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Als hätten sie nie vorher dieses Stückchen Erde bewundern können, so begeistert umfassen es die Augen des Rechtsanwaltes Doktor Otto Magnus. Ein klarer, rebellisch stürmischer Märztag neigt sich fast seinem Ende. Der heftige Wind hat sich beinahe völlig gelegt, nur in den hohen, kahlen Baumkronen scheint er noch herumzuspielen. In den lichtgrün überhauchten Feldern will sich schon allerlei regen, und aus den schwarzen Äckern quillt Werdeduft und Atem der Erde. Wie in heiliger Erwartung, überwölbt vom festlich blauen Himmel, streckt und reckt sie sich noch wie in zager Angst und halben Wehen.

Im Antlitz des an der Terrassenbrüstung lehnenden Mannes zuckt es wie Wetterleuchten. Die Spuren seelischer Bewegung sind darin noch deutlich verzeichnet und die Augen gerötet. Und: »Echte Mannestränen, aus welchem Quell sie auch kommen mögen, brennen stets wie helles Feuer,« hatte Großchen immer gesagt. Der Rechtsanwalt kann sich nicht mehr so recht erinnern, wann er wohl zuletzt geweint haben mag. Aber lange, lange ist das her. Allein er schämt sich auch nicht, daß er es gestern und heute getan und daß er verspürt, wie nahe ihm noch immer die hellen Tropfen am Lidrande stehen. Seine Augen, die jetzt nur über dieses Stück märzlichen Rheinlandes hinzublicken scheinen, schauen aber zugleich eine lange Straße weit, weit zurück. Sie führt Otto Magnus wieder in ein verlassenes, anderes Land, in das der goldenen Jugend! Von dort her winkt und ruft es ihm zu, und mitten darin steht die hohe Gestalt des Greises, den er gestern in die Erde betten half. Fast neunzig Jahre war der Großohm geworden; aber dennoch sah er weder verfallen noch besonders alt aus, als er oben in dem luftigen Saal aufgebahrt gelegen, den kräftigen Körper bis zur halben Brusthöhe bedeckt von der bunten Flagge, die so oft vom Firste der Felsenburg zum fröhlichen Willkomm geweht. Über der hohen, eckigen Stirne lockte sich, noch beinahe voll, silberweißes Haar, und das friedvolle Antlitz mit der energischen, kühn geschnittenen Nase wies keinen Leidenszug auf. Der Tod hatte mit einem raschen Hieb sein lange aufgeschobenes Werk endlich getan.

Mit den Blicken die Spitzbogenfenster des Rheinerhauses, dessen linker Flügel herübersieht, streifend, wendet sich Otto Magnus und geht den Hügel im weitläufigen Garten hinauf, bis zu einer kleinen Bank. Er will sich von seinen Gedanken und Erinnerungen nicht ablenken lassen durch das sich von der Terrasse aus bietende, wundervolle Landschaftsbild. Hier oben, an diesem stillen Plätzchen blühten von je die ersten Veilchen, bis sie in Menge endlich einen duftenden, violetten Teppich um den Ruhesitz webten. Unwillkürlich bückt sich der Rechtsanwalt suchend, und wie ein Gruß für den verehrten und geliebten Toten will ihm die kaum erschlossene und einzige Blume erscheinen, die er erspähen kann. Auch aus ihr leuchtet ihm die Jugend entgegen, der er nun, an der führenden Hand lebendigster Erinnerung, inbrünstig wieder zustrebt.

Kernpunkt und Krone war von jeher darin das Rheinerhaus, diese romantische, alte Felsenburg, gewesen. Fest und eng damit verbunden die sympathische, stattliche Erscheinung seines Besitzers: Großohm Gottlieb Peerls. Er war der Bruder von Ottos Großmutter mütterlicher Seite, die nichts mehr auf Erden von Verwandten besaß, außer den alten Bruder und das Enkelkind, und einen friedlichen, sonnigen Lebensabend in Thüringen genoß. So lange Otto zurückdenken kann, reiste ›Großchen‹ Jahr für Jahr zum Bruder an den Rhein, und sobald das ›Jungchen‹ dann ›menschlich‹ – so nannte es der Ohm – genug geworden, wurde es dorthin mitgenommen.

Nur in Gesellschaft einer ihm wie Großmutter aus frühester Kinderzeit eng verbundenen, treuen Freundin, lebte der Ohm abgeschlossen auf dem Felsennest. Ein Gärtner und dessen taubstummer Sohn nebst einer handfesten, jungen Verwandten dieser Leute versorgten Haus, Weinberg und Garten. Nur wöchentlich einmal kam des Abends der Arzt aus dem Städtchen, neben dem der Rhein hinströmt, zu einem Plauderstündchen herauf. Das war ein derb-komischer Geselle, und seine trockene, witzige Art brachte immer wieder den Ohm zum Lächeln oder sogar zum Lachen. Und Gottlieb Peerls lachte nur selten so recht herzlich und aus vollem Halse.

Obwohl der kleine Otto ein recht wilder Junge war, störte er doch den an solche Einsamkeit gewöhnten Greis nie. Dieser liebte den einzigen, seiner Schwester gebliebenen Schatz sogar aufs innigste, und war auch seine Art nie überströmend zärtlich, so traf doch mehr als ein warmer Strahl aus den leuchtend blauen Augen den Knaben, und beim Abschied wiederholte Gottlieb Peerls fast immer: »Komm nur wieder, Jung', komm recht oft wieder zum alten Ohm!« Dabei strich er über das lichtblonde Kinderhaupt, und Otto küßte die stark ausgebildete Hand aus eigenem innerem Antriebe, ohne dabei im mindesten an besonders eingetrichterte, ›gute Manieren‹ zu denken.

Otto Magnus zählte gerade zwölf Jahre, als ihn gegen Mitte eines herrlichen Maimondes Großmutter wieder zum Rheinerhaus mitnahm. Hochaufgeschossen und mager war der Junge nach schweren Masern vom Krankenbett aufgestanden, und der Arzt hatte den Schulbesuch vorerst verboten, dagegen Luftveränderung und womöglich eine Milchkur angeordnet. Die Freude, wieder den Ohm besuchen zu dürfen, war eine doppelte, denn, abgehalten durch die Schulpflichten, hatte der Knabe schon lange nicht mehr die Felsenburg im Maischmuck bewundern können. Gerade dann aber glich sie einem Märchenschloß. Vom Rhein aus gesehen schwebte es wie ein in Grün gebettetes Nest zwischen rissigen, trotzigen Felsen, unter welchen der Strom schimmernd dahinfloß.

In jenem Jahr erkor sich Otto die große Terrasse, nahe am oberen Gartenende, als Lieblingsplatz, die ihm eigentlich ein verbotener Aufenthaltsort war. Für ein unbewachtes Kind reichlich gefährlich trotz all der Schutzvorrichtungen an Gitter und Geländer, fielen dort fast jäh rauhe, zackige Steinwände ab. Jetzt, im Frühling, wurde das Auge freilich getäuscht darüber, da auf jedem Absatz goldgelber Ginster in dicken, hohen Stauden blühte und der zerklüfteten Felsenbrust einen lieblichen Ausgleich schuf. Tief unten bot der schieferblaue Rhein mit seinen Passagierdampfern, Schleppkähnen und Steinnachen ein lebhaftes Bild. Gegenüber, mitten aus den Weinbergen heraus, ragte ein uralter, gelbbrauner Turm, dem sein Besitzer – seiner Meinung nach zur Erhöhung der dekorativen Wirkung – ein völlig stilwidriges, goldenes Dach hatte aufsetzen lassen. Das aber bildete von je gerade das größte Entzücken des Knaben, denn es pflegte im Glanze der untergehenden Sonne weithin zu leuchten. Tagelang hatte der Junge schon Garten und Weinberg durchstreift und war oftmals so auf der Terrasse gestanden, teils in Bewunderung der stets wechselvollen Landschaft, teils im Ausdenken irgend welcher neuer, mutwilliger Streiche vertieft. Bis dahin war er stets der Ansicht gewesen, daß die dicke, undurchdringlich scheinende Wand von Ziersträuchern und dahinter emporstrebenden einheimischen und exotischen Nadelbäumen, ein Dreieck bildend, den großen Garten hier abschließe. Dicht daneben stieg der Rebacker hinan. Indem Otto dann die roten, zarten Blüten eines Busches betrachtete, gewahrte er einen winzig schmalen Pfad. Neugierig betrat er ihn. Er führte, tüchtig ausgetreten, durch den Bestand der Bäume. Fliederduft schlug dem Knaben entgegen. Auf einmal entfuhr ihm ein lautes »Ah!« der Bewunderung. Etwas erhöht lag ein schneeweißes Marmortempelchen vor ihm. Schlanke Säulen trugen ein Kuppeldach, von dem jetzt blühende Schlinggewächse romantisch herabhingen. Drei flache Stufen aus Marmor, rechts und links begrenzt von kleinen Bänken desselben edlen Materials, führten zur Mitte. Ein Kranz seltsam schöner, fremdartiger Lilien, aus mattschimmernden, verschiedenen Metallen gefertigt, umrahmte, eine schräggelegte Platte. In goldenen Lettern stand nur ein einziges Wort darauf: ›Djayi‹.

Erst starrte der Junge auf die Schrift nieder wie gebannt; dann wunderte und ärgerte er sich sehr, nicht längst entdeckt zu haben, was die dichte Strauch- und Baumgruppe verbarg. Niemals hatte vorher irgend jemand des Tempelchens Erwähnung getan. War es ein Grab? Gründlich untersuchte er alles in seltsamer Aufregung. Dann jagte das Kind durch den Garten und stürmte atemlos auf die Veranda, wo der alte Peerls und Großchen mit Tante Ursula beim Tee saßen.

»Ohm, Ohm Gottlieb, dort, dort hinten am Gartenende – ich hab's eben erst entdeckt, das Tempelchen, Ohm, – was ist das für ein Tempelchen? Ist's ein Grab? Und von wem?«

Gewitterdrohendes Gewölke erstand auf der Stirne und um die Augen Gottlieb Peerls. Aber seine Lippen preßten sich bloß fest aufeinander, so daß sie ganz schmal und blaß wurden. Stumm stand er auf und fütterte Lori, den bunten Ara, mit Zucker. Auf die roten Vorhänge schien heiß die Sonne, betäubend duftete es aus dem nächsten Beet herauf. Der Vogel hatte den Zucker zermalmt und geschluckt. Nun legte er den scheckigen Kopf aus die Seite, daß es aussah, als schiele er und pfiff klar und völlig richtig: » Long, long ago!«

Langsam wandte sich der alte Mann und schritt den Gartenweg entlang, dem Gärtnerhaus zu, woher gleich darauf seine volle, klangreiche Stimme scholl, als er energisch, aber ruhig seine Befehle gab. Großchen hatte Otto schon gleich nach dessen stürmischen Fragen heimlich gewinkt, so daß er jäh verstummt war. Rasch hatte sie ihm zwei mächtige Stücke Rosinenkuchens auf den Teller gelegt und herrliches Apfelkraut daneben. Tante Ursel räumte ganz stumm den Kaffeetisch ab. Nachdem der Ohm weg war, trat Großmutter an Otto heran, strich ihm zärtlich die Wange und sagte:

»Mußt nicht mehr nach dem Tempelchen fragen, mein gut Jungchen, du! Mußt auch nicht mehr dorthin gehen. Da ruht oftmals dein alter Ohm aus und will dann so ganz für sich und mutterseelenallein sein. Ja, ja, ein Grab ist's schon, mein Jungchen! Eines, das viel Glück und viel Leid deckt. Aber es darf und soll keines mehr daran rühren!«

Dem Knaben aber war auf immer im Gedächtnis geblieben, daß Tante Ursula damals gestolpert war. Des Großohms schöne, antike Holland-Tasse auf dem Kaffee-Brett schwankte in den Händen der alten Frau ganz bedenklich. Es war gerade, als hätte diese ein breiter Sonnenstreifen zum Straucheln gebracht, der dem Kinde wie ein den Boden überquerender, gelber Balken erschienen war. –

Es gab so unendlich viel Interessantes aus Rheinerhaus, und außerdem verstand es Großmutter so ausgezeichnet, dem Knaben eine Beschäftigung ganz besonders sympathisch zu machen, daß er nach. Kinderart in kurzer Zeit seine Entdeckung fast völlig vergessen hatte. Ohm Peerls kam nie mit Wort oder Blick auf jene Frage zurück. Nichts in seinem Benehmen verriet auch je, daß sie ihm peinlich gewesen sein könnte. Am letzten Tage von Ottos Aufenthalt aber, als dieser Abschied nahm von allem, was wieder wie sein Eigentum gewesen war, da schielte er, auf der Terrasse stehend, doch nach der grünen, undurchdringlich scheinenden Wand und dahin, wo der Pfad einschneiden mußte. Wie mit magischer Gewalt zog es ihn zu dem geheimnisvollen Grab. Er drückte sich im Bewußtsein, Verbotenes und Unrechtes zu tun, durch und horchte gespannt, ob auch niemand in der Nähe sei. Kein Laut! Nur aus der Tiefe und vom Wasser klangen Stimmen herauf, und kleine Vögel zirpten in den Büschen. Die Sonne war am Scheiden. Sie warf einen feurigen Schleier über den Strom, die Hügel und die Felsen. Das goldene Dach des Turmes leuchtete so grell herüber, wie Otto es nie vorher gesehen hatte. Dann wurde alles blasser, dafür aber stahl sich ein mattrosa Schein über das Gelände. Ein Hauch davon lagerte auch über dem Tempel und den blühenden, duftenden Sträuchern dahinter und daneben. ›Djayi‹! Feierliches, Fremdes, gemischt mit einem heißen und unklaren Mitleidsgefühl, ergriff den Knaben. In einer lebhaften Aufwallung stürzte er sich hinein in die Frühlingswildnis und griff nach den üppigsten mit Blüten bedeckten Zweigen, die ihm erreichbar waren. Seine Augen waren heiß, seine Wangen flammten. So schichtete er einen duftenden Berg auf die oberste der Stufen; dann floh er wie ein Verbrecher von der Stätte seiner Tat. – –

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