Maxim Gorki
Meister-Erzählungen
Maxim Gorki

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Blaue Funken

Ich habe diese Erzählungen am Meeresstrande bei Akjerman in Bessarabien gehört.

Einmal abends, als des Tages Weinlese beendet war, ging eine Anzahl Moldawanen, mit denen ich arbeitete, nach dem Strande, und ich und die alte Isergil blieben im dichten Schatten der Weinranken zurück und sahen schweigend, auf der Erde liegend, zu, wie die Silhouetten der dem Meere zu wandernden Leute im tiefen Nachtnebel und dunklen Laubgrün verschwanden.

Sie gingen singend und lachend; die Männer – bronzefarben, mit starkem, schwarzem Schnurrbart und dichten Locken bis auf die Schultern, in kurzen Jacken und weiten Pumphosen; die Weiber und Mädchen – heiter, biegsam wie Gerten, mit dunkelblauen Augen – auch bronzefarben. Ihr seidenweiches schwarzes Haar war aufgelöst, und in dem warmen leichten Winde, der damit spielte, klirrten die eingeflochtenen Münzen. Der Wind kam in breitem, gleichmäßigem Strome, aber manchmal war es, als überspränge er etwas Unsichtbares, und dann wehte er mit einem starken Ruck das Haar der Weiber zu phantastischen Mähnen auseinander, die um ihre Köpfe flatterten. Dadurch erschienen die Weiber seltsam und märchenhaft. Sie entfernten sich immer weiter von uns, und Nacht und Phantasie machten sie immer schöner.

Jemand spielte die Geige . . . ein Mädchen sang in weichem Alt; Lachen erschallte . . . und in der Einbildungskraft wurden alle diese Töne zu einer Girlande buntfarbiger Bänder, die über den dunklen Gestalten der im Nebel verschwindenden Leute in der Luft wehten.

Die Luft war von dem scharfen Geruch des Meeres und den fetten Ausdünstungen der Erde, die eben erst vor Abend reichlich vom Regen angefeuchtet worden war, durchtränkt. Auch jetzt noch zogen üppige, seltsam geformte und gefärbte Überreste der Wolken am Himmel dahin, hier – weich, wie Rauchwolken, blaugrau und aschblau, dort – schroff, wie Felsentrümmer, mattschwarz und dunkelbraun. Freundlich schimmerten dunkelblaue Stückchen Himmel dazwischen, mit goldnen Sternenpünktchen geschmückt. Und alles dies, die Klänge und Düfte, die Wolken und Leute – war zauberhaft schön, aber traurig, es war wie der Anfang eines wundersamen Märchens. Alles war wundervoll und harmonisch, aber wie aufgehalten in seiner Entfaltung und ersterbend, da so wenig Geräusch da war, lebendiges, nerviges Geräusch, welches mit der Zeit immer lebhafter aufbraust, das Geräusch aber, welches da war, klang schwach, brach oft ab, verstummte ganz, indem es sich entfernte, und lebte wieder auf in traurigen Seufzern der Klage über etwas, vielleicht über das Glück, das so ungreifbar und so zufällig ist.

Alles das beobachtete ich, und in mir entstanden phantastische Wünsche: ich hätte mich in Staub verwandeln und vom Winde allüberallhin verwehen lassen mögen; ich hätte als warmer Strom mich über die Steppe ergießen, ins Meer einfließen und als opalfarbener Nebel in den Himmel aushauchen mögen; ich hätte diesen ganzen bezaubernd-traurigen Abend mit mir erfüllen mögen . . . und ich war traurig, ohne zu wissen, warum.

»Warum bist du nicht mit ihnen gegangen?« fragte die alte Isergil auf russisch, indem sie mir zunickte.

Die Zeit hatte sie gekrümmt und um die Hälfte kleiner gemacht, ihre ehemals schwarzen Augen tränten und waren trübe. Ihre trockene Stimme vibrierte nicht, sie knarrte, als spräche die Alte mit den Knochen. Wie konnte sie noch sprechen!

»Ich mag nicht«, antwortete ich auf ihre Frage.

»Uh! . , . Ihr Russen kommt schon als Greise zur Welt. Alle seid ihr düster, wie Dämonen . . . Unsre Mädchen fürchten dich . . . und du bist doch jung und stark . . .«

Der Mond ging auf. Seine Scheibe war groß und blutrot, und er schien aus dem Schoß dieser Steppe hervorzugehen, die in ihrem Leben soviel Menschenfleisch verschlungen, soviel Blut getrunken, wovon sie sicherlich auch so fett und reich geworden. Von den Blättern fielen spitzenartige Schatten auf uns, wie ein Netz bedeckten sie die Alte und mich und zitterten. Und links von uns zogen über die Steppe die Schatten der Wolken, welche der blaue Mondschein durchdrang und durchsichtiger und heller machte. Kaum drangen die Töne vom Meer bis zu uns: bald weinte die Geige, bald lachte ein Mädchen, bald sang ein Bursch in biegsamem Bariton, und alles das mischte sich mit dem rhythmischen Anprall der Wellen am Ufer.

»Sieh, dort geht Larra!«

Ich sah dorthin, wohin die Alte mit ihrer zitternden, krummfingrigen Hand deutete, und sah: dort zogen Schatten, ihrer waren viele, und einer von ihnen, dunkler und dichter als die anderen, zog schneller und niedriger dahin als die Brüder, weil er von einer Wolke fiel, die tiefer an der Erde und schneller dahinzog als die anderen.

»Niemand ist da!« sagte ich.

»Du bist blinder als ich, die Alte. Sieh, der Dunkle da, der in die Steppe läuft.«

Ich sah noch einmal dahin und sah wieder nichts, außer den Schatten. »Das ist ein Schatten! Warum nennst du ihn Larra?«

»Weil er es ist. Er ist jetzt schon wie ein Schatten geworden – es ist Zeit! Er lebt Tausende von Jahren, die Sonne hat seinen Leib, Blut und Knochen gedörrt und der Wind sie zerstäubt. Sieh, was Gott mit einem Menschen seines Stolzes wegen machen kann! . . .« »Erzähle mir, wie das war!« bat ich die Alte, da ich eine jener prächtigen, in der Steppe erdichteten Sagen vorausahnte.

* * *

»Vieltausend Jahre sind vergangen seit der Zeit, da dies geschah. Weit hinter dem Meer, gegen Sonnenaufgang, ist das Land eines großen Flusses, und in jenem Lande gibt jedes Baumblatt und jeder Grashalm soviel Schatten, wie ein Mensch braucht, um sich bequem darunter vor der Sonne zu bergen, die dort grausam heiß ist.

Solch einen reichen Boden hat jenes Land.

Ein mächtiger Menschenstamm lebte dort, der Herden hatte und Kraft und Mut auf der Jagd nach wilden Tieren vertat. Sie zechten nach der Jagd, sangen Lieder und kosten mit den Mädchen, die dort schön waren wie Feuer.

Einst, während eines Gelages, wurde eines von ihnen, schwarzhaarig und mild wie die Nacht, von einem Adler, der vom Himmel herabschoß, davongetragen. Pfeile, von den Männern des Stammes ihm nachgeschossen, fielen kläglich auf die Erde zurück. Da gingen sie, das Mädchen zu suchen, aber sie fanden es nicht. Und sie vergaßen seiner, wie auf Erden alles vergessen wird.«

Die Alte seufzte auf und verstummte. Ihre knarrende Stimme klang so, als murrten alle vergessenen, in ihrer Brust durch die Schatten der Erinnerung lebendig gewordenen Jahrhunderte. Und das Meer akkompagnierte leise den Anfang einer jener alten, vielleicht an seinen Ufern entstandenen Legenden.

»Doch nach zwanzig Jahren kam sie selbst zurück, entkräftet und erschöpft, und ein Jüngling war bei ihr, schön und stark, wie sie selbst vor zwanzig Jahren. Und als sie gefragt wurde, wo sie gewesen sei, erzählte sie, daß der Adler sie in die Berge getragen und mit ihr wie mit seiner Frau gelebt habe. Das war sein Sohn, der Vater war nicht mehr, denn als er schwach wurde, hob er sich zum letztenmal hoch zum Himmel empor, faltete die Flügel zusammen und fiel schwer auf die scharfen Felsenvorsprünge, fiel und zerschmetterte sich tödlich an ihnen . . . Alle betrachteten voll Verwunderung den Sohn des Adlers und sahen, daß er nicht besser war als sie, nur seine Augen waren kalt und stolz, wie beim Könige der Vögel. Und sie sprachen mit ihm, und er antwortete, wenn er wollte, oder schwieg, und als die Ältesten des Stammes kamen, redete er mit ihnen wie mit seinesgleichen. Das beleidigte sie, sie nannten ihn einen unbefiederten Pfeil mit ungeschliffener Spitze und sagten ihm, daß Tausende von solchen wie er sie ehrten und sich ihnen unterordneten und Tausende von zweimal so Alten. Doch mit kühnem Blick erwiderte er ihnen, daß es solche wie er nicht weiter gebe; wenn alle sie ehrten – er wolle es nicht tun. Oh! . . . da wurden sie denn ganz zornig und sagten:

»Er hat unter uns keinen Platz! Möge er gehen, wohin er will.«

Er lachte und ging, wohin er wollte – zu einem schönen Mädchen, das ihn unverwandt angesehen hatte, ging hin zu ihr und umarmte sie. Aber sie war die Tochter eines der Ältesten, die ihn gerichtet hatten. Und obwohl er schön war, stieß sie ihn fort, weil sie den Vater fürchtete. Sie stieß ihn fort und ging weg von ihm, er aber schlug sie nieder, und als sie fiel, trat er mit dem Fuß auf ihre Brust, so daß das Blut aus ihrem Munde zum Himmel spritzte, und sie seufzte schwer auf, wand sich wie eine Schlange und starb.

Alle, die es gesehen, wurden starr vor Schrecken, da zum erstenmal vor ihren Augen so ein Weib getötet wurde. Und lange schwiegen sie, den Blick auf die mit offenen Augen und blutigem Munde Daliegende gerichtet, die wortlos Rache heischte, und auf ihn, der neben ihr, einer gegen alle, stand, und der so kalt und stolz war, daß er den Kopf nicht senkte und gleichsam die Strafe für sie herausforderte. – Dann, nachdem sie sich bedacht, ergriffen und banden sie ihn und ließen ihn so, da sie fanden, daß ihn gleich zu töten zu einfach sei, nicht erniedrigend für ihn, und sie nicht befriedige.«

Die Nacht nahm zu und vertiefte sich und nahm, erfüllt von seltsamen, leisen Lauten, ein immer phantastischeres Kolorit an. Melancholisch pfiffen die Zieselmäuse in der Steppe, im Weinlaub schrillte das Gezirp der Grillen, die Blätter säuselten und wisperten, und die volle Mondscheibe, die vorhin blutrot gewesen, erblich, sich von der Erde entfernend, und ergoß immer verschwenderischer bläulichen Nebel über die Steppe . . .

»Und so versammelten sie sich, um eine Strafe, würdig dieses Verbrechens, zu ersinnen . . . Es wurde der Vorschlag gemacht, ihn von Pferden zerreißen zu lassen – das erschien ihnen zu wenig; alle sollten ihre Pfeile auf ihn abschießen, aber auch das wurde verworfen; er sollte verbrannt werden, doch der Rauch vom Scheiterhaufen hätte sie nicht seine Qualen sehen lassen; vieles wurde vorgeschlagen – aber sie fanden nichts so Gutes, das allen gefallen und sie befriedigt hätte. Und seine Mutter lag vor ihnen auf den Knien und schwieg, da sie weder Tränen noch Worte fand, sie um Schonung anzuflehen. Lange redeten sie so, da sagte ein Weiser nach langem Überlegen:

»Wir wollen ihn fragen, warum er es getan hat?«

Und sie fragten ihn danach. Er sagte:

»Löst meine Bande! Ich werde nicht gefesselt mit euch reden.«

Und als sie seine Bande gelöst hatten, fragte er: »Was wollt ihr?« So fragte er, als wären sie Sklaven . . .

»Du hast es gehört . , .« sagte der Weise.

»Wozu soll ich euch meine Handlungen erklären?«

»Daß sie uns verständlich seien. Du, Stolzer, höre! Gleichviel, du stirbst ja doch . . . Laß uns also verstehen, was du getan hast. Wir bleiben am Leben, und es ist uns von Nutzen, unser Wissen zu vermehren . . .«

»Gut, ich sag's, obwohl ich vielleicht selbst nicht richtig verstehe, was sich zugetragen. Mir scheint, ich habe sie getötet, weil sie mich zurückstieß . . . Und ich brauchte sie.«

»Aber sie gehörte doch nicht dir!« wurde ihm gesagt.

»Braucht ihr denn nur das eure? Ich sehe, daß jeder Mensch nur seine Rede, seine Hände und Füße hat . . . und er besitzt Tiere, Weiber, Länder . . . und vieles noch . . .«

Darauf wurde ihm gesagt, daß der Mensch für alles, was er nimmt, mit sich selbst zahle: seinem Verstande und seiner Kraft, seiner Freiheit und seinem Leben. Er aber antwortete, er wolle sich ganz behalten.

Lange redeten sie mit ihm und ersahen schließlich aus seinen Antworten, daß er sich für den Ersten auf Erden hielt und außer sich nichts sah. Es erschien sogar allen schrecklich, als sie verstanden, welcher Einsamkeit er sich geweiht hatte. Er hatte weder Stamm, noch Mutter, noch Taten, noch Vieh, noch Weib, und er wollte nichts davon.«

Das schöne fröhliche Lachen eines Mädchens klang vom Strande her, und jemand sang in hohem Tenor. Dann und wann stimmten einige andere gleichzeitig ein. Ein Flug von Tönen klang in die Luft hinaus und verlor sich plötzlich, als hätte sie jemand alle zugleich ergriffen und versteckt . . .

»Als alle jene Leute erkannten, daß er nichts Höheres anerkenne, fingen sie von neuem an, sich über seine Strafe zu beraten. Doch jetzt redeten sie nicht lange, denn jener Weise, der ihre Reden bis dahin nicht gehindert hatte, fing selbst an:

»Halt! Es gibt eine Strafe, eine schreckliche Strafe. Ihr erdenkt eine solche in tausend Jahren nicht. Die Strafe liegt in ihm selbst! Laßt ihn, möge er frei sein. Das sei seine Strafe.«

Und da geschah etwas Großes. Donner erdröhnte vom Himmel, an dem keine Wolken waren. So bestätigten die Naturgewalten die Worte des Weisen. Alle neigten sich und gingen auseinander. Er aber, dieser Jüngling, der jetzt bereits den Namen Larra hatte, das heißt: der Ausgestoßene, Verworfene, – lachte laut den Leuten nach, die ihn verworfen hatten, lachte und blieb allein frei, wie sein Vater. Doch sein Vater war kein Mensch . . . Aber er war ein Mensch. Und so lebte er nun frei wie ein Vogel. Er kam zu dem Stamm und raubte Vieh und Mädchen – alles, was er wollte. Auf ihn wurde geschossen, aber die Pfeile konnten seinen Leib nicht durchbohren, der, den Menschen unsichtbar, vom Schleier der höchsten Strafe umwunden war. Er war flink, raubgierig, stark, grausam und begegnete keinem Menschen von Angesicht zu Angesicht. Nur von fern wurde er gesehen. Und jeder, der ihn sah, schoß stets so viele Pfeile auf ihn ab, als er wollte. Lange umkreiste er so einsam die Menschen, lange, nicht bloß einmal eine Dekade langer Jahre. Aber ein Mensch kann nicht sein Leben lang ein und dasselbe tun. Er kann nicht immer nur genießen – der Genuß verliert seinen Wert, und er möchte leiden. So kam er denn einmal den Menschen nahe, und als sie auf ihn zustürzten, rührte er sich nicht von der Stelle und zeigte durch nichts, daß er sich verteidigen werde. Da erriet ihn einer der Menschen und rief schnell und laut:

»Rührt ihn nicht an! Er will sterben!«

Und alle blieben stehen, denn sie wollten das Los dessen nicht erleichtern, der ihnen Böses zugefügt hatte, sie wollten ihn nicht töten. Sie blieben stehen und lachten über ihn. Er aber erbebte, als er dieses Lachen hörte, und suchte etwas auf seiner Brust, mit den Händen nach ihr greifend. Und plötzlich warf er sich, einen Stein aufhebend, auf die Leute. Sie aber, seinen Schlägen ausweichend, brachten ihm nicht einen bei, und als er, ermattet, mit bangem Schrei auf die Erde fiel, gingen sie zur Seite und beobachteten ihn. Da stand er auf, ergriff ein im Kampf mit ihm verlorenes Messer und stieß es sich in die Brust. Doch das Messer zerbrach, als wäre es auf einen Stein gestoßen worden. Und wieder fiel er zur Erde und schlug lange mit dem Kopf darauf. Aber die Erde wich vor ihm zurück, sich vertiefend durch die Schläge seines Kopfes.

›Er kann nicht sterben‹, sagten die voll Freude, die alles dies gesehen hatten.

Und sie gingen davon und ließen ihn allein. Er lag mit dem Gesicht nach oben und sah – hoch am Himmel schwebten wie schwarze Punkte mächtige Adler. Er lag, und in seinen Augen war so viel Gram, daß man damit alle Menschen der Welt hätte vergiften können. Und so blieb er seit jener Zeit allein frei und suchte den Tod. Und so wandert, wandert er überall . . . Sieh, wie ein Schatten ist er schon geworden und wird ewig so bleiben. Er versteht weder die Rede der Menschen noch ihre Handlungen – nichts. Und sucht immer und wandert, wandert . . . Er hat kein Leben, und der Tod lächelt ihm nicht. Und er hat keinen Platz unter den Menschen . . . So wurde ein Mensch für seinen Stolz gestraft!«

Die Alte seufzte auf, verstummte, und ihr auf die Brust gesenkter Kopf wiegte sich ein paarmal eigentümlich. Ich sah sie an. Die Alte wurde vom Schlaf übermannt, so schien es mir. Sie tat mir plötzlich schrecklich leid. Das Ende der Erzählung hatte sie mit so erhobener und drohender Stimme gesprochen, und dennoch klang aus diesem Tone eine ängstliche, sklavische Note.

Am Strande wurde gesungen, seltsam gesungen. Zuerst erklang eine Altstimme – sie sang zwei, drei Töne, und eine andere Stimme erschallte, die das Lied von vorne anfing, und die erste ihr immer voran . . . die dritte, vierte und fünfte fielen in derselben Weise in das Lied ein. Und plötzlich sang ein Chor von Männerstimmen dasselbe Lied, auch von vorne.

Daraus ergab sich etwas wunderbar Originelles. Jede Frauenstimme klang ganz für sich, sie erschienen alle wie verschiedenfarbige Bäche, die, gleichsam über Vorsprünge stürzend, hüpfend und klingend, in die tiefe Woge der Männerstimmen sich ergossen, die sie fließend überströmte, sie gingen in ihr unter, rissen sich aus ihr los, übertönten sie und schwangen sich wieder rein und klar, eine nach der andern, hoch hinauf. Auch die Melodie war originell: die Männer sangen ohne Vibration, und die machtvollen Laute ihrer Stimmen klangen dumpf, als erzählten sie von etwas Traurigem, die Frauenstimmen aber, die einander haschten, schienen sich gleichsam zu beeilen, dasselbe vor den Männern zu erzählen, und klangen lustig und munter, wie Glöckchen, mit vielen lachenden Trillern.

Vor den Stimmen war das Rauschen der Wellen nicht zu hören . . .

»Hast du schon irgendwo so singen gehört?« fragte Isergil, den Kopf aufrichtend, und lächelte mit ihrem zahnlosen Munde.

»Nein, das habe ich noch nie gehört . . .« flüsterte ich ihr zu.

»Aha! . . . und wirst es nicht hören. Wir lieben den Gesang. Und wir sind alle schön. Nur schöne Menschen können gut singen – schöne, die das Leben lieben. Wir lieben das Leben. Sieh mal, sind die denn vom Tage nicht müde, die da singen? Von Sonnenaufgang bis zum Untergang haben sie gearbeitet, nun ist der Mond aufgegangen, und sie singen wieder. Die, welche nicht zu leben verstehen, würden sich schon schlafen gelegt haben. Die, welchen das Leben lieb ist, und die es zu schätzen wissen – singen.«

»Aber die Gesundheit . . .« wollte ich anfangen.

»Die Gesundheit reicht immer zum Leben. Gesundheit! Wenn du Geld hättest, würdest du es denn nicht vertun? Die Gesundheit ist auch solch Gut. Weißt du, was ich tat, als ich jung war? Ich webte Teppiche vom Sonnenaufgang bis zum Untergang, fast ohne aufzustehen. Ich war lebendig wie ein Sonnenstrahl und mußte unbeweglich sitzen wie ein Stein. Manchmal knackten mir alle Knochen vom Sitzen. Kam aber die Nacht, dann lief ich zu dem, den ich liebte, mich mit ihm zu küssen. Neun Werst waren es bis zu ihm. Und zurück wieder neun – heißt das. Weißt du, wieviel das macht? . . . Und so lief ich drei Monate, solange die Liebe dauerte; alle Nächte dieser Zeit war ich bei ihm. Und bis zu welchem Alter hab' ich's gebracht. – Das Blut hat gereicht! Und wieviel hab' ich geliebt! Wieviel Küsse gegeben und genommen! . . .«

Ich sah ihr ins Gesicht. Ihre schwarzen Augen waren doch noch trübe, die Erinnerung hatte sie nicht belebt. Hell beleuchtete der Mond ihr schwarzes, runzliges Gesicht, und ich sah die trocknen, rissigen, eingefallenen Lippen hinter dem spitzen Kinn mit den grauen Haaren darauf und die zusammengeschrumpfte Nase, gebogen wie ein Eulenschnabel. An Stelle der Wangen waren schwarze Gruben, und über der einen lag eine Strähne aschgrauen Haares, die sich unter dem roten Lappen, mit dem ihr Kopf umwunden war, vorgedrängt hatte. Die Haut auf Gesicht, Hals und Händen war dünn und ganz von Runzeln durchfurcht; bei jeder Bewegung der alten Isergil konnte man erwarten, daß die trockene Haut zerrisse, zerfiele, und ein nacktes Skelett mit trüben schwarzen Augen erschiene.

»Erzähle mir, wie du geliebt hast!« bat ich sie.

Da fing sie wieder mit ihrer knarrenden Stimme an zu erzählen:

»Ich wohnte mit meiner Mutter bei Falmi, dicht am Ufer des Birlat; und ich war fünfzehn Jahre alt, als er auf unserm Chutor im Boot erschien. Er war so hochgewachsen, so biegsam, so heiter und hatte solchen schwarzen Schnurrbart. Er saß im Boot und rief so hell durchs Fenster zu uns herein: ›Heda, habt ihr Wein . . . und zu essen für mich?‹ Ich blickte aus dem Fenster durch die Zweige der Eschen und sah: der Fluß war ganz blau vom Mondschein, und er, in weißem Hemd und breiter Binde mit seitwärts herabhängenden Enden, stand mit dem einen Fuß im Boot, mit dem andern am Ufer. Und er wiegt sich und singt: ›Sieh, solch schönes Mädchen wohnt hier! . . . Und ich wußte es nicht einmal!‹ Als kenne er schon alle schönen, bis auf mich! Ich brachte ihm Wein und gekochtes Schweinefleisch . . . Und nach vier Tagen gab ich mich ihm schon selbst . . . Nachts fuhren wir immer zusammen im Boot. Er kam und pfiff leise wie eine Zieselmaus, und ich sprang zum Fenster heraus wie ein Fisch, ins Boot zu ihm. Und dann fuhren wir . . . Er war ein Fischer vom Pruth, und als die Mutter dann alles erfahren hatte und mich geschlagen hatte, suchte er mich immer zu überreden, mit ihm nach der Dobrudscha und weiter nach der Donau zu gehen. Aber da gefiel er mir schon nicht mehr – er konnte nur singen und küssen, weiter nichts. Das wurde mir schon langweilig. Zu jener Zeit schweifte dort eine Huzulenbande umher, und einige hatten ihre Liebsten da . . . Die hatten ein lustiges Leben. Manche wartete und wartete auf ihren Karpathenburschen, dachte schon, er säße im Gefängnis oder sei irgendwo im Streit erschlagen – und plötzlich war er wie vom Himmel gefallen bei ihr, allein oder mit zwei, drei Kameraden. Reiche Geschenke brachte er ihr mit – leicht war es ihm ja, sie zu bekommen! – und zechte bei ihr und rühmte sich seiner Liebsten vor seinen Kameraden. Und das behagte ihr. So bat ich denn auch eine Freundin, die einen Huzulen hatte, sie mir zu zeigen . . . Wie sie hieß? Ich hab's vergessen . . . Ich fange jetzt an, alles zu vergessen. Sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen, alles vergißt sich! Sie machte mich mit einem Burschen bekannt. Er war hübsch . . . Rothaarig war er, ganz rot – Schnurrbart und Locken. Einen Feuerkopf hatte er . . . Manchmal war er so traurig, so freundlich, aber manchmal brüllte und tobte er wie ein wildes Tier. Einmal schlug er mich ins Gesicht . . . Da sprang ich ihm wie eine Katze an die Brust und biß ihn in die Wange . . . Seitdem hatte er ein Grübchen in der Wange, und er mochte gern, wenn ich es küßte . . .«

»Wohin war denn der Fischer geraten?« fragte ich.

»Der Fischer? – Ach der . . . da . . . Er schloß sich den Huzulen an. Zuerst suchte er mich zu überreden und drohte, mich ins Wasser zu werfen, dann aber ergab er sich drein, schloß sich ihnen an und nahm eine andere . . . Sie beide wurden auch zusammen gehängt – der Fischer und der Huzule. Ich habe zugesehen, als sie gehängt wurden. Es war in der Dobrudscha. Bleich ging der Fischer zum Richtplatz und weinte, aber der Huzule rauchte seine Pfeife, ging und rauchte, die Hände in den Taschen, das eine Ende des Schnurrbarts lag auf der Schulter, das andere hing auf die Brust. Er erblickte mich, nahm die Pfeife heraus und rief: ›Lebewohl!‹ . . . Ich habe ihn ein ganzes Jahr beklagt. Ach! . . . Das geschah damals, als sie schon in die Karpathen heimkehren wollten. Zum Abschied besuchten sie noch einen Rumänen, dort wurden sie ergriffen. Zwei nur, einige wurden getötet, und die übrigen entkamen . . . Der Rumäne bekam nachher doch noch seinen Lohn . . . Der Chutor wurde in Brand gesteckt, und die Mühle und alles Getreide verbrannte. Er wurde ein Bettler.«

»Das hast du getan?« fragte ich sie aufs Geratewohl.

»Die Huzulen hatten viele Freunde, nicht ich allein . . . Wer ihr bester Freund war, der hat ihnen auch die Gedächtnisfeier veranstaltet . . .«

Der Gesang am Meeresstrande war schon verstummt, und das Rauschen der Meereswogen bildete jetzt die Begleitung der Alten; das gedankenvolle, bewegte Rauschen war eine prächtige Begleitung zu der Erzählung von einem bewegten Leben. Kaum hörbar tönte vom Strande undeutliches Sprechen und Gelächter herüber. Immer weicher wurde die Nacht, der blaue Mondenschein nahm immer mehr in ihr zu, und die unbestimmten Laute des geschäftigen Lebens ihrer unsichtbaren Bewohner wurden leiser, übertönt von dem zunehmenden Wellenrauschen . . . denn der Wind war stärker geworden.

»Dann hab' ich noch einen Türken geliebt. Ich war in seinem Harem, in Skutari. Eine Woche lang lebte ich – ganz gut . . . Aber es wurde mir langweilig . . . bloß Weiber, Weiber . . . Er hatte ihrer acht . . . Essen, schlafen oder schwatzen, dummes Zeug den ganzen Tag . . . Oder sie zanken sich, gackernd wie Hennen . . . Der Türke war nicht mehr jung, fast grau, aber so vornehm und reich. Er sprach wie ein Herrscher . . . Seine Augen waren schwarz . . . Sie sahen gerade ins Herz hinein. Er betete sehr gern. Ich hatte ihn in Bukarest erblickt . . . Er ging über den Bazar wie ein Zar und sah so vornehm aus, so vornehm. Ich lächelte ihn an. An demselben Abend wurde ich auf der Straße ergriffen und zu ihm gebracht. Er hatte Zypressen und Palmen verkauft und war nach Bukarest gekommen, um etwas zu kaufen. ›Kommst du mit mir?‹ sagte er. ›O ja, ich komme mit!‹ ›Gut!‹ Und ich reiste mit. Er war reich. Und er hatte schon einen Sohn, einen schlanken, schwarzhaarigen Knaben . . . der war sechzehn Jahre alt. Mit ihm entfloh ich dann dem Türken . . . Ich floh nach Bulgarien, nach Lom-Palanka . . . Dort stieß mir eine Bulgarin das Messer in die Brust, um ihren Bräutigam oder um ihren Mann – ich erinnere mich nicht mehr.

Lange lag ich krank in einem Kloster, einem Frauenkloster. Ein Mädchen, eine Polin, pflegte mich . . . und aus einem anderen Kloster – bei Arzer-Palanka denke ich – kam oft ihr Bruder zu ihr, auch ein Mönch . . . So einer . . . wie ein Wurm, der sich immer vor mir wand . . . Und als ich gesund war, ging ich mit ihm davon . . . nach seinem Polen.«

»Warte! . . . Wo blieb der kleine Türke?«

»Der Knabe? Der Knabe starb. Aus Heimweh oder aus Liebe . . . aber er welkte wie ein ungekräftigtes Bäumchen, das die Sonne versengt hat . . . so welkte er dahin . . . Ich weiß es noch, ganz durchsichtig und bläulich wie eine kleine Eisscholle lag er schon da, und immer noch brannte die Liebe in ihm . . . und er bat immer, mich über ihn zu neigen und ihn zu küssen. – Ich hatte ihn lieb und küßte ihn viel, ich weiß es noch . . . Dann wurde es ganz schlecht . . . er konnte sich kaum noch bewegen, und er lag und bat so kläglich, wie ein Bettler um Almosen, ich möchte mich neben ihn legen und ihn erwärmen. Ich tat es – dann glühte er mit einemmal ganz und gar. Einmal erwachte ich, da war er schon kalt . . . tot . . . Ich habe ihn beweint. Wer weiß? Vielleicht habe ich ihn ja getötet. Ich war damals schon zweimal so alt wie er. Und ich war so stark, so kraftvoll . . . und er? . . . ein Knabe! . . .«

Sie seufzte auf und – das sah ich zum erstenmal bei ihr – bekreuzigte sich dreimal, mit den dürren Lippen etwas flüsternd.

»Nun,« half ich ihr ein, da ich sah, daß sie verstummte, »du begabst dich nach Polen . . .«

»Ja . . . mit dem kleinen Polen. Er war lächerlich und schlecht. Wenn er ein Weib brauchte, schmeichelte er sich bei mir ein wie eine Katze, und heißer Honig tropfte von seiner Zunge, aber wenn er mich nicht wollte, dann schlug er mich mit Worten und mit der Knute. Einmal gingen wir am Ufer eines Flusses entlang, da sagte er mir solch ein stolzes, beleidigendes Wort. Oh! Oh! wie wurde ich zornig! Ich kochte wie Pech! Ich nahm ihn auf die Arme wie ein Kind, – er war ja nur klein, – und hob ihn hoch, ihm die Seiten so zusammenpressend, daß er ganz blau wurde. Dann gab ich ihm einen Schwung und warf ihn vom Ufer in den Fluß. Er schrie in einem fort . . . Lächerlich schrie er. Ich sah ihm von oben zu, und er zappelte im Wasser. Dann ging ich davon. Und ich bin ihm nie mehr begegnet. Darin war ich glücklich: nie bin ich denen nachher begegnet, die ich einmal geliebt hatte. Das sind schlimme Begegnungen, gerade wie mit Verstorbenen.«

Die Alte schwieg seufzend. Ich stellte mir die von ihr auferweckten Leute vor. Da ist er, der feurig-rothaarige, schnurrbärtige Huzule, der, ruhig seine Pfeife rauchend, zum Tode geht, der starke, entschlossene Bursche . . . Er hatte gewiß kalte, blaue Augen, die alles fest und scharf ansahen. Neben ihm der Fischer vom Pruth, mit schwarzem Schnurrbart; er möchte nicht sterben, er weint, in seinem Antlitz, bleich vor Todesangst, sind die munteren Augen erloschen, und der Schnurrbart, von Tränen durchfeuchtet, hängt traurig über die Winkel des verzerrten Mundes. Da ist er, der alte, vornehme Türke, sicherlich ein Fatalist und Despot, und neben ihm sein Sohn, die bleiche, gebrechliche Blume des Ostens, durch Küsse vergiftet. Und dort der hoffärtige Pole, galant und grausam, beredt und kalt. Und sie alle sind nur bleiche Schatten, und die, welche sie küßten, sitzt neben mir lebend, doch von der Zeit verzehrt, körperlos und blutlos, mit einem Herzen ohne Wünsche und Augen ohne Feuer . . . auch fast ein Schatten.

Und sie sprach weiter:

»In Polen wurde es mir schwer. Da wohnt ein kaltes, falsches Volk. Ich kannte ihre Schlangensprache nicht. Alle zischen . . . Warum zischen sie? Gott hat ihnen solche Schlangensprache gegeben, weil sie falsch sind. Ich ging damals, ohne zu wissen wohin, und sah, wie sie Anstalten trafen, sich gegen euch Russen zu empören. Endlich kam ich nach der Stadt Bochnia. Ein Jude kaufte mich, nicht für sich, sondern um mich zu verhandeln. Ich war einverstanden. Um zu leben, muß man etwas zu tun verstehen. Ich verstand nichts und zahlte dafür mit mir selbst. Aber ich hatte mir damals ausgedacht, wenn ich etwas Geld hätte, wollte ich heimkehren und die Ketten zerreißen, wie stark sie auch seien. Da wohnte ich denn. Reiche Pane kamen zu mir und zechten mit mir und bei mir. Das kam sie teuer zu stehen. Sie schlugen sich um mich und ruinierten sich. Einer trachtete lange nach mir, und da kam er einmal und hinter ihm ein Diener mit einem Sack. Da nahm der Pan den Sack und schüttete ihn über meinem Kopf aus. Goldene Münzen rollten mir über den Kopf, und lustig war es, ihren Klang zu hören, als sie zu Boden fielen. Aber ich vertrieb ihn dennoch. Er hatte solch dickes, aufgedunsenes Gesicht und einen Leib – wie ein großes Kissen. Er sah wie ein fettes Schwein aus. Ja, ich jagte ihn fort, obwohl er sagte, daß er alles Land und Häuser und Pferde verkauft habe, um mich mit Gold zu überschütten. Ich liebte damals einen verdienten Polen mit zerhauenem Gesicht. Sein ganzes Gesicht war kreuz und quer von den Säbeln der Türken zerhackt, mit denen er kurz vorher für die Griechen gekämpft hatte. Das war ein Mensch! . . . Was waren ihm die Griechen, da er ein Pole war? Doch er ging und kämpfte neben ihnen gegen ihre Feinde. Er wurde zerhauen, ein Auge war von ihren Hieben ausgelaufen und zwei Finger der linken Hand waren auch abgeschlagen . . . Was waren ihm die Griechen, da er ein Pole war? Aber das war's: er liebte Taten. Und wenn ein Mensch Taten liebt, versteht er sie immer zu tun und findet sie, wo es möglich ist. Wisse, im Leben ist immer Raum für Taten. Und die, welche keine für sich finden, sind einfach Faulenzer oder einfach Feiglinge, oder sie verstehen das Leben nicht, denn verständen die Leute das Leben, würde jeder seinen Schatten nach sich darin zurücklassen wollen. Und dann würde es die Menschen nicht spurlos verschlingen. – Oh, dieser Zerhauene war ein braver Mensch! Er war bereit, ans Ende der Welt zu gehen, um etwas zu tun. Sicherlich haben ihn die Eurigen während des Aufstandes getötet. Und wozu zogt ihr in den Kampf mit den Ungarn? Nun, nun, schweig nur! . . .«

Und während sie mir befahl zu schweigen, verstummte die alte Isergil plötzlich selbst und fiel in Gedanken.

»Ich habe auch einen Ungarn gekannt. Einmal ging er von mir fort, – es war im Winter, – und erst im Frühling, als der Schnee schmolz, wurde er auf dem Felde mit durchschossenem Kopf gefunden. Siehst du – nicht weniger als die Pest richtet die Liebe Leute zugrunde; nicht weniger – wollte man es berechnen . . . Wovon sprach ich? Von Polen . . . Ja, da hab ich mein letztes Spiel gespielt. Ich war einem Edelmann begegnet . . . Wie war der schön! Wie der Teufel! Ich war ja schon alt, ach, alt! War ich schon vierzig Jahr alt? Ich glaube wohl . . . Und er war noch stolz und von uns Weibern verwöhnt. Er wurde mir teuer . . . ja. Er wollte mich gleich ohne weiteres nehmen, aber ich ergab mich nicht. Ich bin nie jemandes Sklavin gewesen. Und mit dem Juden war ich schon fertig, ich hatte ihm viel Geld gegeben . . . Ich wohnte schon in Krakau. Da hatte ich alles, Pferde und Gold und Diener . . . Er kam zu mir, der stolze Dämon, und wollte immer, ich solle mich ihm selbst in die Arme werfen. Wir stritten uns . . . siehst du! Ich wurde sogar häßlicher dadurch, erinnere ich mich. Das zog sich lange hin . . . Ich bestand auf dem meinen; er flehte mich auf den Knien an . . . Aber er nahm mich nur wie die Viper und warf mich wieder fort. Da erkannte ich, daß ich alt wurde . . . Ach! das war mir nicht süß! Das war nicht mehr süß! Ich liebte ihn ja, diesen Teufel . . . und er lachte bei unsern Zusammenkünften über mich . . . schlecht war er! Auch vor anderen lachte er über mich, und ich erfuhr das alles. Nun, das war bitter für mich, sag' ich dir. Aber er war da, mir nahe, und ich ergötzte mich doch an ihm. Und als er in den Kampf mit euch Russen zog, wurde es mir unerträglich. Ich wollte mich bezwingen, aber ich konnte nicht . . . und entschloß mich, ihm nachzureisen. Er befand sich in einem Walde bei Warschau.

Aber als ich ankam, erfuhr ich, daß die Eurigen sie schon besiegt hatten . . . und daß er unfern in einem Dorf gefangen sei.

Das heißt – überlegte ich –, ich werde ihn nicht mehr wiedersehen. Und mich verlangte, ihn zu sehen. Nun, ich gab mir alle mögliche Mühe, ihn wiederzusehen . . . Ich verkleidete mich als Bettlerin, hinkte und ging mit verbundenem Gesicht in jenes Dorf, wo er war. Überall Kosaken und Soldaten . . . es kostete mich viel, dort zu sein! Ich erfuhr, wo die Polen saßen, und erkannte, daß schwer dort hinzukommen war. Und das mußte ich. Da schlich ich mich nachts an jenen Ort heran, wo sie waren. Ich kroch zwischen Beeten durch einen Obstgarten und sah: eine Wache stand auf meinem Wege . . . Aber schon hörte ich die Polen singen und laut reden. Sie sangen der Mutter Gottes ein Lied . . . Und er sang dort auch . . . mein Arkadek. Es war mir bitter, zu denken, daß sie früher mir nachkrochen . . . und daß jetzt die Zeit gekommen war, daß ich um einen Menschen wie eine Schlange auf der Erde kroch, vielleicht zu meinem Tode. Die Schildwache horchte schon, vorgeneigt. Nun, was konnte mir denn geschehen? Ich erhob mich von der Erde und ging zu ihr. Ich hatte kein Messer bei mir, nichts außer den Händen und der Zunge. Ich bedauerte, kein Messer mitgenommen zu haben. Ich flüsterte . . . ›halt!‹ Aber der Soldat setzte mir schon sein Bajonett an den Hals. Ich sage flüsternd: ›Stich nicht, warte, höre, wenn du ein Herz hast! Ich kann dir nichts geben, aber ich bitte dich‹ . . . Er ließ das Gewehr sinken und sagte auch im Flüsterton zu mir: ›Weib, geh fort! geh fort! Was willst du?‹ Ich sagte ihm, daß mein Sohn dort eingeschlossen sei . . . ›Du verstehst, Soldat, – mein Sohn! Du bist doch auch jemandes Sohn, ja? So sieh mich an – ich hab' auch einen solchen wie du, und sieh, wo er ist! Laß mich ihn sehen, vielleicht stirbt er bald . . . und vielleicht wirst du morgen getötet . . . wird dann deine Mutter um dich weinen? Und es würde dir schwer werden zu sterben, ohne sie gesehen zu haben, deine Mutter? Und meinem Sohne wird es auch schwer. Habe doch Erbarmen mit ihr und ihm und mit mir – einer Mutter!‹ . . .

Ach, wie lange redete ich zu ihm! Es regnete, und wir wurden naß. Der Wind heulte und toste und stieß mich bald von hinten, bald von vorne. Ich stand und schwankte hin und her vor diesem steinernen Soldaten . . . Aber er sagte immer: ›nein!‹ Und jedesmal, wenn ich sein kaltes Wort hörte, flammte der Wunsch, jenen Arkadek zu sehen, noch heißer in mir auf . . . Ich redete und maß den Soldaten mit den Augen, – er war klein, hager und hustete beständig. Da fiel ich vor ihm zu Boden und seine Knie umfassend, flehte ich ihn mit leidenschaftlichen Worten an und warf ihn zur Erde. Er fiel in den Schmutz. Da drehte ich schnell sein Gesicht zur Erde und drückte seinen Kopf in die Pfütze, daß er nicht schrie. Er schrie nicht, sondern zappelte nur und suchte mich von seinem Rücken abzuwerfen. Ich aber drückte mit beiden Händen seinen Kopf tiefer in den Schmutz. Und er erstickte . . . Da stürzte ich nach dem Speicher, wo die Polen sangen. ›Arkadek!‹ . . . flüsterte ich durch eine Ritze in der Wand. Sie sind hellhörig, die Polen – und als sie mich hörten, verstummte das Singen. Da sind seine Augen den meinen gegenüber. – ›Kannst du hier herauskommen?‹ – ›Ja, durch den Fußboden!‹ sagte er. – ›Nun, dann komm.‹ Und ihrer vier krochen unter dem Speicher hervor: drei und mein Arkadek. ›Wo ist die Schildwache?‹ fragte Arkadek. – ›Dort liegt sie!‹ . . . Und sie gingen leise, leise, zur Erde gebückt, gerade nach der Stelle, wo der Soldat lag, und als sie vorübergingen, schimpften sie auf ihn, aber Arkadek hob sein Gewehr und durchstach den Rücken des Soldaten mit dem Bajonett. Es regnete immer stärker, und der Wind heulte so laut. Wir entkamen aus dem Dorfe und gingen lange schweigend durch den Wald. Schnell gingen wir. Arkadek hielt mich an der Hand, und seine Hand war heiß und zitterte. Oh! . . . wie wohl war's mir mit ihm, so lange er schwieg. Das waren die letzten schönen Minuten meines dürstenden Lebens. Aber wir kamen auf eine Wiese hinaus und blieben stehen. Alle vier dankten mir. Ach, wie lange und viel sie zu mir redeten! Ich hörte und sah nur meinen Pan. Was wird er mir tun? Und da umarmte er mich und sagte so wichtig . . . Ich weiß nicht mehr, was er sagte, aber es kam darauf hinaus, daß er mich jetzt aus Dankbarkeit dafür, daß ich ihn befreit habe, lieben werde . . . Und lächelnd kniete er vor mir nieder und sagte: ›meine Königin!‹ zu mir. Solch falscher Hund war er! . . . Nun, da gab ich ihm einen Fußstoß und hätte ihn ins Gesicht geschlagen, aber er wankte zurück und sprang auf. Bleich und drohend stand er vor mir . . . Auch die andern drei standen, alle finster. Und alle schwiegen. Ich sah sie an . . . Ich weiß, ich fühlte da nur große Langeweile, und eine Mattheit kam über mich . . . eine kalte Mattheit. Ich sagte: ›geht!‹ Die Hunde fragten mich: ›Du wirst zurückkehren, unsern Weg zu zeigen?‹ So schlecht waren sie! Nun, sie gingen doch. Da ging ich auch . . . Am andern Tage ergriffen mich die Eurigen, ließen mich aber bald frei. Da erkannte ich, daß es für mich Zeit sei, mein Nest zu bauen, daß es des Kuckucksdaseins genug war! Ich wurde schon schwerfällig, die Flügel erlahmten, und das Gefieder verlor seinen Glanz . . . Zeit, Zeit! Da fuhr ich nach Galizien und von dort nach der Dobrudscha. Und schon an drei Jahrzehnte leb' ich nun hier. Ich hatte einen Mann, einen Moldawanen, vor einem Jahr ist er gestorben. Und so lebe ich. Lebe allein . . . Nein, nicht allein, mit denen dort.« Die Alte winkte mit der Hand nach dem Meere. Dort war alles still. Dann und wann entstand ein kurzer, trügerischer Laut und erstarb sogleich.

»Sie lieben mich. Ich erzähle ihnen vieles. Das brauchen sie. Sie sind noch alle jung . . . Und mir ist wohl bei ihnen. Ich seh' sie an und denke: es gab eine Zeit, da war ich auch wie sie . . . Nur war zu meiner Zeit mehr Kraft und Feuer in den Menschen, und darum lebte es sich lustiger und besser . . . Ja! . . .«

Und sie verstummte. Ich sah sie lange und aufmerksam an. Ich wurde traurig neben ihr. Sie aber träumte, den Kopf wiegend, und leise, leise flüsterte sie etwas . . . vielleicht betete sie.

Vom Meere erhob sich eine Wolke – schwarz, wuchtig, von strengen Umrissen, gleich einem Gebirgsrücken. Sie zog in die Steppe. Von ihrem Gipfel rissen sich Wolkenfetzen los, zogen voran und löschten die Sterne aus, einen nach dem andern. Das Meer rauschte. Unweit von uns, im Weingerank, wurde geküßt, gewispert und geseufzt. Weit in der Steppe heulte ein Hund . . . Die Luft wurde drückender und reizte die Nerven durch einen seltsamen Geruch, der die Nase kitzelte. Von den Wolken fielen dichte Schattenmassen auf die Erde und krochen darüber hin, verschwindend und wieder erscheinend . . . Der Mond war erloschen, an seiner Stelle war nur ein matter Opalfleck geblieben, der auch manchmal ganz von schwarzblauen Wolkenfetzen bedeckt wurde. Und in der weiten Steppe, die jetzt schon schwarz und schrecklich erschien, als verheimliche und verstecke sie etwas in sich, flammten kleine, blaue Lichtchen auf. Bald dort, bald hier erschienen sie einen Moment und erloschen, gleichsam als ob mehrere, in der Steppe weit voneinander zerstreute Leute etwas darin suchten und Streichhölzchen ansteckten, die der Wind gleich wieder auswehte. Es waren sehr seltsame blaue Feuerzungen, die etwas Märchenhaftes andeuteten.

»Siehst du die Funken?« fragte mich Isergil.

»Die blauen dort?« sagte ich, in die Steppe deutend.

»Die blauen? Ja, das sind sie . . . Das heißt also, sie sind noch immer da! Nun, nun . . . Ich sehe sie schon nicht mehr. Ich kann vieles nicht mehr sehen.«

»Woher kommen diese Funken?« fragte ich die Alte.

Ich hatte schon früher etwas über den Ursprung dieser Funken gehört, aber ich wollte gern hören, was die alte Isergil darüber erzählen würde.

»Diese Funken kommen vom heißen Herzen des Danko. Es gab einst in der Welt ein Herz, das einmal wie Feuer aufflammte . . . und von ihm sind diese Funken. Ich werde dir davon erzählen . . . Es ist auch ein altes Märchen . . . Alles ist alt, alt! Siehst du, was alles in alten Zeiten war? . . . Und jetzt gibt es nichts mehr von alledem – weder Taten, noch Menschen, noch solche Märchen, wie dazumal . . . Warum? Nun, sag's mir doch! Du kannst es nicht sagen . . . Was weißt du? Was wißt ihr alle, ihr Jungen? Ahaha! . . . Schautet ihr aufmerksam in die Vergangenheit, – dort fändet ihr für alles die Lösung . . . Aber ihr schaut nicht hinein und versteht darum nicht zu leben . . . Seh' ich denn nicht das Leben? Ach, alles sehe ich, ob auch meine Augen schlecht sind! Und ich sehe, daß die Leute nicht leben, sondern immer auf eine Gelegenheit passen und darauf ihr ganzes Leben setzen. Und haben sie die Zeit vergeudet und sich selbst bestohlen, dann weinen sie über das Schicksal. Was heißt hier Schicksal? Jeder ist sein eignes Schicksal! Allerlei Leute seh' ich heutzutage, aber starke gibt es nicht! Wo sind sie hin? . . . Und schöne gibt es auch weniger.«

Die Alte versank in Gedanken darüber, wo die starken und schönen Leute aus dem Leben hingeraten waren, und betrachtete nachdenklich die dunkle Steppe, als suche sie in ihr eine Antwort.

Ich erwartete ihre Erzählung und schwieg, denn ich fürchtete, wenn ich danach fragte, würde sie wieder abgelenkt werden. Ich wußte, daß sie philosophisch angehaucht wurde, wenn sie sich auf das stürmische Meer ihrer Erinnerungen begab, und es geschah oft, daß das Ende dieser oder jener Legende unter dem Druck dieser freien und einfachen Philosophie verloren ging, die aber in der Darlegung der alten Isergil wie ein seltsamer Knäuel verschiedenfarbiger, von der Zeit künstlich verworrener Fäden erschien.

Und da fing sie an zu erzählen:

»Vor alters lebten auf Erden Leute, wo – weiß ich nicht. Ich weiß, daß große, undurchdringliche Wälder die Lager dieser Leute von drei Seiten umgaben, und an der vierten lag die Steppe. Es waren fröhliche, starke, kühne Menschen, die nicht viel verlangten . . . wahrscheinlich Zigeuner. Aber da kam einmal solch eine unruhige Zeit; irgendwoher erschienen andere Stämme und verjagten die früheren in die Tiefe der Wälder. Dort waren Sümpfe und Finsternis, weil der Wald alt war, und seine Zweige waren so dicht verflochten, daß der Himmel nicht durch sie zu sehen war, und die Sonnenstrahlen konnten sich durch das dichte Laub kaum einen Weg bahnen zu den Sümpfen. Fielen aber ihre Strahlen auf das Wasser der Sümpfe, so erhob sich ein übler Dunst, und die Leute kamen davon um, einer nach dem andern. Da weinten die Weiber und Kinder dieses Stammes, und die Väter sannen nach und härmten sich. Sie mußten fort aus diesem Walde, und dafür gab es zwei Wege: der eine führte – zurück, – dort waren die starken und schlimmen Feinde, der andere – vorwärts, – dort standen Riesenbäume, die sich mit mächtigen Ästen dicht verschlangen und ihre knorrigen Wurzeln tief in den zähen Schlamm der Sümpfe senkten. Diese Bäume standen schweigend und regungslos, wie aus Stein, am Tage in grauer Dämmerung, und umschlossen abends, wenn die Feuer brannten, jene Leute noch dichter. Und immer, am Tage und in der Nacht, war ein Ring um die Leute, der die zu erdrücken drohte, die an die weite Steppe gewöhnt waren. Und noch schrecklicher war es, wenn der Wind an die Wipfel der Bäume schlug, der ganze Wald dumpf und drohend sauste und ein Grablied den Leuten sang, die sich darin vor ihren Feinden versteckt hatten.

Es waren dennoch starke Leute, und sie hätten einen tödlichen Kampf mit denen führen können, die sie einst besiegt hatten, aber sie konnten nicht im Kampfe sterben, weil sie Vermächtnisse hatten, und diese wären mit ihrem Tode auch aus dem Leben verschwunden. Und darum saßen sie und sannen in langen Nächten, beim dumpfen Waldesrauschen, im giftigen Hauch der Sümpfe. Sie saßen, und in lautlosem Tanz hüpften die Schatten von dem Feuer um sie, und allen schien es, als tanzten nicht Schatten, sondern als triumphierten die bösen Geister des Waldes und der Sümpfe . . . Immer saßen die Leute und sannen. Aber nichts – weder Arbeit noch Weiber – entkräftet so Leib und Seele der Menschen, wie kummervolle Gedanken, die wie Schlangen aus dem Herzen das Blut saugen. Und jene Leute erschlafften vom Denken . . . Furcht stieg unter ihnen auf und fesselte sie mit starken Armen, Schrecken erregten die Weiber mit ihren Klagen über den Leichen der am Sumpfhauch Gestorbenen und über das Geschick der furchtgefesselten Lebenden, – und feige Worte wurden laut im Walde, zuerst leise und scheu, dann immer lauter und lauter . . . Schon wollten sie zum Feinde gehen und ihm sich selbst und ihre Freiheit darbringen, und keiner fürchtete mehr, vom Tode erschreckt, das Sklavenleben . . . Doch da erschien Danko, und er allein rettete sie alle.«

Offenbar hatte die Alte die Geschichte vom heißen Herzen des Danko schon oft erzählt; die Sätze erschienen wie lange, glatte Bänder. Sie sprach in singendem Ton, und ihre knarrende, dumpfe Stimme ließ deutlich das Rauschen jenes Waldes vor mir erstehen, inmitten dessen die unglücklichen, vertriebenen Leute vom giftigen Hauch der Sümpfe starben . . .

»Danko – war einer jener Leute, ein schöner Jüngling. Die Schönen sind immer kühn. Und so sagte er zu seinen Gefährten:

»Mit Gedanken wälzt man Steine nicht aus dem Wege. Wer nichts tut, mit dem wird es nicht anders. Was vergeuden wir die Kräfte mit Grübeln und Bangen? Erhebt euch, wir wollen in den Wald und hindurch, er muß ja doch ein Ende haben – alles auf Erden hat ein Ende! Kommt! Nun! He! . . .«

Sie schauten ihn an und erkannten, daß er besser als sie alle war, weil aus seinen Augen viel Kraft und lebendiges Feuer leuchtete.

Führe du uns! sagten sie.

Da führte er sie . . .«

Die Alte schwieg und sah in die Steppe, wo sich die Finsternis verdichtete. Die Fünkchen vom heißen Herzen des Danko flammten weit in der Ferne und erschienen wie blaue Luftblumen, die nur für einen Augenblick erblühten.

»Danko führte sie. Einträchtig folgten ihm alle, sie glaubten an ihn. Das war ein schwerer Weg! Dunkel war's, und bei jedem Schritt tat der Sumpf gierig seinen Moderrachen auf, die Menschen verschlingend, und die Bäume versperrten den Weg gleich einer mächtigen Mauer. Ihre Zweige waren miteinander verflochten wie Schlangen, überall streckten sich Wurzeln aus, und jeder Schritt kostete sie viel Schweiß und Blut. Lange gingen sie . . . Immer dichter wurde der Wald, immer geringer die Kräfte! Da fingen sie an, gegen Danko zu murren und sagten, daß er, der Junge, Unerfahrene, sie vergebens wohin führe. Doch er ging voran und war mutig und heiter.

Aber einmal grollte der Donner über dem Walde, und die Bäume begannen dumpf und drohend zu flüstern. Und es wurde so dunkel darin, als hätten sich plötzlich alle Nächte, die gewesen waren, seit die Welt stand, darin vereinigt. Die kleinen Leute gingen zwischen großen Bäumen, und beim drohenden Tosen der Blitze gingen sie, und schwankend knarrten und summten die Riesenbäume ihre Zorneslieder, und die über den Waldwipfeln zuckenden Blitze erleuchteten ihn für einen Augenblick mit blauem, kaltem Licht und verschwanden ebenso schnell, wie sie erschienen waren, die Menschen erschreckend und äffend. Und die vom kalten Schein der Blitze beleuchteten Bäume schienen wie lebend lange knorrige Arme um die der Gefangenschaft der Finsternis entrinnenden Leute zu strecken, sie zu einem dichten Netz verflechtend, versuchten sie die Leute festzuhalten. Und etwas Schreckliches, Dunkles, Kaltes blickte aus dem Dunkel der Zweige auf die Gehenden. Das war ein schwerer Weg, und die von ihm ermüdeten Leute verloren den Mut. Aber sie schämten sich, ihre Schwäche einzugestehen, und stürzten in Bosheit und Zorn über Danko her, den Menschen, der ihnen voranging. Und sie begannen ihm Vorwürfe zu machen, daß er sie nicht zu führen verstehe, – so taten sie!

Sie blieben stehen, und beim triumphierenden Rauschen des Waldes, inmitten schauernder Finsternis, müde und zornig, begannen sie, Danko zu richten.

»Du bist ein unnützer, schädlicher Mensch für uns«, sagten sie. »Du hast uns fortgeführt und uns erschöpft, und dafür sollst du verderben!«

Und Blitz und Donner bekräftigten ihr Urteil.

»Ihr sagtet: ›führe uns!‹ – und ich habe euch geführt!« rief Danko, indem er sich mit der Brust ihnen entgegenstellte. »Ich habe den Mut zu führen, darum tat ich's! Und ihr? Was habt ihr, euch zu helfen, getan? Ihr seid nur gegangen, und wußtet euch nicht den Mut für einen längeren Weg zu erhalten! Ihr seid nur gegangen, gegangen wie eine Herde Schafe!«

Doch diese Worte ergrimmten sie noch mehr.

»Du sollst sterben! Sterben!« brüllten sie.

Und der Wind sauste und brauste zu ihrem Geschrei, und Blitze zerrissen die Finsternis. Danko schaute auf die, um deretwillen er die Mühe auf sich genommen, und sah, daß sie wilde Tiere waren. Viele Leute standen um ihn, aber kein Edelsinn sprach aus den Gesichtern, und er durfte keine Schonung von ihnen erwarten. Da flammte auch in seinem Herzen der Unwille auf, doch aus Mitleid mit den Leuten erlosch er. Er liebte jene Leute und dachte, daß sie ohne ihn vielleicht umkämen. Und da loderte sein Herz hell auf vor Verlangen, sie zu retten und auf einen leichten Weg hinauszuleiten, und aus seinen Augen funkelten die Strahlen dieses gewaltigen Feuers . . . Sie aber dachten, als sie das sahen, daß er ergrimme, wodurch seine Augen so hell erbrannten, und sie lauerten ihm auf wie Wölfe, denn sie erwarteten, er werde mit ihnen kämpfen, und umringten ihn dichter, damit sie Danko leichter ergreifen und töten könnten. Doch er erkannte schon ihren Gedanken, und dadurch entbrannte sein Herz noch mehr, denn dieser ihr Gedanke machte ihm Schmerz.

Und der Wald sang immerfort sein düstres Lied, und der Donner grollte, und der Regen goß . . .

»Was tu ich für die Leute!« rief Danko stärker als der Donner.

Und plötzlich zerriß er sich mit den Händen die Brust, riß sein Herz heraus und hielt es hoch über den Kopf.

Es flammte so hell wie die Sonne und heller als die Sonne; der ganze Wald verstummte, von dieser Fackel großer Menschenliebe erhellt; die Finsternis zerflatterte vor ihrem Licht, und tief im Walde dort versank sie zitternd im Moderrachen des Sumpfes. Die bestürzten Leute aber standen wie versteinert.

»Gehen wir!« rief Danko und stürzte an seiner Stelle voran, das glühende Herz hochhaltend und den Leuten den Weg damit erhellend.

Sie stürzten ihm nach, angezogen und bezaubert. Da begann der Wald von neuem zu rauschen, verwundert die Wipfel wiegend, aber sein Rauschen wurde von den Tritten der laufenden Leute übertönt. Alle liefen schnell und kühn, von dem wunderbaren Schauspiel des brennenden Herzens hingerissen. – Auch jetzt kamen viele um, doch ohne Klagen und Tränen. Danko aber war immer voran, und sein Herz flammte, flammte fort und fort!

Und plötzlich tat sich der Wald vor ihnen auseinander und blieb zurück, dicht und stumm, und Danko und alle jene Leute tauchten plötzlich in einem ganzen Meer von Sonnenlicht und reiner, regenfrischer Luft unter. Das Gewitter war hinter ihnen, über dem Walde, und hier strahlte die Sonne, atmete die Steppe, funkelte das Gras in Regenbrillanten, und wie Gold erschimmerte der Fluß . . . Es war Abend, und von der untergehenden Sonne erschien der Fluß rot, wie das Blut, das in heißem Strahle Dankos zerrissener Brust entströmte.

Der stolze, sterbende, mutige Danko warf einen Blick vor sich auf die weite Steppe, – warf einen frohen Blick auf das sich vor ihm ausbreitende Land und lachte stolz. Dann sank er um und starb.

Leise flüsterten die verwunderten Bäume, die dahinten geblieben, und das Gras, von Dankos Blut benetzt, wisperte mit.

Die frohen, hoffnungsvollen Leute aber bemerkten seinen Tod nicht und sahen nicht, daß neben Dankos Leichnam noch sein kühnes Herz flammte. Nur ein Vorsichtiger bemerkte es, und da ihn eine Furcht überkam, trat er mit dem Fuße auf das stolze Herz . . . Da erlosch es, in Funken zerstiebend . . .«

Das sind die blauen Funken in der Steppe, die vor dem Gewitter erscheinen!

* * *

Als jetzt die Alte ihre schöne Mär beendet hatte, wurde es schrecklich still in der Steppe, als sei auch sie erschüttert durch die Kraft des kühnen Danko, der sein Herz für die Menschen entbrennen ließ und starb, ohne von ihnen einen Lohn für sich zu erbitten. Mit dem Rücken an die Weintraubenkörbe gelehnt, entschlummerte die Alte, dann und wann erschauernd. Ich sah sie an und dachte: wieviel Sagen und Erinnerungen mögen wohl noch in ihrem Gedächtnis haften? Und ich dachte an das große brennende Herz des Danko und an die menschliche Phantasie, die soviel schöne, starke Legenden erschaffen hat, an das Altertum mit seinen Helden und Taten und an die traurige Zeit, arm an starken Menschen und großen Ereignissen, reich an kaltem Mißtrauen, das alles verlacht, – die klägliche Zeit der jämmerlichen Leute mit totgeborenen Herzen . . .

Ein Windstoß entblößte unter ihren Lumpen die dürre Brust der alten Isergil, welche immer fester einschlief. Ich bedeckte ihren alten Leib und legte mich selbst neben sie auf die Erde. In der Steppe war es still und dunkel. Langsam und schwerfällig zogen die Wolken am Himmel dahin . . . Das Meer rauschte so dumpf und traurig. Die alte Isergil schlief fest . . . Sie konnte nie mehr erwachen.


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