieder zurück und mahnen an das Gegenwärtige.

Langsam steigt er zu der großen Terrasse herunter, und in einem plötzlichen Überschwang der Gefühle spannt er weit seine Arme aus, als wolle er, was sein Auge da erreicht, ans Herz drücken.

»Herr von Rheinerhaus, König auf der Felsenburg,« murmelte er dabei, und in das scharf geschnittene Männergesicht, in das manche schwere Zeichen vom Leben gegraben sind, tritt ein weicher, kindlicher Zug.

Gestern, nach der Beerdigung des Ohms, war die stille, alte Frau mit dem steinernen Gesicht und den noch tränenlosen Augen zu ihm gekommen und hatte zwei Schlüssel gebracht. Den einen großen und sonderbar geformten kannte Otto recht wohl. Auf seine erstaunt fragenden Blicke hin sagte Ursula halblaut und weich:

»Der König ist tot, – es lebe der König! Dein ist nun der Schlüssel zum Felsentor, denn dein ist jetzt Rheinerhaus!«

Der Rechtsanwalt erschrak fast, und es dauerte eine Weile, bis er sich durch die ihn bedrängenden Gefühle und die große Überraschung zur wehmütigen Freude durcharbeiten konnte. Er hatte nie anders gewußt, als daß Rheinerhaus wohltätigen, gemeinnützigen Zwecken gewidmet werden sollte.

»Mir? – Tante Ursel, – du irrst wohl?«

Sie schüttelte den Kopf mit der noch immer reichen Flechte, die selbst heute noch einen Schimmer der früheren, satten, bräunlichen Goldfarbe aufwies.

»Nein, nein, mein Junge! Ich weiß das besser wie irgend einer. Wirst es ja baldigst noch bestätigt bekommen, denn Gottlieb hat so lange, lange schon alles geordnet zu seiner letzten Fahrt. Und er gerade wünschte, daß ich, – wenn ich die Überlebende sein würde, – dir diese beiden Schlüssel einhändige. Dieser andere gehört zu seinem Schreibtisch; der Ohm hat ihn immer bei sich getragen!«

Otto Magnus empfing die Schlüssel, dann zog er die Greisin an sich und küßte ihr Stirne und Augen so lange, bis erlösende Tropfen über die bleichen Wangen rieselten.

»Wir bleiben zusammen, Tantchen, liebes, gutes, – hier zusammen, – willst du?«

Und ob sie wollte! Nur an diesem Orte der ganzen Welt könnte Ursula ja ruhig abwarten, bis auch sie gerufen würde! –

In der grün dämmerigen, getäfelten Stube Gottlieb Peerls trat dann dessen Großneffe sein Erbe an. Wie ein weher Laut aus Menschenmund hatte es geklungen, als sich das Schloß des Schubfaches öffnete. Daraus strömte verstärkt jener Geruch, der von altersher das ganze Rheinerhaus von oben bis unten durchzog; ein Gemisch von Salz, etwas Teer, Rosmarin, Gewürzen und Äpfeln, die der Alte so gerne gegessen, mit einem leichten Moderduft gemengt. Sogleich fiel dem Rechtsanwalt ein verschlossenes Paket in die Hände mit der Aufschrift: ›Für meinen Großneffen Otto Magnus‹. Noch zur selben Stunde löste er das Siegel und entnahm ein in graues Leinen gebundenes Buch, dessen vergilbte Seiten mit des Ohms klarer, schöner Schrift bedeckt waren. Auch ein Titel fehlte nicht. Links unten auf dem ersten der schon etwas brüchig gewordenen Blätter stand Datum und Jahreszahl. An einem Maitag hatte der Ohm mit diesen Aufzeichnungen begonnen. Otto Magnus rechnete nach; damals mußte er selbst gerade zwölf Jahre gezählt haben. Er konnte das graue Buch nun nicht mehr lassen und keinen Blick vermochte er von diesen Schriftzügen zu wenden. – –

Es waren Stunden vergangen, und noch immer hatte der Rechtsanwalt die Stube des Großohms nicht wieder verlassen. Tiefe Dunkelheit lagerte schon über der Felsenburg, in deren halbrundem Turmzimmer er saß, tief in den Lehnsessel gedrückt, das Gesicht in den Händen geborgen. So fand ihn die alte Ursula. Wie ihre Finger das ihr nur als weißlicher Fleck entgegenschimmernde Gesicht kosend berührten, wurden sie feucht. Dann verließen die beiden Hand in Hand das Zimmer, auf dessen Schwelle sich Otto umwandte und sagte:

»Hier, – jetzt erst bin ich des Großohms wirklicher Erbe geworden!« – –

Der einsame Mann auf der Terrasse fühlt nach dem Schlüssel in seiner Tasche, der ihm sein liebstes Gut bewahrt. Mit Gewalt drängt es ihn wieder zum Haus ins Turmzimmer und zu dem grauen Buche. Vorher aber biegt er die noch kahlen Zweige auseinander, die, sich verschlingend, einen schmalen aufwärtsführenden Pfad abschließen. Den geht er, bis er vor einem Marmortempelchen steht. Zärtlich streichen seine Finger über die von seltsamen, glänzenden Metallblumen umrahmte Platte, auf der nur ein Name verzeichnet ist: ›Djayi‹.

Als Knabe hatte er einst davor gestanden und umsonst nach der Bedeutung des Wortes geforscht. Jetzt erst, nachdem er längst Mann geworden ist und ihm selber schon die Schläfen ergrauen, hat sich das Rätsel enthüllt. Langsam geht Otto Magnus hinüber zum alten Haus und steigt zum Turmzimmer hinaus. Und wieder liegt dann das Buch vor ihm, das ihm erst so recht Seele und Herz des Mannes enthüllt, den er gestern beerdigt.

Wie seltsam und fremd weht der Moderduft dieser gelben Blätter herein in die frische Luft der neuen Zeit, die nicht mehr fassen und begreifen will, daß sie einmal ein anderes Gesicht getragen und Verhältnisse gesehen, die einzig und allein Begebnisse ermöglichen konnten, wie sie hier wahrheitsgetreu geschildert wurden. Und dennoch wieder erzählten diese engbeschriebenen Seiten so viel von dem, was immer war, ist und ewig gleichbleibend bestehen wird.

Kein Laut ringsum außer dem Knistern des vergilbten Papiers, aus dem die lichte Gestalt des Ohms vor dem Lesenden aufersteht und mit ihm eine andere Welt.

 

›Die Geschichte eines Lebens und einer Liebe.‹

So genau entsinne ich mich eines klaren, sonnenhellen Wintertages. Unser Knecht Jakob, nur Köbes genannt, trug meine ältere Schwester Karoline und mich, in Wasserstiefeln durch den hohen Schnee stampfend, ein Stückchen die Landstraße entlang, hinein in die Primelwiese und über die Schwelle des Roten Hauses. Das gehörte einem alten Manne namens Hersebrook, der einsam darin wohnte. Ich glaube, von jenem Wintertage an hatte mein Erinnerungsvermögen eingesetzt. Warum es gerade da geschehen war, weiß ich natürlich nicht. Aber alles, was vorher war, besaß meine Erinnerung nur durch die Erzählung anderer. Mein vierjähriges Kinderleben mochte auch zu einförmig verlaufen sein, als daß sich besondere Marksteine daraus hätten erheben können. So häufig ich schon auf dem geduldigen Köbes reitend zu Hersebrook gekommen war, so war mir nie vorher irgend etwas davon im Gedächtnis geblieben. Aber von jenem Tage sind mir genaue Einzelheiten gegenwärtig, zum Beispiel, daß viele, viele Krähen die sogenannte Primelwiese belagert hatten – sie hieß so, weil sie der Lenz jedes Jahr getreulich wieder mit Tausenden der gelben Himmelsschlüssel bedeckte –, und ich entsinne mich noch genau, wie der ganze Flausrock des alten Knechtes mit flimmernden Kristallsternchen besät war, die sachte von den Obstbäumen, unter denen wir hingeschritten, heruntergerieselt waren. Noch heute meine ich, die sanfte, wohlige Wärme zu empfinden, die der mächtige Ofen, auf dem Äpfel brieten und dufteten, ausströmte, und den blutroten, mächtigen Schein zu. sehen, der auf dem sandbestreuten, weißen Tannenboden gelagert war. Zum ersten Mal war mir damals auch die Ähnlichkeit aufgefallen, die der alte Hersebrook mit dem Zauberer in meinem zerschlissenen Bilderbuch hatte. Eine Adlernase, die aus einem mageren Gesicht sprang, dunkle, tiefliegende Augen und langes, schon spärlicher werdendes grauweißes Haar, über das stets ein rundes, anliegendes, schwarzes Sammetkäppchen gestülpt war. Ein uralter, aber unverwüstlicher Schlafrock, mit Pelz besetzt, vervollständigte noch das seltsam altertümliche und merkwürdige Bild, das uns der Mann bot. Meisterhaft verstand er es, Kinder so zu unterhalten, daß beständig ihr Intellekt dabei angestachelt und gefördert wurde. Niemals lehrte er uns läppische Verse und Lieder. Bilderbücher, die man kaufen konnte, gab es keine bei ihm. Die er hatte, waren von ihm selbst gefertigt worden, und die gemalten und gezeichneten Illustrationen darin hatten stets Beziehungen zu unserm Leben, indem sie leicht erkennbar Eltern und Freunde wiedergaben und Tiere und Landschaftsbilder, die uns vertraut sein mußten. Seine Märchengestalten, zu denen er den Text unvergleichlich sprach und fabulierte, waren vor allem herrlich und trugen niemals Zerr- und Schreckbilder in unsere Phantasie hinein. Oftmals spielte er an einem orgelartigen Instrument, und wir mußten dazu nachsingen, was er uns leise vorgetragen hatte. Diese Melodieen, die wir dann keck – wir waren recht musikalisch – mit hellen Stimmen hinausschmetterten, pflegte er nur eben anzudeuten. Das gab jedem Liede einen mystischen Reiz. Ob es nur Kirchenlieder waren, die er uns lehrte? Wir selbst waren so lange der Ansicht, bis wir später, als wir die abgerissenen Stücke der Texte besser behielten, solche zu Hause vor uns hinsummten. Da geschah denn eines Tages etwas Sonderbares. Mutter, die überhaupt stets die Triebfeder zu unsern Besuchen bei Hersebrook war, schien immer die Empfindung dabei zu haben, als gäbe sie uns in sichere, köstliche Hut und als brächte sie uns fürs Leben jedesmal ein Stück weiter, wenn wir im Roten Hause und in der Nähe dieses Mannes sein durften. So war sie es längst gewohnt, daß sie uns, war sie mit uns allein, genau ausfragte, was wir dort gespielt, gelernt und getrieben, was der Onkel gesagt hatte, und so weiter. Nicht weit war's von meinem achten Geburtstage. Karoline hatte schon lange keine Lust mehr, ins Rote Haus zu gehen. Dagegen durfte bereits seit einiger Zeit Binchen mit. Damals schon lebten Karoline und ich innerlich getrennt. Dafür aber erblühte mir an meiner, gerade dreijährigen, Schwester Binchen eine wunderliebe, wackere Kameradin. Ich weiß es noch wie heute, wie eines Tages sie und ich auf dem Nähschemelchen der Mutter saßen. Ich in einem rot-schottisch karierten Blusenkittelchen und die Kleine schon im Nachthemdchen. Wir hielten uns eng umschlungen, und mit unsern hellen Kinderstimmen sangen wir immerzu vor uns hin, was zuletzt Onkel Hersebrook uns gelehrt hatte. Vom Texte hatten wir freilich nur ein Endchen behalten. Es dämmerte schon stark, und Frühlingsodem wehte von der umgegrabenen Erde und den Beeten herauf zu uns durchs offene Fenster. Wir hatten der lieben Mutter Veilchensträuße und die ersten gelben Primeln von der Wiese gebracht. Mir wurde mit einem Male so froh um mein kleines Kinderherz, und so schmetterte ich klar heraus:

»Hörst du den leisen, flüsternden Wind,
Fühlst du den Dämmerungszauber, mein Kind?
Schreiten wie eines wir beide
Über die träumende Heide,
Über die träumende Heide.«

Da stand plötzlich Vaters Schwester, die sehr fromm war, vor uns, und ihre Augen blitzten uns zornig an.

»Ist's die Möglichkeit! Wollt ihr wohl das Singen lassen! Das sind ja teuflische Lieder, die man euch da gelehrt hat. Woher habt ihr sie? Woher!?«

Warum wir da schwiegen? Ich weiß es nicht; mir war's aber, als dürfte ich nun und nimmermehr ein Wörtlein sagen, und so legte ich ganz impulsiv meine Hand fest auf das rote, feuchte Mäulchen Binchens. War's doch so wunderschön gewesen, was der alte Mann uns leise vorgesungen hatte. Wie ein schlimmer Wirbelwind fuhr die Tante hinaus zur Stube. Ich wußte ganz genau, wenn der Vater erst heimkam, würde sie uns anklagen ob unserer Verstocktheit. Wir hatten uns dicht aneinander geschmiegt und niedergeduckt wie kleine Vögelchen im Sturm. Als wir aufsahen, stand Mütterchen unter der Türe. Sie war ganz weiß in ihrem zarten, blondumrahmten Gesicht. Unsere Veilchen trug sie in der Hand.

»Das Lied,« sagte sie stockend, »Gottlieb, was war es denn für eines? Erzähle mir davon.«

Wir hatten uns ihr schon entgegengestürzt und uns an sie gelehnt, und Sabine fing zu weinen an.

»Heilig war es wohl nicht, Kinder?«

Ich nickte. »O doch, Mutter, sehr heilig; es klang so fromm, als es Onkel Hersebrook sang.«

»So singe es mir wieder, – jetzt, jetzt gleich.«

Und ich stellte mich hin, schaute hinein ins flammende Abendrot und sang nur halblaut, daß es die Tante nicht etwa höre:

»Über die träumende Heide,
Über die träumende Heide.«

Mutter aber umschlang uns und drückte unsere Köpfe in ihren Schoß. Auf meinen Nacken fühlte ich heiße Tränen tropfen, und ihr zarter Körper bebte.

Unsere jungen Leben flossen im großen ganzen so dahin wie tausend andere und hatten wie tausend andere ihre Inseln. Und eingedenk meiner früh erwachten Liebe zur Natur und meines Hanges, sie in ihrem Wirken zu beobachten, muß ich ein Gleichnis stellen: Wenn eine silberne Wolke wie ein Schiff einzeln durch die Bläue zieht, so geht unten ein Schatten über den grünen Wald; gleich darauf steht wieder das feste Licht auf seiner ganzen Breite. Solche Wolken gab es in unserm Kinderleben. Sie durchschnitten das lichte Blau unserer sonnigen Jugend und warfen flüchtige Schatten. Aber das Stahlgrau des Spätherbstes, wie es die ganze Himmelskuppel bezieht, grau gespannt über alle Weiten, tauchte erst mit den Jahren auf, und oftmals wollte lange kein Sonnenstrahl eine Spalte darein brennen. Und dieses Trübe, Schwere, das auf uns Kindern – das heißt nur auf Sabine und mir – desto schwerer lastete, je älter wir wurden, war uns damals noch etwas Dumpfes, Ungewisses. Weit später erst wurde es uns klar, daß es eine übertriebene, gänzlich falsch aufgefaßte, mit Aberglauben durchsetzte Religion war, die, zum Schraubstock gemacht, auch die Lebensqual unserer blassen, blonden Mutter war. Ich will mich nicht ergehen über all die Irrtümer und die Auswüchse fanatischen, blinden Glaubens, der dem Wahnsinn nahe kam und der den einfachen Sinn wahrer Religiosität zum blöden Unsinn wandelte. Ein festes, goldenes Dach bildet der wahre, echte Glaube in seiner Einfachheit, voll Kraft und Zuversicht. Zuflucht, Schutz und Stütze ist er den in Schmerzen Bedrängten; und was er an Schönem bringt und was er uns hätte sein können und müssen, das hatte man uns geraubt im Übereifer und in beschränkter Kurzsichtigkeit.

Unser Vater, der Physikus war, hatte nie Zeit, sich um seine Kinder zu bekümmern. Ob er selbst wirklich glaubte, was er als Predigt für andere so gerne hörte? Jedenfalls aber sagte er oft:

»Der Glaube ist wie Essen und Trinken, eine Notwendigkeit zum Leben. Ohne ihn muß der Mensch von innen heraus absterben und in sich verfaulen.«

Ich war noch klein; aber einen tiefen Eindruck hatte mir dieser Ausspruch gemacht. Dennoch war ich schon durch den ewigen Bet- und Kirchgehzwang und durch die Zumutungen, die uns beständig gestellt wurden, ein winziger Zweifler geworden. Nächte, nur unterbrochen durch qualvolle Träume, brachte ich zu, mich zu zwingen, alles das für bare Münze zu nehmen, was mir insbesondere Tante Luise einzutrichtern bemüht war: »Glauben, glauben, alles glauben muß man!« Und das Bild, das der Vater in mir durch seinen Ausspruch entrollt hatte, tauchte in gräßlichster Art vor mir auf. Glauben, – alles! Von innen heraus, also durch schreckliche Krankheit müsse man sonst sterben, verfallen und verfaulen. Vor allen medizinischen Dingen und vor allen Krankheiten fühlte ich von je besonderes Grauen. Nun verwebte meine kindliche Anschauung und Phantasie Wirkliches und Hinzugedachtes.

Ich weiß nicht, ob es jenes Lied war, das den ersten nachhaltig wirkenden Anstoß dazu gegeben hatte, daß wir nur mehr seltener und kürzer zu Onkel Hersebrook ins rote Haus durften. Nach und nach aber fand man, zuerst ohne direktes Verbot, tausend Gründe dafür, und endlich hieß es stets: Nein! Wenn wir aber, ganz besonders ich, stürmisch danach verlangten, so schwieg Tante Luise verbissen, und Vater polterte irgend etwas heraus, daß wir erschraken. Als wir aber sahen, daß die Mutter Tränen in die Augen bekam und nur stumm den Kopf schüttelte, indem sie uns bittend ansah, da schwiegen wir und verlangten nicht mehr hinüberzugehen. Es verging eine ganze Spanne Zeit. Aber ich war ein gar unbändiger, wilder Junge. So schlich ich mich eben heimlich und allein zu dem Alten, Und der forderte mich zwar nicht auf, wiederzukommen, aber er warf mich auch nicht hinaus. Meine Schwester Karoline jedoch beobachtete mich, argwöhnisch geworden, systematisch, und so ereilte mich das Schicksal eines Tages. Tante Luise verhängte eine harte Strafe über mich. Ich mußte endlose fromme Sprüche, Lieder, Gebete und Tugendregeln, eingesperrt in ein ödes Speicherzimmer, lernen und sollte von morgens bis abends keine Nahrung erhalten außer Wasser und Brot. Weinend fiel mir Binchen, vor meinem Armen-Sünder-Gang um den Hals und klagte laut, daß sie mir nicht helfen könne:

»Ich habe ja gar nichts, was ich dir geben könnte, und du wirst Hungers sterben.«

Das geschah aber durchaus nicht. Eine Zeitlang zehrte ich an meinem Trotz und Groll, dann lernte ich ebenso rasch wie oberflächlich den ›frommen Kram‹, wie ich in innerlicher Empörung meine Aufgabe nannte, bis ich alles nur so herunterschnurren konnte – die sicherste Bürgschaft, das Gelernte rasch und gründlich wieder zu vergessen. Dann knabberte ich ein wenig von meinem Brot, trank ein bißchen Wasser und machte mich hierauf daran, ohne im geringsten Reue und Zerknirschung zu verspüren, alles um mich herum aufgestapelte alte Gerümpel, Kisten und Kasten, soweit sie nicht verschlossen waren, zu untersuchen. Dazwischen beunruhigte mich nicht etwa, daß Vater die Prügel, die er mir zugedacht hatte und die er durch eine plötzliche Abberufung verhindert worden war mir zu geben, später nachholen könnte, sondern etwas ganz anderes: Mutter lag ja so krank! Tante Luise hatte eine ihrer Missionssitzungen in der Stadt und konnte vor Abend nicht zurück sein. Vater, der in eine weit abgelegene Fabrik am Walde geholt war, ebenso. Karoline und Binchen waren in der Schule; so blieb für die Kranke nur die mürrische Magd, die Mutter nicht leiden konnte. Der Gedanke, daß sie einsam in dem großen öden Hause liegen und vielleicht allerlei nötig haben könnte, erregte mich immer mehr. Zur Angst war mein Gefühl geworden, als sich endlich schon lange, dunkle Schatten reckten und es kalt zu den Dachluken hereinströmte. Plötzlich krachte die alte Treppe. Draußen leises Geraschel! Es klang mehr unheimlich als hoffnungerregend; seltsam huschend, geisterhaft schien es mir, dem der Magen knurrte und brannte und der Kopf schmerzte, während meine Nerven sich in unnatürlicher Erregung befanden. Alle Gebete, Sprüche und Lieder hatte ich total vergessen. Da! Fest, ganz irdisch klingend, ein Schlüssel in der Türe, ein Umdrehen, – blendend fiel ein voller Lichtstrom in mein Dunkel. Unter der offenen Türe stand Binchen, die kleinen Arme schwer belastet. Glückstrahlend sah sie mich an und übergab mir ihre Last. Dann bückte sie sich nach dem, was sie schon vorher heraufgeschleppt und am Boden abgestellt hatte.

Als ich mein Schwesterchen erkannte, wie es mit beladenen Armen vor mir stand, da rief ich voll freudiger Verwunderung: »Binchen! Du? Und zu essen? Oder schickt dich – –«

Sie machte ein tiefernstes, feierliches Gesicht. Geheimnisvoll lächelnd wies sie nach oben. Verständnislos folgte ich mit den Augen dem kleinen Finger, sah aber nur uraltes Gebälk und verputzte Ziegel voll Spinnweben und Schmutz. Allein ich war viel zu ungeduldig, als daß ich der Schwester Zeichen und Mienen auf ihre Bedeutung geprüft hätte. Mein leerer Magen rebellierte. Gierig griff ich nach dem kalten Braten, dem Brote, dem Kännchen Milch und den gelbroten Äpfeln und verschlang, was mir zunächst unter die Finger kam. Leuchtenden Auges sah mir Binchen zu. Ich hockte höchst unbequem auf alten, aufgetürmten Blumentopfscherben, aber fühlte erst die Gefährlichkeit dieser Sitzgelegenheit, als ich völlig gesättigt war. Ich wischte mit dem Jackenärmel über den Mund.

»Jetzt aber, Binchen, sage schnell, wie du dazu kamst und wer dich geschickt. Hat Mutter – –«

Sie schüttelte den Kopf so lebhaft, daß die braunen Zöpfe flogen.

»Nein, nein, Gottlieb, sie weiß gar nicht, daß du – daß Tante Luise dich – sie hat Fieber, aber sie schläft jetzt. Ich glaube aber, es geht besser. Jedoch ich –«

»Du?«

Sie lächelte glücklich.

»Denke nur, Gottlieb, es war ja schlimm, aber siehst du, heute morgen mußte ich schon mit Tante um fünf Uhr heraus, um die zwei Seelenmessen zu hören, die für Krüger Hannes gelesen wurden.«

»Für den Hannes? Für den Tagedieb, den Säufer?«

Binchen nickte betrübt.

»Ja, für den. Er sei im Grunde doch ein guter, katholischer Christ gewesen und habe seine ganze Familie bekehrt; da müsse man ihm seine Schwächen vergeben und nun, da er tot ist, für sein Seelenheil beten, meinte Tante Luise. Ich konnte das aber so schlecht. Und darauf in der Schule – Geschichte hatten wir, und ich sitze ganz hinten auf der ›Bravheitsbank‹ – da schlief ich ein. Dabei träumte ich aber schön und herrlich. Ein Engel im weißen Gewand kam vom Himmel herab und gebot mir schnurgerade: ›Binchen, geh rasch heim und nimm viel Essen, und ganz, ganz gutes, und bringe es deinem Gottlieb hinauf. Wie du für Krüger Hannes beten solltest, hast du immer an den Bruder gedacht; so ist dem gleich auch Vergebung geworden. Also, gib ihm zu essen!‹ Ich rannte dann nach Hause, den Speisekammerschlüssel nahm ich aus dem Körbchen in Tantes Zimmer und diesen hier zum Speicher. Nun habe ich alles getan, was der Engel gesagt hat.«

Ich war freilich erst ein blutjunger, nichtsnutziger Bursch, aber es fiel mir dennoch auf, wie erregt meine Schwester war. Krankhaft erschien es mir. Und so weit war sie von ihrer Umgebung bereits gebracht worden, daß sie selbst auch schon Traumerscheinungen hatte. Einen Herzschlag lang erschrak ich, allein ich war ein Kind und ein Bub. Diese Ideenverbindung, daß mir all dieser hyperreligiöse Wust nun zustatten kommen sollte, kam mir so komisch vor, daß ich hell hinauslachte. Dann aber mußte Binchen gehen, mich wieder einschließen und die Schlüssel an Ort und Stelle zurückbringen. Ich tilgte sorgfältig alle Spuren der mir von dem braven Engel verschafften Mahlzeit und wiederholte das früher Gelernte, das ich doch nicht so rettungslos verschwitzt hatte, wie ich geglaubt. – –

Der sanfte, heimliche Einfluß unserer verschüchterten, leidenden Mutter, die mir rätselhafterweise immer so stumm ergeben unter dem Regimente der frommen Schwägerin litt, mochte nebst natürlichen Charakteranlagen dazu beigetragen haben, daß aus mir und Binchen keine absoluten Heuchler wurden. Ein klein wenig indessen wurden wir's doch, indem wir Hintertürchen suchten und auch fanden, wenn man uns die rechten Tore versperrte. In der Schule kam ich so eben mit, während Binchen immer die besten Noten nach Hause brachte. Ich hatte solche nur in einzelnen Fächern, und im ›sittlichen Betragen‹ haperte es meistens. Ein Segen war vielleicht noch, daß die Schule, von Knaben und Mädchen zugleich benutzt wurde. Ich habe stets gefunden, daß dies einen günstigen Einfluß beiderseits ausübt. Mochte manches Mägdlein bubenhafter dabei werden, so erhielt es doch dabei eine mehr frische, unbefangene Natürlichkeit, die dann auch noch anhielt im Verkehr mit dem andern Geschlecht, wenn durch das ›Erwachsensein‹ die Schranke zwischen Mann und Weib errichtet worden war. Uns Jungens aber behütete der weibliche Einfluß entschieden vor vielen Auswüchsen rüpelhafter Flegelei, und außerdem stachelten uns die kleinen ehrgeizigen Evastöchter zu Fleiß und Streben an.

Es hatte gar nichts genutzt, mich und Binchen abhalten zu wollen, mit Onkel Hersebrook zusammenzukommen. Schlau wie die Füchse wußten wir immer Rat, und die schärfste Aufpasserin, Schwester Karoline, befand sich nicht mehr im Hause. Sie war in eine strenge Schule eingetreten, die nichts anderes war, als eine vorbereitende Station fürs Kloster, das ihren Traum bildete. Tante Luise unterstützte weidlich diesen Plan, und unsere Mutter stand ihrem ältesten Kinde von jeher seltsam fern. Vater schien es nur recht zu sein.

Das Schicksal webt seltsame Gebilde. So kam eines Tages der Pfarrer ins Haus und erzählte, wie der ›ketzerische‹ Hersebrook nun so oft in der neuen Kirche der Stadt zu finden sei. Viele Zeit brächte er dort zu, und er selbst habe ihn, wie in Verzückung auf das Altarbild blickend, dort gefunden. Ich schnitzte gerade an einem Stückchen Holz herum, und Binchen hielt es mir fest. Ich merkte wohl, daß keines, – die Eltern und Tante waren im Zimmer – unserer Anwesenheit gedachte. Beim raschen Ausblicken sah ich Mutter heiß, wie in lebhafter, zweifelnder Überraschung erröten. Vater schlug die Hände zusammen, und Tante meinte freudig:

»Also doch noch! So wäre mancher Stein aus dem Wege fort. Er ist einsam und hat keine Erben, Hochwürden: es käme das der Ehre Gottes zugute, wendete er sein Gut noch der heiligen Kirche zu.«

»So könnte das möglich sein! Und –«

Allein plötzlich schien der Pfarrer uns zu gewahren und dadurch eine neue Eingebung zu erhalten. Diese – die beiden Kinder – die können die Brücke bilden!

Mutter trat zu uns, strich jedem Kopf und Wangen und ein liebes Lächeln, das ein Gemisch von Zweifeln, Überlegung und zugleich Freude ausdrückte, übersonnte ihr Gesicht.

So wurde es plötzlich wieder wie früher. Wir durften ins rote Haus, so oft wir wollten, ja, wir wurden sogar eifrig dazu angehalten. Ich war klug genug, zu merken, um was es sich handelte. Jahrelang hatte man Franz Hersebrook für einen lässigen Katholiken gehalten, dem außerdem seine kranken Beine verboten, größere Gänge zu machen. Zur Kirche konnte er deshalb nicht; indessen hatte ihn der frühere Pfarrer sehr oft besucht. Der aber war nun tot, und nie hat man mehr erfahren, ob er wirklich mit dem einsamen Mann religiöse Übungen gehalten und ihm ab und zu die Beichte abgehört hatte. Der neue Seelsorger indessen war nur ein einziges Mal im roten Haus gewesen und noch dazu recht kurz. Das mag in die Zeit gefallen sein, da man uns verboten hatte, zu Hersebrook zu gehen. Da war's denn herum gekommen, daß der Mann gar kein Katholik, sondern ein Protestant sei und also hierzulande sozusagen keine Daseinsberechtigung hatte. Noch nicht zweimal war ich dann nachmittags bei dem alten Freunde gewesen, da wußte ich schon, warum die andern glaubten, hier ihrer Kirche eine Seele und reiches Gut erobern zu können und warum der Alte das neue Gotteshaus in der Stadt so liebte.

»Siehst du, Gottlieb, in Jahren habe ich nichts gesehen von solch vollendeter Schönheit; nicht umsonst hat man jahrelang Tausende auf Tausende gesammelt, angehäuft und endlich hier verwertet. Schönheit, alles Schönheit ringsum, in reinen edlen Formen, die ins Blaue streben. Und erst die drei Gemälde von Meisterhand, besonders das Altarbild! Stunden könnte ich davor verbringen. Dazu dann die Gottesdienste mit den Knabenchören! Vergessen kann man, ein Mensch zu sein, Gott ähnlich fühlt man sich. Das Kleinliche, Enge fällt von uns ab, verbrüdert mit Schönem, Großem, Erhabenem wird man, eine mächtige Liebe zieht in uns ein. Suche das einmal zu erfassen, mein Junge.«

So wußte ich ganz genau, daß Onkel Hersebrook nie und nimmer katholisch werden würde. Konnte er doch unmöglich eine Religion wechseln, da er nur eine unveränderliche besaß, die keinen Sondernamen trägt und nichts weiß von Kampf, von kleinlichem, zweifelvollem Neid und Dünkel.

Wir Geschwister aber sangen keine Lieder mehr daheim, die wir im Roten Hause gehört hatten. Binchen schwieg sich aus; ich aber spielte eine vollständige Komödie als Wissender im Hellen, wo die andern glaubten, ich sei unwissend im Dunkel. Nur der Mutter berichtete ich des Abends.

»Mutter, er glaubt nur an einen Gott, der für alle ist. Er liebt die Schönheit und die Natur, die dieser schuf. Aber er verachtet gespaltenen Glauben. Mir hat er's gesagt, und dir dürfte ich's auch sagen. Aber du wüßtest das schon lange. Mutter, kennst du' denn Onkel Hersebrook so sehr gut? Du siehst ihn doch nie und nirgend?«

Mutter aber schwieg; sie preßte eine ihrer schmalen, weißen Hände in die andere. Eine direkte Antwort! erhielt ich nicht, aber dann sagte sie:

»Katholisch wird er ihnen freilich nie, – niemals! Aber, glaube mir, Gottlieb, – was ihr lernen, könnt von ihm, wird immer nur Gutes sein. Und er hat Kraft, die alles überwindende Kraft, die mir fehlt!«

Umsonst blickte ich fragend und nur halb verstehend zu ihr auf. – – –

Spätherbst war es, und Ostern sollte ich dann von der Schule, deren letzte Klasse ich besuchte, abgehen, um in der Stadt das Gymnasium zu besuchen. Ein Professor der Theologie, der mehrere Knaben in Pension hatte, sollte auch mich in sein Haus ausnehmen. Ich freute mich sehr darauf; nur der Gedanke, Mutter, Sabine und Hersebrook verlassen zu müssen, tat mir weh. Indem ich auf unsern welken, abgestorbenen Garten hinunterstarrte, dachte ich an diesen Abschied. Da stürmte die Schwester herein.

»Gottlieb, Gottlieb, denke dir, zu Onkel Hersebrook ist gestern ein kleines Mädchen gebracht worden, mit roten Haaren. Sie scheint ein bißchen jünger als ich, und seiner Schwester Kind soll es sein.«

»Nicht wahr ist's!«

»Doch, doch, auf Ehr' und Seligkeit; ich hab sie selbst gesehen, und sie hat aus dem Zaun gehockt, mit den Beinen gebammelt und einen Fladen gegessen!«

»Auf dem Zaune, – und einen Fladen?«

»Ja, von den großen, süßen, wie sie Hersebrooks alte Grete macht!«

Ich leckte mir über die Lippen, denn diese Fladen waren großartig und wurden nur zu besondern Festen gemacht. Aber ich überlegte auch: Die waren gewiß zur Ankunft des fremden Mädchens gebacken worden, also mußte man dieses doch bestimmt erwartet haben. Daß der Alte davon geschwiegen hatte, sah ihm ähnlich. Aber etwas wie Groll stieg dennoch in mir auf.

Am kommenden Morgen stand unter unserer Blutbuche die kleine Fremde, hielt etwas in ihrer Schürze und sah halb schelmisch und halb befangen zu uns herüber. Ein goldener Guß der Herbstsonne überflutete den Stamm, und purpurn leuchtete das noch wenig gelichtete Laub, mit dem wiederum das feurige Lockenhaar des Kindes zu verschmelzen schien. Ich stürzte hinaus und unter die Buche. Da flog ein Dutzend Fladen vor meine Füße, und im Nu verschwand die kleine, bewegliche Gestalt schon in der Baumkrone. Als kletterte und spränge ein Eichkätzchen von Ast zu Ast, so krachten die Zweige. Hell und spöttisch lachte es von oben herunter. Ich war empört.

»Du dummes Ding, du, was schmeißt du die Fladen auf die Erde und tust, als wollte ich dich auffressen?«

Ich war aber doch gar zu neugierig. So setzte ich etwas sanfter hinzu:

»Komm doch herunter. Bist du das Mädchen bei Onkel Hersebrook?«

Sie gab aber keine Antwort und kicherte immer weiter. Zornig wollte ich gehen, las aber doch die Fladen auf und biß auch einen an.

Da kam Sabine atemlos gesprungen.

»Wo ist sie? Wo?«

»Da, da oben hängt die Dümmeldirn in den Ästen und sagt nichts. Aber Fladen hat sie uns gebracht; guck, Binchen. Ich denke, Onkel Hersebrook hat sie damit geschickt, sich anzumelden.«

»Nein, behüte, was kann die klettern!« sagte staunend die Schwester und starrte bewundernd in den Baum hinauf. »So gut wie du!«

»Gans!« fuhr mir heraus; ich Packte alle Fladen und lief ins Haus zurück.

Ich wunderte mich nicht wenig, schon ein paar Stunden später die beiden Mädchen einträchtig und wie alte Freundinnen Hand in Hand den Bach entlang spazieren zu sehen. Am folgenden Tage durften wir zum alten Hersebrook gehen, und da erfuhren wir alles. Ursula – so hieß das wilde, seltsame Geschöpf – war das Kind seiner jüngst verstorbenen Schwester, die Witwe gewesen war. So nahm er die Waise zu sich. Sie war aus dem Lande wie ein Knabe groß geworden und hatte kaum etwas gelernt. Aber Klettern, Laufen, Schießen, Fischen und dergleichen, das konnte sie wie kaum einer von uns Jungens. Kraus wie ihr feuriges Haar war auch ihr Sinn; ihr Temperament maßlos und ungezügelt und ihr Herz gut und treu wie Gold. Nach wenigen Wochen hing ich eben so an ihr wie Sabinchen, und wir wurden unzertrennlich. Da der Glaube, nun zu des alten Hersebrooks Seele auch noch die der Nichte bekommen zu können, anhielt, hatte niemand etwas gegen diesen Verkehr. Der Mann im Roten Hause aber hatte oft ein Lächeln aus seinen Lippen, das mir spöttisch und überlegen erschien und sozusagen eine gutmütige Bosheit ausdrückte. Er verstand es meisterlich – und still beobachtete ich das – ohne irgend etwas dazu zu tun oder zu sagen, diejenigen an der Nase zu führen, die, fanatisch und verbohrt, blind ihren Zielen zustrebten.

Ungemein rasch streifte Ursula gerade so viel des Wilden und Ungefügen ab, als gut war, um dabei das Teil zu behalten, das ihre kraftvolle, mutige Eigenart bedeutete. Schnell erfaßte und lernte sie und war bald eine der besten Schülerinnen. Bei ihren Büchern, bei der Arbeit wurde sie jedoch merkwürdigerweise kaum jemals betroffen. Viel mühsamer und im emsigsten Fleiß mußte dagegen Binchen sich ihr Wissen erringen.

Obwohl Ursula niemals mit unsern Spielsachen etwas anzufangen wußte und am liebsten immer wilde, meist phantastische und selbsterfundene Spiele unternehmen wollte, vertrugen wir uns doch herrlich, und jener Winter, der letzte, den ich ständig im Elternhause verbrachte, wurde zum schönsten, den ich je erlebt habe. Die anregende, lebhafte Art der ›roten Wilden‹, wie sie von Tante Luise genannt wurde, die ihre Abneigung nur mühsam unterdrücken konnte, half uns über viel Schlimmes hinweg.

Ein paar Jahre weiterer Schulzeit in der Stadt entwickelten mich in selbständigem, zielbewußtem Willen außerordentlich. Meinen Vater, der immer mürrischer wurde, beeinflußte auch ein Leberleiden. Er trat mir nicht näher. Den einen Sonntag im Monat, den ich zu Hause weilen durfte, brachte ich stets fast nur bei der Mutter oder mit Sabine bei dem alten Hersebrook zu. Wie ein düsteres, graues Gespenst blickte es mir daheim aus allen Ecken entgegen. Irgend etwas Ungreifbares, das mich ängstigte, schlich auf leisen Sohlen über die Gänge und schien mir in jedem finstern Winkel zu hocken. Im Roten Hause aber lebte ich mit Binchen auf; dort waren wir frische, harmlose Kinder. Daß ich damals nicht mit den Mädchen singen konnte, ärgerte mich ungemein. Aber meine Stimme schnappte unaufhörlich über, und die Freundinnen wollten sich halb tot lachen, wenn ich so bellend laut sprach oder rief. Zu einigem Trost gereichte mir dabei, daß mir Onkel Hersebrook sagte, ich stände jetzt an der Grenze zwischen Knabe und Mann, und sei ich erst völlig drüber weg, so würde alles wieder gut werden. Einige Monate später häuften sich die Klagen meiner Lehrer und meines Pensionsvaters so sehr, daß mein ›Alter‹ mich in einem besondern Schreiben nach Hause zitierte und mir dann in einem ebenso maß- wie sinnlosen Wutausbruch androhte, meine Knochen kurz und klein zu schlagen, wenn ich mich von nun an nicht bessere und das Gymnasium mit Ehren absolviere. Da er mir aber ein Fremder war und er sich keinen Platz in meinem Herzen erobert hatte, berührte mich sein wütendes Gebaren gar nicht. Völlig ruhig erklärte ich, niemals studieren, sondern Kaufmann werden und in ferne Länder gehen zu wollen. Wie in einer Dunstwolke sah ich den Vater noch, der in seiner ganzen wuchtigen Größe vor mir stand und wie von Sinnen eine Halbliterbütte gegen mich schwang. Sein blaurotes Gesicht schien nur immer breiter und größer zu werden.

»Vater, komm zu dir,« schrie ich auf. Instinktiv griff ich nach seinem Arm, und es gelang meiner jungen Kraft, diesen weg und nieder zu drücken. Was sonst geworden wäre, – ich weiß es nicht.

Aber nun sprang plötzlich die Tür auf und im weißen Nachtkleide stand Mutter, die seit Wochen wieder lag, unter der Tür. Ihr blondes Haar fiel um das schneeige Gesicht. Weit und groß waren ihre blauen Augen aufgerissen. Sie schritt auf mich zu und schlang den einen Arm um mich. Mit der rechten Hand hielt sie sich an der Lehne des großen Sessels. Erst rang sie nach Atem, dann aber kam es heraus, leidenschaftlich, keuchend und in unglaublicher Aufregung:

»Diesen – nein, diesen bekommt ihr nicht – nimmermehr! Er soll den Weg gehen, den er sich gewählt, das ist gut! Seinen Weg – das – will ich – seine – – Mutter!«

Ein gurgelnder Laut noch, schwankend und taumelnd suchte sie nach einer Stütze. Aber schon hatte sie Vater umschlungen und auf das blaugrundige, mit Rosen geblümte Sofa gebettet. Er winkte mir nur kurz, zu gehen.

Dennoch – damals, in jener Minute, da liebte ich ihn. Dann noch einmal, später, viel später einmal, an einem offenen Grab!

Anders sah er jetzt plötzlich aus, ganz verändert. Blasser und schmaler schien er geworden, namenlose Angst in dem sonst so finstern, drohenden Gesicht. Sehr langsam und zögernd entfernte ich mich; unter der Tür sah ich noch, wie er schwimmenden Auges die wachsbleichen, kleinen Hände küßte, die ihre Finger noch immer wie abwehrend gegen ihn spreizten. Ich sprach mit niemand über diesen Auftritt und bangte nur um Mutter. Diese aber lag, anscheinend völlig erholt, ganz ruhig, als wäre nichts gewesen, am kommenden Morgen in ihrem Bett. Als ich aber zu ihr ging, war der Vater eben sachte aus dem Zimmer getreten, und ich hatte wohl gesehen, daß er die ganze Nacht nicht aus den Kleidern gekommen war und so gewacht hatte. Weihrauchdüfte schienen mir das Haus zu durchziehen, und aus der Kammer neben der Küche tönte monotones Beten zweier Stimmen.

Nach zwei Wochen schon, nahm ich Abschied von der Heimat, um in Hamburg als Lehrling in ein großes Import- und Export-Geschäft zu treten. Mein künftiger Herr befand sich auf Reisen in der Stadt und hatte seinen alten Freund Franz Hersebrook besucht; so war es gekommen, daß ganz unvermutet die rasche Erfüllung meines Lieblingswunsches eingetreten war, Vater sprach nur das Nötigste mit mir über meine Angelegenheit und Zukunft und erwähnte auch mit keinem Worte, daß Onkel Hersebrook mir die Stelle ausgewirkt hatte. Ich empfand Wonneschauer, diese große Reise, und zwar zu Wasser, antreten zu dürfen. Von unserm Marktflecken am Unterrhein sollte sie durch die Yssel in den Zuidersee und dann an den friesischen Inseln entlang durch die Elbemündung nach Hamburg gehen. Märchenhaft deuchte es mich, daß das Schiff, mit dem wir reisen sollten, meinem Brotherrn selbst gehörte. Hoffnungen und Phantasieen, wie sie halbwüchsige Burschen zu haben pflegen, bewegten mich an diesem Abschnitte meines Lebens mächtig. Jedoch, sie verhinderten nicht, daß ich von dem Bilde erfüllt blieb, das auch später nicht mehr von mir weichen wollte: mein Vater über die ohnmächtige Mutter gebeugt und ihr die Hände küssend! Ein Rätsel tat sich vor mir auf. Und ich stand ihm gegenüber, indem es zu einem mächtigen Wall erwuchs, der mir unübersteiglich und undurchdringlich schien. Das Schwerste, der Abschied von der blassen Dulderin, die ein einziges Mal, im Kampfe für mich, so riesengroß und stark geworden, war vorbei, auch der tränenreiche von der Schwester. Dabei hatte ich gefühlt, welch ein großes Glück es für sie bedeutete, daß ihr Ursula zur Seite bleiben würde. Ganz zuletzt ging ich zu Hersebrook. Der küßte mich mitten auf den Mund, gab mir ein Täschchen mit zwei Dukaten und ein paar Talern. Er wies auf ein Blatt Papier, das seine breite Schrift deckte, und meinte, das solle ich lesen, wenn ich mich in meine neue Welt und Umgebung eingewöhnt hätte.

»Und wenn du wiederkehrst, Gottlieb, so wirst du schon ein wenig gelernt haben, das wahre Gute vom Gepriesenen zu unterscheiden und das heiß Ersehnte von dem Gewordenen. Es ganz zu lernen, muß man die Straße seines Lebens bis zum Ende geschritten sein. Lebe wohl, mein Knabe du – lebe wohl!«

Er sah mich fest und lange an, und mir wollten Tränen kommen. Ich zwang sie aber tapfer nieder.

»Wie du deiner Mutter gleichst!«

Er drehte sich dem Schatten zu, dann sagte er nochmals: »Lebe wohl!« Aber seine Stimme bebte. Ich küßte heiß die Hand, die mich so treu durch meiner Kindheit Tage, die nun ein Ende haben würden, geführt hatte. Ich dachte jenes Wintermorgens, da Köbes uns über die Schwelle des Roten Hauses getragen. Wie damals lag die Sonne hell im Raume, nun aber lenzte es und über den sprießenden Saaten jubilierten Lerchen.

Aber nun Ursula! Wo war und blieb sie nur? Hatte denn sie kein Lebewohl für mich? »Ursula, Ursula!« Laut und endlich ganz aufgebracht rief ich ihren Namen. Allein niemand kam. Schmerzlich berührt, voll Groll ging ich. Am Heckenweg aber, schon nahe unserm Hause, tänzelte sie den Pfad entlang. Waren ihre Augen nicht ganz rot?

»Wie scharf doch die Luft noch ist,« meinte sie rasch. Dann tollte sie im Übermut umher, wollte, daß ich sie hasche, legte sich auf die Erde, einen grünen Käfer zu fangen und stürzte sich endlich jauchzend unter eine Schar Gänse, daß diese wie wahnsinnig auseinanderfuhren und in lautes Geschnatter ausbrachen. Wollte ich nur ein Wort vom Abschied sagen, fiel sie mit diesem oder jenem eilig ein, erzählte mit nimmer rastender Zunge Schnurren und Späße und trällerte Liedchen und abgerissene Verse dazwischen. Wilder als je hing das rote Gelock ihr um Stirn und Nacken, und Strohhalme und Erde hatten sich darin verfangen. Seltsam, wie mir wurde! Ihre Art berührte mich fast erkältend und war mir unheimlich und anziehend zugleich. Rasch wandte ich mich gegen unser Haus. Am Spätnachmittage wollte ich noch zum Schneider gehen und mir einige ausgebesserte Sachen und den neuen Anzug selber holen, mit denen er mich bis zur letzten Stunde im Stich gelassen hatte. Wie aus der Erde gewachsen stand plötzlich Ursula auf der Landstraße neben mir. Nun war sie stumm und, so viel ich bei der bereits einfallenden Dämmerung sehen konnte, sehr bleich. Jetzt aber redete ich wie ein Buch, und brüstete mich mit der weiten Reise und allem. Was die Zukunft ohne Zweifel an Merkwürdigem und Schönem bringen würde. Sie hatte kein Wort. Auf dem Rückwege war es völlig dunkel geworden. Ich meinte zu fühlen, daß der magere Kinderleib sich näher und näher an mich drängte, und ich dachte, die Kleine fürchte sich. Bei der Hecke am Roten Hause stand ich still und wollte ihr das letzte Lebewohl sagen. Meine schöne Rede aber, die ich zu halten beabsichtigte, wurde nur ein Gegacker und Stottern. Dichter preßte sich Ursula an mich. Ich glaubte eben, sie wolle mir den Schwesterkuß zum Abschied geben, da drang ein Schluchzen wie ein wilder Tierlaut aus ihrer Kehle, und gleich darauf biß sie mich in den Arm, daß ich laut aufschrie. Im Dunkel war sie verschwunden. –

Ich war eine Woche in Hamburg. Seltsamerweise fühlte ich kein Heimweh und war noch völlig benommen von den neuen Eindrücken. Eines Abends, in meinem kleinen Zimmer, das über einem Warengewölbe lag, besah ich mir wieder einmal die Schätze, die mir Onkel Hersebrook mitgegeben hatte und wollte nun auch den Zettel lesen. Ich entfaltete ihn auf meinem Kopfkissen:

›Der Wagen der Welt fährt auf goldenen Rädern. Wenn von ihm Menschen zerdrückt werden, so meinen wir, es sei ein Unglück. Gott aber schaut, in seinen mächtigen Mantel gehüllt, gelassen darauf herab. Er hebt den Leib nicht hinweg. Der Mensch hat ihn ja selbst hingelegt. Der Herrgott hatte ihm die Räder gezeigt, von Anfang an, und er achtete ihrer bloß nicht.‹ –

Das Reisen war damals, als es noch keine Eisenbahnen gab, zu schwierig und teuer, als daß man ohne besondern Grund in der Welt umhergezogen wäre. So war ich achtzehn Jahre alt geworden, ohne Hamburg und meinen gütigen Chef verlassen und die Heimat wiedergesehen zu haben. Die fernen Länder, aber, noch immer die Ziele meiner ungestümen Sehnsucht, wurden mir stets von meinem Brotherrn in Aussicht gestellt. Schätze hatte ich mir freilich noch keine erworben an Geld und Gut, aber kostbarere an Liebe und Freundschaft. Herr Roosemann, anscheinend ein kalter, etwas steifleinener Herr, nahm es ernst mit den Versprechungen, die er ohne Zweifel Freund Hersebrook gegeben hatte. Ich fühlte am Anfang deutlich sein stummes Beobachten, das ihm befriedigende Aufschlüsse über meinen Charakter und mein Wesen gegeben haben mußte. Nach und nach fing er an, mich, wenn ich Werktags meine Pflicht redlich getan, in sein Haus zu ziehen. Er hatte einen Sohn, der zu seinem großen Kummer nicht Kaufmann, sondern Ingenieur werden wollte. Dieser war, zwei Jahre älter als ich, auswärts auf einer Schule und kam nur zu den Ferien nach Hause. In einem Töchterchen meines Alters aber, das schön wie der Tag war, hatte Herrn Roosemann ein bitteres Schicksal schwer getroffen. Ohne daß man wußte woher, war Elisabeth seit ihrem dreizehnten Jahre an den Beinen völlig lahm und überhaupt von großer Zartheit. Da kam mir nun zustatten, daß ich durch meine geliebte Schwester Binchen und durch Mutters Kränklichkeit ›frauenzimmerliches Wesen‹, wie ich's innerlich nannte, gewohnt war. Wir wurden bald gute Freunde und konnten uns gegenseitig viel sein. Frau Roosemann war eine in ihrer Art auch hübsche, kerngesunde, robuste Frau, gut von Herzen und Sinnesart, aber weder besonders gescheit noch bildungsbedürftig. Sie hatte, aus geringem Stande emporgekommen, eine leise Neigung zum Prahlen mit dem, was ihr an Besitz geworden war.

Besaß ich in der Heimat zwar eine Unmenge Spiel- und Schulkameraden, so hatte ich doch keinen einzigen wirklichen Freund. Hier dagegen gewann ich deren bald eine ganze Anzahl, und der beste und mir der liebste von allen, obwohl ich ihn nur in seinen Ferien sah, war Arvid Roosemann. So blühte ich erst jetzt im rechten Sinne auch geistig auf, denn mein junges Leben rollte sich schön und friedvoll ab. Es war so recht dessen Frühlingszeit. Wie in funkelnder Sonne unter lichtgrünen Zweigen schritt ich fürbaß, und aus meinen Augen leuchtete sicherlich die ganze unerschütterliche Zuversicht in die Welt hinein, wie sie wohl auch der junge, unerfahrene Lenz besitzt, der wohlgemut blühen und duften läßt und Hoffnung ausstrahlt allerwege. In unserm Kreise junger Leute waren Arvid, soweit er anwesend, und ich die Lebhaftesten. Wir redeten gar viel vom Höchsten und Tiefsten, und, hatten wir uns darin erschöpft, kamen Staat und Regierung daran. Wir wußten genau alle Mittel vorzuschlagen, zu unendlichster Freiheit, Gerechtigkeit und unbeschränktester Duldsamkeit zu gelangen. Kampf gegen jeden, der dagegen sei, und zum Ende natürlich Sieg. Jeder Feind mußte zerschmettert werden, und von den bekränzten Häuptern der Sieger – jeder sah selbstverständlich insgeheim sich selbst darunter – leuchteten Kränze des Ruhmes. Wir hatten noch nicht erfaßt, welch rätselhaftes, unbeschreiblich geheimnisvolles und lockendes Ding die Zukunft ist, wenn wir noch nicht in ihr sind, und wie schnell und unbegriffen die Gegenwart davonrauscht. Wie klar, so ganz verbraucht und wesenlos geworden diese Zukunft dann als Vergangenheit daliegt. Wir jungen Burschen, ich an der Spitze, stürmten nur so in sie hinein und konnten gar nicht erwarten, was ihr Schoß bergen und uns spenden würde. Hatte jeder auch eine andere Art und verschiedenes Gebaren, alle, alle haschten wir doch nach vorüberflatternden Sommervögeln, und auf unsern Wegen fanden sich stets bunte Steine in Menge.

Ich war im Frühsommer von einem Sonntagsausflug heimgekehrt, den ich mit der Familie Roosemann gemacht hatte. Mit Blumen hatten wir das Wägelchen geschmückt, an das die arme Lahme gebunden war, und dreistimmig hatten wir Lieder gesungen, daß es nur so durch die herrlichen Parkanlagen oberhalb der Elbe geschallt hatte. Weit über dem Wasser mußte man uns gehört haben. Ich kam nach Hause, und die Sonne, die den Tag über so freundlich und andauernd geschienen hatte, lag weit draußen am Firmament als glühende, erlöschende Kugel. Ich stand, sah und bewunderte. Da kam ein Hausbursche mit einem Postschreiben. Es war aus der Heimat und zu meinem größten Erstaunen von Onkel Hersebrook. Ein weiteres an Herrn Roosemann lag dabei. Das an mich gerichtete lautete:

›Mein guter Gottlieb! Ein liebes Leben neigt sich dem Ende. Keine Augen außer den meinigen scheinen das zu bemerken; doch ehe noch die Rosen zum ersten Male abgeblüht, wird dieses Leben erloschen sein. Nimm die erste beste Gelegenheit wahr und komm! Kein Sonnenstrahl darf fehlen, den letzten Weg der Armen zu erhellen. Er soll und darf nicht dunkel sein bis zum mächtigen Tor der Ewigkeit. Möge es der Himmel fügen, daß du hier bist, bevor es sich Deiner Mutter öffnet.‹ – –

Drei volle Tage durfte ich der Sterbenden noch zur Seite sein, bis sie entschlief. Ihre langsam erkaltenden Hände ruhten in denen meiner jüngeren Schwester und den meinigen, und wir beide haben ihr gemeinsam die Augen zugedrückt. Vater, der an kein Ende glaubte, war wieder einmal in der Stadt bei Gericht, denn er führte hartnäckig und ausdauernd die langwierigsten Prozesse. Was mich zu allererst in der Heimat überraschte, war, daß Schwester Karoline sich wieder im Elternhause befand. Den Entschluß, ins Kloster zu gehen, hatte sie aufgegeben und sich mit einem Buchhändler für Missionsschriften verlobt, der sich in der Kreisstadt niedergelassen hatte. Ich interessierte mich so wenig dafür, daß ich nicht einmal fragte, wie und wo sie ihn kennen gelernt hätte. In stillschweigendem Übereinkommen, auch in einem uns berechtigt erscheinenden Egoismus, hatten Sabine und ich weder Tante Luise noch Schwester Karoline geholt, als wir sahen, daß es mit der geliebten Mutter wirklich zum traurigen Ende ging. Am Nachmittage war der Pfarrer noch lange bei der Todkranken gewesen, und sie hatte, wie schon oft vorher, die heiligen Sakramente empfangen.

Am Abend des Begräbnistages zog es mich mächtig nach der frischen Ruhestätte. Einer war mir indessen schon zuvorgekommen. Eine schwarze Gestalt hantierte am Grabe und bückte und streckte sich, daß es im Abenddämmern seltsam anzusehen war. Leise schlich ich mich nahe und nun erkannte ich den Vater, der einen mächtigen Korb, gefüllt mit frisch abgeschnittenen Rosen, vor sich stehen hatte und nun die Stätte mit diesen förmlich überschüttete. Ich glaubte deutlich zu sehen, wie alt, durchfurcht und vergrämt sein Gesicht geworden war, das wieder den weichen, reuigen Ausdruck trug wie damals, als er der Ohnmächtigen Hände geküßt hatte. Das war jene zweite Stunde, da ich meinen Vater lieben konnte.

In den drei Tagen vor dem Tode der Mutter hatte ich niemanden außer der Familie gesehen. Am Morgen nach dem Begräbnis ging ich hinüber zu Hersebrook. Ich fand ihn vor seinem Tisch sitzen, Briefe, getrocknete Blumen, bunte Bänder und Bilder lagen vor ihm ausgebreitet. Ich hatte das peinliche Gefühl zu stören und bat ihn, mich schnell wieder gehen zu lassen. Allein er sah so ruhig aus und begrüßte mich so innig, daß es fast schien, als hätte er mich erwartet.

»Willkommen, willkommen, mein Junge. So kamst du zur Zeit. Die Rosen blühen noch!«

Ich dachte an die vielen, vielen, die Vater auf das Grab gestreut hatte, aber noch wollte ich nicht davon sprechen. Hersebrook hielt meine Hand in der seinigen fest und meinte sehr sonst:

» Ihr ist nun wohl. Wohler jetzt im Himmel denn auf der Erde!«

Als hätte er meine Anwesenheit ganz vergessen, griff er nach einem eingerahmten kleinen Pastell-Porträt. Er drückte seine Lippen darauf:

»Du, o du, du hast unendlich gelitten!«

Sachte legte er es wieder vor sich hin. Mich durchfuhr es seltsam. Dieses blutjunge, zarte und liebliche Gesicht des Bildchens war das meiner Mutter, wie sie in der Jugend ausgesehen haben mochte. Sie hatte trotz Krankheit und trotz ihrer Jahre viel von jener Schönheit, den Ausdruck und die Farbe der Augen behalten. Licht und reich war auch das goldene Haar geblieben.

»Meine Mutter!« entfuhr es mir.

Er nickte:

»Ja, eure Mutter! Ich habe mit meinen Schätzen nur auf dich geharrt, Gottlieb; – für dich und mich habe ich sie hier ausgebreitet. Du mußt es ja wohl längst ahnen, heute aber will ich dir Gewißheit geben, denn du bist ein Jüngling jetzt,« – er streifte meine große kräftige Gestalt mit den Augen und nickte befriedigt – »du bist ein Mann geworden! So sei's denn: Ja, ich hab sie lieb gehabt und sie mich. – Das ist eine lange und längst vergangene Geschichte. Und doch so neu und wie frisch erlebt! Setze dich und höre:

Ich gehörte dem Schillschen Freikorps an. Gerade in jenen Tagen, da unsere heldenmütigen Offiziere den Opfertod sterben mußten und in Wesel erschossen wurden, waren mir die Bluthunde gleichfalls auf den Fersen. Ein Flüchtiger, schon fast am Ende meiner Kräfte, erreichte ich Köln. Durch Straßen, über Plätze, Zäune, ja Dächer ging mein gefahrvoller Weg. In einem Gewirre zahlloser Gäßchen gelangte ich an einen Garten, der zu einem Hause gehörte, dessen Front nach einem Platze auf der andern Seite ging. Die Türe des Gartens und das Hinterpförtchen des Gebäudes standen offen. Schon halb besinnungslos, unendlich geschwächt, stürzte ich in den Gang, in dessen lichtdurchfluteten Räumen eine helle Gestalt stand. Mir schien sie ein Engel zu sein. ›Ein Flüchtiger – der Feind hinter mir – Erbarmen – verbergt mich!‹ stieß ich hervor. Dann aber verlor ich das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, war es Nacht. Ich lag auf einem weichen Lager in einem kellerartigen, aber hellen und saubern Raume, ein kleines Lämpchen erhellte ihn mit friedlichem Schimmer. Mein Engel versuchte mir Wein einzuflößen und redete mir mit sanfter Stimme zu, etwas Nahrung zu nehmen, die schon bereit stand. Kräftiger geworden, hörte ich dann ihr Geständnis, daß ihr Vater, ein Advokat, den Franzosen freundlich gesinnt sei und nimmer ahnen dürfe, daß ein ›Schillscher‹ unter seinem Dache weile. Er sei viel in allerlei Geschäften, die teilweise auch der Krieg gebracht, unterwegs, nur die halbtaube Magd und einen dummen, aber braven Diener hätten sie im Hause. So hoffte sie, mich ungestört gesund pflegen und verborgen halten zu können. Über zwei Wochen verbrachte ich auf diese Weise, und Clarissa versorgte mich sogar mit Büchern, Schreibzeug und Papier. Letzteres benutzte ich, viele Verse zu schreiben, die alle meiner schönen Retterin galten, die ich von Tag zu Tag heißer liebte. Nachdem ich sie ihr eines Tages übergeben und sie eine Nacht fast daran gelesen hatte, gestand sie mir tief ergriffen, daß auch sie mir innig zugetan sei. Uns in Schmerz und Freude umschlungen haltend, verbrachten wir manche süß-bittere Stunde. Mußten wir uns doch ehrlich gestehen, daß der strenge Vater, dem die seit langem mutterlose Tochter recht fremd gegenüberstand, nimmermehr in unsere Verbindung willigen würde. Clarissa aber, bei all ihrer Weiblichkeit und Sanftmut, hatte heißes Blut, eine flammende Seele und besaß Mut und Tapferkeit. So groß war ihre Liebe zu mir, – der ich doch damals nichts war und hatte, denn meine russischen Verwandten beerbte ich erst viel später und unvermutet –, daß sie beschloß, mit mir zu fliehen. Ich wußte einen guten Zufluchtsort für uns beide. Eine treue Magd unseres Hauses war durch meiner Eltern Güte instand gesetzt worden, ihren Liebsten, einen braven Schmied zu ehelichen. Der hatte es zu etwas gebracht, und sie hatten ein kleines Haus in Orsoy. Dorthin, in das weltvergessene Städtchen, zu den treuen und uns ergebenen Menschen, wollte ich zuerst Clarissa bringen und dann selbst versuchen, nach Rußland zu entkommen, um mir dort eine Stellung zu erringen. Da Napoleon alle seine verfügbaren Heerscharen für den Riesenfeldzug gegen Rußland im Osten gesammelt hatte, schien die gewählte Gegend vom Feinde ganz verlassen und doppelt sicher zu sein. Wir bereiteten alles zur Flucht und waren voll guter Hoffnungen auf ihr Gelingen. Allein das schreckliche Schicksal erreichte uns noch in Köln, ehe wir die Stadtmauern hinter uns hatten. Eine Patrouille griff uns auf, wir kämpften beide – Clarissa wie ein Mann – für unsere Freiheit und unser Leben. Ich wurde für tot zuerst in eine Ecke geschoben, dann von Mitleidigen, die mich später fanden und sahen, daß ich nur bewußtlos und verwundet war, ins Spital gebracht. Clarissa wußte einen Augenblick auszunutzen, da ein Bote ihre Wächter mit alarmierenden Nachrichten aufregte, und erreichte sicher ihres Vaters Haus wieder. Ich entkam, trotz des Fiebers, das in mir brannte, gleichfalls noch in derselben Nacht, und in allerlei Verkleidungen gelangte ich endlich an die russische Grenze und dann auf ein Gut eines Onkels, der mir wohlwollte.

»Die Geliebte verbrachte, wie ich dann später vernahm, ein schreckliches Jahr im Vaterhause, doppelt leidend in der Ungewißheit über mein Schicksal. Endlich und endlich, als sie gar nichts von mir hörte, glaubte sie, ich sei tot. Ich hatte ihr immer wieder Nachricht zugehen lassen, allein die einzige, die sie in der damaligen, unsichern Zeit erreicht hatte, war vom Vater aufgefangen worden. Eines Tages kam ein reisender Arzt in Geschäften zu diesem ins Haus, verliebte sich sterblich in Clarissa und begehrte sie stürmisch zum Weibe; auch dann noch, als ihm der Vater alles erzählt hatte. Mit all ihrer Kraft und Hoffnung am Ende, sich unfähig dazu fühlend, im Vaterhause weiter zu leben, nahm sie seine Hand und kam hierher. Wie mußte sie aber dann erst leiden! Eine Atmosphäre übertrieben-fanatischer Frömmigkeit umgab sie. Damals lebten die Mutter und eine zweite Schwester deines Vaters noch. Wußten sie auch nichts Genaues, so ahnten sie doch irgend etwas. Als eine vom Wege Aufgelesene, nur aus Gnade und Barmherzigkeit Aufgenommene, wurde die Arme behandelt. Eine krankhafte Eifersucht gegen einen Unbekannten, dessen richtigen Namen kein Ohr vernommen, eine Eifersucht, die außerdem doch bloß in der Vergangenheit fußen konnte, und ein geradezu krankhaftes Mißtrauen machten den Gatten zuzeiten fast toll. Und beides wurde von den Frauen, die so heiß gehofft hatten, den Sohn und Bruder völlig für sich behalten zu können, stets genährt.

»Als du zum Beispiel zur Welt gekommen warst und etwa ein Jahr zähltest, quälte der Unvernünftige deine arme Mutter damit, daß du keine Spur von Ähnlichkeit mit ihm aufwiesest und wie gänzlich aus der Art geschlagen schienst. Wenn du nun auch darüber lächeln magst und wenn ich auch selbst diesen Glauben unsinnig finde, so müssen wir dennoch zugeben, daß er besteht. Es ist der, daß Kinder Züge und Gestalt der Persönlichkeit annehmen sollen, an die eine hoffende Frau beständig denkt und deren Bild sie im Herzen trägt. Dein Vater bezichtigte Clarissa einer Untreue der Gedanken, und du solltest dem verlornen Liebsten gleichen! Das wurde zur fixen Idee bei dem aufgeregten Mann – den ich übrigens zeitweise nicht für geistig normal halte – mit der er die, von ihm doch so heiß Geliebte, quälte zum Erbarmen. Für dich hat er nie Vaterliebe aufbringen können!«

Hersebrook schien die Frage, die sich mir auf die Zunge drängte, zu erraten, denn er fuhr fort:

»Woher ich das alles weiß? Du wirst es gleich vernehmen. – Jahre waren vergangen. Als Vergnügungsreisender und wohlhabender Mann kam ich durch diesen Ort, der damals noch ein kleines Dorf war. Drüben, wo eure Blutbuche steht, hielt ich an und betrachtete das reizvolle Bild. Da, ein Aufschrei, vorgebeugt, mit weit aufgerissenen Augen, schritt langsam, als fürchte sie ein Phantom zu zerstören, Clarissa über die Wiesen auf mich zu. Ein zweiter Aufschrei, der in meiner Stimme ein Echo fand – und alles um uns vergessend, lagen wir uns in den Armen. Wie der zünftigste Zufall es fügte, sah und hörte uns keiner. Am späten Abend kam sie, erschauernd, wie eine Verbrecherin, hinüber zu der Hütte, die leer und verlassen stand und wo nun seit langem dies Haus erbaut ist. Der furchtbarste Schmerz über des Schicksals Härten und Tücken führte Clarissa noch einmal an mein Herz und meine Lippen an die ihrigen. Sie erzählte mir dann alles, wie es gekommen war, und ich desgleichen. Dann schworen wir uns, in Reinheit und Treue, fern und doch nahe, in Freundschaft einander anzugehören. Im Innersten zerrissen schieden wir. –

»Nach einigen Jahren aber hielt ich es nicht mehr aus. Allzu mächtig zog es mich her, selber zu sehen, wie es ihr nun ergehe, die ich weit mehr liebte als mein Leben. Ich wohnte in dem kleinen Gasthause und erlauschte genug, um die Empfindung zu erhalten, in der Nähe ihr oder ihren Kindern doch nützlich sein zu können. Ich kaufte das Grundstück mit der Hütte, ließ diese niederreißen und das Rote Haus erbauen. Niemals wechselten wir beide in der Folge ein geheimes Wort. Aber ihr Kinder, Karoline kam nur kurze Zeit zu mir, – dann aber du und Sabine – ihr wurdet die meinigen. Auch euren Vater lernte ich flüchtig kennen, allein Freunde wurden wir nicht und konnten es auch nach unsern Charakteren und Veranlagungen niemals werden. Daß ich seine Frau nur jemals gekannt hatte, erfuhr er so wenig wie ein anderer Mensch. Der vortreffliche greise Pfarrer unseres Ortes war mir herzlich nahe getreten. Sein häufiges Kommen und mein Besuch der katholischen Kirche ließen den Glauben aufkommen, daß ich der hier allgemein verbreiteten Konfession angehöre.

»Von da ab setzt deine eigene Erinnerung ein, und du kannst selbst die weitern Glieder dieser Lebenskette fügen. Du weißt genugsam, daß deine arme Mutter kein Glück gefunden hat in ihrer Ehe, nicht einmal leidlich Ruhe und Frieden. Vielleicht hätte sie das wenigstens erreicht, wenn die im Hause lebenden Verwandten nicht gewesen wären und die stündliche Qual sinn- und grundloser Eifersucht des Gatten. Sie fand nichts in ihm, was ihr den Boden zu einer Heimat der Seele und des Herzens hätte bereiten können. Und dennoch, eins war gut und echt in diesem Manne, wenn auch zerdrückt und verdorben durch äußere Einflüsse: die Liebe zu ihr, seinem Weibe! Er liebte sie! Er liebte sie eben nach seiner Art!«

Der Alte stand auf und ging rastlos im Zimmer umher. Ich dachte an die Rosen. ›Er liebte sie!‹ wiederholte ich leise. Ich war tief ergriffen und völlig benommen von dem Gehörten. Nacht war's, als ich ging. – –

Von Ursula hatte ich nichts gesehen. Aber am Tage darauf stand sie wieder unter der Buche, fast wie damals. Ich fand, sie hatte sich kaum verändert. So klein dünkte sie mich, mager und kindlich. Der Vierzehnjährigen hatte man das Lockengeringel nicht mehr gestattet. So glatt, wie es bei dem widerspenstigen Kraushaar möglich war, lag es an dem schmalen Kopfe und machte das blasse Gesichtchen noch schmäler. So wie sie da stand, versprach sie kein bißchen hübsch zu werden. Des Nachmittags kam sie dann mit Büchern, die mir Onkel Hersebrook schenken wollte. Sie blieb bei mir, und ich mußte ihr von meinem Leben erzählen. Ihre Wildheit schien verschwunden; ganz still saß sie da und wandte kein Auge von mir. Fast schien sie mir etwas scheu geworden. Auch die frische Trauer unseres Hauses mochte ihren Übermut, wenn er noch ungebändigt vorhanden war, dämpfen. Als wir dann zusammen draußen gewohnte Pfade gingen, schien sie mir langsam mehr und mehr die alte zu werden. Einige Male hatte sie schon zu ihrem seltsamen, melodischen Lachen angesetzt. Bald kam uns Sabine mit noch einem jungen Mädchen vom Friedhöfe her entgegen. Scharf umrissen hoben sich die beiden jungen Gestalten vom reinen Abendhimmel ab, an dem nicht ein Wölkchen drohte. Dunkler als je schien mir das Haar meiner Schwester, ihre Haut und ihre Augen zu sein, neben so viel schöner, lichter Klarheit der Züge und Farben, die jene junge Gefährtin schmückten. Ich erfuhr, daß sie die Tochter eines Kaufmanns sei, der in der Stadt ein großes. Geschäft und hier ein kleines besaß. Aus Gesundheitsrücksichten für seine etwas leidende Frau wünschte er für diese und die Tochter den halb ländlichen Aufenthalt. Therese Meinhardt war für eine Fünfzehnjährige auffallend groß und entwickelt. Ihr Benehmen und Auftreten waren das einer Dame, und die etwas zu schmalen Lippen ihres kleinen Mundes zuckten jedesmal nervös, wenn Ursula wie ein Junge lief und sprang oder impulsiv derbe Ausdrücke anwandte. Mir schien es fast, als mache es dieser besondern Spaß, Therese damit zu reizen, denn es war auffallend, wie anders als vorher sich Ursula nun betrug. In ihren grauen Augen schien es nur zu flimmern von verhaltenem Zorn, und schon beim Anblick des großen Mädchens hatte sie Miene gemacht, wegzulaufen. Nur ein Zuruf Binchens hatte sie zum Bleiben bestimmt. Sympathisch waren die beiden sich sicherlich nicht. Auf mein eifriges Befragen erzählte mir die Schwester, daß Therese seit zwei Jahren im Orte weile und ein ungemein talentiertes, fleißiges und äußerst braves Mädchen sei, nur bisweilen sei sie etwas hochmütig. Das mir madonnenhaft scheinende Geschöpf hatte großen Eindruck auf mich gemacht; so großen, daß ich ein schwungvolles Gedicht auf das Grab meiner Mutter schrieb, worin Therese Meinhardt, mehr poetisch als sinnreich, als Engel erschien. Ich hatte es ihr im Gartenhäuschen verschämt und erregt in die Hände gedrückt. Ruhig, gelassen, dabei eifrig mit Sabine weiterplaudernd, hatte sie es gewandt in die Tasche gleiten lassen. Sie blieb zum Abendbrot. Tante Luise und Karoline liebten sie sehr, hauptsächlich ihrer großen Frömmigkeit halber, von der ich freilich noch gar nichts gemerkt hatte. Sie schenkte mir keinen Blick mehr und sah jetzt fast immer in den Schoß. Ich glaubte nicht anders, als daß mein Gedicht sie beleidigt habe und fühlte mich tief bedrückt. Als ich sie aber dann am Spätabend zum elterlichen Haus geleitete, sah sie mich unter der leuchtenden Hauslampe voll an und beim Abschied drückte sie mir, – genau wie ich ihr vorher das Gedicht, – eine dunkelrote Rosenknospe in die Hand. Ein Dorn stach mich tief ins Fleisch, allein ich empfand zugleich mit dem Schmerz eine nie gekannte Süßigkeit.

Am nächsten Tage mußte ich die Rückreise nach Hamburg antreten und freute mich von Herzen auf die mir so lieb gewordene zweite Heimat. Therese wie die Rosenknospe und das Gedicht waren plötzlich vergessen und wie weggewischt vor der Erzählung Hersebrooks, die mich mit dem neuerstandenen Bilde meiner Mutter geleitete und mich keine Stunde mehr verließ auf der ganzen mir endlos scheinenden und so anstrengenden Reise. – –

Während des nun folgenden Jahres ereignete sich nichts von Bedeutung. Das heißt, keine äußeren Erlebnisse bildeten Wendepunkte meines Lebens oder schnitten darin ein. In aller Stille aber häufte sich Stein auf Stein zu einem festen Bau. Er wurde gebildet durch das wachsende Vertrauen und die zunehmende Wertschätzung, die mir nicht nur mein Chef, sondern dessen ganze Familie entgegenbrachte. Ich weiß es heute noch nicht, womit ich das verdient hatte. Meiner Meinung nach tat ich nur meine Pflicht, hatte aber im Grunde keine Gelegenheit, mich in irgend einer Beziehung hervorzutun. Ein junger Fant, der ich war, trabte und sprang ich meinen Weg schließlich doch nur wie Tausende; allein ich glaube, daß ich das war, was man gemeinhin liebenswürdig nennt, und bei all meinem Temperament hatte ich eine friedfertige Ader. Hätte ich diese nicht besessen, wäre meine Freundschaft mit Arvid Roosemann wohl bald in die Brüche gegangen. Vertrug er sich doch mit so wenig Leuten; am schlechtesten mit seinem Vater, obwohl dieser eigentlich stolz auf den Sohn und der Sohn von liebevollster Verehrung für den Vater durchdrungen war. Sie sprachen aber verschiedene Sprachen. Daß die beiden Frauen, die etwas einfältige Mutter und die Lahme in ihrer ätherischen Schönheit und ihrem empfindsamen Wesen, mich so sehr in ihre Herzen geschlossen hatten, dazu mag wohl viel beigetragen haben, daß ich unbewußt ein Gefühl dafür besaß, wie Brücken zu bauen seien zwischen Vater und Sohn.

In bestimmten Zwischenpausen, den Tag meist strenge einhaltend, kamen die Briefe von Hause, das heißt, ich muß besser sagen: von Binchen. Meine ältere Schwester schrieb mir nie eine Zeile. Vom Vater wäre es mir geradezu paradox erschienen, und Onkel Hersebrook hatte mir auch nach dem Briefe, der mir der Mutter nahenden Tod gemeldet hatte, nie wieder eine Silbe gewidmet, so wenig wie je vorher. Aber jedes Schreiben meiner Schwester brachte mir seine Grüße, und es war ersichtlich, wie er an meinem Lebens- und Werdegang regsten Anteil nahm.

Für mich war es ein besonders intimer Reiz, aus den Briefen Sabinens zu ersehen, wie diese sich entwickelte und ihrer ›Menschwerdung‹ – wie ich's zu ihrer Empörung nannte – entgegenging. Weiß Gott, sie verstand es, Briefe zu schreiben! Ein Sondertalent, wie ich behaupte, das recht wenig Leute besitzen. Ihre Zeilen gaben mir Klarheit über alles und jedes. Ich erlebte betrübt die Dumpfheit und den zunehmenden geistigen Verfall mit, – Binchen fand diese Worte, – dem der Vater sowohl wie Tante Luise und auch schon die noch junge Karoline langsam, aber sicher entgegengingen. Von der Hochzeit dieser Schwester mit dem frommen Buchhändler schien gar nicht mehr die Rede zu sein. Freudig fühlte ich aber auch, wie aus der kleinen Sabine trotz allem eine reiche Persönlichkeit zu erwachsen versprach: eine innen klare, in sich gefestigte Natur. Sie wuchs mit Ursula wie im schützenden Schatten eines alten Baumes auf, so umsorgte Hersebrook die beiden. Eine innige, unendlich tiefgehende Freundschaft, die manchen Sturm und viele Angriffe zu bestehen hatte, verband die zwei Mädchen. Eine Natur milderte die andre durch den Gegensatz. Heiß sehnte ich mich bisweilen danach, die beiden Backfische wiederzusehen und mich gleichfalls freuen zu dürfen, daß sie – wie Binchen schrieb – ›alle beide emporschießen wie Hopfenstangen, aber Ursel wenigstens dabei frisch und blühend ist, ordentlich rund wird, rote Backen hat und sich wohl noch zu einer Schönheit auswachsen wird!‹

In der ersten Zeit, nachdem ich in die Hansestadt zurückgekehrt war, enthielten die Berichte der Schwester häufig den Namen: ›Therese Meinhardt.‹ Wenn ich ihn dann gelesen hatte, so war mir jedesmal eine Blutwelle ins Gesicht gestiegen, die Hände waren mir erkaltet. Nach und nach wurde das etwas besser. Aber mit brennendem Interesse suchte ich in den Blättern doch immer wieder danach, und dem Geringfügigsten, das meine Angebetete betraf, legte ich Bedeutung bei. Als der Winter ins Land zog und der erste Schnee zu Hause das Grab unsrer Mutter deckte, da mußte ich schon sehr suchen, um den süßen Namen oder auf ihn bezügliche Stellen in den Briefen Binchens zu finden. Immer spärlicher wurde er genannt. Als verliere sich seine Spur in des Winters weitem, weißen Bett, so entglitt er mir. Und dann kam nie mehr ein berichtendes Wort über das schöne Mädchen, das in einer Zeit, die einen großen, einschneidenden Wendepunkt für mich bedeutet hatte, mir als erste Blüte der Liebe im Frühling meines Lebens aufgegangen war. Leise tippte ich im nächsten Briefe an. Nur ganz sachte und schamhaft, in tödlichster Angst, mich und meine Gefühle zu verraten. Erst wurde gar nicht darauf eingegangen, dann kamen so ausweichende Antworten, daß ich nur so eben entnehmen konnte, Therese sei noch im Orte, frisch und gesund, sehr fromm und sehr groß. Zwischen den Zeilen aber war fett und breit zu lesen: ›Mein lieber Bruder, laß mich mit der in Ruhe! Wir sind auseinander gekommen und fremd geworden, und Therese Meinhardt ist Ursula und mir völlig gleichgültig!‹ Das letztere glaubte ich nicht einmal so recht. Ich sah es wieder vor mir, wie damals Ursulas ›bunte‹ Augen flirrten und flimmerten und sie die Fäuste geballt hatte in verhaltenem Zorn. Mein liebes Binchen daheim aber war auch keine von den Sanftesten. Sie mochten sich eben ›zerknallt‹ haben, wie das in allen Freundschaften bei jungen Menschen dann und wann vorzukommen pflegt. Ich rechnete auch das Alter der Mädchen nach. Therese zählte über ein Jahr mehr als meine Schwester, war also von Ursula durch eine noch größere Alterskluft getrennt. Dazu schien sie schon damals sehr früh und reif entwickelt, und dergleichen macht auch viel aus bei jungen Dingern.

In sanften und wilden Wellen rollte die Zeit dahin. So blühten die Rosen zum dritten Male daheim auf Mutters Grab, als ich – freilich nur als Abschiednehmender und vielleicht für recht, recht lange – wieder nach Hause kam. Zunächst war ich überrascht, wie das Aussehen des Städtchens dasselbe geblieben war. Als wäre indessen kein Stein verrückt worden, so alt vertraut und doch von einem mir nicht sympathischen Moderduft überhaucht, mutete mich alles an. Stumpfer und enger im Wesen, aber keineswegs sehr gealtert, erschien mir der Vater, der mir eine Gleichgültigkeit entgegenbrachte, die, wie ich fast glaube, innerlich gar nicht vorhanden und auch durch nichts gerechtfertigt war. Karoline begrüßte mich mit kühler Überlegenheit. Mein Gruß war auch nicht wärmer; wir hatten uns gar nichts zu sagen. Wie der junge Tag aber, flog mir mein Binchen entgegen. Die dicken, schwarzbraunen Flechten über der weißen Stirne zur Krone gesteckt, leuchtende Kirschenaugen im blühenden Antlitz und die etwas zu vollen und kurzen Lippen geschürzt über zwei Reihen blankester Zähne. Ziemlich groß und schlank geworden, behender als einstens, erschien sie mir als das schönste Mädchen, das ich je gesehen. ›Arvid‹, war mein erster Gedanke. Wenn der sie so erblicken könnte, im rosa Jakonett-Kleidchen, den flachen Hut mit dem weißen Band im Nacken!

»Und wo ist Ursel denn nur?« Dachte ich mir doch sofort die zweite hinzu, gerade, wie man sich keinen Zwilling ohne den andern vorstellen kann.

Binchens hübsche Augen trübten sich. »Ach, Gottlieb, drei Wochen ist sie ja schon in Köln auf der ›hohen Schule‹, wie Onkel Hersebrook meint. Alles, was nützlich, schön und gut ist, soll sie dort lernen. Und auch so allerlei vom Leben.«

Schon herzhaft schluchzend brachte sie dann noch weiter heraus:

»Ich habe den Vater, Tante und Schwester Karoline auf den Knieen angefleht, sie mögen mich doch mit meiner Ursula gehen lassen.«

»Nun, und –?« fragte ich gespannt.

»Nur einem Achselzucken bei der Tante, scharfem Hohn und Spott bei der Schwester begegnete ich. Der Vater stellte meinem Wunsche kalte, verächtliche Strenge entgegen. Zusammen aber waren sie der Ansicht, es sei geradezu ein Segen des Himmels, daß nun dem ›alten Narren‹ – so nennen sie Onkel Hersebrook längst nur noch, denn sie sind ihm ganz fern getreten dieser Einfall gekommen wäre und Ursula und ich nunmehr getrennt seien. Ach, herzlieber Bruder du, wenn du wüßtest, was ich habe leiden müssen um meiner Freundschaft willen!«

»Weine mir nicht, Binchen! Deine lieben Augen werden ja trübe! Und das kann ich nicht leiden. – Warum hassen sie das Kind?«

Kalt und hart wurde da das weiche, liebliche Mädchenantlitz. Ein herb-bitterer Zug entstellte es.

»Warum? Warum? – Haben wir beide etwa einmal Antwort bekommen auf alle Warums, die wir uns verzagend zugeflüstert und ins wirre Leben hinausgeschrieen haben? Weil sie nicht enge denkt, nicht klein zu kriegen ist; keine feige Mucker-Natur, keine Heuchlerin ist, wie –«

»Wie? –«

Allein, da trat schon Onkel Hersebrook in die Tür, auf die wir zugeschritten waren, und ich lag an seinem Herzen. Nein! Er lag an dem meinigen, denn ich war indessen noch sehr gewachsen und er kleiner geworden. Eine Mumie nannte er sich selbst. Tatsächlich lag der Vergleich nicht so ferne. Es schien doch wirklich, als vertrockne langsam und viel zu früh dieser Körper und als lebten nur noch die Augen darin. Diese aber dafür in dreifacher Glut im heißesten, jugendlichsten Innenleben. So verschwammen sein Leib, ja sein Gesicht gleichsam wie in dämmerndem Nebel, und zwei funkelnden Sternen ähnlich herrschte sein Augenpaar, das keiner vergessen konnte, der es je erblickt hatte. Mir krampfte sich das Herz zusammen. ›Mutter, Mutter, du in der Ewigkeit! Daß du diesen Mann nicht lieben, ihm nicht angehören durftest! Wäre er doch unser Vater geworden!‹

Sabine blieb später dann noch bei dem alten Freund, bei dem sie nach Kräften, trotz aller gegenteiligen Bestrebungen der Familie, unbeirrt, wenigstens zeitweise, Ursula zu vertreten und sich nützlich zu machen suchte. Ich aber wandte mich in tiefen Gedanken und ging altvertraute, liebe Pfade und Steige. Hoch und nieder, wie zitternde, flackernde Irrlichtflämmchen, schienen diese Gedanken zu brennen und vor mir herzutanzen, mir einen Weg weisend. Und da wurden sie plötzlich eine große Flamme, eine einzige, die lodernd vor mir emporschoß: ein heißer Wunsch: – Therese! Und wieder und nur: Therese!!

Wie gehetzt jagte ich die erklommenen Hügel wieder hinab; nicht links noch rechts schauend, lief ich mehr als ich ging, in den Ort und zu Kaufmann Meinhardts Haus. Eine Magd scheuerte die Diele; Türe und Fenster standen weit auf, kein Mensch war sichtbar. Ich fühlte es so todsicher, als hätte ich's verbrieft und versiegelt, daß ich nun Therese nicht sehen würde. Entmutigt, fast wie angekältet, schlenderte ich nun dem Friedhof zu. In echter Gottesruhe, ganz still und überstrahlt vom letzten Gruß der abschiednehmenden Sonne lag er da. Drüben das Grab der Mutter! »Liebe, gute Märtyrerin!« flüsterte ich. Der Stätte schon nahe, sah ich auf. Alles Blut strömte mir zum Herzen; ich fühlte, wie ich bleich wurde. Eine seltsame Kälte, der sofort eine Hitzwelle folgte, überrieselte mich. Schlank, groß, im weißen Kleide mit langen, über die Schulter herabfallenden blonden Zöpfen, stand eine Gestalt dicht am Stein und suchte mit hochgereckten Armen einen Strauß roter Rosen in die Vase, die das Denkmal krönte, zu stecken. Sie wandte sich nicht, bis ich dicht daneben stand. Obwohl der Kies besonders laut unter meinen Füßen knirschte, hörte sie mein Kommen nicht. Dann aber ein zager, echter Mädchenschrei:

»Gottlieb!«

»Therese! Therese, du – Sie – Sie schmücken meiner Mutter, meiner einzig geliebten Mutter Grab?!«

Heiße Rührung, mit einem aufwallenden Gefühle tiefster Dankbarkeit gemischt, überwältigte mich fast. Die lichte Schönheit des jungen Mädchens in dieser Umgebung machte auf mich einen unbeschreiblich tiefen Eindruck. Ihre sanfte Bescheidenheit, das Abwenden des feinen Köpfchens, so, als wolle sie mich ihr Erröten nicht sehen lassen, reizten mich zur erhöhten Bewunderung.

»Mein Gott, es wachsen der Rosen ja so viele dieses Jahr. Der Herr schenkte uns überreichen Sommersegen, und da dachte ich –«.

Ich nahm ihre beiden Hände, trat ihr nahe gegenüber und sah in das klare, lichtblaue Augenpaar. Prüfend schien es mir zuerst meine Gestalt zu überfliegen, aber gleich senkte es sich wieder unter langen, goldenen Wimpern. Ich bemerkte mit kindisch stolzer Genugtuung, daß ich um einen halben Kopf größer war als sie.

Wie es gekommen war, weiß ich nicht; aber Hand in Hand schritten wir zum Friedhofstore hinaus. In stillem Übereinkommen wandelten wir die einsamsten Wege zum Waldquellchen, das in einer kleinen Talsenkung still verlassen und romantisch lag. Hier und da eine Blume pflückend, ging Therese, ohne meine Hand zu lassen, neben mir. Ich konnte innerlich nicht genug die Hoheit und das Ebenmaß ihrer Gestalt bewundern und das herrliche Blond des reichen Haares. Und mir war vorher mein Binchen so hübsch vorgekommen! Nun verblich ihr Bild völlig. Hätte nun auch Ursulas gepriesene Schönheit daneben gestanden – ich fühlte, sie müßte wie Schaum zergehen vor dieser Göttin. Und wie Therese zu plaudern, wie sie die Worte zu setzen verstand! In Hamburg, in Roosemanns gastlichem Haus, hatte ich reichlich in die Welt gucken können und mich selbst ganz frei und flott darin bewegen gelernt. Ich wunderte mich baß im stillen, wie Therese hier in dem Nest die Art und Weise einer gewandten Dame sich hatte aneignen können.

»Und, Gottlieb, kehren Sie eigentlich nur zu uns zurück, um erst recht Abschied zu nehmen?« –

Mir war, als zucke der süße Mund ganz, ganz leise und schmerzlich.

»Ja, Therese, so ist es! Jetzt ist gekommen, was ich mir stets so heiß ersehnt habe. Sie wissen ja – die fernen Länder! Nun mache ich die erste Fahrt in, die Welt hinaus, in die Neue Welt. Nach Amerika soll es gehen!«

»Nach A-meri-ka?«

Wie kindlich konnte das Gesichtchen aussehen, wenn Therese die blauen Augen so erschrocken aufriß! Impulsiv, in jähem Schmerz legte sie fest ihre weiße Hand auf meinen Arm. Mir wurde heiß und kalt, aber ich beherrschte mich.

»Ja, ja, dorthin. Es ist sehr ehrenvoll, daß Herr Roosemann mich bei meinen jungen Jahren mit jenem Posten betraut!«

»Wie alt sind Sie denn eigentlich?«

»Schon zweiundzwanzig!«

»Schon? Mein Gott, wie – das ist ja furchtbar jung!«

Etwas wie ein Beklagen dieser meiner Jugend klang mir durch. Sofort verwünschte ich das Jungsein und ersehnte mir mindestens ein halbes Jahrzehnt mehr aufs Haupt.

Wir waren am Quellchen angelangt. Therese hatte sich niedergesetzt und zog nun langsam und vorsichtig schmale Efeuranken von den feuchten Felsstücken, an denen die lichtgrünen Dinger sich mit ihren zarten, unzähligen Würzelchen festgeklammert hatten. Zwei Kränze lagen bald in ihrem Schoß. Als sie sich den einen aufsetzte, löste sich zufällig die linke Flechte. In rascher Bewegung lockerte ich keck auch die andere. Berückend schön sah Therese aus.

»Quellnymphe,« flüsterte ich leise dicht an ihrem Ohr. Erschauernd fühlte ich dann ihre Hände auf meiner Stirne. Kühl lagen sie dort auf den fiebernden Schläfen.

»Sehen Sie wohl, Gottlieb, nun sind Sie mein Partner!«

Ihre Augen waren jetzt nicht mehr hell. Dunkler und tiefer schienen sie geworden; ein Feuer, das ihnen sonst fremd gewesen, glomm in ihnen. Immer noch suchte sie den Kranz in meinen Locken zu befestigen. Die scheidende Sonne hinterließ einen rosigen Schein, der Therese übergoß. Langsam glitten ihre Arme herab. Vorbeistreifend berührten die schlanken, weißen Finger meine glühenden Wangen. Dann setzte sie sich mit einem traumverlorenen Lächeln auf ein daneben liegendes, rundes Felsstück. Ich streckte mich neben ihr ins Moos. Der Abendwind umfächelte uns so lau; Heuduft kam vom nahen Wiesengrunde herüber. Ein kleiner Vogel zirpte im Schlehdorn, und als zarte Silbersichel stand der blasse Mond über dem Wald. Ich fühlte plötzlich Körper und Seele in Flammen.

»Therese, – Therese!« – Da kniete ich schon vor ihr und barg meinen Kopf in ihrem Schoß.

»Gottlieb, – so bist du doch noch gekommen? Weißt du noch? Jene Rosenknospe und deine Verse?«

Und ob ich alles noch wußte!! –

Bläuliche Schatten senkten sich schon, als wir endlich Mund von Mund ließen. – –

Ich stand noch lange an der Straße, von der sich ein kleiner Seitenpfad in kurzer Biegung nach dem Orte schlängelte, als schon geraume Weile die Geliebte, einem lichten Phantome gleichend, in dem nächtigen Dunkel verschwunden war. –

»Wie spät du kommst, Gottlieb,« empfing mich Binchen, unruhig unter der Haustüre wartend. »Und dein Haar ist ganz feucht, – mein Gott, auch deine Kleider, du wirst dir einen tüchtigen Schnupfen für deine Reise geholt haben. Wo warst du bloß?«

»Ein wenig im Haselholz drüben. Ich habe mich an den kleinen Nestern freuen wollen, wie einstens,« log ich. Aber ich fühlte einen brennenden Schmerz im Innern, meiner Schwester diese erste Unwahrheit ins Gesicht geschleudert zu haben. Wie um sie wieder wett zu machen, fügte ich gleich hinzu:

»Vorher aber, als ich von Hersebrook ging, suchte ich natürlich das Grab unserer guten Mutter auf.«

Ich konnte nicht hindern, daß dann meine Stimme einen helleren, freudigeren Klang annahm, als ich weiter berichtete:

»Denke nur, ich kam gerade dazu, wie Therese Meinhardt die Stätte unserer unvergeßlichen Toten schmückte. Sie tut das wohl öfters?«

»Therese?« –

Unsägliches Erstaunen drückte sich in dem gedehnten Aussprechen dieses Namens aus. »Nicht daß ich wüßte!«

Mechanisch fast, unter einem Drucke zunehmender Verlegenheit erzählte ich weiter:

»Sie war nicht wenig erstaunt, ja erschrocken, daß ich übers Wasser gehen würde.«

»Aber das weiß sie ja längst; und alles Drum und Dran dazu. Sitzt sie ja doch halbe Tage lang mit Tante Luise und Karoline zusammen und ist von allem möglichen oft früher unterrichtet, als es überhaupt noch rechte Gestalt angenommen hat!

Zum Haustor wehte es kalt herein; es stand nach rückwärts in den Hof weit offen. Wie dumpfig und kellerartig dieses Viereck voll Moderduft und Feuchtigkeit doch war! Mich überrieselte es eisig. So warm und lau dagegen, so unsäglich sommersüß war's draußen gewesen am Quellchen! –

Durch die Nachricht, daß mein Schiff früher als ich gedacht von Hamburg auslaufe, wurde mein Scheiden von der Heimat überhastet. Kürzer noch als der Empfang gestaltete sich der Abschied vom Vater. Bei Schwester Karoline überwand ich mich und gab einige Minuten zu, denn ich mußte etwas über Therese hören.

»So hast du sie gesehen? Zu gut für diese Welt der Versuchungen und Laster! Sie sollte wirklich den Schleier nehmen. Ihre Seele, ihr Herz, all ihre Gedanken gehören dem Herrn und dem Himmel: wer ist wie sie, kann der schlimmen Erdenwelt nie eine Tochter sein!«

Mir drehte sich die Stube. Und sie war doch der Erdenwelt Tochter! Wie sehr, wie ganz, das wußte wohl ich allein. Meinte ich doch die Süßigkeit dieser durchaus irdischen Küsse noch auf meinen Lippen zu verspüren. Nur ganz zu Anfang, so viel erinnerte ich mich, hatte sie den Namen des Herrn und öfters manche stamme Wendung gebraucht. Dann aber, auf dem Weg zum Tale, bei der Quelle!! – – –

Allein, mir blieb keine Zeit zum Nachdenken; mußte ich doch auch noch zu Onkel Hersebrook. So viel älter und verfallener sah er heute aus, wie mich bedünken wollte. Seine Hände lagen zitternd auf den meinen.

»So lebe denn wohl, Sohn meiner Clarissa! Wenn du einst wiederkehren wirst, ist manches anders geworden. Wäre aber auch sonst alles beim alten geblieben, Hersebrook, der Schlimme, der wird dann fort sein. Weggeweht, weggemäht, Moder und Staub. Junge, mein Junge, laß mir einen Winkel in deinem Herzen, in dem ich weiter wohnen darf! Mir ist, als könne ich nicht ruhig aus dieser Welt scheiden, ohne das zu wissen!«

»Und du bist dessen nicht sicher, fühlst das nicht ohne meine Worte, Onkel Hersebrook?«

Beschämt neigte er den Kopf mit den Büscheln weißer Haare, die unter der Sammetkappe hervorkamen.

»So wird man im Alter! Dumm, kindisch, voll alberner Sachen! Was rede ich doch da lange? Ja, Gottlieb, mein Junge, ich weiß es. – Lebe wohl!«

Ich beugte mich herab und küßte sein eingefallenes Gesicht und die Runzelhände zum letzten, letzten Male. Und als ich an jenem frühen Sommermorgen mit Sabine Hand in Hand daherschritt, dem Gasthofe zu, wo meiner der Wagen wartete, da dachte ich keinen Augenblick an Therese. Nur an den alten Freund, und daß ich ihn nimmer wiedersehen würde mein Leben lang. Tränen stiegen mir auf. Durch sie aber, wie durch einen Nebel, meinte ich Ursula wieder unter der Blutbuche stehen zu sehen wie damals, und sie nickte mir zu und winkte immer wieder.

Übers Wasser – übers Wasser! pfiffen die Stare. Übers Wasser, – übers Wasser! rauschte der Wald, und der Wind trug es weiter. – – –

Über meine Tätigkeit und meine Erlebnisse als Kaufmann, über Land und Leute und alle Vorkommnisse des äußern Lebens berichtet zur Genüge mein Tagebuch jener Zeit, das ich mit großer Sorgfalt geführt habe. Nur soviel sei auch hier erwähnt, daß ich in den drei folgenden in Amerika verbrachten Jahren in jeder Beziehung reiste durch gute und schlechte Erfahrungen und Welt und Menschen gehörig kennen lernte. Die Frauen spielten keine große Rolle in meinem Leben. Verblieb doch Theresens Bild in glühendsten Farben, in meinem Herzen. Ich hatte mit ihr in all dieser Zeit höchstens ein halbes Dutzend Briefe getauscht. Die meinen strotzten von Eiden, Versicherungen und Zukunftsplänen; die ihren hatten etwas zurückhaltend Vorsichtiges und Abwartendes, und niemals kam sie darin auf das Geschehene zurück. Hätte ein Unberufener einen Einblick in diese Blätter getan, er hätte nimmermehr daraus entnehmen können, wie nahe wir uns standen und daß wir uns mehr und anderes als gute Freunde waren. Die Briefe und Berichte Binchens brachten nur einige Male den Namen Therese Meinhardts. Waren doch auch ihr, wie jedermann, unsere Beziehungen verborgen geblieben. Eines Tages meldete sie mir, daß das junge Mädchen sich vermutlich mit einem reichen Gutsbesitzer verloben werde, später dann wieder, daß ein Bankier sich um sie bewerbe und sie ihn zu begünstigen scheine. Viele Monate lebe sie auswärts bei Freunden und Verwandten in verschiedenen größeren Städten. Ich erschrak gar nicht, oder doch nicht länger, als eines Herzens Schlag währt, wenn ich dergleichen vernahm. War sie doch mein eigen, und ich fühlte mich ihrer Treue und Ausdauer ja so innig bewußt. Meine Sorge über das nur langsame Fortschreiten und Reifen meiner Pläne, die das Ziel der Selbständigkeit verfolgten, wurde durch die merkwürdigsten Schicksalswendungen zerstreut. –

Es fügen die Götter das Ungehoffte,
Was man erwartet, wird nicht vollendet.
Was keiner geahnt, – ein Gott vollbringt es!

So schließt Euripides seine herrliche Medea. –

Eine wahre Flut von Ereignissen überwältigte mich eine Zeitlang ganz. Von einem der ersten meldete mir ein langer Brief meiner Schwester, der ein wahres Strahlenbündel von Glück und Wonne auszuwerfen schien.

Da Arvid Roosemann, – der sich in Köln als Ingenieur abmühte, ohne Zuschuß seines Vaters den Gipfel seiner Wünsche zu erreichen, – stets von mir so viel über mein Binchen und Onkel Hersebrook sowie die rote Ursula gehört hatte, beschloß er auf der Reise von Hamburg nach der selbstgewählten, neuen Heimat, meine ›drei Lieben‹ aufzusuchen. Er schrieb begeistert über den ›Augenmann‹, wie über Ursel, die er ein Feuerrätsel nannte. Über Sabine jedoch schwieg er sich aus. Aber dann, nach vielen weiteren Wochen, kam jener Brief der Schwester. Wie ich's schon so lange vorgeahnt, hatten sie und Arvid sich alsbald gefunden. Heimlich war bei Hersebrook und Ursula Verlobungsfest auf das feierlichste abgehalten worden. Allein in ihrem Glücke waren sie sich auch alle dennoch klar der Kämpfe bewußt, die zu bestehen sein würden. Ferner schrieb Binchen, daß Ursula gleichfalls zwei Bewerber habe. Der eine sei der mir wohlbekannte Apothekerssohn der Kreisstadt, der andere ein viel älterer Landrat, dessen Bekanntschaft sie in Köln gemacht habe. Sie hätte beide abgelehnt, und halb lachend, halb in tiefer Rührung Onkel Hersebrooks Hand gedrückt.

»Heiraten? Ich? So einen Mann gibt es ja gar nicht, um den ich Onkel Hersebrook im Stiche ließe!«

Aber nicht lange, und dieser ließ das junge Mädchen im Stiche. Ruhig lag er eines Morgens in seinem Bette, während draußen die Vögel ihre Lenzeslieder ins Blaue hinausjubelten. Auf das genaueste, peinlich geordnet, fand der bestellte Notar Hersebrooks Hinterlassenschaft und seine Bestimmungen vor. Ursula war die Haupterbin. Bei Lebzeiten hatte er gelassen mit ihr abgesprochen, daß sie nach seinem Tode zu jener Dame ziehen solle, bei der sie ihre Lehrzeit durchgemacht hatte und die nun für sich wohnte. Meine Schwester und ich waren von ihm mit hübschen Vermächtnissen bedacht worden, die uns alle beide um ein Beträchtliches näher an unsere Ziele brachten. Wie bemerkt, ahnte freilich Binchen von meinen sich daran anschließenden Träumen, und Hoffnungen nichts. Nach wie vor standen sie und Therese Meinhardt sich kühl gegenüber. Nächst dem Schmerz, den Ursula und Binchen der Tod Hersebrooks bereitet hatte, ging ihnen das Weh dieser nun wirklichen Trennung voneinander so nahe wie noch keines im Leben. Völlig fassungslos schien mir die Schwester ihrem Schreiben nach zu sein, obwohl in ihrem Herzen doch Arvid den größten Platz gewonnen haben mußte. Ursula aber ging allein, mutterseelenallein in die Fremde. Ihr Herz war noch leer, und ich dachte oft daran, wie heiß dieses Herz sein mußte, obgleich es sein Kämmerlein so herbe verschlossen hielt.

In diese Jahre fiel auch eine Geschäftskrisis, bei der ich meinem Chef von großem Nutzen sein konnte. Es gelang mir, ihn aus einer schwierigen, sehr gefährlichen, geschäftlichen Lage zu retten. So konnte ich viele Stufen der Leiter, die mich höher bringen sollte, mit eins überspringen. Ich meldete das Therese, und lange Zeit später antwortete sie dann wärmer und persönlicher als sie je zuvor getan hatte. Der Tag rückte näher und näher, der mich wieder der alten Welt und meiner Heimat zuführen sollte. Mein Gepäck stand fast fertig, da erreichte mich noch ein seltsamer, langer Brief Herrn Roosemanns, dem man förmlich ansah, wie schwer es dem Verfasser gefallen sein mußte, ihn zu schreiben. Es hieß darin:

 

›Mein sehr lieber, junger Freund!

Ich nenne Sie so, denn Sie sind mein Freund im vollsten Sinne des Wortes geworden. Die Dienste, die Sie mir umsichtig und bei Ihrer Jugend in doppelt erstaunlicher Sicherheit und mit so großer Opferfreudigkeit geleistet haben, seien Ihnen unvergessen. Ich werde im besondern darauf zurückkommen.

Der Mann, der heute vor Sie hintritt, ist weder Ihr Chef noch der Kaufmann, er ist nur Vater! Ich meine nicht etwa im Hinblick auf Arvid, mit dessen Eisenkopf ich, nachdem ich eingesehen habe, wie fest und zielbewußt mein Sohn vorgeht, nicht mehr rechten will. Ich werde ihn ungehindert seine selbstgewählte Bahn schreiten lassen und ihm die Mittel nicht länger verweigern. Die Wahl seiner Braut, die mich erst betroffen gemacht, ja, so wie die Verhältnisse liegen, – auch des verschiedenen Glaubens wegen – mir großen Schrecken eingejagt hatte, billige ich nun aus vollem Herzen, wie auch meine Frau und meine geliebte arme Tochter es tun. Kenne ich doch jetzt das Wesen, das sich Arvid als Gefährtin erkor, so gut. Sie werden verwundert fragen, wieso? Nun, Sabine ist seit Wochen in unserm Hause, während mein Sohn in Köln an dem Neste baut, das die Glücklichen bald aufnehmen soll. Ich weiß, daß Ihnen noch unbekannt ist, was geschah. Sabine floh nach einem scharfen Bruche mit ihrer Familie als Verbannte und Verfluchte, da sie sich dem ›Ketzer‹ an den Hals werfen will, aus ihres Vaters Haus und zu uns. Sie wird natürlich enterbt, allein das Vermächtnis Onkel Hersebrooks gibt ihr immerhin etwas in die Hand. Das mag zu ihrer eigenen Beruhigung dienen, denn für Arvid, für uns, brauchte sie das nicht. Nicht zum wenigsten durch Ihre Bemühungen und Ihren Fleiß, lieber Freund, bin ich ja ein vermögender Mann geblieben und ich habe ja nur die beiden Kinder. Noch die beiden Kinder! Eine kurze Spanne Zeit, und – Elisabeth wird nicht mehr unter uns weilen. So bin ich endlich wieder am Ausgangspunkte meines Schreibens angelangt. So schwer es mir auch wird, mein bekümmertes Vaterherz drängt mich dazu, mich zu überwinden und Ihnen alles anzuvertrauen. So sei es denn: Elisabeth liebt Sie seit langem, immer schon, heiß und mit einer Tiefe, die nur Menschen besitzen, die sich so völlig zu konzentrieren gezwungen sind, wie das arme Kind. Eigentlich hat mir erst unser Binchen, die der Sonnenschein im Hause und unser aller Engel ist, so recht darüber die Augen geöffnet. Trotz allem habe ich viele Wochen gebraucht, bis ich dahin gekommen bin. Ihnen, mein junger Freund, einen Vorschlag zu machen, in dem sie eine heiße Bitte zugleich lesen mögen. Werden Sie mein Sohn! Teilen Sie mit Arvid einstens unsere Habe zu gleichen Teilen und verschönern Sie die letzten Monate einer, die schon dem Tode geweiht ist, durch das höchste und herrlichste Glück, das ihr zuteil werden kann. Lassen Sie sich durch Priestersegen mit Elisabeth noch verbinden! Hören Sie den Schrei aus meines Herzens Tiefe? Ich habe das sichere Gefühl, als müßte ich Ihnen dies schreiben und Vorschlägen, so wie man eine tiefernste Pflicht, erfüllen muß. Gilt es doch mein armes, tapferes Kind!

Daß Sie nur ideale Gründe zu dem Entschlusse treiben würden und Sie durchaus nicht von gewinnsüchtigen Motiven geleitet sein könnten, davon sind wir alle durchdrungen. Wir kennen Sie jetzt genügend, um das voraussetzen zu dürfen. Allein, Sie sind Kaufmann, und die Zeiten werden schwieriger und schwieriger in unsern Kämpfen für uns, wenn wir auf der Höhe bleiben wollen. Unterschätzen Sie daher auch nicht ganz die Vorteile, die Ihnen für Ihr späteres Leben in pekuniärer Hinsicht dabei geboten werden. Für ein freies Leben, bald, bald! Sie werden keine Fesseln zu tragen haben, keine Schranke für Ihr Wollen und Ihre Handlungen fühlen müssen und nicht an unsere Familie dadurch gekettet sein. Wenn Ihre Entscheidung verneinend ausfallen sollte – ich kann es mir nicht klar machen – so flehe ich Sie an, wenigstens einem andern Wunsche von uns nachzukommen: Kehren Sie jetzt nicht zurück in die Heimat! Es würde dies ja doch unmöglich sein, ohne daß Sie hierher und zu uns kämen. Allein unser armes Kind darf Sie ja nimmermehr wiedersehen; jetzt, in Ihrer ohne Zweifel sehr gereiften Männlichkeit, würden Sie nur neue Flammen schüren in dem heißen Herzen der Märtyrerin. Aber wir wollen ihr keine unnötigen Qualen bereiten, nicht wahr, mein junger Freund? Sie werden erbarmend sein! Ich würde Ihnen dann unter den günstigsten Bedingungen Vorschlägen, die Vertretung meines Hauses in Algier zu übernehmen. Einliegend in Papieren die verschiedenen Informationen. Wie Ihre Antwort indessen auch ausfallen mag, ich werde stets bleiben Ihr dankbarer. Ihnen von Herzen wohlwollender Freund

Frederik Roosemann.‹

 

Zwei Briefe nahmen dann den weiten Weg von mir über das große Wasser. Wie konnte, wenn auch aus erschüttertem Herzen, meine Antwort an den armen Vater anderes enthalten, als das Geständnis, daß mein Herz nicht mehr frei genug sei und ich mich anderweitig schon zu gebunden fühle, als daß ich der lieblichen, zarten Blume noch die letzte Sonne spenden könnte vor ihrem Verwelken. Die Vertretung in Algier nahm ich an.

Das zweite Schreiben richtete ich an die Geliebte. Es enthielt zunächst die Mitteilung, daß ich durch eine seltsame Schicksalswendung nun nicht nach der Heimat kommen würde. Dann richtete ich die Frage an sie, ob ich jetzt brieflich um ihre Hand anhalten und auf ausdauernde Treue hoffen dürfe.

Doppelt so lange Zeit, als ich rechnen mußte, dauerte es, bis ich die Antwort der Geliebten endlich in Händen hatte. Ich war natürlich längst in meiner neuen Heimat angekommen. Therese schrieb:

 

›Mein Freund!‹

Ob ich umsonst den Herrn über uns allen um Erleuchtung und um seine Führung bat, oder ob mir diese wurden, ohne daß mein Unvermögen mir gestattete, das Große, Erhabene zu fassen und zu begreifen? Nachdem ich im Dunkel so lange Zeit dahingetappt war, ist es nun mit eins so hell in mir geworden, als ich Deinen Brief in Händen hatte. So ist in mir der Entschluß gereift, Dich zu bitten, nicht brieflich um meine Hand anzuhalten, sondern damit zu warten, bis Du wieder in der Heimat und in der Lage sein wirst, einen Hausstand zu gründen. Damit sage ich Dir wohl genug auf Deine Frage, ob ich mich von nun an als Deine erklärte Braut betrachten wolle. Glaubst Du denn, ich hätte seit jener Stunde an der Quelle mich eine Minute nicht als Dein gefühlt? Ich wollte Dir aber Zeit zu tiefer, ernster, innerer Prüfung geben. Ich habe nun schon mehrere großartige Partieen, die ich mit namhaften Männern hätte eingehen können, ausgeschlagen. Warum wohl? Sage Dir die Antwort hierauf selbst. Wir wollen aber keine äußerlichen Fesseln anlegen, sondern im Gegenteil uns zusichern, daß keines das andere hindert wolle, wenn Gott im Himmel uns ein Wesen in den Weg führen sollte, das uns einen Maßstab geben könnte für unser Gefühl und uns erkennen ließe, daß es eine größere Liebe, anderes gäbe. Ich kann mir kein solches Wesen denken, keine andere und größere Liebe vorstellen. Aber Du! Du bist ein Mann mitten im Leben, im Kampf und umringt von Versuchungen. Ich bin ein Mädchen, lebe im Schoße der Familie und einer harmonischen Häuslichkeit und trage im Herzen das Heiligtum tiefer Religiosität. Mein geliebter Freund, Du wirst mich verstehen wie immer!

In Treuen
Therese Meinhardt.‹

 

Diese Briefe, die für mich einen Lebensabschnitt bedeuteten, machten, auf meinem Herzen ruhend, nun eine weite, weite Reise. Eine Reise, die mein Tagebuch objektiv und aufs genaueste schildert für Menschen, denen mein äußeres Leben gehören mag, die mein inneres aber wohl nichts angehen kann.

Wenn ich jetzt den bei Romanen üblichen Kapitelabschnitt machte, würde eine Überschrift nötig sein. Sie würde lauten müssen: ›Djayi‹, und ich meine, die Buchstaben dieses Namens müßten gleißen und flimmern, sei es im Lichte der Sonne oder dem des Mondes und der Sterne.

Ich sollte endlich und endlich der algerischen Küste Valet sagen und die Heimreise nach Verlauf von abermals zwei Jahren antreten. Ob es das Glück war, das mir indessen zur Seite gestanden hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls konnte ich mich jetzt einen freien Mann nennen und mir ehrlich sagen, daß ich den mir zugewiesenen Acker pflichtgetreu und wohl bestellt hatte. Ich empfand eine große, überwältigende Dankbarkeit gegen das Schicksal und den Gewaltigen, der es lenkt, daß mein Leben sich durch alle Fährnisse hindurch immer wieder auf sicherm Pfade hatte hinschlängeln können. Nicht nur ›hin‹ sondern besser ›empor‹! Etwas Wildes, Ungezügeltes hatte sich indessen in mir zuzeiten entwickelt. Und seltsam! Wenn das Gedenken an die Heimat mich überkam, dann schien mir blutleer, schwächlich und farblos, was ›drüben‹ lag. Sogar Theresens Bild verschwamm mir, und das der Schwester schien mir matt. Nur eine. Gestalt, eckig, noch hart in den Formen und unausgewachsen, hielt stand vor meinen Augen und dem ruhelosen Nomadenleben, das ich immer wieder zu führen gezwungen war: Ursula! Das halbe Kind, wie ich es noch gekannt und zuletzt gesehen hatte, mit dem Trotzmäulchen, mit dem roten, widerspenstigen Gelock und den feurigen Augen, die doch der Farbe nach dem kühleren, besonneneren Norden angehörten.

Draußen wiegte sich der Segler Mercedes auf den blauen Wellen des Mittelländischen Meeres. Bei seinem Anblick wurde es ruhig und sicher in mir. Trennte mich auch noch eine endlos lange Reise von der Heimat, so erstand sie dennoch deutlich vor meinen Blicken, und mit ihr wieder fest und klar das lichte Bild Theresens in seiner blonden, strahlenden Schönheit. Im idealen Sinne des Wortes war ich meiner Braut treu geblieben in all der Zeit.

Die winkligen Gassen und Gäßchen El Dschesairs bauten sich im Sonnenglast in unentwirrbar scheinendem Chaos übereinander auf. Unten zog sich das massive Hügelland hin, das nur durch ein schmales, flaches Gestade von dem Meere getrennt ist. Während das Einschiffen der zahlreichen Reisenden schon fast beendet war, lag schreiendes, gestikulierendes Volk aus fast aller Herren Ländern bunt zusammengewürfelt müßig am Strande und in den Barken umher. Ich selbst erwartete noch Khaim Haar Salanda, mit dem ich ein größeres Geschäft im Innern des Landes abgeschlossen hatte. Im Gegensatze zu seinen arabischen Brüdern, die ich zur Genüge kennen gelernt, hatte er sich stets als durchaus redlich erwiesen. Allerlei kostbare Ware, seefest verpackt, hatte er mir noch zu bringen. Das Geld dafür war durch mich vertrauensvoll schon in seine Hände gelegt worden, und diese Unvorsichtigkeit machte ich mir nun zum Vorwurf. Eine weitere Stunde lang mußte ich harren und erhielt dann die Mitteilung, man rüste sich bereits an Bord, die Anker zu lichten. Von Unrast getrieben, erstieg ich einen nahen Hügel, der einen Tempel mit hohem Turme trug. Den erklomm ich und sah ins weite Land, um etwas zu erspähen. Ich bemerkte nichts Befriedigendes, aber die Landschaft entzückte mich. Wie ein duftiger Nebel stieg es daraus empor, und über der sanften Kette ferner Berge, die den Horizont abschlossen und die Grenze der Sahara bilden mußten, flammte das Firmament in überirdischem Glanze. Blutrote und goldene Streifen wichen einander, und bisweilen kamen Stückchen grün-blauen Himmels dazwischen hervor. Beim Anblick dieser traumhaften Schönheit erfaßte es mich wie plötzliche Trunkenheit, gepaart mit herbem Abschiedsschmerz. Dann ernüchterte mich die Wirklichkeit wieder. Aufs neue stiegen die quälenden Zweifel in mir auf bei dem allzu langen Ausbleiben meines Geschäftsfreundes und der bereits bezahlten Ware, die er mir zu liefern hatte. Unter schweren, inneren Selbstanklagen stieg ich hinab und hatte in kaum einigen Minuten den Hafen wieder erreicht. Man suchte mich bereits, denn bald mußte das Schiff auslaufen, um den aufsteigenden, guten Wind zu benutzen. Von dem arabischen Händler noch immer keine Spur! Des Kapitäns bemächtigte sich große Unruhe, und er erklärte mir rund heraus, keine Viertelstunde über die Zeit meiner Person und meiner Geschäfte halber warten zu können und zu wollen. Dann ein Schreien aus hundert jungen und alten Kehlen, schrill und wild. Ein Drängen, Stoßen und Zusammenlaufen am Strande, wo Barken immer noch die Verbindung zwischen dem Segler und dem Lande bildeten und Menschen wie Waren abluden. Mitten in dem Gewühle, das einem abgefangenen Diebe galt und in seiner bunten Lebhaftigkeit ein Malerauge entzückt hätte, erschien plötzlich Khaim Haar Salanda. Mit seinem weißen Kopfe auf hoher Gestalt, überragte er weit die Menge. Hinter ihm drängte sich eine Anzahl Träger mit all den Ballen, die mein Eigentum waren. Der Kapitän der Mercedes trieb unwillig zur Eile, von der Mannschaft hörte ich manches mir zugedachte, nicht allzu feine Wort. Eine Flut von Entschuldigungen ergoß sich über die Lippen des Säumigen, der sich mit nervigen Fäusten zu mir Bahn brach. Mich bedünkte, daß der Bericht, den er hastig zusammenzustoppeln bemüht war, jedenfalls zu guten Teilen seiner glühenden arabischen Phantasie entsprang. Ich schnitt kurz des Alten Redestrom ab, allein, die Ballen noch einer besonderen Prüfung zu unterwerfen, war mir nicht mehr möglich. Im letzten Augenblick schien mir unter abermaligen Entschuldigungen und Beteuerungen Khaim Haar Salanda noch besonders Wichtiges begreiflich machen zu wollen. So gut ich indessen sonst – selbst ruhig und kühl – mich immer mit ihm hatte verständigen können, wenn er in seiner langsamen, gemessenen Weise gesprochen hatte, so wenig wurde mir jetzt der Inhalt dieser verworrenen, hastigen und von lebhaften Gesten begleiteten Rede klar. Warf ich nur eine fragende Silbe ein, ging der Wortschwall von neuem an. Vom Deck des Seglers rief man meinen Namen, Fahrzeuge lagen bereit, und alsbald bemächtigten sich handfeste Matrosen eilends meiner Gepäckstücke. Frauen aus Tessiet el Haad, in ihre bunten und weißen Tücher gehüllt, stiegen neben mir in eine der Barken. Der alte Araber stand am Strande und, die eine hohle Hand als Schallrohr benutzend, deutete er mit der andern immer wieder auf die Weiber, die meinen Segler auch als Ziel hatten. Was er mir mit den Zurufen und den Zeichen eigentlich erklären wollte, blieb mir dunkel. Traumhaft schnell wickelte sich nun alles Weitere ab. Alsbald glitt, einem Schwane gleichend, die Mercedes im Sonnenlichte, von den blauen Fluten des Meeres gewiegt, dahin. Im weißlichen Dunste lag schon der algerische Hafen und der Küstensaum weit zurück.

Noch war der Abend fern, und doch gings wie ein Friedensahnen seiner Ruhe durch die Lust, die mählich an sanfter Kühle gewann. Ich hatte zu buchen und zu rechnen und empfand zwischen hinein den Schmerz, dieses Land, in dem ich Monate verbracht hatte, nun verlassen zu sollen, so sehr es mich auch wieder nach der Heimat zog. Luft und Klima hatten mich, so wenig es auch zuerst den Anschein gehabt, erobert. Dieses stets heitere Licht, in dem sich mein Leib gebadet, hatte mich froh gemacht und mir von der Sorglosigkeit und Lebensfreude der Landeskinder mitgeteilt. Augen und Herz hatten es aufgesogen. Alle, auch die kleinsten, dunkeln Winkelchen meiner Seele waren davon reingewaschen und alle Schatten vertrieben worden.

Nach und nach kam alles an Bord in seemännische Ordnung. Der Lärm des Ankerlichtens und Segelsetzens war verklungen, eine gewisse Ruhe war eingetreten. Längst war der letzte Streifen der Küste verschwunden, das letzte Stückchen festen Landes gepeilt worden. Zu endlos mächtigem Kreis gestaltete sich das Meer, über das sich die Himmelskuppel wölbte und Schatten der Nacht sich senkten. Die Stille an Bord wurde nur durch das Sausen des Windes in der Takelung und das Knacken und Knarren der Rahen, Stangen, Raperte und Schotten unterbrochen. Alle Reisenden schliefen schon oder ruhten wenigstens. Kaum erinnerte noch ab und zu ein kurzes Kommandowort an das Dasein einer Mannschaft. Ruhig glitt die Mercedes geisterähnlich aus der unendlichen Tiefe und in der unbegrenzten Weite dahin.

Die Aufregungen der letzten Tage und Stunden, verbunden mit dem wonnigen Zauber einer mondhellen Sternennacht, ließen mich lange nicht schlafen. Spät erst stieg ich hinunter in meine Kabine. Mit raschem Blick streifte ich einige der großen Gepäckstücke, die man, den Eingang, freilassend, darum aufgestapelt hatte. Ich glaubte ein leises Klirren zu vernehmen, als schlüge leicht Metall an Metall, und im unsichern Mondlicht meinte ich irgend etwas von den Ballen weghuschen zu sehen. Wie der Zipfel eines lichten Gewandes war es; einen Augenblick lang dachte ich aber auch der großen, weißen Angorakatzen, die ich schon an Bord bewundert hatte. Allein beim Nähertreten gewahrte ich nichts. Meine überreizten Nerven mochten mir die Täuschung vorgegaukelt haben. Eine kurze Zeit hatte ich halbangekleidet geschlummert. Wach geworden, deuchte es mich barbarisch, die herrliche Nacht zu verschlafen. Ich mußte die Sterne sich spiegeln sehen in der See, aus der das Schiff in stiller Majestät dahinsegelte. So schloß ich meine, nach innen gehende, Kabinentüre auf; allein mein Fuß trat nicht über die Schwelle. Gebannt blieb ich stehen und starrte auf den Boden. Quer vor der Tür lag ausgestreckt ein junges Weib. Ungehindert durch des Mondes silbernes Licht, das sein Gesicht übergoß, schlief es tief und fest, den linken, nackten, mit Reifen geschmückten Arm unter dem Kopfe. Weiches, krauses, dunkles Gelock bauschte sich darum. Ein malerisches Gewand in grellbunten Streifen, gazeartig gewebt und mehr einem Tuche ähnlich, bedeckte den Körper nur halb. Die wundervollen, schlanken Beine zeichneten sich klar unter dem lichten Stoff ab, die nackten, gekreuzten Füße ließen die tadellose Form bewundern. Gesicht wie Leib trugen die Farbe nach gedunkelten Elfenbeins. Die regelmäßigen Züge schienen jetzt im tiefen Schlummer etwas strenge. Schwarze Brauen und schwarze lange Wimpern umschatteten die geschlossenen Augen.

Ich weiß nicht wie lange ich gestanden und auf das liebliche, wie vom besternten Himmel herabgefallene Wunder geblickt habe. Ein lauter Kommandoruf unterbrach hart die sanfte Stille der Nacht. Die Schläferin schrak jäh zusammen, öffnete weit zwei prachtvolle, dunkle Mandelaugen, sprang entsetzt auf, daß der Schmuck an ihrem Halse und den Armen klirrte, fiel in einer elastischen Bewegung förmlich in sich zusammen und vor mir aus die Kniee. Demütig kreuzte sie die zwei kleinen Kinderhände und hielt das Haupt so tief gesenkt, daß das dunkle Gelock wie ein Schleier ihr Gesicht bedeckte.

»Was willst du, und wer bist du?« redete ich das vor mir knieende, rätselhafte junge Weib an, in der Überraschung und Erregung unwillkürlich deutsch sprechend. Scheu, mit einem traurigen Blicke zu mir aufsehend, schüttelte es nur stumm den Kopf, ohne seine demütige Stellung aufzugeben. Durch mein Umherziehen im Lande war ich vollkommen des Arabischen mächtig; auch sprach ich gut das Idiom, dessen sich die Nomaden der Küste und des Innern bedienen, die, ein Gemisch verschiedener Stämme, eine herrliche Rasse bilden, die nicht selten wahre Wunderwerke der Natur hervorbringt. Ich hob das junge Weib an den Schultern empor und fühlte, daß es zitterte. »Wie heißt du,« fragte ich es so sanft wie möglich, jetzt aber in der Sprache, die, wie ich dachte, ihm verständlich sein müßte.

Ein Leuchten ging über des Mädchens Züge, die unendlich weich und kindlich aussahen. Eine Weile schwieg der purpurrote Mund, der allein Farbe in dem Antlitz aufwies. Dann sagte es leise:

»Djayi!«

»Wie kommst du auf das Schiff? Wie auf meine Schwelle?«

In unsagbarem Staunen blickte es mich an:

»Djayi ist doch dein, Herr!«

Nun war ich der Staunende, der nicht begriff.

»Mein?«

Djayi faßte meine Frage nicht, nahm wieder jene Stellung ein, die ihre gänzliche Unterwerfung andeuten sollte, und blieb ganz stumm. Abermals zog ich das seltsame Geschöpf in die Höhe, faßte es an den Händen und zwang es so, vor mir stehen zu bleiben. Gewöhnt, von diesem halb kindischen, halb listig-schlauen Volke betrogen und belogen zu werden, befahl ich Djayi sehr strenge, die Wahrheit zu sagen, woher und wie sie an Bord käme und was sie mit mir zu schaffen habe. Das Mädchen begann aufs neue zu zittern, sah mich in großer Angst an und stieß dann mehrere Male den Namen Khaim Haar Salanda hervor. Kein weiteres Wort war mehr aus ihm herauszubringen, und mir schien es, als mache Furcht und Entsetzen über mein offenbar ehrliches Staunen es unfähig zu sprechen. Die tiefroten Lippen bebten, und ich hörte, wie die makellosen, schneeweißen Zahnreihen aufeinanderschlugen wie im Frost. Die schwarzen Augen, in denen es feucht schimmerte, verfolgten jede meiner Bewegungen, und die Züge, die vorhin ein so kindliches Gepräge getragen hatten, waren in Todesangst verzerrt. Wild warf sich die Fremde vor mir platt auf den Boden, rutschte dann dicht vor meine Füße, und hob in stehender Gebärde die Hände zu mir empor:

»Nicht töten, Herr, nicht in das Meer werfen lassen, o Herr! Djayi hat nichts Böses getan und gewollt – Khaim Haar Salanda, o Herr« – –

Da schüttelte es sie wieder wie Fieberfrost, das Wort blieb ihr in der, wie zugeschnürt scheinenden, Kehle stecken.

Es war leicht zu erkennen, daß sie keine Komödie spielte. Unendliches Mitleid mit dem blutjungen Geschöpf erfaßte mich. Ich beugte mich zu ihm, half der Zitternden aufstehen, drückte sie sanft auf einen der Warenballen und ließ mich neben ihr gleichfalls nieder. Ich streichelte ihr Wangen und Hände und wiederholte immer wieder:

»Sei ruhig und habe keine Angst; Djayi wird nicht getötet; es geschieht ihr nichts. Warum soll ich dir denn Böses zufügen? Beruhige dich und fasse Mut; du kannst mir alles sagen, aber ich erwarte die strenge Wahrheit, hörst du?«

Ich hatte ihr meinen Mantel umgelegt, und sie hatte Kopf und Körper so darin eingehüllt, daß es war, als schimmerten nur zwei Lichter daraus hervor. Der klare Mond ließ mich deutlich aus dem Ausdrucke dieser wundervollen Augen erkennen, wie allmählich ihre Todesangst kommender Ruhe und wachsendem Vertrauen wich. Sachte zog ich den Kapuzenkragen wieder von ihrem Haupte, denn ich wollte mir auch nicht den kleinsten Wechsel ihres Gesichtsausdruckes entgehen lassen. Sie ließ es geschehen, glitt aber dann von ihrem Sitze und kniete, mit über der Brust gekreuzten Armen, vor mir nieder, offenbar meiner Fragen ganz gewärtig. Aber noch ehe ich eine solche an sie gestellt hatte, fiel mir der unklare Wortschwall des säumigen Arabers ein, und ich dachte an seine Gesten nach der von Frauen besetzten Barke hin. Hatte ich dadurch auch nicht des Rätsels Lösung, so war doch kein Zweifel, daß mir Khaim Haar Salanda noch Aufklärungen hatte geben wollen, die vielleicht Djayi betroffen hatten und die von mir unverstanden geblieben waren. Hatte sie doch eben so oft seinen Namen genannt.

»Sage, Djayi, warst du unter den Frauen aus Tessiet el Haad, die sich eingeschifft haben?«

Sie nickte ein paar Mal.

»Gehörst du zu ihnen?«

»Nein, Herr, o nein!«

»Wer hat dich geheißen, mit ihnen einzusteigen?«

»Die Träger!«

»Welche Träger?«

»Die, die dein anderes Gut auch an den Hafen brachten, im Dienste Khaim Haar Salandas!«

Ich griff an meine Stirn; mir war, als könne ich nicht mehr klar denken.

»Mein anderes Gut? Du sagst so, als gehörtest du dazu? Menschen habe ich noch nie gekauft, Djayi! Bin ich denn einer von den Sklavenhändlern? Du lebst in irgend einem Wahn!«

»Nein, o Herr, nein! Djayi weiß alles gut. Soll ich dir erzählen?«

Als ich bejahend nickte, fuhr sie fort:

»Meine Mutter, – ich habe sie nie gekannt, – gebar mich in der Wüste. Eine Karawane fand sie sterbend, nahm mich mit, und die Händler behielten mich mit einigen Frauen, bis sie einen fanden, der mich kaufte. Es waren Schillukhs. Ich wuchs bei ihnen auf zwischen ihren Zelten und Kamelen, und dann nahm mich eines Tages Achmed in seinen Konus. Dort ging es mir gut. Er hegte und pflegte mich, und Hkriviah, eine Schwarze, deren Obhut ich vertraut war, verriet mir, daß Achmed hoffe, später noch viel Geld durch mich zu gewinnen. Wir lagerten jüngst zwischen Suakim und dem Tale Lehee, und Achmed, der oft Geschäfte mit Khaim Haar Salanda machte, sollte diesen treffen. Er war nie sehr ehrlich, und so fand sich, daß er die Stoffe und Teppiche besonderer Art, die er bereits an den Alten und durch ihn wieder an dich verkauft hatte, inzwischen an einen, der noch mehr geboten, abgegeben hatte. Khaim Haar Salanda aber ließ nicht mit sich spaßen, war wütend und schwor, seinen ehrlichen Namen auf diese Art verlieren zu müssen. Sofort wollte er den Kadi anrufen und sein Recht fordern. Achmed aber scheute die Richter wie das Feuer. Da die Zeit wegen deiner geplanten Abreise so sehr drängte, war guter Rat teuer. Gleichwertiges wäre nicht aufzutreiben gewesen, in der Eile. So stürzte denselben Tag, erfüllt von Stolz und Freude, und gleich daraus schon vor Abschiedsschmerz laut heulend, Hkriviah in mein Zelt, von der ich das alles erfuhr. Zu meinem Erstaunen wusch und salbte sie mich, behängte meinen Leib mit den schönsten Gewändern und mit Schmuck. Sie erzählte und erzählte und weinte und schrie dazwischen laut. Ich war wie betäubt, und ehe ich wußte, wie mir geschah, stand ich schon vor Achmed und dem sich wie rasend gebärdenden Alten.

»›Sieh hier, Khaim Haar Salanda, diese fünfzehnjährige Jungfrau. Wiegt sie nicht deine Ware zehnmal auf? Bezahlst du mir ein Kamel und einen Theresientaler darauf – es bringt mir, Allah ist mein Zeuge, schweren Schaden – so soll sie dein sein. Dein Kunde kann wohl lachen. Will er sie nicht selber behalten, kann er das Doppelte an ihr verdienen, verkauft er sie an der Küste, wenn der Segler anläuft!‹

»So sprach Achmed. Kreischend unterhandelten sie noch bis Sonnenuntergang. Dann waren sie einig geworden. Wir reisten die Nacht und den kommenden Tag und trafen ja, wie du wohl weißt, gerade noch zur Zeit ein. Dann aber war Khaim Haar Salandas Bemühen vergeblich gewesen, dir zu erklären, daß und warum ein Teil der Ware fehle, und daß ich der Ersatz dafür sei. O Herr, zähme deine Wut; sie sagten ja alle in den Zelten – und auch Hkriviah meinte es, – die oft in den Städten und auf den Märkten war, – ich sei sehr, sehr viel wert für Kenner!«

Wieder überkam die Angst das junge Mädchen. Mich aber überlief es kalt. Ware, Ware! Ware der Mensch, das Ebenbild Gottes, das höchste der Geschöpfe! Mehr als einen Sklavenmarkt hatte ich gesehen, Szenen aller Art dort erlebt. Allein immer waren es stumpfsinnige Schwarze, vertiert und niedrig aussehend, gewesen, um die es gegolten. Nie hatte der Menschenhandel mir so furchtbar geschienen, als bei diesem, unserer Rasse doch weit näher verwandten und so auserlesenen Geschöpf. Mein Gesichtsausdruck, mit dem ich auf Djayi herabgesehen hatte, war ohne Zweifel finster gewesen durch all die Gedanken, denen ich mich hingab. Aufschluchzend schlug sie mit dem Kopfe zu Boden.

»O Herr, o Herr, o Herr!«

Mehr konnte sie nicht in erneuter Angst herausbringen. Ihre Klagen, in das eine Wort gefaßt, waren ergreifend.

»Ruhig, ganz ruhig, arme Djayi! Komm nun schlafen; sieh, wie hoch der Mond schon steht. Nichts soll dir zu leid geschehen, und ich will sorgen, daß nicht Verzweiflung dein Los werde. Betrachtest auch du dich der Ware gleich, die ich gekauft habe, mir bist du Höheres. Ein Mensch, Djayi. Unseres, des Christengottes Ebenbild, das er gemacht. Du verstehst mich nicht, aber suche wenigstens zu fassen, daß du in sorgloser Ruhe dein Haupt niederlegen kannst.«

In ihren beweglichen Zügen dämmerte nur der Schein halben Verstehens. Jedenfalls aber fühlte sie sich befreit von Grauen und Furcht, und ein tiefer Seufzer der Erleichterung schien ihre schön gewölbte Brust fast sprengen zu wollen. Dabei spannte sie weit die Arme aus, so daß all die Reifen nur so klirrten, und im nächsten Augenblick hatte sie schon meinen Rockärmel ergriffen und ihre Lippen darauf gedrückt.

»Geh nun wieder schlafen, Djayi, wieder zu den Frauen!«

Sie stand vor mir, mit herunterhängenden Armen und gesenktem Kopf und sah aus, als wäre sie nun bedingungslos gewillt, mir überallhin zu folgen. Fast blöde blickte sie mich nun an.

»Schlafen? Bei den fremden Frauen?«

»Du mußt doch schon vorher bei ihnen geweilt und geruht haben?«

»O nein, Herr, ich weiß nichts von ihnen, wie sollte ich? Erst zwischen den Warenballen und dann vor deiner Tür lag und schlief ich!«

»Auf dem nackten Boden?«

»Ja, Herr, ich habe nicht immer im Leben Teppiche gehabt!«

»Da drüben liegen ihrer eine Menge, wenn du Tags etwa … Allein, des Nachts« –

Ich verstummte, denn ich wußte mir keinen Rat, Djayi unterzubringen.

»Bis zum Morgen, es ist ja schön und milde, kannst du dir wohl selbst eine Lagerstatt suchen und bereiten. Dann aber werde ich schon besser für dich zu sorgen wissen. Gute Nacht, Djayi, und ruhe nun sanft und ohne Angst!«

Sie stand sprachlos vor Verwunderung, und ihre großen Augen hefteten sich so starr auf mich, als sähe sie eine Geistererscheinung.

»Du, du hast mich doch gekauft und bezahlt, Herr?«

Sie machte Miene, mir auf dem Fuß zu folgen, aber doch ohne alle Aufdringlichkeit und Keckheit. Sittsam, rührend fast, etwa so wie ein folgsames Kind handelt, dem man ein Gebot gegeben hat. Ich machte nur eine verneinende, deutlich abwehrende Bewegung. Das dunkle Haupt senkend, meinte sie leise und traurig:

»Sie haben wohl alle gelogen; auch im Konus Achmeds und auch die schwarze Hkriviah und endlich haben alle zusammen dich schwer betrogen. Ich bin also gar nicht das viele Geld wert, von dem sie immer gesprochen! Ich bin dir viel zu gering und auch viel zu häßlich?«

Mir wurde warm ums Herz, und das namenloseste Mitleid stieg in mir auf, mit diesem herrlichen Geschöpf, das die größte Erniedrigung des Weibes als etwas Selbstverständliches, ihm mit Sicherheit Bevorstehendes geduldig als Fatum anzunehmen gewillt war.

»Arme, kleine Djayi! Was hat man aus dir gemacht, machen wollen? Nein, Kind, nicht zu gering, zu niedrig, sondern zu wertvoll bist du, zu hoch stehst du mir. Du gehörst einer fremden Rasse, einem Lande mir gänzlich fremder Sitten und Gebräuche an. Ich aber lebe in einer andern Welt, ich denke und fühle also anders. Auch jetzt verstehst du mich nicht. Aber begreifst du wenigstens, daß ich es gut mit dir meine und dir nicht weh tun will?«

Sie blieb stumm und verwundert; aber gekränkt sah sie nicht mehr aus. Ich zerrte einen Packen alter Teppiche auseinander und bereitete ihr ein Lager. Sie wollte es zuerst gar nicht dulden, fügte sich aber dann und sah wie verklärt auf mein Tun. Ihr das Haar aus der Stirn streichend, wies ich zum Himmel:

»Gott da oben behüte dich!«

»Allah beschütze dein Haupt und lasse deine Kissen weich sein,« murmelte das Mädchen.

Ich schloß die Tür. Über eine Weile aber konnte ich deutlich hören, daß Djayi sich wieder quer vor meine Schwelle legte, wie vorher.

Kommenden Tages wandte ich mich an den Kapitän und berichtete ihm mein Abenteuer. Er fand indessen nichts so Besonderes daran und erzählte mir von einer ganzen Anzahl ähnlicher Fälle. Als er mich mit seitlich gelegtem Kopf schelmisch, spöttisch, mit gewisser Herausforderung ansah und dabei meinte, die Unterkunft für das Mädchen sei doch leicht zu finden, wurde er mir widerwärtig. Ich verließ ihn und beschloß, selbst ein Plätzchen für Djayi ausfindig zu machen. Eine dicke, gutmütige, schon etwas alte, vornehme Französin war an Bord. Diese nahm meinen Schützling ein wenig unter ihre mütterlichen Fittiche, indem sie ihm auch ein Lager neben dem ihrigen bereiten ließ und das Kind fast krank fütterte mit Süßigkeiten aller Art.

Eine Woche lang hielt der mäßige Wind bei herrlichstem Wetter an und damit auch die beste Stimmung an Bord. Das zusammengewürfelte Volk der Fahrgäste, unter denen außer mir kein Deutscher war, hätte jedem Beobachtenden ein interessantes Studium abgeben können. Ich füllte zahlreiche Blätter meines Reisetagebuches und holte darin auch viel Langversäumtes nach. Manche Stunde des Tages verbrachte ich mit Djayi, deren innerstes Wesen und eigene Art ich die erste Zeit vergeblich zu ergründen versuchte. Sie hielt sich scheu vor mir zurück, als lebe sie in beständiger Angst mir lästig zu fallen. Allein des Nachts hatte sie das Lager in der Kabine der Französin noch nicht berührt. Allen meinen Wünschen, ja, meinen Befehlen zum Trotz, schleppte sie immer wieder, sobald ich mich zurückgezogen hatte, einige Teppiche vor meine Tür, hüllte sich in einen und schlief so, bis es tagte.

Die Mercedes sollte den Hafen von Oran anlaufen und eine Spanne Zeit, deren Dauer von Wind und Wetter abhängen würde, liegen bleiben. Je näher wir, der Küste kamen, desto peinlicher plagten mich meine Gedanken und Erwägungen. Besonders schwer wurde mir ums Herz, sah ich die traurigen, immer mehr den Ausdruck quälender Sorge tragenden Augen Djayis auf mich gerichtet. Ihr mattelfenbeinfarbiges Gesicht nahm täglich mehr und mehr einen grünlichen, ihre sonst purpurfarbenen Lippen einen bläulich-schwärzlichen Ton an. Schmäler wurde sie und müde und langsam in ihren Bewegungen. Sie stellte aber keine Frage an mich, noch weniger behelligte sie mich je mit Bitten und Flehen. Umsonst überlegte und erwog ich. Einen Entschluß zu fassen wurde mir täglich schwerer. Was sollte ich mit dem Araber-Mädchen anfangen? Ich konnte sie doch unmöglich meinem Chef bringen als Ergänzung des fehlenden Warenbestandes. Für diesen mußte ich mit meinem Gelde auskommen und Ersatz geben. So erübrigte nur, sie wieder, und womöglich mit Gewinn, zu verkaufen, was ohne Zweifel ein leichter Handel bei der jugendlichen Schönheit der Jungfrau gewesen wäre. Dagegen aber sträubte sich alles in mir. Menschenhandel! Mich schüttelte es schon bei dem bloßen Gedanken. Wie eine Kette schaudervoller Ereignisse schwebte mir das künftige Leben dieses Geschöpfes vor Augen, für dessen Schicksal mir ein Zufall die Verantwortung auferlegt hatte.

Drei Tage sollten wir, vorausgesetzt, daß der günstige Wind anhielt, noch segeln, bis Oran erreicht wäre; zu unser aller Leidwesen jedoch flaute die herrliche, steife Brise allmählich ab. Langsam nur mehr glitt das stolze Schiff dahin. Die Luft wurde bleiern, und es war, als ströme der Ozean weniger von seinem Salzgehalt in sie aus als bisher. An Bord war die Stimmung nicht nur deshalb gedrückt. Ein Matrose, allgemein beliebt und geschätzt, ein braver, strammer Junge von dreiundzwanzig Jahren, war vor zwei Tagen von einem anscheinend leichten Unwohlsein befallen worden, das sich aber dann als Diphtheritis erwies. Sein bester Freund hatte es sich, obwohl gewarnt von einem zufällig an Bord anwesenden Doktor der Medizin, nicht nehmen lassen, nach Kräften um den Genossen zu sein. Er wurde gleichfalls von der Krankheit ergriffen. Eine wahre Panik faßte darauf alles. Der tüchtige Arzt, ein Engländer, stand allein vor der Fülle schwerer, freiwillig übernommener Pflichten und Verantwortungen. Ich bot, ergriffen von dem traurigen Stand der Dinge, meine Hilfe an. In jenem Augenblick fiel mir auch ein, daß ich Djayi den ganzen Tag nicht gesehen hatte, und eine seltsame Angst überkam mich. Der Doktor, der gerade auf Deck und einige Schritte entfernt mit mir verhandelte, sah mich groß an.

»Sie wollten wirklich helfen?«

»Aber gewiß!«

»Ich nehme es dankend an, um der Armen willen. Ich fürchte nämlich, der eine stirbt mir trotz allem und allem. Ich muß mich ihm ganz widmen können. Das Mädchen aber kann nicht allein mit dem fiebernden zweiten fertig werden, der ohne Zweifel später wieder rasen wird. Feige Kerle sind die anderen Burschen da an Bord, aber – ich gebe zu – wohl auch alle recht nötig. Es droht uns jäher Wetterumschlag!«

Ich hatte kaum mehr etwas vom übrigen gehört.

»Das Mädchen, sagten Sie? Welches Mädchen pflegt die Kranken denn?«

»Die kleine Araberin; man sagt doch, sie gehöre Ihnen und Sie hätten sie im Hafen von Algier um eine Riesensumme gekauft.«

»Djayi,« entfuhr es mir.

»Ja, ich glaube, so heißt sie. Well, die Pflicht ruft! Wenn es Ihnen ernst ist, so halten Sie sich bereit. Da fällt mir aber ein, dieses Mädchen wollte mich absolut mit einer Salbe bestreichen; sie schreibt ihr Bewahrungskraft vor Ansteckung zu. Ich dachte: nützt es nichts, so kann es ja auch nichts schaden und duldete es. Ich wollte das gute Ding nicht kränken. Sehen Sie, wie ich fettig glänze? Und wie herrlich dieses Zeug riecht! Auf alle Fälle schicke ich die Araberin her. Lassen Sie sich nur auch getrost mit Salbe beschmieren!«

Wenige Augenblicke darauf stand das Mädchen schon vor mir auf Deck, blieb aber in gehöriger Entfernung. Sie sah aus, als hätte sie das bunte Tuch, das sie allein bekleidete, noch eilends um den Körper geschlungen.

»O, vergib mir, Herr! Da ich dein bin, hätte ich es nicht tun dürfen, allein –«

Ich überflog unwillkürlich mit raschem Blick ihr Gesicht, ihren Hals, Schultern und Arme. In matter Reinheit, wie immer, strahlte ihre herrliche Haut.

»Djayi! Der Doktor sagte mir, du hättest ihn mit einer Salbe bestrichen, damit ihn die böse Krankheit nicht auch erfasse. Du hast selbst wohl keinen großen Glauben an dein Mittel, denn du gingst zu den Kranken ohne diesen Schutz!«

Sie senkte tief das Haupt und ließ die Arme, in der einen Hand schon das seltsam geformte, mit mystischen Zeichen versehene Gefäß, das das Mittel enthielt, schlaff am Körper herabhängen. Eines jener Zeichen völliger Hilflosigkeit, die ihr stets etwas so Rührendes gaben. Sie blieb stumm. Ich war soviel Bosheit, Tücke, Aberglauben und schlauer Ränkesucht bei dem Volke ihrer Rasse begegnet, daß ich mißtrauisch wurde. Wenn das Mädchen etwa den gebildeten Arzt haßte als Verderber und Mörder, wie es mir mehr als einmal schon begegnet war! Wenn sie ihm mit der Salbe, die Gift enthalten konnte, Schlimmes antun wollte, um ihn, wenn nicht zu töten, doch mindestens unfähig zu machen, sich um die Kranken zu bemühen? Meine Phantasie arbeitete. Tief enttäuscht sah ich im Geiste die schöne Hülle abfallen von einem schlechten, faulen Kern. Streng gebietend, kurz und barsch befahl ich dem Mädchen:

»Sprich sofort! Gleich gestehst du, was mit der Salbe ist, woraus sie besteht und warum du selbst sie nicht gebrauchtest. Belüge mich nicht, es sollte dir schlecht ergehen, wagtest du das!«

Sie duckte sich, immer in geraumer Entfernung, am Boden nieder und kreuzte die Arme über der Brust.

»Zürne mir nicht, Herr – vergib Mir! Allah ist mein Zeuge, daß ich wahr spreche. Nichts Schlimmes, kein Gift enthält das Mittel, wie du glauben magst. Er ist ja ein so guter Mann, dieser Engländer, und er achtet seines Lebens nicht um das der Matrosen. Djayi würde ihm niemals Böses zufügen. Diese Salbe aber wirkt ganz unfehlbar. Sie ist Geld und Gut wert und ihre Bereitung das Geheimnis eines schwarzen Stammes. Aus dem Safte einer seltenen Pflanze wird sie gemacht, deren Namen ich nicht weiß, so wenig ich das Land kenne, wo sie wachsen soll. Hkriviah besaß von ihr ein großes Teil, das sie ängstlich hütete. Aber sie liebte mich so sehr und da gab sie mir zum Abschied davon. Als eine schreckliche Seuche wütete in einem Landstriche, wurde sie selbst und alle Bewohner des Konus durch diese Salbe vor Ansteckung bewahrt. Ich wollte nur Gutes und beabsichtige auch dir davon zu geben, auf daß du, der du nun so tapfer und gut …«

Ich unterbrach sie ungeduldig, wider Willen schon halb bekehrt.

»Du sollst mir doch sagen, warum du selbst nicht davon brauchtest?«

»Herr, o Herr! –«

Wie ein Krampf erfaßte es den schlanken Körper, dessen Sensibilität mich stets an jene herrlichen Pferde erinnerte, die ich so oft bewundert hatte. Djayi schlug die Hände vors Gesicht; wildes Schluchzen erschütterte sie. Zwischen den feinen, langen Fingern rannen heiße Tropfen. Jäh suchte sie sich dann zu beherrschen, sprang auf und stand mit finster zusammengezogenen Brauen und eingebissenen Lippen vor mir. Es sah aus, als wäre sie fest entschlossen, kein Wort zu gestehen. Nicht umsonst hatte ich manches wilde Roß gebändigt. Langsam schritt ich dicht an sie heran, die wie versteinert dastand. Ganz sanft strich ich ihr das wilde Gelock aus der Stirne, aus der kleine Perlchen standen. Die junge Brust hob und senkte sich stürmisch unter dem fliegenden Atem. Dann nahm ich die beiden eiskalten Hände in die meinen und streichelte sie sanft.

»Wildes Mädchen, du! Aber du bist gut, ich fühle es. Ich will und kann nichts Böses von dir glauben. Sprich nun ganz offen, was immer es auch sei; Leid soll dir keines geschehen!«

Ganz, ganz allmählich, Wimpern und Lider erst in leise zitternder Vorbereitung, so, als hebe sich dann langsam der volle Mond hinter hohen, dichten Wäldern empor, so schlug sie ihre schwarzen, sammetweichen und doch so leuchtenden Augen auf. Ein Blick des tiefsten Schmerzes, Hingebung, unendlicher Trauer und grenzenloser Hoffnungslosigkeit traf mich bis ins Mark. Klar und deutlich lag plötzlich der Grund ihrer Handlungsweise vor mir.

»So wolltest du – den Tod suchen, Djayi? Und warum?«

Ein Beben ging durch ihren Körper; sie blieb stumm.

»Willst du nicht sprechen, Kind? Kein Wort? So will ich es dir sagen! Weil du glaubst, im Hafen von Oran das Schiff verlassen zu sollen, um verkauft zu werden; deshalb sehntest du dich zu sterben!«

Das Mädchen bog den Kopf weit nach hinten über, unter den festgeschlossenen Lidern drang Tropfen auf Tropfen hervor. Die grünliche Blässe ihres Gesichtes hatte zugenommen. Mich ergriff Angst. Ob sie sich schon krank fühlte? Bereits erfaßt von dem bösen Gift, wie sie sich es so sehr gewünscht hatte? Ich nahm ihre Hände.

»Djayi, Djayi, fühlst du dich elend? Sprich nur ein Wort! Vielleicht hast du dich zu sehr angestrengt bei der Pflege in der schlechten Luft der Kabine?«

In mir gärte und wühlte eine Mischung von Empfindungen und Gefühlen.

»Djayi! Gott, oder nenne du ihn Allah, wenn du willst, sei mein Zeuge, nimmer sollst du wie Ware verschachert werden. Ich werde andere Mittel und Wege finden. Hörst du mich, Kind?«

Wie im Traume hob sie den Kopf und sah mich noch zweifelnd an. Sie strich sich über die Schläfen. Dann aber sah sie plötzlich unendlich glücklich aus, küßte mir, niederkauernd, die Kleider und stieß seltsame Laute aus, die ich niemals vorher von ihr gehört.

Dann kam eine denkwürdige Nacht. Während unten der brave Arzt ein Menschenleben dem Tode abzuringen versuchte, lag der zweite Kranke stöhnend auf Deck unter dem schwarzblauen Himmel, von dem die Sterne milde herabblickten. Der Doktor hatte sich von der freien Luft günstigen Einfluß versprochen. Wirklich atmete hier oben der Leidende leichter.

»Dieser, o Herr, wird leben,« meinte Djayi, an einer Seite des Lagers kauernd, zuversichtlich und überzeugt. Mit großer Intelligenz und vollkommener Fügsamkeit erfüllte sie alle Befehle, die der Arzt und ich ihr, die Pflege des Kranken betreffend, gaben; rührend über war dabei, wie sie auch noch ihrerseits alles dazu tat, was ihrer Meinung nach gute Wirkung haben könnte. Ein Amulett, von dem sie sich bisher noch keine Minute getrennt hatte, hängte sie dem Matrosen um den Hals; seine fiebernden Schläfe wusch sie mit wundervoll duftenden, kühlenden Essenzen, welche sie aus allerlei Flüssigkeiten bereitete, die sie, in winzigen Phiolen verborgen, besaß. Auch ein Haar ihres schwarzen Gelocks hatte sie ihm um den kleinen Finger der rechten Hand geschlungen und eine Beschwörung dazu gemurmelt.

»Das Haar einer Jungfrau, Herr, deren Leib noch niemals eine Krankheit erfaßt hat, das ist ein wunderbares Heilmittel,« flüsterte sie mir zu, wie ein Kind dabei vertrauend lächelnd.

An die Brüstung tretend, eingelullt von dem sanften Rauschen des nur ganz langsam dahingleitenden Kieles, umspann mich seltsamer Zauber. Auf den Schaumkronen zahlloser, kleiner, zerstäubender Wellen lag es wie flüssiges Gold. Der warme Luftzug, der mich umspielte, trug leichte Wohlgerüche mit sich, als hätte er sie erhascht aus fernen Gärten und aufgesogen aus Tausenden von blühenden Blumen. Aber es war Täuschung. Von ganz nahe brachte er sie zu mir – vom Krankenlager des Matrosen! Als unvergeßliches Bild steht heute noch diese Nacht vor meinen Augen. Über uns die leuchtenden Gestirne, das seltsam schöne Mädchen, angetan mit dem roten Seidentuch, über den Kranken gebeugt! Von Zeit zu Zeit kniete Djayi nieder, hob die Arme zum Firmament empor und rief halblaut einzelne, mir völlig fremde Worte hinauf in diese rätselhafte Unendlichkeit, in der wir Gottes Thron suchen. Dann strich sie mit linder Hand über Kopf, Glieder oder Stirne des Patienten und sang leise, mit süßer Stimme, die beruhigend, wie das gedämpfte Rauschen fließenden Wassers klang, kleine Lieder und Sprüche vor sich hin.

Noch graute der Morgen nicht, da stieg der Arzt müde und übernächtig zu uns an Deck empor.

»Es ist zu Ende mit ihm!«

Djayi lauschte begierig den fremden Lauten. Aber sie las aus unsern Gesichtern, was sie nicht verstand. Da neigte sich der Engländer zu unserm Schutzbefohlenen, befühlte dessen Puls und meinte:

»Dem geht es besser; ich glaube, wir bringen ihn durch; er schläft, und das Fieber ist sehr gesunken. Nun will ich noch ein wenig ruhen!«

Als wir mit dem ersten Tagesschimmer nach unten gingen, den Toten für die letzte Fahrt zu bereiten, da lagen neben und auf ihm allerlei Schätze aus dem Besitze Djayis. Süßigkeiten, die sie sich gespart hatte, eine Kette brauner Perlen, die aus den Früchten einer den Arabern heiligen Pflanze gefertigt war und ein kleines Schälchen aus Sandelholz. Wir versäumten nicht, all das dem Toten mitzugeben, als wir ihn in die Hängematte einnähten und ihn dann auf Deck legten, bis die Stunde kommen würde, ihm die letzte Seemannsehre zu erweisen.

Der Morgen dämmerte, – ein neuer Tag brach an. Purpurrot färbte sich allmählich die Stelle am Horizont, wo das goldene Gestirn, einem Gebote ewiger Ordnung folgend, dem Meere entsteigen sollte. Die Toppen der Masten erglänzten in seinen ersten Strahlen, da versammelte sich die Mannschaft des Schiffes so weit als möglich beim Großmast um den Kapitän. In Ermangelung eines Geistlichen sprach dieser selbst einige Worte des Abschiedes und der lobenden Erinnerung. An der verschnürten Seite der Leiche hatte man ein Ballast-Eisen befestigt. Rasch, aber geräuschlos wurde sie auf ein Brett gelegt und von vier Kameraden nach dem Fallreep getragen. Während ein feierlicher Choral von der Mannschaft gesungen wurde, ließen sie langsam den Leichnam vom Brett hinabgleiten. Die schäumende Flut spritzte hoch auf, rosig schimmernd vom fernen Widerschein. Gierig öffnete sie ihre Tiefen, um sich schnell wieder über dem Versenkten zu schließen. Die Schiffsglocke läutete hell zu dem kurzen Gebet; mit abgenommenen Mützen stand die Mannschaft. Einen Augenblick später war die bis dahin auf Halbmast niedergeholte Flagge wieder gehißt und das Deck leer.

Nur Djayi war noch oder wieder da. In leuchtendfarbige, seidene Festkleider gehüllt, goß sie aus einer schlankhalsigen Flasche goldgelbe Tropfen ins Meer. Dann winkte sie mit den Enden ihrer Gewänder nach den Wellen, die unser Schiff durchschnitten und des Matrosen Grab umspülten und hob dann die Arme hoch nach Osten:

»Allah – Allah ist groß, ist erhaben in Stärke und Macht!«

Im selben Augenblick entfaltete die aufgehende Sonne all ihren Glanz und warf über das weite Meer einen Lichtstrom aus, der alsbald unser Schiff übergoß und – Djayi!

Zwei Schiffsjungen scheuerten auf Deck und sangen zweistimmig:

Dort gibt es keine Stürme,
Dort wo die Perle glänzt,
Und wo man mit Korallen
Die Gräber uns bekränzt.

Leise war ich hinter das Mädchen getreten und faßte seine Hand. Wie in Verzückung stand es und blickte, ohne mit der Wimper zu zucken, ins flimmernde Licht.

»Was siehst du, Djayi?«

»Die Sonne, Herr, sie hat den Tag gebracht, einen neuen Tag!« –

Hatte sich der Witterungsumschlag auch noch länger hingezogen, als man gedacht, so wußte man doch, daß er sicher eintreten und schlimme Tage bringen würde. Zunächst kam ein furchtbares Gewitter, und das schwere Wetter hielt an, ohne daß unsere Mercedes dadurch in ihrem Laufe etwa gefördert worden wäre. Ich wurde krank, wie alles an Bord außer Djayi; sogar die Tiere wurden elend. Das Arabermädchen wurde von allen Seiten beschworen, das Mittel zu verraten, durch das es bewahrt wurde. Gutherzig und voll Großmut entäußerte sich Djayi alles dessen, was sie nach ihrem Glauben beschützte. Aber als nichts bei irgend jemand anschlug, meinte sie betrübt:

»Es ist eben der Geist, den Allah mir gesandt, als ich geboren wurde. Das ist ein Mächtiger, und er irrt über die Wüste hin, wenn die Sonne am höchsten steht und alles am Verschmachten ist. Findet er in jener Stunde einen Menschen, der noch nichts Böses getan und noch keine Lüge im Leben gesprochen hat, so schenkt er ihm Gesundheit. Ich hatte mich soeben der Mutter Schoß entrungen, so konnte ich noch nicht gesündigt haben; dadurch bleibt Djayi gesund, wenn alles krank ist. Aber mögen sie es nur immer sein, – wenn du nur nicht leiden müßtest, mein Gebieter! Djayi aber kann den Geist nicht aus sich selbst verscheuchen und in deinen Körper bannen. Ich würde es gewiß tun, o Herr; ich ließe mein Leben zur Stunde für dich, aber Allah will es gar nicht. Wie sollte er es nehmen wollen statt des deinigen! Es ist ja ein Nichts!«

Ob der gute Geist, ein Einsehen hatte und das Flehen seiner Djayi wenigstens teilweise erhörte? Jedenfalls ging etwas jener Wirkung, die er auf das Mädchen ausübte, – vielleicht dank ihrem inbrünstigen Flehen, – auf mich über. Am kommenden Morgen fühlte ich mich besser und nach und nach völlig wohl, ohne daß je wieder ein Anfall kam. In der Folge konnte ich weiter sehen und beobachten, wie gut und selbstlos dieses Geschöpf war. Zu allen Kranken ging es, sprach ihnen zu und half, so gut es ging, da und dort. Selbst die Tiere vergaß Djayi nicht. Zwei arabische Hengste, eine Kuh, ein Schwein und Geflügel befanden sich an Bord. Die Pferdewärter, wie auch die der andern Tiere waren so krank, daß keiner mehr an anderes dachte, denn an das eigene Elend. Die beiden herrlichen Pferde hatten bereits angefangen, das Futter zu versagen und wollten nur noch trinken. Ihre Augen waren trübe, ihre Ohren hingen schlaff herab. Auch sie wurden nur noch von Djayi besorgt. Es war gar zu komisch, wenn sie sich dann vor das Schwein stellte und es immer wieder kopfschüttelnd fragte, warum es nicht auch, wie alle andern Tiere, leide. Das aber grunzte bloß und fraß weiter, gierig und wahllos, was immer man ihm vorwarf.

»Der Hahn kräht auch nicht mehr,« meinte Djayi betrübt, »und vier Hühner sind tot. Bopp« – es war der Affe, den die dicke Französin bei sich hatte – »windet sich nur so in seinen Schmerzen. Ich glaube, Menschen und Tiere, alle werden sie sterben hier an Bord, und nur du, Herr, und ich werden leben bleiben!«

»Und das Schwein, Djayi, vergiß nur das nicht,« lachte ich.

»Ja, das Schwein! Aber lieber wäre es mir ohne das gewesen! Ganz allein mit dir, möchte ich auf diesem Schiffe dem Tode entgegensehen. Wird das sein, Herr?«

»Denke nicht daran, Kind, der Sturm ist doch nicht so furchtbar, und Gott wird uns schützen!

»Allah, meinst du? Ja, Allah! Oder der Christengott? Du einen – ich einen – zwei können immer mehr!« – –

Die Nacht brach herein, kein Strahl des Mondes, kein Stern durchschimmerte die dichten Wolkenmassen, die den finstern Himmel bedeckten. Der zunehmende Sturm heulte wütend durch die Takelung, donnernd brachen sich die mächtigen Wogen untereinander und am Schiffe und gossen weißen Schaum darüber. Gegen Morgen tönte der Schauerruf durch das Sturmesheulen: »Mann über Bord!« Allein trotz der ausgeworfenen Rettungsboje und der mutigen Bootsmannschaft, die ihr Leben einsetzte, um den Kameraden zu retten, war alles umsonst. Die rasende See behielt ihr Opfer, und ein Wunder war es zu nennen, daß unsere braven Jungen wieder alle heil an Bord kamen. Dann wurden die Rahen abermals an den Wind gebraßt, aufs neue lag das Schiff in seinem Kurs. Endlich legte die Mercedes anhaltend bei, so daß es ein fortwährendes Anluven und Abfallen zwischen vier Kompaßstrichen war, wobei das Schiff, ohne vorwärts zu kommen, seitwärts wegtrieb. Jetzt hatten die Wogen etwas weniger Gewalt über das festgefügte, tüchtige Fahrzeug, dessen Bewegungen ungeheure waren. Schwer rollte es bald im Hohl der Wellen, die ihm jegliche Aussicht nach dem Horizonte benahmen, bald erhob es sich, seinen Kiel gen Himmel reckend, hoch über sie. Schreien und Jammern an Bord, ein Über- und Untereinanderrollen von Menschen und Gegenständen! Kein Befehl, keine Bitte konnte die Geängstigten beruhigen. Nur Djayi blieb gefaßt, klammerte sich mit allen Kräften an ein Bündel Taue und umfing mich immerwährend mit sorgenden Augen. So ging's wechselnd drei Tage lang. Am Morgen, des vierten war die Gewalt des Sturmes gebrochen. Noch immer stark wehend, erlaubte er doch, wieder einige Segel mehr zu setzen. Dichte Wolken und Nebelbänke lagen in Lee. Mit dem wachsenden Tag aber hoben sie sich und gewährten einen freien Ausblick nach dem Horizont.

Um Mittag trat Djayi, die bis dahin wieder getreulich für Menschen und Tiere gesorgt hatte, auf mich zu.

»Herr, – ob der Kapitän eines Schiffes immer einen guten Geist zur Seite hat, den Allah ihm geschenkt?«

»Wie kommst du darauf?«

»Woher sollte er wohl sonst die Kraft nehmen und das Wissen und all diese Ruhe, die ihn ausharren lassen, wenn alle andern verzweifeln? Das Meer ist immer furchtbar, auch wenn es zu lächeln scheint und von der Sonne überstrahlt ist. Tückisch verbirgt es seine Felsenriffe und Sandbänke, der Himmel bedroht es mit seinen Blitzen und läßt wütende Orkane über seine endlose Wasserwüste brausen. Der Kapitän aber, – immer und immer muß er sein, als schritte er durch sanfte stille Oasen im Frieden der Seele und des Herzens!«

»Ja, Djayi, alle Menschen, die auf dem Posten Gutes leisten, auf den sie das Schicksal gestellt, haben wohl einen guten Geist in sich. Siehst du, ›Wille‹ heißt er!«

»›Wille‹ ist sein Name? Und euer Gott kann euch diesen Geist senden und eingeben? Hast du ihn denn auch in dir, Herr?«

Vor mir türmte sich plötzlich Ungeheures. Die Ahnung, Schwerem, kaum Überwindbarem entgegenzugehen, überkam mich. Aber mir war auch, als ströme von dem Arabermädchen, das in seiner fremden, geheimnisvollen Schönheit vor mir stand, eine besondere Kraft in mich über. Meine Muskeln spannten sich, schneller rollte mir das Blut in den Adern, meine Brust dehnte sich breit und stemmte sich dem Winde entgegen.

»Ja, Djayi, ja, ich habe ihn!« –

Oran lag lange, lange hinter uns. Die Straße von Gibraltar, und das Kap St. Vincent hatten wir tapfer und unter gutem Winde passiert. Da trat die von jedem Segelschiff so sehr gefürchtete Windstille ein. Immer flauer und flauer war die Kühlte geworden, kaum bemerkbar der Weg des Schiffes, das dem Steuer fast nicht mehr gehorchte. Die Segel schlugen schwach gegen die Masten und Stangen, da sie auch nicht das kleinste Lüftchen mehr spannte. Die untern wurden endlich aufgegeit. Langsam und träge rollte die Mercedes auf den spiegelglatten Wogen, die immer niedriger und flacher wurden, bis auch der letzte Luftzug erstarrte, und endlich sogar der lange, leichte Wimpel matt herabhing. »Todesstill die See – das Schiff ohne Steuer!« rief der Kapitän. Und Stunden vergingen. Die Mannschaft streckte und reckte sich gähnend. Nachdem sie erst so kurze Zeit die Ruhe genossen, wurde sie ihrer schon überdrüssig. Mir aber fehlte es nicht an Abwechslung. Ich schrieb, rechnete und machte Aufzeichnungen, und mich mit Djayi zu unterhalten, blieb mir ein Genuß. Immer entfaltete sie wieder neue Seiten ihres Charakters. Sie wollte mir als ein mächtiger Wildacker erscheinen, dessen Erde kostbar und fruchtbringend sein würde, gäb es einen, der ihn bestellte.

Das ermüdende Einerlei der auch fernerhin anhaltenden Windstille erweckte ja wohl bei jedem die unbehaglichsten Gefühle; allein Kapitän wie Mannschaft ließen es sich zu unserm Tröste nicht sehr merken, und letztere erfand allerlei Kurzweil, um sich selbst und uns Passagiere über die Wartezeit hinwegzubringen. Freilich gab es Unvernünftige genug, die den armen Kapitän immer wieder mit Fragen bestürmten und ihn quälten, wie lange denn noch das gräßliche Stilliegen dauern könne. Zu antworten vermochte er freilich nicht. Er furchte die braune Stirne, zuckte mit den breit ausladenden Schultern, und das war alles. So schlimm aber war es gar nicht mit der Langeweile. Einmal war es ein mächtiger Hai, der scheinbar träge und dennoch beutegierig unser Schiff umschwamm und uns aufregende Abwechslung brachte, indem ihm unsere Leute nachstellten und ihn auch endlich töten konnten. Dann wieder erreichte eine Dorade das gleiche Schicksal; sie zitterte ihr Leben aus, indem sie im Todeskampfe in allen Regenbogenfarben schillerte. Eines Tages türmte sich eine mächtige Fata Morgana am reinen Horizont auf und zauberte uns Inseln und Festland mit allem Zubehör vor die Augen. Ein Staunen, Bewundern, Fragen ohne Ende. Mich interessierte vor allem die Wirkung auf Djayi. Diese aber lehnte regungslos, wie so oft, an einem der Maste und blickte ganz stumm auf die Erscheinung, deren Entstehen ihr doch unfaßlich sein mußte. Sie stieß keinen einzigen Ruf der Überraschung aus, ja schien sich nicht einmal zu wundern. Ihre Augen aber trugen einen tiefernsten Ausdruck und sahen aus, als blickten sie nach innen.

»Nun, Djayi, ist das nicht schön und wunderbar? Was sagst du zu dieser duftigen Welt, die sich plötzlich auftut über dem großen Wasser?«

Sie schrak zusammen.

»Ja, Herr, ein schöner Zauber!«

»Der dir aber weder neu noch wunderbar erscheint?«

»Ich sah dergleichen so oft,« flüsterte sie traumverloren. »So oft und noch viel reicher und schöner als jetzt. In der weiten Wüste, Herr, sendet das Allah, und die es schauen, werden bald ein großes Glück erleben.«

»Ei, das ist ja gut für uns alle, denn jeder an Bord schaut es. Aber du siehst nicht froh aus, Kind, freust du dich denn nicht auf dein großes Glück, das dir bevorsteht?«

»O Herr, für Djayi gibt es nur ein Glück, und das wäre allzu groß, als daß es mir Allah erfüllen würde. Er mag mir damit ein anderes künden, aber was kann mir an diesem gelegen sein?«

Da erschien die türkische Dienerin der Französin mit einer Bestellung und schloß, indem sie sagte:

»Meine Herrin läßt dich und deine schöne Sklavin grüßen!«

Ich dankte und sah rasch Djayi an, was sie wohl für ein Gesicht zu der ›Sklavin‹ machen würde. Allein, hoch aufgerichtet, den Kopf im Nacken, stand sie da, und ihre Augen strahlten in Stolz. Mit einer wundervollen, langsamen Bewegung legte sie die beiden schlanken Hände an die Stirn und neigte sich leicht gegen mich.

Als wieder eine jener herrlichen Nächte anbrach, belustigten sich unsere Matrosen, indem sie auf Deck allerlei Spiele unternahmen, Musik machten und sangen und endlich zu tanzen begannen. Da aber war es um Djayis Ruhe geschehen. Mit funkelnden Augen verfolgte sie die plump-täppischen Bewegungen dieser großen, starken Männer, und ihre Finger krampften sich zusammen, als hielte sie sich gewaltsam selbst vor etwas zurück. Kaum aber hatten die Leute geendet, da zog sie ein schmales, silberglänzendes Instrument, auf das einige Saiten gezogen waren, unter dem Gewand hervor, trat in die leere Mitte unseres Kreises und begann unter den leise klagenden Tönen, die sie dem Ding entlockte, einen seltsamen Tanz. Zuerst war es nur ein Gehen, langsam, in harmonischen Bewegungen folgte der geschmeidige Oberkörper denjenigen der Beine und der kleinen, feingeformten Füße. Die schwarzen, feuchten Augen zum besternten Firmament emporgerichtet, stimmte sie dann eine Art Sprechgesang an, der lauter und lebhafter wurde und endlich mit einem Schrei, der Wonne und Entzücken ausdrücken sollte, endete. Zu Füßen der Französin saß deren türkische Dienerin, die in stummer Begeisterung aus Djayi blickte und dazu leise mit zwei kastagnettenähnlichen Hölzern klapperte. Nach dem Schrei blieb die Araberin einen kurzen Augenblick ganz still. Dann schien sie das Geräusch zu vernehmen. Sie hob wie lauschend den Kopf, ihr Körper schien zu wachsen, ihre Muskeln sich zu strammen. Mit einem schrillen Ruf, der Besonderes bedeuten mußte und von der Türkin wohl verstanden wurde, schleuderte sie ihr das kleine Instrument in den Schoß. Diese dagegen warf ihr im Bogen die Holzklappern zu, die Djayi geschickt auffing. Nun begann ein wilder, bacchantischer Tanz, während dessen das Mädchen sich sein Obergewand fast abriß, gänzlich weltentrückt, bald mit weitgeöffneten, flimmernden Augen nach oben starrte, bald mit geschlossenen Lidern, die herrlichen Glieder in rasend schneller Bewegung und dennoch niemals unschön und gewöhnlich werdend, drehte und wendete. Dazwischen stieß das türkische Weib kurze, abgehackte Laute aus, die jedesmal die Tänzerin zu neuem Feuer anzueifern schienen. Lautlos, wie in stummer Verzückung, saß und stand alles um Djayi herum, aus deren Gestalt und Antlitz die bunten Papierlaternen, die man aufgehängt und entzündet hatte, wechselnde zauberische Lichter warfen. Endlich hielt sie jäh inne. Taumelnd suchte sie eine Stütze, die ihr auch sofort ein stämmiger Matrose, der noch kein Auge von ihr gelassen hatte, mit seinen starken Armen bot. Veratmend, nur langsam wieder zu sich kommend, lag sie mehr, als sie stand. Dann blickte sie verwundert um sich, strich das Haar aus der heißen, aber bleichen Stirne und sich heftig von dem Manne losreißend, suchte mich erst ihr Blick, dann lief sie rasch auf mich zu und kauerte sich zu meinen Füßen nieder, indem sie das schwarze Gelock an meine Kniee schmiegte.

Nachdem der Kapitän ein Machtwort hatte sprechen müssen, war endlich alles zur Ruhe gegangen. Allein ich fühlte mich viel zu erregt zum Schlafen, und die Schwüle dieser windstillen Nacht schien mir den Schlummer gänzlich von den Augen verscheuchen zu wollen. Ihn herbeisehnend, wälzte ich mich aus meinem Lager. Da schrak ich auf. Ein wilder, durchdringender, heller Schrei von Deck, der dem eines Raubvogels glich. Wut- und Schmerzensgeheul eines Mannes folgte. Ich stürzte nach oben, und andere machten es wie ich. Gerade kam ich dazu, wie zwei Matrosen Djayi, die wie rasend um sich schlug, biß und kratzte, zu bändigen suchten. Blutüberströmt stand fluchend jener Kamerad daneben, der nach dem Tanz seinen Arm als Stütze geliehen hatte.

»Gestochen hat mich der braune Satan, seht her! Über Bord soll man ihn schmeißen, bevor er noch einen umbringt!«

Mir allein gelang es endlich, das gänzlich verändert schienende Geschöpf zu beruhigen. Kaum einigermaßen zu sich gekommen, am ganzen Körper zitternd, von dem das einzige Gewand in Fetzen hing, begann Djayi in überstürzenden Worten so, daß ich nicht die Hälfte verstand, zu berichten, was sich ereignet hatte. Nun war es schwer zu erkennen, ob jetzt endlich auch bei ihr die lügnerische Phantasie ihres Volkes durchbrach. Den tatsächlich schwer verwundeten Matrosen hatten sie hingelegt, und der herbeigeholte Arzt untersuchte die Stichwunde, die von einem kleinen, scharfen Dolche herrührte, der noch immer in Djayis festgeschlossener, nerviger Faust stak. Bald war mir aus dem Strome von Worten, der dem bebenden Munde des Mädchens entrann, klar, daß es sich ohne Zweifel eines Angriffes erwehrt hatte, den der ganz in Feuer gesetzte Matrose auf sie gemacht hatte, als sie sich vor meiner Tür zum Schlummer gelegt. Willig ließ sie sich von mir an das einige Schritte weiter ausgeschlagene, improvisierte Lager des Verwundeten führen und sah dort ruhig in das von einer flackernden Lampe beschienene blasse Antlitz. Wenn nicht ihr Freund, jener andere Matrose, den sie so treu in seiner Krankheit gepflegt hatte, sie mit mir beschützt hätte, würde sich mehr als einer der murrenden Leute rächend auf sie gestürzt haben. Ohne das geringste Zeichen von Reue blickte sie gleichmütig auf den überwältigten Feind nieder.

»O Djayi, was hast du getan?« sagte ich vorwurfsvoll. »Wenn er nun stirbt?«

»So hat es Allah gewollt, nicht ich; ich mußte so tun, denn der Mann war böse und vergriff sich an fremdem – an deinem Gut, Herr! Ließest du dir etwa eines deiner Pferde oder deiner Kamele, deine Waren, die unten liegen, gleichmütig stehlen? Diese könnten es nicht hindern und sich nicht wehren, wohl aber konnte ich es. So tat ich es doch für dich. Aber auch für mich, Herr, denn Djayi läßt sich nicht berühren von einem Manne, außer …«

»Nun?« fragte ich.

Mit unendlicher Anmut beugte sie demütig ihr Haupt:

»Von ihrem Herrn!« – –

Die Wunde des Matrosen erwies sich als weniger gefährlich, als es zuerst den Anschein gehabt hatte, und er genas. Eine Untersuchung fand statt, recht und gerecht, und das Urteil fiel zu seinen Ungunsten aus. Wenn seine Strafe auf ein kleines Maß herabgesetzt wurde, so geschah das erstens, weil er durch seine Verwundung schon genug bestraft erschien, zweitens, weil es sich nach des Kapitäns und der andern Ansicht ja ›bloß‹ um eine halbwilde Araberin gehandelt hatte. Eigentlich wurde nur das Vergreifen an meinem Gute damit geahndet.

In mir aber erweckte der Vorfall aufs neue das Gedenken an die Pflicht, mich nun ernstlich zu entschließen, was mit dem Mädchen geschehen sollte. Ihr die sogenannte Freiheit zu geben, wäre ein Danaergeschenk gewesen. Das Mädchen, das, unselbständig und unerfahren, nie aus ihrem gegebenen Kreise herausgekommen war, würde in seiner Verzweiflung von einem elenden Schicksal ereilt worden sein. Da befragte ich die gutmütige Französin um Rat, die Djayi sehr gut leiden mochte. Sie dachte lange, lange nach. Während ihr die geschwollenen Lider wie im Schlaf über die Augen fielen und die breiige, gelbweiße Masse des Gesichtes in erregtes Zittern geriet, schien ihr ein guter Gedanke zu kommen. Sie teilte mir mit, daß in Lissabon, wo ja das Schiff anlaufe, eine etwas exaltierte Engländerin lebe, die sehr reich sei und ihr Vermögen hauptsächlich dazu verwende, der Sklaverei entgegenzuwirken und sich der ärmsten dieser Opfer anzunehmen. Mit ihrer Empfehlung, denn sie kenne die Dame gut, solle ich Djayi zunächst hinbringen; dort würde mir gewiß auch fernerer Rat.

Bei Sonnenuntergang bekam die ganze Atmosphäre immer einen höchst traurigen Anschein. Unendliche Sehnsucht nach Änderung dieser unfreiwilligen Rast und der glühende Wunsch, baldmöglich unsere Ziele zu erreichen, ergriff alle. An einem jener trostlosen Abende stand ich mit Djayi, die seit jenem Vorfall stummer und stiller geworden war und mich oft mit scheuen Blicken streifte, auf Deck, und wir sahen ins blaue Wasser herab. Scharen von flüchtigen Tümmlern und Delphinen umgaben in großen Kreisen unser Schiff. Mit Pfeilesschnelle umjagten sie einander und warfen sich hoch aus dem Wasser, während mit dem zunehmenden Dunkel hinter ihnen phosphorische Streifen erglänzten. Zwei Matrosen standen unweit von uns, besahen den Himmel und tauschten ihre Meinungen aus über den sicher bevorstehenden Wetterumschlag. Der eine meinte, es gäbe abermals Sturm, der andere glaubte, nur Anzeichen einer guten Kühlte zu bemerken. Die Aussicht, nun bald wieder ein Stück näher zur Heimat gebracht zu werden, erregte in mir lebhafte Sehnsucht nach den Lieben, die ich so endlos lange nicht mehr gesehen hatte. Ich vergaß, daß das arabische Mädchen, mit wahren Hungeraugen auf mich sehend, mir zur Seite stand, und versank völlig in meine Träume. Wie und was würde ich in der Heimat finden? Ob sich, seit ich keine Nachricht mehr erhalten, allerlei geändert hatte? Ob vielleicht der Tod neue Lücken gerissen? Es fiel mir so schwer, mir das Rote Haus verschlossen und unbewohnt im Besitze fremder Menschen vorzustellen. Noch schwerer und unfaßbarer, daß der gute Onkel Hersebrook nicht mehr darin und für uns leben sollte. Und wo mochte Ursula nun sein? Ob sie sich inzwischen doch endlich verheiratet hatte? Und ob mein Binchen mit ihrem Arvid eine glückliche Frau und Mutter geblieben war?

Über allem und allem aber schwebte mir wie der Schutzengel meiner Heimat und desjenigen Teiles meiner Jugend, der darin wonnig verstrichen war, das lichte Bild Theresens vor Augen. Wie die treue Hüterin eines großen Schatzes hatte sie alle Zeit vor dem Tor unserer Liebe gestanden, und die Fesseln ihrer langen, goldenen Flechten hielten mich an sie gebunden, wenn auch Jahre vergangen waren und Länder und Meere zwischen uns lagen. An Karoline und Tante Luise – letztere schien ein gesundes Alter zu genießen, – dachte ich kaum. Und an meinen Vater? Das Gefühl der Kälte und des Unverstandenseins hielt mich umklammert und erstickte jegliche Sehnsucht. Nach einem Briefe Binchens, worin sie mich mit einem gewissen, zwischen den Zeilen erkennbaren Bangen fragte, was an dem Klatsch wahr sei, hatte ihn das Gerücht, ich sei heimlich mit Therese Meinhardt verlobt, aufs freudigste erregt. »Das war auch wohl der einzige kluge Streich des Jungen und die erste wahre Freude, die er mir bereitet,« hatte er gesagt. Dann sei er wütend geworden, als er aus Therese so gar nichts herausgebracht und nur von andern gehört habe, daß sie wie immer von vielen Verehrern umgeben sei. ›Natürlich ist ja nichts Wahres an dem Gerede,‹ schrieb meine Schwester weiter, ›sonst würde ich wohl anders an meinen weltfahrenden Herrn Bruder schreiben.‹ Dann ging sie über zu der Beschreibung ihres Glückes, das ihr in dem behaglichen Neste in Düsseldorf erblüht war. Wie Arvid sie auf den Händen trage und wie die Kinder gediehen! Sie erzählte auch, daß Ursula monatelang, als das jüngste Kind gekommen, bei ihr im Hause gewesen sei und wie sehr sie alle an ihr hingen. So viele Anträge sie auch habe, fiele es ihr doch nicht ein, zu heiraten. Die Eltern – Binchen hing sehr an Herrn und Frau Roosemann – lebten still in Hamburg. Während er seinen Schmerz um die verstorbene Tochter in rastloser Arbeit zu ersticken suche, habe die Mutter es sich zur Aufgabe gemacht, durch Wohltätigkeit zu wirken und sich über die schwersten Stunden damit hinwegzuhelfen. Ihr praktischer Sinn komme ihr dabei sehr zu statten und man wende sich an sie von allen Seiten, um Rat bei ihr zu holen.

Der Brief war nun etwa ein halbes Jahr alt. Mit Theresens Namen auf den Lippen und ihr Bild vor Augen schlief ich jene Nacht ein. Das Arabermädchen und ihr mögliches Schicksal hatte ich völlig vergessen.

Als ich am folgenden Morgen erwachte, war bereits großes Leben an Bord. Die Marssegel begannen zu zittern, eine leichte Kühlte aus Westen füllte die Bramsegel. Langsam neigte die Mercedes den schönen, königlichen Leib auf die Seite, und das Wasser teilend, das mit fröhlich-leichtem Plätschern an den Bug schlug, gehorchte sie wieder dem Ruder. Die See brach sich kräftig, und lange Linien weißen Schaumes folgten einander. Kommandorufe ertönten, eine freudige Geschäftigkeit hielt die Mannschaft in Atem. Die Passagiere, alle auf Deck, jauchzten vor Freude, und die dicke Französin machte Miene, den strammen Kapitän zu umarmen, als hätte dieser ein besonderes Verdienst bei dem Wetterumschlag. Es war eine heitere Fahrt, die uns dem Lande näher und näher brachte. Als sich die langersehnte Küste über den Horizont erhob, bekannte Vorgebirge und Landmarken, von denen die wichtigsten die Leuchttürme sind, deren Feuer im Dunkel der Nacht dem Seemann den Weg zeigen, da schlug jedes Herz höher in freudiger Erwartung.

Nur eines nicht! Mich jammerte es, wenn ich Djayi anblickte. Jegliche Kraft schien von ihr gewichen, ihre Muskeln schienen schlaff geworden, die Augen trübe und ohne alles Feuer zu sein. Sie aß und trank kaum mehr, kein munteres Wort kam über ihre Lippen, die wie im Krampfe herbe geschlossen blieben. Eifrig und eingehend hatte ich ihr auseinandergesetzt, daß nun in Lissabon die letzte und, wie es scheine, auch beste Gelegenheit sei, für sie etwas zu tun. Allein ich sei auch bereit, ihren Wünschen nachzukommen, wenn sie es etwa vorziehe, aus irgend eine Weise den Versuch zu machen, wieder in das ›weiße Land‹, wie sie es nannte, und in die Freiheit zurückzukehren. Aber da hatte sie nur bitter gelächelt.

»Freiheit, o Herr! Djayi hat sie verloren. Sie ist ja kein Kind mehr, sie ist eine Jungfrau! Djayi hat auch keine Eltern und keine Sippe, sie hat jetzt nur noch – einen Herrn! Stößt dieser sie von sich, so muß sie sterben!«

Ihr Mund zuckte, aber ein harter, entschlossener Ausdruck trat in das schöne Gesicht, dessen regelmäßige Züge wieder eine Strenge annahmen, die es wie aus Erz gegossen erscheinen ließ.

»Du siehst doch ein, daß ich dann anders für dich sorgen muß. Das will ich nur in einer Weise, die mich völlig über dein künftiges Schicksal beruhigen wird.«

Als überriesele sie ein Kälteschauer, so schüttelte es ihren schlanken Leib hin und her. Zusammengekrümmt und geduckt, glich sie einem Paket bunter Stoffe. Kein Stückchen ihres Gesichts ließ sie mehr sehen. Ich sprach weiter von der englischen Dame, die so klug sein sollte und so gut, und daß ich ihr gleich nach der Landung in Lissabon meinen Schützling bringen und um weiteren Rat bitten wolle.

Ein herrlicher Morgen kam, der rosiges Frühlicht über unser zur Einfahrt in den Hafen bereites Schiff ergoß. Eine feierliche erwartungsvolle Stille herrschte an Bord. Nur der weithinschallende Ruf der Matrosen unterbrach sie, die mit geübter Hand auf Steuer- und Backbord das Lot auswarfen.

Ich suchte Djayi auf und hieß sie sanft und liebevoll sich rüsten, um mit mir an Land zu gehen. Mit mechanischen Bewegungen tat sie stumpf, was ich von ihr verlangte. Allein im letzten Augenblick, als schon die Barke unser harrte, warf sie sich mir noch einmal flehend zu Füßen.

»O Herr, o Herr, warum das? Was hat die arme Djayi getan, daß du sie hinwegstößt von dir wie einen räudigen Hund? Du warst doch so gut zu ihr und schlugst sie niemals. Hättest du mich lieber gleich getötet! O Herr, Herr, ich will dir dienen und dienen und keinen Atemzug tun, der nicht dir geweiht wäre. Aber habe Erbarmen und laß Djayi bei dir bleiben! O nimm sie mit, mit in dein Land, unter deinen Himmel, o Herr!«

Tränen überströmten das schmal gewordene Antlitz. Der furchtbare Schmerz, der so erschütternd wirkte, stand wieder darin eingegraben wie mit einem Meißel. Allein ich fühlte mich durchaus ohnmächtig. Ich nahm sie in meine Arme und redete ihr sanft zu, mir zu folgen und zu glauben, daß ich nur ihr Bestes wolle. Auch, daß sie sich falschen Vorstellungen hingebe über dieses Land und daß sie, die Blume des Südens, jedenfalls sterben würde in dem fremden, hinmordend kalten Klima, wo der Winter Hause mit Eis und Schnee. Es sei ein Land, das grausam genug sei, einem Kind der heißen Zone die Heimat zu verweigern.

»Und, Djayi, Allah ist nicht dort in jenem Lande, nur der Christengott allein herrscht im ewigen Blau!«

Da blickte sie mich zweifelnd an, zitternd in Erregung und wich dann langsam von mir zurück.

Eine Stunde darauf folgte sie mir geduldig, als ich, durch die holperigen Gassen irrend, in dem Meer heißen Sonnenglastes das Haus der englischen Dame suchte.

Das Weitere wickelte sich mit ungeahnter Schnelligkeit und Einfachheit ab. Die Engländerin, zwar exaltiert, aber herzensgut und sehr gläubig, verliebte sich sofort in das Arabermädchen, in deren romantische Vergangenheit, von der ich ihr erzählte, und in die Idee, Djayis Schicksal in die Hände zu bekommen. Keine noch so herben Enttäuschungen, keine Mißerfolge, die keineswegs ausgeblieben waren, hatten sie in ihren philanthropischen Bestrebungen zu entmutigen vermocht. Mit Glücksgütern reich gesegnet, hatte sie in der Tat unendlich viel Gutes getan. Allein die Spitäler und andere Wohlfahrtseinrichtungen, die sie errichtet hatte, konnten ihrem Sehnen keine genügende Befriedigung geben. Auch im kleinen, engen und allernächsten Kreise wollte sie segensreich wirken. So trat sie mit offenen Armen dem einsamen Kinde entgegen. Ich wollte Djayi nicht eher verlassen, als bis sie in dem großen kühlen Hause und mit einer, ihr besonders beigegebenen Dienerin vollständig eingerichtet war. Willenlos, stumm, und, wie es schien, ganz ergeben, ließ sie alles mit sich anfangen. Als ich mich bei der gastfreundlichen, gütigen Dame mit heißem Danke verabschiedet hatte, um auf meinem Schiffe zu nächtigen, mit dem ich den kommenden Morgen weiterfahren wollte, trat ich nochmals bei Djayi ein, um ihr Lebewohl zu sagen. Aufrecht, mit seitlich gebogenem Kopf, als ob sie auf etwas lausche, stand sie inmitten des Gemaches, durch dessen schräge Fenster die scheidende Sonne ihre letzten Grüße sandte. Wild hing das Haar ihr um die Stirn, auf der kleine Tropfen standen. Die fest zusammengebissenen Zähne knirschten hinter den bläulichen Lippen und die Pupillen ihrer seltsam starren, weit aufgerissenen Augen sahen aus, als wären sie mit Kohol künstlich erweitert worden. In mir aber ging Seltsames vor. Plötzlich war mir, als dürfe und könne ich nimmermehr dieses Mädchen von mir lassen, und ich fühlte mein Herz wie von Polypenarmen umklammert. Ein jäher, heftiger Schmerz befiel mich. Deutlich spürte ich, daß eine Sekunde später mein Widerspruch von törichten Einflüsterungen eines haltlosen Gefühls überwunden gewesen wäre. Mit Riesenkräften mich innerlich befreiend, drückte ich die schwankende Gestalt an mich, küßte das wilde Gelock und stürmte hinaus. Als wäre ich ein Verfolgter, so eilig flüchtete ich zum Hafen. Ich war aber auch verfolgt! Von vorüberziehenden Eselstreibern aufmerksam gemacht, sah ich mich um. Ein kleiner, brauner Junge, in der kleidsamen Tracht, die von allen Dienern der englischen Dame getragen wurde, raste mit gellenden, kurzen Rufen hinter mir her. Atemlos hielt er dann bei mir an, und es dauerte noch eine Weile, bis er sprechen konnte. Endlich stieß er in gebrochenem Englisch hervor:

»Rasch – rasch, – kommen Sie zurück, – das – Arabermädchen ist tot!« – –

Wochen waren vergangen. Längst hatte die Mercedes den Hafen von Lissabon wieder verlassen, und ich war noch immer mit Sack und Pack der Gast Miß Bessie Davies-Drows. Mit vereinten Kräften unterstützten wir einen tüchtigen Arzt, der dem dortigen Spitale Vorstand; mit ihm hatten wir versucht, Djayis junges, blühendes Leben dem Tode abzuringen. Tagelang hatte es geschienen, als ob das schreckliche Gift, das sie in der Verzweiflung genommen, sie langsam aus dem Starrkrampf, der sie befallen hatte, in das stille Land ewigen Friedens geleiten sollte. Allein, kaum war sie erwacht und hatte mich erkannt, da schien frisches Blut durch ihre Adern zu rinnen. Den erneuten Willen, zu leben, schöpfte sie aus meinem Anblick, aus der Tatsache, daß ich ihr zur Seite, statt viele, viele Meilen weit auf ewig von ihr getrennt war.

Eine seltsame, unvergeßliche Zeit war es, die ich am Lager Djayis mit jener englischen Dame verbracht hatte. Das Hohe Lied der Menschenliebe sang sie laut und leise jegliche Stunde. Und das Lied vom Geiste klang dazwischen. Mir war dann oft, als würde die Fabellehre der Götter zur Wirklichkeit und der Olymp, der ja nichts anderes war als ein Wunsch der Menschheit, würde nun niedersteigen zur Erde, weil dort der herrliche Friede mit der Liebe herrschte, die sie den Göttern bewohnbar machte; zu der Erde, wo man früher nur an ein Verdrängen, Zerstören und Vernichten und an sich selbst gedacht hatte.

Selig durch die Liebe
Gottes, – durch die Liebe
Menschen, Göttern gleich!

Als ich eines Tages, während das Araberkind ruhig seiner Genesung entgegenschlummerte, besorgt auf es wies und dabei fragend zu meiner neuen Freundin aufblickte, da lächelte diese sanft:

»Wo Gottes Finger hinzeigt, da ist der Weg. Und der Höchste wird Sie schon führen, wenn er auch steinig ist. Nehmen Sie denn dieses arme Geschöpf mit sich und legen Sie es vertrauend an das Herz ihrer schönen, blonden Braut. Sie wird erbarmend sein wie auch die nordische Sonne, die ihre wärmsten Strahlen als schützenden Mantel um das Kind des Südens breiten wird. Hier würde Djayi ja ganz gewiß sterben, sei es durch eigene Hand, sei es aus großer Sehnsucht. Mein lieber Freund, wehren Sie sich nicht dagegen! Dies junge Leben hat Ihnen nun einmal Gott anvertraut als heilige Pflicht!« – –

Auf der langen und beschwerlichen Heimreise bis Hamburg wechselten die Stimmungen, denen ich unterworfen war, oft in rascher Folge. Ein Auf und Nieder war es an Zuversicht, Zweifeln und Niedergeschlagenheit. Allein ein Blick in die jetzt immer strahlenden Augen der überglücklichen Djayi, die sich nicht genug darin tun konnte, mir jeden Wunsch an den Augen abzulesen, und die nur für mich da zu sein schien, stählte und erheiterte mich immer wieder. – –

In einem kaftanartigen, aus Kamelhaaren gewebten Mantel, der mit einer Kapuze versehen war und die dünnen, bunten Gewänder bedeckte, stand sie dann eines Morgens auf der Schwelle des alten Hamburger Hauses, das mir so lange Heimat gewesen war. Ein Schreiben hatte Herrn Roosemann von allem Geschäftlichen und von allem Vorhergegangenen unterrichtet, so daß er und seine Frau nicht unvorbereitet waren. Eine mehrtägige Rast, bei der ich schmerzlichst die Märtyrerinnengestalt Elisabeths vermißte, wurde mir bald zu lange, so sehr zog es mich zu meinen Lieben heim. Zum Schlusse teilte mir Herr Roosemann, der mich durch seine Dankbarkeit und Großmut beschämte, mit, daß er sein Geschäft aufgebe und es gar zu gern völlig in meine Hände legen wolle. Von einem Ersatz der Ware sei nicht die Rede und meine Handlungsweise belobte er. So war mir über Nacht im Leben ein sicherer Platz geworden. Seine Frau aber, die kein Auge von Djayi wandte, meinte:

»Und wenn dies arme Kind kein Eckchen finden sollte, bei – bei – in der Nähe von« – mir fiel ihre Ausdrucksweise auf – »dann bringe sie mir, Gottlieb! Was jene englische Dame hat tun wollen, das kann ich auch unternehmen. Willst du zu mir kommen, Djayi?«

Mit leerem Ausdruck in den schönen Augen saß diese meist da, wenn die fremden Laute an ihrem Ohre vorüberrauschten. Von all den neuen Eindrücken war sie völlig überwältigt. Jetzt aber lauschte sie. Rasch sah sie von einem zum andern, mißtrauisch beobachtete sie mein Gesicht. Da übersetzte ich ihr, was Frau Roosemann gesagt hatte, fügte aber gleich hinzu, daß sie fürs erste jedenfalls bei mir bleiben könne. Ihre Blicke leuchteten wieder auf; dann kroch sie mehr, als sie ging, zu unserer Gastgeberin und küßte deren Kleidersaum. – –

Es geht im Leben fast niemals so schrecklich und fast niemals so schön zu, wie wir es uns ausgemalt haben. Einfach anders wird es beinahe immer. So war mein Einzug in die Heimat auch anders geworden, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte mich ganz kurz beim Vater, dagegen mit einem langen Briefe bei Therese angemeldet. Es war ein schöner, klarer Junimorgen, als die Kalesche, die ich mir in der Kreisstadt gemietet hatte, durch die noch immer, gerade so wie einstens, holperigen Straßen fuhr. Fast aus allen Fenstern reckten sich Köpfe mit neugierigen Mienen und spähenden Augen. Unter die Haustüren traten die Frauen, und selbst die Männer ließen Schneiderbock, Amboß oder Ladentisch im Stich. Vergeblich aber suchten sie in das Innere des Wagens zu lugen, um die ›Mohrensklavin‹ zu sehen, die ich mir mitgebracht haben sollte. Djayi aber saß dicht verhüllt in der dunkelsten Ecke, und außerdem waren die Vorhänge zugezogen.

An unserm alten Haustor hielt der Wagen mit einem kreischenden Ruck. Im selben Augenblick, als ich heraussprang, hatten mich auch schon weiche Arme umfangen:

»Mein Gottlieb – Geliebter –, endlich – endlich!«

Mich durchrieselten Wonneschauer, innig drückte ich die schlanke, ebenmäßige Gestalt an mich. Ich hatte aber keine Zeit, mich etwa darüber zu wundern, daß Therese mich in meines Vaters Haus begrüßte. Unter seiner Stubentür stand dieser selbst. Sehr gealtert, kleiner geworden und quittengelb im Gesicht schien er mir. Seine Augen und ihr finsterer Ausdruck waren geblieben. Zu meiner größten Verwunderung sah er mich aber von oben bis unten mit großem Wohlgefallen an und küßte mich dann.

»Gegrüßt in der Heimat! Willkommen, Gottlieb! Aber der schönste Empfangsgruß ist dir ja bereits geworden. Therese kam gestern, als sie deinen Brief erhalten, und bekannte sich als deine Braut. Du kannst dir ja jetzt dergleichen – so etwas ganz Feines, meine ich, wie unsere Therese – leisten. Du bist natürlich drüben reich geworden, und dann hat sich der ›Ketzer-Protz‹ Roosemann, wie es scheint, ja anständig dir gegenüber betragen. Also drauf und dran mit der Hochzeit!«

Ich mußte mir Gewalt antun, ein Gefühl des Ekels zu überwinden bei diesem Empfang. Auch bäumte sich in mir etwas dagegen auf, daß gerade diese Schicksalswendung, wie es schien, von Therese so sehr dem Vater gegenüber betont worden, war. Allein ihre Lichterscheinung, die sich jetzt aber, nach der ersten stürmischen Aufwallung, wie in scheuer, mädchenhafter Zurückhaltung im düstern Hintergrunde von mir entfernt hielt, überstrahlte alle aufsteigenden Schatten. Wie eine kleine Mumie stand Tante Luise vor mir und begrüßte mich mit langem, salbungsvollen Gruß, dem sich die recht altjüngferliche Schwester Karoline anschloß. In der Zeit meiner Abwesenheit waren ihre Züge sehr scharf geworden, und ihre Augen wirkten wie die einer Katze. Mir wurde kalt. Eine unendliche Leere umgähnte mich und heißeste Sehnsucht nach meinem Binchen und nach der wilden Ursel packte mich. Plötzlich fiel mir wieder Djayi ein, die vergessen im Wagen draußen saß.

Beinahe im gleichen Augenblick sagte mit hellem Lachen, das mir nicht ohne gewisse Schärfe zu sein schien, Therese:

»Nun, und wo hast du denn dein Sklavenweib, Gottlieb? Neugierig zum Sterben sind wir alle, es zu sehen. Und die Leute im Orte erst!«

»So? Woher wissen sie denn, – ich habe doch nur dir von Djayi berichtet und dich ausdrücklich gebeten –«

»Nun ja, – indessen, – bei unserm alten Faktotum, der Zenz, fuhr es Mutter und mir so heraus, und da wußte es natürlich gleich jeder Spatz auf dem Dache.«

Ich schwieg, unangenehm berührt, und stand schon unter der Tür, das arabische Mädchen zu holen. Aus der dunkeln Wagenecke und dem Stoffbündel starrten mir zwei angstvolle, brennende Augen entgegen. Eiskalt fühlte ich die zitternden kleinen Hände dann in den meinigen.

»Nun, Djayi, komm jetzt, wir sind am Ziele!«

»Hier, Herr? Hier?« –

Das graue, alte und schmucklos nüchterne Haus mit dem gähnenden Tor nach dem kalten, muffigen Hof hin, mochten, im Vereine mit der engen Gasse, wohl unwirtlich genug aussehen.

»Nur Mut, Kind, hinter dem Hause ist's schöner. Da ist der Garten, und viele Blumen blühen darin.«

Zag, Fuß neben Fuß setzend, entschlüpfte sie dem dunkeln Gehäuse. Unter dem Mantel klirrten die Reifen und Ketten; die weiche, purpurne Seide des Gewandes, das sie höher und fester hatte anlegen müssen, knisterte leise. Ich führte sie seitlich der Gartenpforte zu, um sie dann aus all der duftenden Pracht ins Wohnzimmer geleiten zu können. Es war ganz richtig gerechnet. Die Fülle an der Hauswand wuchernder Kletterrosen, wie die der königlicheren Schwestern im Gärtchen und der Duft der massenhaften Lilien begeisterten das Mädchen. Den Mantel nurmehr lose um die Schultern, das sorgfältig gestrählte und geschmückte offene Haar von der entstellenden Kapuze befreit, stand Djayi mit halb forschendem, halb scheuem Kinderlächeln auf der Schwelle des Zimmers. Hinter ihr wogte das Sonnenlicht und umgab sie mit einer Gloriole, indem sich die Strahlen seitlich zehnfach brachen in der Farbenpracht ihres Gewandes. Wie neugierig gescharte Hühner hatten sich die Meinigen und Therese zusammengedrückt und starrten entgeistert auf diese Erscheinung, die es wie mit magischer Gewalt mitten aus dem dräuenden Dunkel in das Lichtmeer zurückzuziehen schien. Den schlanken, kleinen Fuß vorgesetzt, blieb auch Djayi reglos, und ihre weitgeöffneten Augen, noch geblendet von all dem Glast da draußen, blickten blind in die Dämmerung hinein.

Ein: ›Jeß' Marie Joseph!‹ entrang sich als erster Laut den bleich gewordenen Lippen Tante Luisens, indem sie auf den nächsten Sessel sank. Karoline drehte sich dann heftig um, mit verbissenem Mund und einer fremden Röte im Gesicht.

»Halbnackt! Eine Schande ist's und ein Spott,« murmelte sie vor sich hin, obwohl nur Djayis schöne Arme und ein Stück vom Halse frei waren. Vater blickte mit zusammengezogenen Brauen, in einem Staunen, das vorerst alle andern Gefühle überwucherte, immerzu das Mädchen an. So wanderten meine Augen von einem zum andern, um zuletzt am Antlitz Theresens hängen zu bleiben.

Sie stand gerade in dem hellen Lichtstreif, der von dem einen Seitenfenster her einbrach. Erst jetzt sah ich ihr Gesicht so ganz genau. Nun schien es mir anders geworden, als ich es in meiner Erinnerung bewahrt hatte. Schmaler und länger, um die Augenwinkel haarfeine Fältchen, ebenso um den Mund, der dünnere Lippen bekommen zu haben schien. Etwas wie müde Schlaffheit lag um das Oval und unter dem Kinn! Mein Gott, sie war ja gar nicht mehr schön, nicht mehr blühend wie einst! Oder war sie's nie gewesen? Aber ja, ja, – damals! Aber dieses aufsteigende Gefühl einer Enttäuschung wurde sofort in mir verdrängt durch heißes Mitleid. So sehr also hat sie gelitten um mich, sich nach mir gebangt und gesehnt. Arme Geliebte! Aber nun bin ich da, dir zur Seite, nun will ich dich lieben und hegen und pflegen, bis du wieder blühst wie einst!

Allein aufs neue erschrak ich. An das Dunkel nun gewöhnt, sah Djayi, die sonst regungslos blieb, lebhaften Blickes von einem zum andern, wie suchend nach Bestimmtem, was sie vermißte. Da traf ihr herrliches Auge meine Braut. Sie zuckte jäh zusammen, ihre Finger krallten sich in ihr Gewand. Zuerst hatte ihre Miene Enttäuschung, dann Furcht ausgedrückt. Nun aber sah sie aus, wie ein schlankes Tier der Wüste, das sich schon zusammenduckt zu rettendem Sprunge. Aber all das war es nicht, was mich so erschreckte. Es war der Ausdruck der andern, der blauen Augen, deren breite, weiße Lider ich immer so gern geküßt hatte. Wie Glas so hart sahen sie aus. Eiskalt, dem Stahle gleich, bohrten sie sich forschend in das dunkle Augenpaar, das ihnen entgegenglühte. Ein böser Zug trat in das bleich gewordene Antlitz, das mir so lieblich erschienen. Zorn, Neid, Eifersucht, ja Haß glommen darin auf. Ein ganzes Nest schlimmer Eigenschaften!

Dann sagte Vater laut, so, als käme er erst langsam zu sich:

»Das ist ja gar keine Schwarze, das ist, – sie ist ja, warum hast du sie denn nicht ganz einfach wieder verkauft? Du hättest sicherlich viel Geld durch das Geschöpf verdient!«

»Ja, warum hast du das eigentlich nicht getan, Gottlieb? Was soll das Mädchen hier?« meinte rasch auch Therese.

»Was es soll? Habe ich dir nicht in großen Zügen geschrieben, wie es so gekommen ist?«

Ein Lächeln, halb spöttisch, halb mitleidig, zog Theresens Mundwinkel abwärts. Allein sie mochte meine Mißstimmung wohl gemerkt haben. Sie trat zu mir und drückte sich schmeichelnd an mich.

»Du! – du bist ja so himmlisch gut, Gottlieb, – warst es immer und bist so geblieben. Ich glaube, dir könnte ich alles« –

Ein heftiges Klirren all der Reifen an den Armen Djayis ließ mich aus der Wolke von Zärtlichkeit, in die mich Therese sofort wieder einzuhüllen verstand, auftauchen und sehen. Das Arabermädchen stand nun gesenkten Hauptes, aber seine Glieder bebten. Ich trat zu Karoline. Es schien mir am geratensten, mich so gut wie möglich mit ihr zu stellen, da sie nun doch einmal das Regiment im Hause führte. Vater hatte längst das Zimmer verlassen und Tante Luise ebenfalls, indem sie ein Kreuz geschlagen und ihre dürren Finger tief in das Weihbrunnbecken neben der Tür versenkt hatte. Wie klein, wie eng erschien mir alles, und ein Gefühl der Leere ergriff mich, wie ich es noch nie empfunden, selbst nicht in der fernsten, unwirtlichsten Fremde.

»Nun, Schwester, hast du mir meine alte Stube bereitet? Mich verlangt sehr danach, den Reisestaub abzuschütteln; und dann« – ich hatte Djayi bei der Hand gefaßt und ihr zugeführt – »wo und wie hast du für unsern fremden Gast aus dem fernen Sonnenlande gesorgt? Hast du ihr das ›heiße Stübchen‹, wie wir es immer genannt, oben im Giebel, zurecht gemacht, so wie ich dich brieflich gebeten habe?«

Als schaudere es Karoline, so wich sie zurück.

»Mein Gott, Gottlieb! Wie du auch bist! Wenn ich doch eine Schwarze erwarte! Nicht viel mehr wie ein Tier, ein wildes noch dazu, – ich dachte, du wärest etwas – etwas überspannt geworden. Das soll vorkommen in jenem Klima. Außerdem liegt oben die Wäsche, da hab ich doch natürlich nicht, indessen unten in dem leeren Kutscherstübchen neben dem früheren Pferdestalle, dachte ich, daß –«

Ich mußte nun doch lachen. Da hatte mein Unterlassen der näheren Beschreibung des Mädchens und seiner Qualität ja allerlei angerichtet.

»Jetzt aber, Schwester, jetzt siehst du, daß es anders ist, nicht wahr? Ein vornehmes, schönes Geschöpf edelster Rasse, und –«

»Ein Zigeunerweib, oder so etwas! Aus einer Maskengarderobe die Kleider, so weit sie überhaupt etwas anhat!« fauchte Karoline aus der Fensterecke hervor, durch mein Lob zur offenen Wut aufgestachelt. »Am besten schickst du sie nach Düsseldorf, wo das unnütze Malerzeug herumlungert, oder du kannst sie auch an einen Budenbesitzer, der die Messe bereist, verkaufen.«

Ich fühlte heißen Zorn in mir aufsteigen. So töricht, auch so grenzenlos engherzig, wollte mich das Gebaren dünken. Ich wandte mich einfach ab, nickte Therese freundlich zu, nahm Djayi bei der Hand und führte sie ruhig hinauf in meine Stube. Dort packte ich mit ihr aus, was wir zunächst bei uns hatten und bereitete ihr den Raum möglichst so, wie es ihren Gewohnheiten entsprechen konnte.

»Hier, Herr, soll ich wohnen?« flüsterte das Mädchen. »Aber das ist ja dein Gelaß, Herr!« Daraus freudig: »O, Djayi wird dann um dich sein und für dich sorgen können, und des Nachts schläft sie wieder vor deiner Schwelle!«

Sachte pochte es gleich darauf an die Tür, in deren Rahmen Therese erschien, den Sonnenschirm in der Hand, auf dem blonden Haare einen weißen Hut, auf dem Malven wippten.

»Ich muß nun gehen, Gottlieb. Ich dachte eigentlich, du würdest mich gleich zur Mutter begleiten. Abends kommt Vater hierher, und dann soll es im ›Schwanen‹ ein schönes Verlobungsfest geben.«

Wie schnell das vor sich ging! Ich blickte zögernd auf die umhergestreuten Dinge und auf Djayi. Aber diese beugte sich vor mir und meinte:

»O, Herr, ich werde alles bereiten. Djayi weiß und kennt so viel nun, gewiß, es soll gut werden, alles, Herr!«

Therese, die natürlich keine Ahnung hatte, was das Mädchen gesagt hatte, meinte rasch und scharf:

»Das braune Ding da kann ja auspacken. Puh! – die gelbe Haut und das wirre Haar, das sie hat! Und ob sie nicht recht schmutzig ist? Lasse nur sie die Arbeit machen; für was ist sie deine Sklavin!«

»Sie wird das tun, ohne meine Sklavin zu sein, Therese. Djayi ist frei, – frei wie du und ich!«

Mit einem raschen Blick streifte mich meine Braut von der Seite. Dann schmiegte sie sich in meine Arme.

»Frei, Gottlieb? Frei, wie du und ich? Ach nein, – ich bin nicht frei! Ich bin wirklich deine Sklavin, – ganz und gar in deinen Fesseln!«

Und wieder war mir, als hülle mich eine warme Welle wohlig ein, daß ich alles andere drüber vergaß. Eng verschlungen verließen wir das Zimmer. An der Treppe wandte ich mich der offen gebliebenen Tür zu. Da stand Djayi vor den aufgeschlossenen Koffern und einem Wust halb ausgepackter Dinge und blickte uns nach. Ihre Augen hatten wieder jenen Ausdruck aus Schmerz und Furcht gepaart. Rasch zog mich Therese fort. –

Tagelang währte darauf eine Art von Rausch, in den ich wider Willen versetzt wurde. Ich konnte nicht zu einer ruhigen Stunde kommen, über all den Festen, Besuchen, Schmausereien und Ausflügen, bei denen dann wieder auswärtige Verwandte der Meinhardts aufgesucht wurden. Versteht man es doch in keinem Erdenwinkel so gut und so fröhlich Feste zu feiern wie am Rhein, und nirgends findet man gleiche Ausdauer, sich auf der Höhe solcher Stimmung zu halten. Meinen dringenden Wunsch, Binchen und auch Ursula in Düsseldorf zu besuchen und ihnen selbst meine Verlobung mitzuteilen, innerlich quälte mich dabei schwere Sorge, wie sie die Nachricht aufnehmen würden, – wußte Therese und die ganze Verwandtschaft immer aufs neue in den Hintergrund zu drängen. »Du kannst doch nicht schon die ersten Tage deine Braut verlassen!« hieß es; oder es stand schon wieder soviel Neues auf diesem Vergnügungsprogramm, daß es kein Entweichen gab. Was nützte es, wenn mir all das Feiern und Gefeiertwerden, diese Gratulationen und ewigen Gastereien unendlich zuwider waren?

Von Djayi sah ich in jenen Tagen kaum etwas. Ohne noch weiter sich zu weigern, oder sich darüber zu äußern, war das ›heiße Stübchen‹ von Karoline nun dennoch am gleichen Tage für sie notdürftig zurechtgemacht worden. Zeter und Mordio mögen sie geschrieen haben, wie dann, als das Gepäck erst angekommen war, der kleine Raum immer mehr den Charakter eines Konus angenommen hatte, wie ihn das Araberkind als Wohnung gewöhnt war. Ich hatte sozusagen keine Minute mehr übrig zum Nachdenken, wieso und warum nun Djayi unangefochten im Hause geduldet wurde, wenn sich auch gewiß kein einziger Arm mitleidig ausbreitete, den armen Fremdling zu umfangen. Kam ich nach einem jener Feste mit schwerem Kopfe, von Liebe und Wein erregt, nach Hause, hörte ich wohl einmal auf der Treppe ein leises Huschen und Rascheln. Nur eines Abends, da wir ausnahmsweise nach einem Tagesausfluge zu Hause geblieben waren und leidlich früh zur Ruhe gehen wollten, traf ich Djayi, als ich meine Stube verlassen hatte, um nach einem, auf der Treppe klappernden Fensterflügel zu sehen, vor meiner Tür. Tief erschrocken fuhr sie aus dem Schlafe auf, und als ich ihr in strengem Tone dergleichen verbot, wich sie wie eine arme, ertappte Sünderin, ihren Teppich auf dem Arme, die Stiege hinauf. So vorsichtig leise ich auch gewesen war, so sah ich dennoch Tante Luisens mit der Nachtmütze geschmückten Mumienkopf zwischen einer Türspalte eilig verschwinden, und aus Karolinens Zimmer schimmerte gleichfalls Licht. Bei den seltenen Mahlzeiten, die wir nur unter uns zu Hause einnahmen, aß Djayi fast nichts, bis ich anordnete, daß viel grünes Gemüse besonders zubereitet, süße Speisen und reichlich Obst auf den Tisch kommen sollten. Die Frauen wollten auffahren, aber Vater zwinkerte ihnen mit den Augen zu. Was sollte das alles heißen? Ich wurde lange nicht klug daraus, bis ich eines Morgens, ohne es zu wollen, ein Gespräch zwischen Karoline und Tante Luise belauschte.

»Wie lange müssen wir noch die wilde, heidnische Dirne im Hause behalten?« meinte erstere tief seufzend und rollte die Augen gen Himmel.

Karoline stäubte mit Sorgfalt ein Hausaltärchen mit einem wächsernen Jesuskind ab.

»Weiß der liebe Herrgott, es ist eine wahre Prüfung. Aber Vater meint, nun gerade dürfe man Gottlieb nicht reizen. Er ist ja auch wirklich in den gräßlichen Ländern selbst recht verwildert, roh und auffahrend geworden. Hast du bemerkt, wie gleichgültig er bei unsern Tischgebeten und bei den Abendandachten bleibt? Seine arme Frau wird dann Arbeit genug haben, aus dem Born ihrer Frömmigkeit ein paar Tropfen in sein verhärtetes Gemüt fließen lassen zu können. Therese äußerte übrigens zu Vater, sie bäte inständigst, daß wir die Person duldeten bis zur nahen Hochzeit; dann wolle sie wohl ihren Mann dahin bringen, eine passende Dienerin aus ihr zu machen. Es müsse eine solch exotische dem reichen Hause gut anstehen, und« – Karoline flüsterte nun, daß ich sie nur mehr mit Mühe verstehen konnte – »vor allem aber, hofft das brave Kind, des Heidenmädchens Seele unserer Kirche zu gewinnen!«

Diese Aussicht schien Tante Luise zu entzücken.

»Wenn das wäre, Karoline!«

Mir wurde es recht unheimlich zumute. Allein vorerst sollten sie es wohl schwer haben mit dieser Seele; konnte doch keines ein Wort mit Djayi reden, wenn ich nicht den Dolmetsch machte. Das aber geschah selten genug. Nicht viel besser als ein geduldeter Köter wurde sie ja im Hause behandelt. Kein Mensch kümmerte sich darum, wie das fremde Kind seine Tage wohl verbrachte, leider auch ich selbst nicht genügend. An die Lust kam es gar nicht, es sei denn, daß es am frühesten Morgen im Gärtchen spazieren gehen konnte. Nun, da ich dies Gespräch belauscht hatte, fiel mir erst auf, daß tatsächlich Therese, aber auf sehr herrische Art, bereits versuchte, Djayi zum Dienen abzurichten, so wie man vielleicht einen Affen zu dressieren vermeint.

Als langsam die Festesflut verebbte, konnte ich meinen heißen Wunsch, zu Sabine zu reisen, nicht mehr unterdrücken. Die Hochzeit war schon auf den ersten August anberaumt worden. Wenngleich die Sehnsucht in mir genug brannte, Therese, die sich in Liebe und Liebesbeweisen zu mir nicht genug tun konnte, ganz zu besitzen, kam mir das doch sehr überstürzt vor. Wäre die Vermählung erst vorüber und Djayi in unserm Hamburger Heim gleichfalls untergebracht, so meinte ich wohl Theresens gutes Herz bezwingen zu können, daß es sich der armen Fremden neige und sie sich auf rechte Art mit ihrer Erziehung abgebe.

Bevor ich in den Postwagen stieg, zu dem mich meine Braut noch begleitete, die mich in ihrem himmelblauen Gewand mehr entzückte denn je, preßte sie meinen Arm fest an ihr Herz.

»Gottlieb, mir ist wahrhaftig bange, da du zu deiner Schwester reisest. Siehst du, wir sind früh auseinandergekommen – so von innen heraus – und ich glaube, wohl hauptsächlich durch Ursula, weil diese stets eifersüchtig auf mich war. So lieben mich beide nicht; von dem mir fremden Arvid Roosemann gar nicht zu sprechen! Sie werden nicht freundlich über mich reden. Besonders Ursula, diese haßt mich geradezu. Schon deshalb, weil ich fest in meinem Glauben bin und sie selbst lax und leichtsinnig darin ist. Was sonst hätte mich aber wohl aufrecht halten sollen in all der Zeit der Not, da du in fremden Landen und mir fern gewesen warst?«

Sanft und lieb klang die weiche Stimme; in ihrem schüchternen Liebreiz war Therese hinreißend. Ich küßte ihr die Hand und das Stückchen blütenweißen Armes, das voll und weich zwischen den Spitzen und dem Halbhandschuh hervorkam.

»Fürchte nichts, mein Lieb! Es sollen Geschwisterliebe und Jugendfreundschaft Welten für sich bleiben. Ich heirate dich ja! Außerdem liegt Hamburg weit ab. Auch glaube mir, wissen sie erst, daß und wie ich dich liebe, so wird kein schlimmes Wort über ihre Lippen kommen. Niemals ist ihre Art so gewesen!«

»Ja, mein Gottlieb; Treue und nochmals Treue, wie all die Jahre! Nur mehr eine kurze Frist, und wir werden selig sein!«

»Ja, ja, selig, selig, murmelte ich und küßte hinter einem der dastehenden Wagen den goldenen Scheitel. Da fiel mir Djayi ein, und daß ich sie auf länger verlassen müßte. Ich hatte ihr ganz verheimlicht, daß es sich nicht, wie so oft, nur um einen Tagesausflug handelte.

»Und dann, meine liebe Therese, nimm dich, bitte, doch des fremden Mädchens etwas an. Komm recht oft in unser Haus und sorge, daß man Djayi passende Nahrung gebe. Vielleicht gelingt es dir, ein wenig gut mit ihr zu sein und dich ihr irgendwie verständlich zu machen. Das Kind ist hier seltsam scheu, verschlossen und unzugänglich geworden. Klima und Verhältnisse, alles so fremd und ihm ungewohnt, mögen es wohl furchtbar bedrücken.

»Ja, ja, mein Gottlieb, ich will alles, alles tun!«

Es war angespannt, der Postillion saß schon auf seinem Bock, mein Köfferchen war hoch oben festgeschnallt. Vorderhand, als der einzige Passagier, hatte ich in dem kleinen Coupé, das wie ein Vogelbauer in die freie Luft ragte, Platz genommen.

»Lebewohl, lebe wohl. Auf frohes Wiedersehen!«

Ich winkte und winkte, lustig blies der junge Postillon mit roten, vollen Backen in sein Horn. Über die runden Pflastersteine rasselten und humpelten wir fröhlich dahin. Dann aber ging's flott zum Tore und auf die Straße hinaus, zwischen Feldern voll wogender Saat und grünen, blumigen Wiesen. Mir war froh und leicht zumute, und ich plauderte von meinem Sitze aus mit dem Burschen, der erst kurze Zeit diese Strecke fuhr und noch fremd in unserm Örtchen war. Augen und Ohren riß er weit auf, als ich erzählte, aus welch fernen Landen ich in die Heimat zurückgekommen sei. So wurde es Mittag, und wir kehrten ein zur Rast. Daraus aber war ich durch den etwas schweren Wein und das treffliche Mahl recht müde geworden. Ich hatte ganz und gar verschlafen, daß unterwegs neue Passagiere eingestiegen waren. Ihr lautes Sprechen in der lebhaften Art und mit den hellen Stimmen übertönte das Pferdegerassel, zumal alle Fenster weit geöffnet waren. Noch halb im Traume, der natürlich Therese gegolten hatte, hörte ich deren Namen zu mir heraufklingen. Sofort war ich vollkommen wach, und erregt und interessiert horchte ich auf. Im Innern des Postwagens wurden die Leutchen immer lebhafter, und der etwas schrille Sopran einer Frau mischte sich mit den tiefen Stimmen zweier Männer.

»Ja, ja, so muß man es machen und treiben. Und so schlau, wie sie ist. Nur heiraten und nur nichts sehen und hören lassen vor der Hochzeit. Meine Verwandten, die Jenkes, die haben das Verlobungsfest im Schwanen auch mitgemacht. Die gute Frau hat mir dann erzählt, erst sei ihr freilich das Lachen, dann aber beinahe das Weinen bei der Komödie gekommen, die von der Kecken gespielt worden sei. So schön und stolz hätte Gottlieb Peerls ausgesehen; ach Gottchen nee, den hab ich ja doch noch selbst als ganz klein Jüngelchen gekannt. So vertrauend sei er, und verliebt zum Sterben, so daß er blind und taub wäre!«

»Jee, ja! Schön war's freilich nicht, wie's das Ding getrieben hat. Und immerzu den Leuten Sand in die Augen streuen mit Beten und Kirchenlaufen. Nee, mich 'nen Funken wahre Frömmigkeit hat die ja in sich!« meinte einer der Männer.

Und dann ein anderer:

»Ja, da haben Sie wohl recht. Haben Sie etwa auch mal den Baron gesprochen? Den da vom Mühlenschloß in der Beug, ja? Der hat mir's selber eingestanden, daß er vor einem Jahr nahe daran gewesen wäre, in seiner verbohrten Verliebtheit um die Therese Meinhardt zu freien. Die ist ihm nachgestiegen an allen Ecken und Enden. Er aber hat noch zur rechten Zeit von mehreren Offizieren gehört, wie's mit dem Mädchen in Wahrheit bestellt ist.«

»Nee, nee, gut ist die nit, alles, was recht ist. Aber dem armen Jung, der die da freit, dem steckt natürlich keiner 'n Licht auf!«

Die Frau, die wieder gesprochen hatte, verstummte nun, die andern sagten auch nichts mehr. Sie mögen vielleicht bloß noch die Achseln gezuckt haben. Ich weiß es nicht. Wie gelähmt saß ich auf meinem Ledersitz, und die liebliche Landschaft tanzte einen närrischen Reigen vor mir, daß die Bäume durcheinanderpurzelten und bald schwarze, bald feurige Flecken vor meinen Augen mit Sträuchern und Wiesen ein tolles Spiel trieben. Vor meinen Ohren sauste und brauste es. Namenloser Zorn stieg in mir auf und ich hatte alle Luft, von meinem Platze herunterzuspringen und den frechen Läster- und Lügenmäulern meine Faust aufzulegen. Lügen! nur solche konnten und mußten es ja sein! Verleumdung, die sich leise und hinterrücks heranschleicht an das Reine und die Unschuld, und sei sie die weißeste und unberührteste. Aber ich blieb dennoch ruhig sitzen und zwang mich fieberhaft, von neuem zu lauschen. Aus meinem Herzen aber schien ein Schlängelchen zu kriechen, höher, immer höher, bis es mein Ohr erreichte und dort flüsterte: ›Wehre dich nur, so viel du willst; die da drinnen haben recht und sprechen wahr. Bist du denn völlig blind und taub? Bist du noch bei gesunden Sinnen? Erinnere dich doch dessen – und dessen an jenes und anderes!‹ Ich wand mich wie in Schmerzen, und brennend wollte es mir in die Augen steigen. Davor aber breitete es sich wie ein Schatten. So angestrengt ich dann auch noch lauschte, ich hörte nichts mehr. Kurz vor dem Ziele entstieg eine alte, gutmütig aussehende Frau der Postkutsche, und mir war, als müßte ich sie zurückhalten und ausfragen ohne Ende. An der Herberge selbst verabschiedeten sich darauf die beiden Bürger. Ich kannte sie alle zwei etwas vom Sehen. Während der letzten Stunde der Fahrt den schönen Rheinstrom entlang, umhegt von all dem Abendfrieden, war ich wieder ruhiger geworden. Sicherlich waren Irrtümer auf Irrtümer gehäuft; Phantasie und Klatschsucht der Menschen und Neid dabei, kurz, was schwätzt nicht die Welt mit tausend Mäulern! – –

Das schöne Haus Arvid Roosemanns war bald gefunden. Es stand in einem Garten, und vier muntere Kinder, zwei dunkle und zwei blonde – das kleinste stand noch kaum auf seinen Beinchen – spielten darin. Ich hatte mir die Überraschung vorbehalten, und so empfing mich niemand. An den Zaun gelehnt, stand ich und blickte hinüber und heute noch kann ich es nicht fassen, wie damals das kaum Vernommene, das mich doch erst so gepackt hatte, in diesem Augenblick so ganz vergessen sein konnte. Ein Ball flog mir zu Füßen! Und wie's dann so gekommen war? Plötzlich stand ich mitten unter den Kindern und spielte mit ihnen. So zutraulich waren sie, als ahnten sie, daß ich ihnen kein Fremder sei. Das kleinste Blondchen war müde geworden und ließ sich auf meine Arme nehmen. Fest Preßte es seine runden Wängelchen an meinen Bart, und mit den Händen fuhr es mir ins Gesicht und in die Haare. Herzlich mußte ich auch lachen über das Gemisch aus Hamburger Deutsch, das vom Vater kam, und dem unverfälschten Düsseldorfer Dialekt, den die Größeren anwandten. Wo war alles, was mich bedrückt hatte, in diesen Augenblicken? Den Atem meiner geliebten Schwester fühlte ich wehen über den Köpfchen dieser blühenden Kinder, mit dem der Rosen vermischt, die im Garten blühten. Da sah ich schon Binchen den Kiesweg entlang kommen, und es war gut, daß ich etwas Zeit hatte, mich zu sammeln, denn das Blut stieg mir heiß zu Kopfe. Nur etwas runder war sie geworden, aber frisch und mädchenhaft dabei geblieben. So blank die dunkeln Augen und weißen Zähne, hell die liebe Stimme, wie einst.

»Kinder, kommt, – das Abendbr…«

Da blieb ihr das Wort in der Kehle, – ihr Fuß gelähmt. Sie beugte den Kopf vor. Dann fuhr es wie ein Blitz in sie. Mit dem Aufschrei:

»Das ist ja Gottlieb, – Gottlieb, mein Bruder,« fiel sie mir lachend und weinend um den Hals, so daß ich nun sie und ihr Jüngstes zugleich im Arme hielt …

Ein solches Jubeln und Jauchzen zog den Abend über durch den Garten, daß Vorübergehende stehen blieben und neugierig nach dem Grunde all dieser Fröhlichkeit auslugten. Spät erst kam Arvid aus seiner Fabrik nach Hause, die am andern Ende der Stadt lag. Ich konnte gleich sehen, wie gesund und glücklich er war. Wir feierten ein nicht weniger herzliches Wiedersehen, als das mit der Schwester gewesen war. Viel erzählte er mir noch von der armen Elisabeth, ohne jedoch den peinlichen Punkt ihrer letzten und ungestillt gebliebenen Sehnsucht zu berühren, von dem er vielleicht niemals erfahren hatte.

»Und gegen zehn Uhr wird Ursula heimkommen, denn du mußt wissen, daß ich sie mir wieder auf ein paar Monate ins Haus geholt habe. Das gibt eine Freude! Wir drei wieder zusammen, und Arvid als vierter, an Stelle Onkel Hersebrooks getreten. Sie ist heute den ganzen Tag bei einer fremden, englischen Dame, die, selbst leidend, auf der Reise nach Frankreich ist, um ihren erkrankten Mann aufzusuchen. Durch einen ihr befreundeten Arzt hat Ursula das erfahren, und nun, da sie ja fremde Sprachen beherrscht, kann sie der armen Frau sehr nützlich sein. Weißt du, Gottlieb, es ist gerade, als hätte dies Mädchen zehn Arme, Bedürftige des Leibes und der Seele zu umfangen und zu stützen. Sie lebt ganz allein; denn jene alte Frau, bei der ihre Erziehung vollendet wurde, ist nun auch gestorben.«

So erzählte die lebhafte Schwester.

»Daß sie nie Lust gehabt hat, sich zu verheiraten?«

Ein rascher Blick Binchens streifte mich forschend, und ein leises Lächeln glitt um ihren Mund.

»Nun ja, wie es eben oft geht; sie ist nicht wie andere, und wie mit Widerhaken hängen sich bei ihr bestimmte Gefühle ein.«

Ein Kind weinte, und die Schwester lief hinaus. Ich saß indessen bei Arvid, der erzählte und mich ausfragte, und ich wälzte innerlich unaufhörlich die Frage hin und her, ob ich überhaupt noch heute abend von meiner Verlobung sprechen sollte. Fühlte ich doch deutlich, daß alsdann die harmonische Stimmung zerstört sein würde. Sehr traurig und schmerzvoll stimmte mich der Gedanke, daß meine Heirat eine Kluft aufreißen sollte zwischen mir und den drei liebsten Menschen, die ich außer meiner Braut auf der Welt hatte. Dann aber tröstete ich mich wieder damit, daß sie Therese eben nicht so kannten wie ich und deshalb ihr innerstes Wesen nicht verstehen konnten. Während betäubender Jasmin- und Rosenduft auf die Veranda drang und eine solche Stille herrschte, daß man nur noch das verträumte Zirpen kleiner Vögelchen aus den Büschen hörte, reckte sich das Schlängelchen wieder hoch an mein Ohr: Was haben die fremden Leute gesagt? Was bedeutet es, daß deine Lieben sich schon vor Jahren abgewandt haben von ihr und nur die andern ihr noch blieben? Wie und woher willst du das Mädchen denn kennen? Ihr Äußeres sahst du, ihr wahres Inneres zu ergründen hattest du niemals Zeit und Gelegenheit. Wohl aber hatten dies deine Schwester und Ursula. Hörst du mich, – hörst du mich? Ein Tor bist du, – ein blinder Tor!

»Gottlieb, kehre endlich zurück,« lachte Arvid. »Du weilst wohl wieder in deinen fernen Ländern, von denen du uns noch so viel erzählen mußt.«

Ich fuhr auf. Mechanisch sprach und sprach ich dann. Das Gartenpförtchen klirrte, ein leichter Tritt auf dem Kies wurde laut, dann klang die Hausglocke. Schritte auf dem Gang und auf der gebohnten Treppe. Ich wußte, Ursula war gekommen. Das Dienstmädchen stellte zur Krönung der vorhergegangenen Abendmahlzeit eine herrliche Bowle auf den Tisch. Arvid schnüffelte unter den Deckel und meinte:

»Aha, da hat sich wieder Binchen verherrlicht. Aber den letzten Segen hat gewiß Ursel noch schleunigst dazu gespendet, du sollst mal sehen. Aber Donnerwetter und Kartätschen! wo bleiben denn die beiden so lange?!«

Völlig dunkel war's geworden. Der Mond stieg als runde Scheibe gelassen hinter den Ulmen auf, und aus den taufeuchten Wiesen erhoben sich schon einzelne Johanniswürmchen in geheimnisvoll-reizendem Reigen. Breit lag das bleiche Licht des nächtlichen Gestirns auf der Terrasse, und plötzlich stand, ohne daß man ihr Kommen auf den Kokosmatten der Eßstube gehört hatte, Ursula auf der Schwelle. Ich starrte sie erst an wie eine Fremde, als die sie mir anfangs erschien. Dem schmächtigen Backfisch, den ich damals verlassen und dessen Bild ich bewahrt, hatte, glich sie in keiner Weise mehr. Und dennoch, mit ihr. stieg die Jugendzeit wieder vor mir auf, hell und sonnig, und dieses Mädchen schien mir ein lebendiger Gruß von ihr. Fest schloß ich sie in meine Arme und küßte sie auf den Mund. Sie ließ, es ruhig geschehen, küßte mich wieder, und durch eine rasche Bewegung etwas lose geworden, umgab das goldig überhauchte, rotbraune Kraushaar wie ein Glorienschein ihr Haupt. Ich zerrte an ihrem Gelock.

»Hurra – Hurra! Nun – so zerzaust – bist du doch wieder die alte, so ganz die wilde Ursel von damals – Hurra!«

»Jung, kecker!«

Und sie schlug mit einer langstieligen Glockenblume nach mir und lachte so hell und froh dazu, wie einst, wieder wie früher – wieder wie einst –, und doch so anders, so ganz, ganz anders war alles geworden! –

Mitternacht war vorüber; ich hatte die Geschichte Djayis weitläufig und eingehend erzählt, meine Braut aber noch immer – eigentlich in wachsender Feigheit – verleugnet. Die andern aber hatten den. Namen Theresens mit keiner Silbe erwähnt. Djayis Schicksal hatte einen wahren Sturm erregt.

»Hättest du sie doch mitgebracht? Warum hast du das nicht getan – o, du mußt sie holen!« rief Binchen.

»So'n armes, elendes Wurm,« meinte der behagliche Arvid.

»Wie du sie beschreibst, Gottlieb, muß sie ja ein herrliches Geschöpf sein. Welch schöne Aufgabe erwüchse daraus, in ihm die Seele zum völligen Erwachen zu bringen und Djayi das Licht zu geben, dessen sie bedarf. Aber auch, wie schwer, ihren Körper dem rauhen Klima allmählich anzupassen; ob man dazu fähig ist? O, es kann wirklich nicht Herzen genug geben, sie warm zu betten!«

Da schnitt es mir wie mit scharfen Klingen ins Herz. So sprach Ursula! Diese, und nicht Therese, wie ich es immer gehofft und bestimmt erwartet hatte. Nein, deren Herz würde nie Wärme spenden für das verlassene Kind der Fremde! Niemals!

»Seid ihr nicht müde? Es ist schon so spät, laßt uns zu Bette gehen.«

Meine Stimme klang rauh. Schwester und Schwager bemerkten es nicht, aber Ursula hob den Kopf wie ein lauschendes Reh. Dann Binchen:

»Du lieber Himmel – dein Gepäck –, ja, Bruder, wo ist es denn?«

»Gepäck? Dort der kleine Koffer; dieser genügt für …«

»Für …? Ja, du bleibst doch nun länger, du mußt lange, lange bei uns bleiben, Bruder!«

Mir wurde heiß und kalt.

»Laß uns morgen davon reden, Binchen, morgen, am hellen Tag.«

Ursula war hinter Arvid, der in meine Stube vorausgegangen war, in den tiefsten Schatten getreten. Binchen aber, deren Hand plötzlich kalt geworden, schmiegte sich an mich.

»Gottlieb, alt Bruderherz, was ist?«

»Kein Unglück, mein liebes Binchen; laß uns jetzt schlafen gehen; morgen ist auch noch ein Tag!« – –

Ein Tag kam freilich, aber ein trüber. Grau und naß stieg er hinter dem Wäldchen empor, und schwer von Tränen ließen die Rosen ihre Köpfe hängen. Leise ließen sie Blatt auf Blatt auf die feuchte Erde fallen, wie in trauernder Ergebung.

Die Kinder aber spielten drüben im Zimmer so fröhlich wie gestern im Garten und freuten sich der Abwechslung. Arvid war nach seiner Fabrik gegangen, und Ursula hatte man zu der englischen Dame geholt, die, kränker geworden, dringend nach ihr verlangt hatte.

Meine Beichte von der Verlobung mit Therese Meinhardt war kaum zu Ende, da stieß Binchen den Schrei aus:

»Jesus – bewahre dich der Himmel!«

Dann saß sie blaß und still, wie auf den Mund geschlagen, auf einem Schemelchen, dessen Stickerei unsere gute Mutter noch gefertigt hatte. Das Gestell nur war neu, denn der Holzwurm hatte das alte, morsche gefressen. Mühsam erhob sie sich dann, konnte kaum ein Aufschluchzen unterdrücken und wollte das Zimmer verlassen. Auf der Schwelle erreichte ich sie und hielt sie zurück.

»Schwester, nicht so! Zur Stunde noch mußt du mir sagen, was du – was ihr alle gegen Therese habt!«

»O, nicht jetzt, Gottlieb! Später, später! Erst muß ich mich fassen und auch mit meinem Manne und Ursula sprechen. Laß mich jetzt bloß gehen, laß mich!« –

Keine zwei Tage hielt ich es mehr aus, nachdem ich alles vernommen, was mir ohne Härte und Böswilligkeit, so klar, offen und alle Zweifel ausschließend, dargelegt worden war. Ein herrlicher Altar, vor dem ich Jahre meines Lebens anbetend gelegen hatte, war vor mir in Trümmer gestürzt. Das wußte ich, auch ohne daß ich noch weitere Erkundigungen eingezogen, wie Arvid es mir empfohlen hatte. Er fügte noch hinzu: »Viele Wochen hat das Mädchen hier in Düsseldorf verbracht. Es wird dir unendlich leicht fallen, Beweise zu schaffen, denn du kannst nicht klar genug sehen. Alle Irrtümer und jegliche Ungerechtigkeit müssen ausgeschlossen sein; niemand kennt dich, man wird dir überall unverhohlen reinen Wein einschenken!«

Später sagten mir meine Lieben, ich hätte um zehn Jahre älter ausgesehen, als ich von meinem Streifzuge in der Stadt zurückgekommen war. Alles vorher Vernommene hatte sich reichlich bestätigt. Während das schlaue, geriebene und heuchlerische Mädchen mich nur warm gehalten hatte, für den Fall, daß kein anderer inzwischen käme, der reicher sei und besser tauge, hatte sie lange ganz heimlich ein leichtsinniges, tolles Leben geführt. Ihre gewissenlose Mutter, die wohl nach gleichem Rezept ihre Jugend genossen, hatte sie dabei unterstützt. All diese Reisen und auswärtigen Aufenthalte waren nur Mittel zum Zweck gewesen. Voll religiöser Heuchelei, die sie als Deckmantel benutzten, wurden sie immer unverfrorener in ihrem Treiben, so daß jeder etwaige Freier sich zuletzt wieder zurückzog. So hatte mir, dem in fernen Ländern Weilenden, die Braut ›in Treue‹ gehört. Aus diese Weise hatte sie abgewartet, ob sie an mir einen reichen Gimpel zu fangen bekomme und es sich lohne.

In mir war's öde und kalt geworden. Wie ein völlig Ausgeplünderter und Ausgeraubter kam ich mir vor. Ursula, bleich und stumm, hatte, ohne daß meine Verlobung zwischen uns nur berührt worden wäre, warme Händedrücke und herzliche, vielsagende Blicke für mich. »Sei stark, Gottlieb, und ein Mann, als der du dich immer erwiesen,« sagte Arvid und legte mir die treue, feste Hand, die mein Binchen so sicher durchs Leben führte, auf die Schulter. »Aber, sei auch ein Mann diesen Augen gegenüber, dem Liebreiz, der dich wieder entzücken wird, und halte all dem dich erwartenden Flehen, den Beteurungen und den Tränenflüssen stand!«

»Mein Gott,« weinte die Schwester in heller Angst auf, »du wärest der erste nicht, den eine Zauberin wie diese trotz allem in Fesseln zu halten weiß. Verzeihe mir, Gottlieb, aber mir ist so grenzenlos bange um dich!«

»Doch nur um meine Kraft, Schwester. Ängstige dich nicht darum. Gilt es doch jetzt meine Ehre, und ihr werdet mir doch zutrauen, daß ich die zu wahren verstehe. Mit unverwischbaren Lettern steht vor mir, was Onkel Hersebrook an goldenen Worten in mein Leben getragen: ›Du wirst dann gelernt haben, das Gute vom Gepriesenen zu unterscheiden und das Ersehnte von dem Gewordenen!‹«

Ich zog meine Brieftasche hervor, und darin lag vergilbt jener Zettel, den mir der alte Freund damals mit den Dukaten nach Hamburg mitgegeben hatte. Ich las laut:

»Der Wagen der Welt fährt auf goldenen Rädern; wenn von ihm Menschen zerdrückt werden, so meinen sie, es sei ein Unglück. Gott aber schaut, in seinen mächtigen Mantel gehüllt, gelassen darauf herab. Er hebt den Leib nicht hinweg, denn der Mensch hat ihn ja selbst hingelegt. Der Herrgott aber hatte ihm die Räder gezeigt, von Anfang an, er achtete ihrer bloß nicht.«

Da brach mir die Stimme. Ich starker Mann weinte, und ich schämte mich dieser Tränen nicht.

Ich wollte kein Geleite nach herzlichem Abschied, dem ein baldiges Wiedersehen folgen sollte und dem Arvid durch seine große Zuversicht viel Herbes nahm. Nur begleitet von meinen trüben Gedanken, zog ich weiter und überschritt den Rhein, auf dem trotz der mangelnden Sonne regstes Leben herrschte. In der dunstigen Ferne dämmerten schwach die zarten Linien der Hügel! Vor dem Postgebäude stand ich wartend und sog die seltsame Mischung entgegengesetzter Gerüche ein: den von Wagenschmiere und Leder mit dem warmen, aromatischen der noch blühenden Gräser und Blumen, auf die ein lauer Regen niederzurieseln begann. In der Nähe spazierte ein Herr, der dann auf mich zutrat. Es war ein frischer, rotwangiger Mann, dem man den Rheinländer und den sorglosen Besitzer reichlich zugemessener irdischer Güter gleich ansah. Er bekannte sich als mein Reisegenosse und schwatzte gleich fröhlich mit mir. Als wir eingestiegen waren und schon langsam die Straße hinunterrollten, erzählte er mir ungefragt allerlei. Daß er nach längerer Witwerschaft sich nun wieder verheiraten wolle und sein Gut am Rhein, schön über dem Strome auf Felsen gelegen, zu verkaufen beabsichtige.

»Denn nu wollen mir nich zu Hus bleiben un de Welt ens opnähmen un uns verjnögt manche. Noh Paris will et Marieche nu jehen. Wenn Se vielleicht wat höre sollten, ich jeben dat Landhaus billig. Et jeht mich nit um et Geld. Ich han jut un jlöcklich geläv do, un et soll net verkommen.«

Auf seinen Wunsch notierte ich mir seine Adresse und nahm dankend ein Kärtchen entgegen, das in Aquarell ein reizendes Bildchen des Hauses trug. Als ich es bewunderte, meinte der Rheinländer bescheiden:

»Ach, et is janz jut, wenn et auch nur von mir so hinjekleckst is; ich han früher in Düsseldorf e bißche et Male betriebe.«

Unter dem Bildchen stand: ›Rheinerhaus‹.

Der Regen hatte aufgehört. Über der Stadt ruhte ein Stück wolkenloser Himmel, und aus ihr ragten Giebel und Türme in die hohe Weite. Jasmin und Rosen sandten aus vielen Gärten duftende Grüße in den Abend hinein. Noch schwiegen die Glocken, aber es war, als zitterten schon schwache Klänge durch die immer klarer werdende Luft. Beide sahen wir stumm aus die Stadt zurück. Eine weiße Wolkenschicht trennte sich, und noch einmal kam die Sonne heraus.

»Dat alde Düsseldorf, ja, et is doch auch schön,« murmelte mein Genosse und blickte versonnen auf das glitzernde Band des Rheines, das immer wieder erschien, während wir weiter fuhren.

»Wessen Se, Här, Se müßten eijentlich min Rheinerhaus 'mal sehen. Dat is herrlich! Nu is et mech fast leed, wenn ech bloß dran denk, dat ech et herjeben soll. Aber min Marieche, och ja, dat Rheinerhaus!«

Ich fühlte mich auch körperlich elend und besah zuerst nur gleichgültig und stumm, in meinen Schmerz und meinen Kummer versunken, das kleine Bild. Dann aber mit zunehmendem Interesse und wachsendem Gefallen. Wie ein Gruß von einem Orte des Friedens und des Glückes wehte es mich daraus an. Während langsam die Stadt hinter den Hügeln verschwand, läuteten darin die Glocken. Abend, – Ruhe, – Frieden! Wir nahmen die Hüte ab.

*

 


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