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210.

Die Wahrheit zu handhaben verstehn

. Sie ist ein gefährlich Ding: jedoch kann der rechtliche Mann nicht unterlassen sie zu sagen. Hier bedarf es nun der Kunst: geschickte Aerzte der Seele haben auf Arten sie zu versüßen gedacht; denn wenn sie auf Zerstörung einer Täuschung hinausläuft, ist sie die Quintessenz des Bittern. Die gute Manier wendet hier ihre Geschicklichkeit an: sie kann mit derselben Wahrheit dem Einen schmeicheln und den Andern zu Boden werfen. Man handle die Sache der Gegenwärtigen in der der längst Vergangenen ab. Bei dem, der zu verstehn weiß, ist ein Wink hinreichend: Wäre aber nichts hinreichend; so tritt der Fall des Verstummens ein. Fürsten darf man nicht mit bittern Arzneien kuriren: deshalb ist es eine Kunst, die Enttäuschungen zu vergolden.

211.

Im Himmel ist Alles Wonne

, in der Hölle Alles Jammer, in der Welt, als dem Mittleren, das Eine und das Andre. Wir stehn zwischen zwei Extremen, und sind daher beider theilhaft. Das Schicksal wechselt: Alles soll nicht Glück, noch Alles Mißgeschick seyn. Diese Welt ist eine Null: für sich allein gilt sie nichts, aber mit dem Himmel in Verbindung gesetzt, viel. Gleichmuth bei ihrem Wechsel ist vernünftig, und Neuheit ist nicht die Sache des Weisen. Unser Leben verwickelt sich in seinem Fortgang, wie ein Schauspiel, und entwickelt sich zuletzt wieder: daher sei man auf das gute Ende bedacht.

212.

Die letzten Feinheiten der Kunst stets zurückbehalten.

Eine Maxime großer Meister, die ihre Klugheit, auch indem sie solche lehren, noch anwenden: immer muß man überlegen bleiben, immer Meister. Mit Kunst muß man die Kunst mittheilen und nie die Quelle der Belehrung erschöpfen, so wenig als die des Gebens. Dadurch wird man sein Ansehn und die fremde Abhängigkeit erhalten. Im Gefallen und im Belehren hat man jene große Vorschrift zu beobachten, stets mit Bewundrung kirre zu erhalten und die Vollkommenheit immer weiter zu führen. Die Reserve bei allen Dingen ist eine große Regel zum Leben, zum Siegen und am meisten auf hohen Stellen.

213.

Zu widersprechen verstehn.

Eine große List zum Erforschen; nicht um sich, sondern um den Andern in Verwickelung zu bringen. Die wirksamste Daumschraube ist die, welche die Affekten in Bewegung setzt: daher ist ein wahres Vomitiv für Geheimnisse die Lauheit im glauben derselben: sie ist der Schlüssel zur verschlossensten Brust, und untersucht, mit großer Feinheit, zugleich den Willen und den Verstand. Eine schlaue Geringschätzung des mysteriösen Wortes, welches der Andre fallen ließ, jagt die verborgensten Geheimnisse auf, bringt sie mit Süßigkeit in einzelnen Bissen zum Munde, bis sie auf die Zunge und von da ins Netz des künstlichen Betruges gerathen. Die Zurückhaltung des Aufpassenden macht, daß die des Andern die Vorsicht aus der Acht läßt, und so kommt seine Gesinnung an den Tag, wann auch sein Herz auf andere Weise unerforschlich war. Ein erkünsteltes Zweifeln ist der feinste Dietrich, dessen die Neugier sich bedienen kann, um herauszubringen was sie verlangt. Auch beim Lernen sogar ist es eine gute List des Schülers, dem Lehrer zu widersprechen, der jetzt, von größerm Eifer hingerissen, sich tiefer in die Eröffnung des Grundes seiner Wahrheiten einläßt; so daß eine gemäßigte Bestreitung eine vollendete Belehrung veranlaßt.

214.

Nicht aus Einem dummen Streich zwei machen:

es geschieht häufig, daß man, um einen zu verbessern, vier andere begeht, oder Eine Ungehörigkeit durch eine größere gut machen will. Entweder ist die Thorheit aus der Familie der Lüge, oder diese aus der jener; da beide dies gemein haben, daß jede einzelne, um sich aufrecht zu erhalten, viele andre nothwendig macht. Schlimmer als die schlechte Anklage war stets die Inschutznahme derselben, und übler als das Uebel selbst ist es, solches nicht verhehlen zu können. Es ist das Erbtheil der Unvollkommenheiten, daß jede noch viele andre auf Zinsen giebt. Ein Versehn zu machen, kann dem gescheutesten Manne begegnen, jedoch nicht zwei; und selbst jenes nur im Lauf, nicht im Sitzen.

215.

Dem aufpassen, der mit der zweiten Absicht herankommt.

Es ist eine List der Unterhändler, den fremden Willen einzuschläfern, um ihn anzugreifen: denn ist er umgangen, so ist er überwunden. Sie verhehlen ihre Absicht, um sie zu erreichen, und stellen sie zu hinterst, damit sie bei der Ausführung vorne zu stehn komme; und der Streich gelingt, wenn man ihn nicht bemerkt. Daher schlafe die Aufmerksamkeit nicht, da die Absichtlichkeit so sehr wach ist: und stellt diese sich nach hinten, um sich zu verstecken; so trete jene nach vorne, um sie zu erkennen. Die Vorsicht bemerke die Künste, mit denen so ein Mann von zwei Absichten herankommt, und sehe die Vorwände, die er, um seine wahre Absicht zu erreichen, aufstellt. Eins schlägt er vor, ein andres will er haben; plötzlich aber kehrt er es geschickt um, und trifft grade in das Weiße seiner Zielscheibe. Man wisse deshalb, was man ihm einräumt: und bisweilen wird es angemessen seyn, ihm zu verstehn zu geben, daß man ihn verstanden hat.

216.

Die Kunst des Ausdrucks besitzen:

sie besteht nicht nur in der Deutlichkeit, sondern auch in der Lebendigkeit des Vortrags. Einige haben eine glückliche Empfängniß, aber eine schwere Geburt: denn ohne Klarheit können die Kinder des Geistes, die Gedanken und Beschlüsse, nicht wohl zur Welt gebracht werden. Manche gleichen, in ihrer Fassungskraft, jenen Gefäßen, die zwar viel fassen, aber nur wenig von sich geben: Andre wieder sagen sogar mehr, als sie gedacht haben. Was für den Willen die Entschlossenheit, ist für den Verstand die Gabe des Vortrags: zwei hohe Vorzüge. Die Köpfe, welche die Gabe lichtvoller Klarheit haben, erlangen Beifall; die verworrenen werden bisweilen verehrt, weil Keiner sie versteht. Zu Zeiten ist es passend dunkel zu seyn, um nicht gemein zu werden: allein wie sollen die Hörer den begreifen, der mit dem, was er sagt, eigentlich selbst keinen Begriff verknüpft?

217.

Nicht auf immer lieben, noch hassen

. Seinen heutigen Freunden traue man so, als ob sie morgen Feinde seyn würden und zwar die schlimmsten. Da dieses in der Wirklichkeit Statt hat; so finde es solche auch in der Vorkehr. Man gebe nicht den Ueberläufern der Freundschaft Waffen in die Hände, mit denen sie nachher den blutigsten Krieg führen. Dagegen stehe den Feinden beständig die Thüre zur Versöhnung offen, und zwar sei es die des Edelsinns, als die sicherste. Manchem ist schon seine frühere Rache zur Quaal geworden und die Freude über seinen verübten bösen Streich hat sich in Betrübniß verkehrt.

218.

Nie aus Eigensinn handeln, sondern aus Einsicht.

Jeder Eigensinn ist ein Auswuchs des Geistes, ein Erzeugniß der Leidenschaft, welche noch nie die Dinge richtig geleitet hat. Es giebt Leute, die aus Allem einen kleinen Krieg machen, wahre Banditen des Umgangs: Alles was sie ausführen, soll zu einem Siege werden und sie kennen kein friedliches Verfahren. Diese sind, wenn sie gebieten und herrschen, verderblich: denn sie machen aus der Regierung eine Faktion, und Feinde aus denen, die sie als ihre Kinder ansehen sollten. Sie wollen Alles durch Ränke vorbereiten und es sodann als die Frucht ihrer Künstelei erlangen. Allein wann die Uebrigen ihren verkehrten Sinn erkannt haben; so lehnt Alles sich gegen sie auf, weiß ihre schimärischen Pläne zu stören und sie erlangen nichts, sondern tragen nur eine Last von Verdrießlichkeiten davon, indem Alle helfen ihr Leidwesen zu vermehren. Diese haben einen verschrobnen Kopf und mitunter auch ein verruchtes Herz. Gegen Ungeheuer dieser Art ist weiter nichts zu thun, als sie zu fliehen und wäre es bis zu den Antipoden, deren Barbarei leichter zu ertragen seyn wird, als die Abscheulichkeit jener.

219.

Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung

, obgleich sich's ohne solche heut zu Tage nicht leben läßt. Für vorsichtig sei man gehalten, nicht für listig. Daß man schlicht in seinem Thun sei, ist Allen angenehm, wiewohl es nicht Jeder für sein eigenes Haus mag. Die Aufrichtigkeit gehe nicht in Einfalt über, und die Klugheit nicht in Arglist. Man sei lieber als ein Weiser geehrt, als wegen seiner Schlauheit gefürchtet. Die Offenherzigen werden geliebt, aber betrogen. Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke was für Betrug gehalten wird. Im goldnen Zeitalter war die Gradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu seyn, welcher weiß was er zu thun hat, ist ehrenvoll und erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen.

220.

Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz.

Der Zeit nachgeben, heißt sie überflügeln. Wer sein Vorhaben durchsetzt, wird nie sein Ansehen verlieren. Wo es mit der Gewalt nicht geht, mit der Geschicklichkeit. Auf Einem Wege oder dem andern, entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit, oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt, als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapfern besiegt, als umgekehrt. Wenn man eine Sache nicht erlangen kann, ist es an der Zeit sie zu verachten.

221.

Nicht leicht Anlaß nehmen, sich oder Andre in Verwickelungen zu bringen.

Es giebt Leute, die beständig gegen die Wohlanständigkeit anstoßen, indem sie in sich oder in Andern den Anstand verletzen. Man kommt leicht mit ihnen zusammen und mit Unannehmlichkeit wieder auseinander. Hundert Verdrießlichkeiten des Tags sind ihnen wenig. Ihre Laune hat das Haar wider den Strich, daher sie Allen und Jedem widersprechen: sie haben sich den Verstand verkehrt angezogen, weshalb sie Alles verdammen. Jedoch sind die größten Versucher fremder Klugheit die, welche nichts gut machen und von Allem schlecht sprechen. Es giebt gar viele Ungeheuer im weiten Reiche der Unziemlichkeit.

222.

Zurückhaltung ist ein sicherer Beweis von Klugheit.

Ein wildes Thier ist die Zunge: hat sie sich ein Mal losgerissen; so hält es schwer sie wieder anzuketten: sie ist der Puls der Seele, an welchem die Weisen die Beschaffenheit derselben erkennen: an diesem Puls fühlt der Aufmerksame jede Bewegung des Herzens. Das Schlimmste ist, daß wer sich am meisten mäßigen sollte, es am wenigsten thut. Der Weise erspart sich Verdrießlichkeiten und Verwickelungen und zeigt seine Herrschaft über sich. Er geht seinen Weg behutsam, ein Janus an billigem Urtheil, ein Argus an Scharfblick. Momus hätte wahrlich noch eher die Augen in der Hand, als das Fensterchen auf der Brust vermissen sollen.

223.

Weder aus Affektation, noch aus Unachtsamkeit, etwas ganz Besonderes an sich haben.

Manche haben auffallende Sonderbarkeiten an sich, mit verrückten Gebehrden. Dergleichen sind mehr Fehler als Auszeichnungen. Und wie nun Einige wegen einer besonderen Häßlichkeit des Gesichts bekannt sind, so Jene durch irgend etwas Anstößiges im äußerlichen Betragen. Dergleichen Sonderbarkeiten dienen bloß als Abzeichen, durch eine unschickliche Eigenheit, und erregen theils Gelächter, theils Widerwillen.

224.

Die Dinge nie wider den Strich nehmen, wie sie auch kommen mögen.

Alle haben eine rechte und eine Kehrseite und selbst das Beste und Günstigste verursacht Schmerz, wenn man es bei der Schneide ergreift, hingegen wird das Feindseligste zur schlitzenden Waffe, wenn beim Griff angefaßt. Ueber viele Dinge hat man sich schon betrübt, über welche man sich würde gefreut haben, hätte man ihre Vortheile betrachtet. In Allem liegt Günstiges und Ungünstiges; die Geschicklichkeit besteht im Herausfinden des Vorteilhaften. Dieselbe Sache nimmt sich, in verschiedenem Lichte gesehen, gar verschieden aus: man betrachte sie also im günstigen Lichte, und verwechsele nicht das Gute mit dem Schlimmen. Hieraus entsteht es, daß Manche aus Allem Zufriedenheit, Andre aus Allem Betrübniß schöpfen. Diese Betrachtung ist eine große Schutzwehr gegen die Widerwärtigkeiten des Geschicks und eine wichtige Lebensregel für alle Zeiten und alle Stände.

225.

Seinen Hauptfehler kennen.

Keiner lebt, der nicht das Gegengewicht seines glänzendesten Vorzugs in sich trüge: wird nun dasselbe noch von der Neigung begünstigt; so erlangt es eine tyrannische Gewalt. Man eröffne den Krieg dawider durch Aufrufen der Sorgfalt dagegen, und der erste Schritt sei, seinen Hauptfehler sich offenbar zu machen: denn ein Mal erkannt, wird er bald besiegt seyn, vorzüglich wenn der damit Behaftete ihn ebenso deutlich auffaßt, wie die Beobachter. Um Herr über sich zu seyn, muß man sich gründlich kennen. Hat man erst jenen Anführer seiner Unvollkommenheiten zur Unterwerfung gebracht, werden alle übrigen nachfolgen.

226.

Stets aufmerksam seyn, Verbindlichkeiten zu erzeigen.

Die Meisten reden nicht gewissenhaft, sondern je nachdem sie Verbindlichkeiten erhalten haben. Das Schlechte glaublich zu machen, ist Jeder vollkommen hinreichend, weil alles Schlechte leicht Glauben findet, sollte es zu Zeiten auch unglaublich seyn. Das Meiste und Beste was wir haben hängt von der Meinung Andrer ab. Einige lassen sich daran genügen, daß sie das Recht auf ihrer Seite haben: das ist aber nicht hinreichend; man muß ihm durch Bemühungen nachhelfen. Jemanden zu verbinden, kostet oft wenig und hilft viel. Mit Worten erkauft man Thaten. In diesem großen Hause der Welt ist kein so unwürdiges Geräth, daß man es nicht wenigstens ein Mal im Jahre nöthig haben sollte, und dann wird man, so wenig es auch werth seyn mag, es sehr vermissen. Jeder redet von einem Gegenstand, gemäß seiner Neigung.

227.

Nicht dem ersten Eindruck angehören.

Einige vermählen sich gleichsam mit dem ersten Bericht, der ihnen zu Ohren kommt, so daß alle folgenden nur noch Konkubinen werden können. Da nun aber die Lüge allezeit vorauseilt; so findet nachher die Wahrheit keinen Raum. Weder darf unsern Willen der erste Gegenstand, noch unsern Verstand der erste Bericht einnehmen: denn das ist Geisteskleinheit. Manche sind wie neue Gefäße, welche von der ersten Flüssigkeit, sie sei gut oder schlecht, den Geruch behalten. Wird diese Kleinheit des Geistes nun gar bekannt; so ist sie verderblich: denn jetzt wird sie ein Spielraum boshafter Absichtlichkeit: Schlechtgesinnte beeilen sich den Leichtgläubigen mit ihrer Farbe zu erfüllen. Immer soll Raum bleiben für die zweite Untersuchung. Alexander bewahrte stets ein Ohr für die andere Partei auf. Es bleibe Raum für den zweiten und auch für den dritten Bericht. Das leichte Annehmen des Eindrucks zeugt von geringer Fähigkeit und ist nicht fern von der Leidenschaftlichkeit.

228.

Kein Lästermaul seyn:

noch weniger dafür gelten: denn das heißt, den Ruf eines Rufverderbers haben. Man sei nicht witzig auf fremde Kosten, welches weniger schwer, als verhaßt ist. Alle rächen sich an einem solchen dadurch, daß auch sie schlecht von ihm reden: da nun aber ihrer Viele sind und er allein; so wird er eher überwunden, als sie überführt seyn. Das Schlechte soll nie unsre Freude und daher nicht unser Thema seyn. Der Verläumder bleibt ewig verhaßt: und sollte auch dann und wann ein Großer mit ihm reden; so wird es mehr geschehen, weil ihm sein Spott Spaaß macht, als weil er seine Klugheit schätzte. Auch wird, wer Schlechtes spricht, stets noch Schlechteres hören müssen.

229.

Sein Leben verständig einzutheilen verstehn;

nicht wie es die Gelegenheit bringt, sondern mit Vorhersicht und Auswahl. Ohne Erholungen ist es mühselig, wie eine lange Reise ohne Gasthöfe: mannigfaltige Kenntnisse machen es genußreich. Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unterhaltung mit den Todten: wir leben, um zu erkennen und um uns selbst zu erkennen; also machen wahrhafte Bücher uns zu Menschen. Die zweite Tagereise bringe man mit den Lebenden zu, indem man alles Gute auf der Welt sieht und anmerkt: in Einem Lande ist nicht Alles zu finden: der Vater der Welt hat seine Gaben vertheilt, und bisweilen grade die Häßliche am reichsten ausgestattet. Die dritte Tagereise hindurch gehöre man ganz sich selber an: das letzte Glück ist zu philosophiren.

230.

Die Augen bei Zeiten öffnen.

Nicht Alle, welche sehn, haben die Augen offen; und nicht Alle, welche um sich blicken, sehn. Zu spät hinter die Sachen kommen, dient nicht zur Abhülfe, wohl aber zur Betrübniß. Einige fangen erst an zu sehn, wann nichts mehr zu sehn da ist, indem sie Haus und Hof zu Grunde richteten, ehe sie selbst zu Menschen wurden. Es ist schwer, dem Verstand beizubringen, der keinen Willen hat, und noch schwerer dem Willen, der keinen Verstand. Die sie umgeben, spielen mit ihnen, wie mit Blinden, zum Gelächter der Uebrigen: und weil sie taub zum Hören sind, öffnen sie auch nicht die Augen zum Sehn. Auch fehlt es nicht an solchen, welche jenen Sinnenschlummer unterhalten, weil ihre Existenz darauf beruht, daß jene nicht seien. Unglückliches Pferd, dessen Herr keine Augen hat! es wird schwerlich fett werden.

231.

Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind:

in ihrer Vollendung wollen sie genossen seyn. Alle Anfänge sind ungestalt und nachmals bleibt diese Mißgestalt in der Einbildungskraft zurück. Die Erinnerung, etwas im Zustande der Unvollkommenheit gesehn zu haben, verdirbt dessen Genuß, wann es vollendet ist. Einen großen Gegenstand mit Einem Male zu genießen, verwirrt zwar das Urtheil über die einzelnen Theile, ist aber doch allein dem Geschmack angemessen. Ehe eine Sache Alles ist, ist sie nichts: und indem sie zu seyn anfängt, steckt sie noch tief in jenem ihren Nichts. Die köstlichste Speise zubereiten zu sehn, erregt mehr Ekel als Appetit. Deshalb verhüte jeder große Meister, daß man seine Werke im Embryonenzustande sehe: von der Natur selbst nehme er die Lehre an, sie nicht eher ans Licht zu bringen, als bis sie sich sehen lassen können.

232.

Einen ganz kleinen kaufmännischen Anstrich haben.

Nicht Alles sei Beschaulichkeit, auch Handlung muß dabei seyn. Sehr weise Leute sind meistens leicht zu betrügen: denn obgleich sie das Außerordentliche wissen; so sind sie mit dem Alltäglichen des Lebens unbekannt, welches doch notwendiger ist. Die Betrachtung erhabener Dinge läßt ihnen für die des täglichen Treibens keine Zeit. Da sie nun das Erste was sie wissen sollten und was Allen auf ein Haar bekannt ist, nicht wissen; so werden sie entweder bewundert, oder von der oberflächlichen Menge für unwissend gehalten. Daher trage der kluge Mann Sorge, etwas vom Kaufmann an sich zu haben, grade so viel als hinreicht, um nicht betrogen und sogar ausgelacht zu werden. Er sei ein Mann auch für's tägliche Thun und Treiben, welches zwar nicht das Höchste, aber doch das Notwendigste im Leben ist. Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? und zu leben verstehn, ist heut zu Tage das wahre Wissen.

233.

Den fremden Geschmack nicht verfehlen

: sonst macht man ihm, statt eines Vergnügens, einen Verdruß. Einige erregen, indem sie eine Verbindlichkeit erzeigen wollen, Mißfallen, weil sie die verschiedenen Sinnesarten nicht begreifen. Manches ist dem Einen eine Schmeichelei, dem Andern eine Kränkung; und Manches was eine Artigkeit seyn sollte, war eine Beleidigung. Oft hat es mehr gekostet, Jemandem Mißvergnügen zu bereiten, als es gekostet haben würde, ihm Vergnügen zu machen: man verliert alsdann den Dank und das Geschenk, weil man den Leitstern zum fremden Wohlgefallen verloren hatte. Wer den Sinn des Andern nicht kennt, wird ihn schwerlich befriedigen. Daher auch kam es, daß Mancher ein Lob zu äußern vermeinte und einen Tadel aussprach, zu seiner wohlverdienten Strafe. Andre wieder glauben durch ihre Beredsamkeit zu unterhalten, und martern den Geist durch ihre Geschwätzigkeit.

234.

Nie die Ehre Jemandem in die Hände geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben.

Man muß so gehn, daß der beiderseitige Vortheil im Schweigen, der Schaden in der Mittheilung liege. Wo die Ehre im Spiel ist, muß stets der Handel ganz gemeinschaftlich seyn, so daß Jeder von Beiden für die Ehre des Andern, seiner eigenen Ehre wegen, Sorge tragen muß. Nie soll man die Ehre dem Andern anvertrauen: geschieht es dennoch ein Mal; so sei es so künstlich angelegt, daß hier wirklich die Klugheit der Vorsicht weichen konnte. Die Gefahr sei gemeinsam und der Fall gegenseitig, damit nicht etwa der zu einem Zeugen werde, der sich bewußt ist Theilhaber zu seyn.

235.

Zu bitten verstehn.

Bei Einigen ist nichts schwerer, bei Andern nichts leichter. Denn es giebt Leute, die nichts abzuschlagen im Stande sind: bei solchen ist kein Dietrich vonnöthen. Allein es giebt Andre, deren erstes Wort, zu allen Stunden, Nein ist: bei diesen bedarf es der Geschicklichkeit, bei Allen aber der gelegenen Zeit. Man überrasche sie bei fröhlicher Laune, wann die vorhergegangene Mahlzeit des Leibes oder des Geistes sie aufgeheitert hat; nur daß nicht etwa schon ihre kluge Vorhersicht der Schlauheit des Versuchenden zuvorgekommen sei. Die Tage der Freude sind die der Gunst, da jene aus dem Innern ins Aeußere überströhmt. Man trete nicht heran, wann man eben einen Andern abgewiesen sah: denn nun ist die Scheu vor dem Nein schon abgeworfen. Nach traurigen Ereignissen ist keine gute Gelegenheit. Den Andern zum voraus verbinden, ist ein Austausch, wo man es nicht mit gemeinen Seelen zu thun hat.

236.

Eine vorhergängige Verpflichtung aus dem machen, was nachher Lohn gewesen wäre.

Dies ist eine Geschicklichkeit sehr kluger Köpfe: die Gunst, vor dem Verdienst erzeigt, beweist einen Mann, der Gefühl für Verpflichtungen hat. Die so zum voraus erwiesene Gunst hat zwei große Vorzüge: die Schnelligkeit des Gebers verpflichtet den Empfänger um so stärker: und dieselbe Gabe, welche nachmals Schuldigkeit wäre, wird, zum voraus ertheilt, zur Verbindlichkeit des Andern. Dies ist eine sehr feine Weise, die Verpflichtungen zu vertauschen, indem die des Erstern zum Belohnen, jetzt sich in die des Verbundenen zum Leisten verwandelt. Jedoch ist dies nur zu verstehn von Leuten, welche Gefühl für Verpflichtungen haben: denn für niedrige Gemüther würde der zum voraus ertheilte Ehrensold mehr ein Zaum, als ein Sporn seyn.

237.

Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen.

Man glaubt Kirschen mit ihnen zu essen, wird aber nur die Steine erhalten. Vielen gereichte es zum Verderben, daß sie Vertraute waren: sie gleichen einem Löffel aus Brod und laufen nachher dieselbe Gefahr wie dieser. Die Mittheilung eines Geheimnisses von Seiten des Fürsten ist keine Gunst, sondern ein Drang seines Herzens. Schon Viele zerbrachen den Spiegel, weil er sie an ihre Häßlichkeit erinnerte. Wir mögen den nicht sehn, der uns hat sehn können; und der ist nicht gern gesehn, der etwas Schlechtes von uns sah. Keiner darf uns gar zu sehr verpflichtet seyn, am wenigsten ein Mächtiger, und dann noch eher durch etwas Gutes, das wir ihm erzeigt, als durch Begünstigungen dieser Art. Besonders gefährlich sind freundschaftlich anvertraute Heimlichkeiten. Wer dem Andern sein Geheimniß mittheilt, macht sich zu dessen Sklaven: einem Fürsten ist dies ein gewaltsamer Zustand, der nicht dauern kann: er wird seine verlorene Freiheit wiedererlangen wollen, und um das zu erreichen, wird er Alles mit Füßen treten, selbst Recht und Vernunft. Also Geheimnisse soll man weder hören, noch sagen.

238.

Wissen welche Eigenschaft uns fehlt.

Viele wären ganze Leute, wenn ihnen nicht etwas abgienge, ohne welches sie nie zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen können. An Einigen ist es bemerkbar, daß sie sehr viel seyn könnten, wenn sie sich in einer Kleinigkeit besserten: so etwa fehlt es ihnen an Ernst, was große Fähigkeiten verdunkeln kann: Andern geht die Freundlichkeit des Wesens ab; eine Eigenschaft, welche ihre nächste Umgebung bald vermissen wird, zumal wenn sie Leute im Amt sind. Andern wieder fehlt es an Thatkraft, noch Andern an Mäßigung. Allen diesen Uebelständen würde leicht abzuhelfen seyn, wenn man sie nur selbst bemerkte: denn Sorgfalt kann aus der Gewohnheit eine zweite Natur machen.

239.

Nicht spitzfindig sehn;

sondern klug, woran mehr gelegen. Wer mehr weiß als erfordert ist, gleicht einer zu feinen Spitze, dergleichen gewöhnlich abbricht. Ausgemachte Wahrheit giebt mehr Sicherheit. Es ist gut, Verstand zu haben, aber nicht ein Schwätzer zu seyn. Weitläufige Erörterungen sind schon dem Streite verwandt. Besser ist ein guter solider Kopf, der nicht mehr denkt als die Sache mit sich bringt.


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