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180.

Nie sich nach dem richten, was der Gegner jetzt zu thun hätte

. Der Dumme wird nie das thun, was der Kluge angemessen erachtet, weil er das Passende nicht herausfindet: ist er hingegen ein wenig klug; so wird er einen Schritt, den der Andre vorhergesehn, ja ihm vorgebaut hat, grade deshalb nicht ausführen. Man muß die Sachen von beiden Gesichtspunkten aus durchdenken, sie sorgfältig von beiden Seiten betrachten und sie zu einem doppelten Ausgang vorbereiten. Die Urtheile sind verschieden: der Unentschiedene bleibe aufmerksam und nicht sowohl auf das, was geschehn wird, als auf das, was geschehn kann, bedacht.

181.

Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen

. Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleich viel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen zu verstehn. Man verliert durch eine einzige Lüge den ganzen Ruf seiner Unbescholtenheit. Der Betrug gilt für ein Vergehn und der Betrüger für falsch, welches noch schlimmer ist. Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht, unser selbst wegen, die andern nicht, des Andern wegen.

182.

Ein Gran Kühnheit bei Allem, ist eine wichtige Klugheit

. Man muß seine Meinung von Andern mäßigen, um nicht so hoch von ihnen zu denken, daß man sich vor ihnen fürchte. Nie bemächtige sich die Einbildungskraft des Herzens. Viele scheinen gar groß, bis man sie persönlich kennen lernt: dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören, als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner überschreitet die engen Gränzen der Menschheit: Alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde giebt eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird: denn das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Verdienste zu rächen. Die Einbildungskraft ist aber immer im Vorsprung und malt die Sachen viel herrlicher, als sie sind: sie stellt sich nicht bloß vor, was ist, sondern auch was seyn könnte. Die durch so viele Erfahrungen von Täuschungen zurückgebrachte Vernunft weise jene zurecht. Doch soll so wenig die Dummheit verwegen, als die Tugend furchtsam seyn. Und wenn sogar der Einfalt ihr Selbstvertrauen oft durchhalf; wie viel mehr dem Werthe und dem Wissen.

183.

Nichts gar zu fest ergreifen

. Jeder Dumme ist fest überzeugt; und jeder fest Ueberzeugte ist dumm: je irriger sein Urtheil, desto größer sein Starrsinn. Sogar wo man augenfällig Recht hat, steht es schön an, nachzugeben: denn die Gründe, die wir für uns haben, sind nicht unbekannt, und nun sieht man unsre Artigkeit. Man verliert mehr durch ein halsstarriges Behaupten, als man durch den Sieg gewinnen kann; denn das heißt nicht ein Verfechter der Wahrheit, sondern der Grobheit seyn. Es giebt eiserne Köpfe, die im höchsten und äußersten Grade schwer zu überzeugen sind: kommt nun zum Festüberzeugtseyn noch der grillenhafte Eigensinn: so gehn beide eine unzertrennliche Verbindung mit der Narrheit ein. Die Festigkeit gehört in den Willen; nicht in den Verstand. Doch giebt es Fälle, die hievon eine Ausnahme gestatten, wo man nämlich verloren wäre, wenn man sich doppelt, erst im Urtheil und in Folge davon in der Ausführung besiegen ließe.

184.

Nicht ceremoniös seyn

. Sogar in einem Könige war die Affektation hierin als eine Sonderbarkeit weltkundig. Wer in diesem Punkte krittlich ist, macht sich lästig: und doch haben ganze Nationen diese Eigenheit. Das Kleid der Narrheit ist aus solchen Dingen zusammengenäht: Leute dieses Schlages sind Götzendiener ihrer Ehre und zeigen doch, daß sie auf wenig gegründet ist, da sie fürchten, daß Alles dieselbe verletzen könne. Es ist gut, auf Achtung zu halten: aber man gelte nicht für einen großen Ceremonienmeister. Allerdings ist es wahr, daß ein Mann ohne alle Umstände, ausgezeichneter Tugenden bedarf. Man soll die Höflichkeit weder affektiren noch verachten: es zeugt nicht von Größe, daß man in Kleinigkeiten eigen ist.

185.

Nie sein Ansehn von der Probe eines einzigen Versuchs abhängig machen

: denn mißglückt er, so ist der Schaden unersetzlich. Es kann leicht kommen, daß man ein Mal fehlt, und besonders das erste. Zeit und Gelegenheit sind nicht immer günstig: daher man sagt, Jemand habe seinen glücklichen Tag. Seinen zweiten Versuch stelle man durch Verbindung mit dem ersten sicher: dann wird, er mag gelingen oder mißglücken, der erste seine Ehrenrettung seyn. Immer muß man seine Zuflucht zu einer Verbesserung nehmen und sich auf ein Mehreres berufen können. Die Dinge hängen von gar vielen und mancherlei Zufälligkeiten ab; daher eben der glückliche Ausgang so selten ist.

186.

Fehler als solche erkennen, auch wenn sie in noch so hohem Ansehn stehen

. Der Makellose verkenne das Laster nicht, auch wenn es sich in Gold und Seide kleidet: ja es wird bisweilen eine goldne Krone tragen, deshalb aber doch nicht weniger verwerflich seyn. Die Sklaverei bleibt niederträchtig, so sehr man sie durch die Hoheit des Herrn beschönigen möchte. Die Laster können hoch stehn, sind aber deshalb doch nichts Hohes. Manche sehn, daß jener große Mann mit diesem oder jenem Fehler behaftet ist; aber sie sehn nicht, daß er keineswegs durch denselben ein großer Mann ist. Das Beispiel der Höhern hat eine solche Ueberredungskraft, daß es uns sogar zu Häßlichkeiten beredet, und selbst die des Gesichts von Schmeichlern bisweilen affektirt wurden, welche jedoch nicht begriffen, daß wenn man bei den Großen gegen dergleichen die Augen verschließt, man es an den Geringen verabscheut.

187.

Was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst, durch Andre

. Durch das erstere gewinnt man die Liebe, durch das andre entgeht man dem Uebelwollen. Dem großen Mann giebt Gutes thun mehr Genuß, als Gutes empfangen: ein Glück seines Edelmuths. Nicht leicht wird man Andern Schmerz verursachen, ohne, entweder durch Mitleid, oder durch Vergeltung, selbst wieder Schmerz zu erdulden. Von Oben kann man nur durch Lohn oder Strafe wirken: da ertheile man das Gute unmittelbar, das Schlimme mittelbar. Man habe Jemanden, auf den die Schläge der Unzufriedenheit, welches Haß und Schmähungen sind, treffen. Denn die Wuth des Pöbels gleicht der der Hunde: die Ursache ihres Leidens verkennend, wendet sie sich wider das Werkzeug, welches, wiewohl nicht die Hauptschuld tragend, für die unmittelbare büßen muß.

188.

Löbliches zu berichten haben.

Es erhöht die gute Meinung von unserm Geschmack, indem es anzeigt, daß derselbe anderwärts das Vortreffliche kennen gelernt hat und daher auch hier es zu schätzen wissen wird: denn wer vordem Vollkommenheiten zu würdigen gewußt hat, wird ihnen auch nachmals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zudem giebt es Stoff zur Unterhaltung, zur Nachahmung, und befördert lobenswerthe Kenntnisse. Man erzeigt dadurch, auf eine sehr feine Weise, den gegenwärtigen Vollkommenheiten eine Höflichkeit. Andre machen es umgekehrt: sie begleiten ihre Erzählung immer mit Tadel und wollen dem Gegenwärtigen durch Herabsetzung des Abwesenden schmeicheln. Dies glückt ihnen bei oberflächlichen Leuten, welche nicht inne werden, wie listig sie, bei einem Jeden, recht schlecht vom Andern reden. Manche haben die Politik, die Mittelmäßigkeiten des heutigen Tages höher zu schätzen, als die vortrefflichsten Leistungen des gestrigen. Der Aufmerksame durchschaue alle diese Schliche und lasse sich weder durch die übertriebenen Erzählungen der Einen muthlos machen, noch durch die Schmeicheleien der Andern aufblasen; sondern sehe ein, daß Jene sich an Einem Orte grade so, wie am andern benehmen, ihre Meinungen vertauschen und sich stets nach dem Orte richten, an welchem sie eben sind.

189.

Sich den fremden Mangel zu Nutze machen:

denn erzeugt er den Wunsch; so wird er zur wirksamsten Daumschraube. Die Philosophen haben gesagt, der Mangel, oder die Privation, sei nichts: die Politiker aber meinten, er sei Alles. Letztere haben es am besten verstanden. Manche wissen aus dem Wunsche der Andern eine Stufe zur Erreichung ihrer Zwecke zu machen. Sie benutzen die Gelegenheit und erregen Jenen, durch Vorstellung der Schwierigkeit des Erlangens, den Appetit. Sie versprechen sich mehr von der Leidenschaftlichkeit der Sehnsucht, als von der Lauheit des Besitzes. Denn in dem Maaße, als der Widerstand zunimmt, wird der Wunsch leidenschaftlicher. Andre in Abhängigkeit zu erhalten wissen, um seine Zwecke zu erreichen, ist eine große Feinheit.

190.

In Allem seinen Trost finden.

Sogar die Unnützen mögen ihn darin finden, daß sie unsterblich sind. Kein Kummer ohne seinen Trost. Für die Dummen ist es einer, daß sie Glück haben: auch das Glück häßlicher Weiber ist sprichwörtlich geworden. Um lange zu leben, ist ein gutes Mittel, wenig zu taugen. Das brüchige Gefäß ist stets das, was nie vollends zerbricht, sondern durch seine Dauer Ueberdruß erregt. Gegen die wichtigsten Menschen scheint das Schicksal Neid zu hegen, da es den unnützesten Leuten die längste, den wichtigsten die kürzeste Lebensdauer verleiht. Alle, an denen viel gelegen, nehmen bald ein Ende; aber der, welcher Keinem etwas nützt, lebt ewig: theils, weil es uns so vorkommt, theils, weil es wirklich so ist. Dem Unglücklichen scheint es, daß das Glück und der Tod sich verschworen haben, ihn zu vergessen.

191.

Nicht an der großen Höflichkeit sein Genügen haben:

denn sie ist eine Art Betrug. Einige bedürfen, um hexen zu können, nicht der Kräuter Thessaliens: denn mit dem schmeichelhaften Hutabziehen allein bezaubern sie eitele Dummköpfe. Ehrenbezeugungen sind ihre Münze und sie bezahlen mit dem Hauch schöner Redensarten. Wer Alles verspricht, verspricht nichts: aber Versprechungen sind die Falle für die Dummen. Die wahre Höflichkeit ist Schuldigkeit, die affektirte, zumal die ungebräuchliche, Betrug: sie ist nicht Sache des Anstands; sondern ein Mittel Andre abhängig zu machen. Ihr Bückling gilt nicht der Person, sondern deren Glücksumständen, und ihre Schmeichelei nicht den etwa erkannten Trefflichkeiten, sondern den gehofften Vortheilen.

192.

Friedfertig leben, lange leben.

Um zu leben, leben lassen. Die Friedfertigen leben nicht nur; sie herrschen. Man höre, sehe und schweige. Der Tag ohne Streit bringt ruhigen Schlaf in der Nacht. Lange leben und angenehm leben, heißt für Zwei leben, und ist die Frucht des Friedens. Alles hat der, welcher sich aus dem nichts macht, woran ihm nichts liegt. Keine größre Verkehrtheit, als sich Alles zu Herzen nehmen. Gleich große Thorheit, daß uns das Herz durchbohre, was uns nicht angeht, und daß wir uns nicht kümmern wollen um das, was wichtig für uns ist.

193.

Dem aufpassen, der mit der fremden Angelegenheit auftritt, um mit der eigenen abzuziehen.

Gegen die List ist die beste Vormauer die Aufmerksamkeit. Für seine Schliche, eine feine Nase. Viele machen aus ihrer eigenen Angelegenheit eine fremde: und ohne den Schlüssel zur Zifferschrift ihrer Absichten, wird man bei jedem Schritt in den Fall kommen, den fremden Vortheil, zum großen Schaden seiner Hand, aus dem Feuer holen zu müssen.

194.

Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben:

zumal beim Antritt des Lebens. Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. Jeder träumt sich sein Glück und hält sich für ein Wunder. Die Hoffnung macht die übertriebensten Versprechungen, welche nachher die Erfahrung durchaus nicht erfüllt. Dergleichen eitle Einbildungen werden eine Quelle der Quaalen, wann einst die wahrhafte Wirklichkeit die Täuschung zerstört. Der Kluge komme solchen Verirrungen zuvor: er mag immerhin das Beste hoffen; jedoch erwarte er stets das Schlimmste, um was kommen wird mit Gleichmuth zu empfangen. Zwar ist es geschickt, etwas zu hoch zu zielen, damit der Schuß richtig treffe; jedoch nicht so sehr, daß man den Antritt seiner Laufbahn darüber ganz verfehle. Diese Berichtigung der Begriffe ist schlechterdings nothwendig: denn vor der Erfahrung ist die Erwartung meistens sehr ausschweifend. Die beste Universalmedicin gegen alle Thorheiten ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Thätigkeit und seines Standes: dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen.

195.

Zu schätzen wissen.

Es giebt Keinen, der nicht in irgend etwas der Lehrer des Andern seyn könnte: und Jeder, der Andre übertrifft, wird selbst noch von Jemandem übertroffen werden. Von Jedem Nutzen zu ziehn verstehn, ist ein nützliches Wissen. Der Weise schätzt Alle, weil er in Jedem das Gute erkennt und weiß, wie viel dazu gehört, eine Sache gut zu machen. Der Dumme verachtet Alle, weil er das Gute nicht kennt und das Schlechtere erwählt.

196.

Seinen Glücksstern kennen.

Niemand ist so hülflos, daß er keinen hätte: und ist er unglücklich; so ist es, weil er ihn nicht kennt. Einige stehen bei Fürsten und Mächtigen in Ansehn, ohne zu wissen, wie oder weshalb, als nur, daß eben ihr Schicksal ihnen diese Gunst leicht machte, wobei der Bemühung bloß das Nachhelfen blieb. Andre besitzen die Gunst der Weisen. Mancher fand bei Einer Nation bessere Aufnahme, als bei der andern, und war in dieser Stadt lieber gesehn, als in jener. Ebenso hat man oft mehr Glück in Einem Amte oder Stand, als in den übrigen; und Alles dieses bei Gleichheit, ja Einerleiheit der Verdienste. Das Schicksal mischt die Karten, wie und wann es will. Jeder kenne seinen Glücksstern, eben wie auch sein Talent: denn hievon hängt es ab, ob er sein Glück macht oder verscherzt. Er wisse seinem Stern zu folgen, ihm nachzuhelfen und hüte sich ihn zu vertauschen: denn das wäre, wie wenn man den Polarstern verfehlt, auf welchen doch der nahe kleine Bär hindeutet.

197.

Sich keine Narren auf den Hals laden:

wer sie nicht kennt, ist selbst einer, noch mehr der, welcher sie kennt und nicht von sich abhält. Für den oberflächlichen Umgang sind sie gefährlich, für den vertrauten verderblich. Und wenn auch ihre eigene Behutsamkeit und fremde Sorgfalt sie eine Zeit lang in Schranken hält; so begehen oder sagen sie zuletzt doch eine Dummheit, und haben sie so lange gewartet, so war es, damit sie desto ansehnlicher ausfiele. Schlecht wird das fremde Ansehn unterstützen, wer selbst keines hat. Sie sind sehr unglücklich, welches das der Narrheit beigegebene Leiden ist und sich mit ihr wechselseitig ausgleicht. Nur Eines ist an ihnen so übel nicht, und das ist, daß obgleich für sie die Klugen von keinem Nutzen sind, sie hingegen von vielem für die Weisen, theils zur Erkenntniß, theils zur Uebung.

198.

Sich zu verpflanzen wissen.

Es giebt Nationen, die um zu gelten, versetzt werden müssen; zumal in Hinsicht auf hohe Stellen. Das Vaterland ist allemal stiefmütterlich gegen ausgezeichnete Talente: denn in ihm, als dem Boden, dem sie entsprossen, herrscht der Neid, und man erinnert sich mehr der Unvollkommenheit, mit der Jemand anfieng, als der Größe, zu der er gelangt ist. Eine Nadel konnte Wertschätzung erhalten, nachdem sie von Einer Welt zur andern gereist war, und ein Glas, weil es in ein andres Land gebracht worden, machte den Diamanten geringgeschätzt. Alles Fremde wird geachtet, theils weil es von Ferne kommt, theils weil man es ganz fertig und in seiner Vollkommenheit erhält. Leute hat man gesehn, die einst die Verachtung ihres Winkels waren und jetzt die Ehre der Welt sind, hochgeschätzt von ihren Landsleuten und von den Fremden, von jenen, weil sie sie von Weitem, von diesen, weil sie sie als weither sehen. Nie wird der die Statue auf dem Altar gehörig verehren, der sie als einen Stamm im Garten gekannt hat.

199.

Sich Platz zu machen wissen, als ein Kluger, nicht als ein Zudringlicher.

Der wahre Weg zu hohem Ausehn ist das Verdienst, und liegt dem Fleiße ächter Werth zum Grunde; so gelangt man am kürzesten dahin. Bloße Makellosigkeit reicht nicht aus, bloßes Mühen und Treiben ist unwürdig, denn dadurch langen die Sachen so mit Koth bespritzt an, daß der Ekel ihrem Ansehn schadet. Die Sache ist ein Mittelweg zwischen verdienen und sich einzuführen verstehn.

200.

Etwas zu wünschen übrig haben,

um nicht vor lauter Glück unglücklich zu seyn. Der Leib will athmen, und der Geist streben. Wer Alles besäße, wäre über Alles enttäuscht und mißvergnügt. Sogar dem Verstande muß etwas zu wissen übrig bleiben, was die Neugier lockt und die Hoffnung belebt. Uebersättigungen an Glück sind tödtlich. Beim Belohnen ist es eine Geschicklichkeit, nie gänzlich zufrieden zu stellen. Ist nichts mehr zu wünschen; so ist Alles zu fürchten: unglückliches Glück! wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht.

201.

Narren sind Alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen.

Die Narrheit ist mit der Welt davon gelaufen: und giebt es noch einige Weisheit, so ist sie Thorheit vor der himmlischen. Jedoch ist der größte Narr, wer es nicht zu seyn glaubt und alle Andern dafür erklärt. Um weise zu seyn, reicht nicht hin, daß man es scheine, am wenigsten sich selber. Der weiß, welcher nicht denkt, daß er wisse: und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die Andern sehn. Und obschon die Welt voll Narren ist, so ist keiner darunter, der es von sich dächte, ja nur argwöhnte.

202.

Reden und Thaten machen einen vollendeten Mann.

Sagen soll man was vortrefflich und thun was ehrenvoll ist: das Eine zeigt die Vollkommenheit des Kopfes, das Andere die des Herzens, und Beide gehen aus der Erhabenheit der Seele hervor. Die Reden sind der Schatten der Thaten; jene sind weiblicher, diese männlicher Natur. Besser gerühmt zu seyn, als ein Rühmer. Das Sagen ist leicht, das Thun schwer. Die Thaten sind die Substanz des Lebens, die Reden sein Schmuck. Das Ausgezeichnete in Thaten ist bleibend, das in Reden vergänglich. Die Handlungen sind die Frucht der Gedanken: waren diese weise; so sind jene erfolgreich.

203.

Das ausgezeichnet Große seines Jahrhunderts kennen.

Es wird desselben nicht viel seyn: ein Phönix in einer ganzen Welt, ein großer Feldherr, ein vollkommner Redner, ein Weiser in einem ganzen Jahrhundert, ein großer König in vielen. Das Mittelmäßige ist sehr gewöhnlich, sowohl der Zahl als der Wertschätzung nach; hingegen das ausgezeichnet Große selten in jeder Hinsicht, weil es vollendete Vollkommenheit erfordert, und je höher die Gattung, desto schwieriger ist das Höchste in ihr. Viele haben den Beinamen der Großen, der dem Cäsar und Alexander gehört, angenommen, aber vergeblich, da ohne die Thaten das Wort ein bloßer Hauch ist. Wenige Senekas hat es gegeben und nur Einen Apelles kannte die Welt.

204.

Man unternehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht:

jenes, damit das Selbstvertrauen uns nicht sorglos, dieses, damit die Zaghaftigkeit uns nicht muthlos mache. Damit eine Sache nicht gethan werde, bedarf es nur, daß man sie als schon gethan betrachte: und im Gegentheil macht Fleiß und Anstrengung das Unmögliche möglich. Die großen Obliegenheiten darf man sogar nicht bedenken, damit der Anblick der Schwierigkeit nicht unsre Thatkraft lähme.

205.

Die Verachtung zu handhaben verstehen

. Um die Sachen zu erlangen, ist ein schlauer Kunstgriff, daß man sie geringschätze: gewöhnlich wird man ihrer nicht habhaft, wann man sie sucht, und nachher, wann man nicht darauf achtet, fallen sie uns von selbst in die Hand. Da alle Dinge dieser Welt ein Schatten der ewigen Dinge sind; so haben sie mit dem Schatten auch diese Eigenschaft gemein, daß sie den fliehen, der ihnen folgt, und dem folgen, der vor ihnen flieht. Die Verachtung ist ferner auch die klügste Rache; es ist feste Maxime der Weisen, sich nicht mit der Feder zu vertheidigen: denn solche Verteidigung läßt eine Spur nach und schlägt mehr in Verherrlichung der Widersacher, als in Züchtigung ihrer Verwegenheit aus. Es ist ein Kniff der Unwürdigen, als Gegner großer Männer aufzutreten, um auf indirektem Wege zu der Berühmtheit zu gelangen, welcher sie auf dem direkten, durch Verdienste, nie theilhaft geworden wären: und von Vielen würden wir nie Kunde erhalten haben, hätten ihre ausgezeichneten Gegner sich nicht um sie gekümmert. Keine Rache thut es dem Vergessen gleich, durch welches sie im Staube ihres Nichts begraben werden. Solche Verwegne wähnen sich dadurch unsterblich zu machen, daß sie an die Wunder der Welt und der Jahrhunderte Feuer anlegen. Die Kunst die Verläumdung zu beschwichtigen ist sie unbeachtet zu lassen; gegen sie ankämpfen, bringt Nachtheil: und eine Herstellung unsers Ansehns, die es schmälert, ist den Gegnern wohlgefällig: denn selbst jener Schatten eines Makels benimmt unserm Ruhm seinen Glanz, wenn er ihn auch nicht ganz verdunkeln kann.

206.

Man soll wissen, daß es Pöbel überall giebt

, selbst im schönen Korinth, in der auserlesensten Familie: Jeder macht ja die Erfahrung in seinem eigenen Hause. Nun giebt es aber Pöbel und Gegen-Pöbel, der noch schlimmer ist: dieser specielle theilt mit dem allgemeinen alle Eigenschaften, wie die Stücke des zerbrochenen Spiegels: er ist aber schädlicher: er redet dumm, tadelt verkehrt, ist ein großer Schüler der Unwissenheit, Gönner und Patron der Narrheit und Bundesgenosse der Klatscherei: man beachte nicht was er sagt, noch weniger was er denkt. Es ist wichtig, ihn zu kennen, um sich von ihm zu befreien: denn jede Dummheit ist Pöbelhaftigkeit, und der Pöbel besteht aus den Dummen.

207.

Sich mäßigen

. Man soll einen Fall wohl überlegen, zumal einen Unfall. Die Anwandlungen der Leidenschaft sind das Glatteis der Klugheit, und hier liegt die Gefahr, sich ins Verderben zu stürzen. Von Einem Augenblick der Wuth, oder der Fröhlichkeit wird man weiter geführt, als von vielen Stunden des Gleichmuths; und da bereitet manchmal eine kurze Weile die Beschämung des ganzen Lebens. Fremde Arglist legt oft absichtlich solche Versuchungen der Vernunft an, um eine Entdeckungsreise ins Innere des Geistes zu machen, und benutzt dergleichen Daumschrauben der Geheimnisse, die im Stande sind den überlegensten Kopf aufs Aeußerste zu treiben. Zur Gegenlist diene die Mäßigung, vorzüglich bei plötzlichen Fällen. Ein sehr überlegter Geist ist erfordert, wenn nicht ein Mal eine Leidenschaft das Gebiß zwischen die Zähne nehmen soll, und gewaltig klug muß der seyn, der es zu Pferde bleibt (siehe Anmerk. zu §. 155). Wer die Gefahr begriffen hat, geht mit Behutsamkeit seinen Weg. So leicht ein Wort dem scheint, der es hinwirft, so schwer dem, der es aufnimmt und wiegt.

208.

Nicht an der Narrenkrankheit sterben

. Meistens sterben die Weisen, nachdem sie den Verstand verloren haben; die Narren hingegen ganz voll von gutem Rath. Wie ein Narr sterben, heißt, von zu vielem Denken sterben. Einige sterben, weil sie denken und empfinden; Andere leben, weil sie nicht denken und empfinden: diese sind Narren, weil sie nicht vor Schmerz sterben, und jene, weil sie es thun. Ein Narr ist, wer an zu großem Verstande stirbt: demnach sterben Einige, weil sie gescheut, und leben Andre, weil sie nicht gescheut sind. Jedoch obgleich Viele wie Narren sterben; so sterben doch wenige Narren.

209.

Sich von allgemeinen Narrheiten frei halten

, ist eine recht besondre Klugheit. Jene haben viel Gewalt, weil sie eben allgemein eingeführt sind, und Mancher, welcher sich von keiner Privat-Narrheit überwältigen ließ, konnte doch der allgemeinen nicht entgehn. Es gehören dahin solche gemeine Vorurtheile, wie daß Keiner mit seinem Schicksale, und wäre es das beste, zufrieden, noch unzufrieden mit seinem Verstande ist, wäre er auch der schlechteste; ferner, daß Alle, mit ihrem eigenen Glücke unzufrieden, das fremde beneiden; sodann daß die Leute des heutigen Tages die Dinge von gestern loben, und die von hier die Dinge von dort: alles Vergangene scheint besser, alles Entfernte wird höher geschätzt. Wer über Alles lacht, ist ein eben so großer Narr, als wer sich über Alles betrübt.


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