Maxim Gorki
Meister-Erzählungen
Maxim Gorki

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Kain und Artem

Kain war ein kleiner, behender Jude mit spitzem Kopf und gelbem, magerem Gesicht. Um Backen und Kinn wuchsen zottige rote Haarbüschel, und das Gesicht sah aus ihnen wie aus einem alten, zerzausten Plüschrahmen hervor, dessen oberen Teil der Schirm einer schmutzigen Mütze bildete.

Unter dem Schirm und den roten Brauen, die wie gerupft aussahen, blitzten kleine, graue Augen hervor. Sehr selten hafteten sie lange auf einem Gegenstande, sondern eilten immer schnell von einem zum andern und teilten überall ihr Lächeln aus – ein scheues, spähendes, schmeichelndes Lächeln.

Jeder, der dies Lächeln sah, erkannte sogleich, daß das Grundgefühl eines Menschen, der so lächelt, – Furcht vor allem und allen ist, Furcht, im Nu bereit, sich zum Entsetzen zu steigern. Und deshalb suchte jeder, der nicht zu faul war, mit bösem Spott und allerhand Schnippchen dies stets gespannte Gefühl des Juden zu steigern, von dem nicht nur seine Nerven durchdrungen waren, sondern, wie's schien, selbst die Falten seines segeltuchenen Kaftans, der, ihn von den Schultern bis zur Ferse umhüllend, auch beständig zitterte.

Der Name dieses Juden war Chaim Aaron Purwitz, aber er wurde Kain genannt. Das ist einfacher als Chaim, der Name ist den Leuten bekannter, und es liegt viel Kränkendes in ihm. Obwohl dieser Name keineswegs zu seiner kleinen, furchtsamen, schwächlichen Gestalt paßte, schien es doch allen, als kennzeichne er vollkommen Leid und Seele des Juden und kränke ihn zugleich.

Er lebte unter Leuten, die vom Schicksal benachteiligt waren, und solchen ist es stets angenehm, ihren Nächsten zu kränken; sie verstehen es auch sehr gut, denn einstweilen können sie sich nur so rächen. Kain zu beleidigen war leicht; machten sie sich über ihn lustig, so lächelte er nur verlegen und half manchmal sich selbst auslachen, damit gleichsam seinen Beleidigern das Recht der Existenz unter ihnen bezahlend.

Er lebte natürlich vom Handel. Mit einem hölzernen Kästchen vor der Brust ging er in den Straßen umher und rief mit süßlichem, feinem Stimmchen:

»Wich–se! Streichhöl–zer! Stecknadeln! Haarnadeln! Galanteriewaren! Allerhand Kurzwaren!«

Noch ein charakteristischer Zug – seine Ohren waren groß, standen ab und waren immer gespitzt, wie bei einem scheuen Pferde.

Er handelte in Schichan, einer Gegend, wohin das städtische Lumpengesindel abgeschoben wurde – allerhand »ausgemerzte« Existenzen. Schichan besteht aus einer engen Straße, die mit alten, hohen, finsteren Häusern bebaut ist; Nachtasyle, Schenken, Brotbäckereien, Läden mit Kolonialwaren, altem Eisen und verschiedenem Hausgerät – Diebe, Hehler, Krämer und Höker mit Eßwaren haben darin Unterkunft gefunden. In dieser Straße waren stets viele Betrunkene, viel Schatten von den hohen Häusern, viel Schmutz; im Sommer stagnierte in ihr ein dicker Dunst von Fäulnis und Branntwein. Als fürchte die Sonne, ihre Strahlen durch den Schmutz zu besudeln, blickte sie nur frühmorgens in diese Straße, und nicht lange.

Sie breitete sich an einem Bergabhang aus, unfern dem Ufer eines großen Flusses, und war immer voller Schiffsarbeiter, Auflader und Matrosen von den Dampfern. Hier frönten sie dem Trunke und amüsierten sich auf ihre Weise, und eben hier hielten in abgelegenen Winkeln Diebe ihren Rausch ab. Am Trottoir standen die Näpfe mit gefüllten Mehlklößen, die Mulden der Piroggen- und Leberverkäufer. Haufen von Flußarbeitern standen da, gierig die heiße Speise verschlingend; Betrunkene sangen wüste Lieder und schimpften. Verkäufer riefen mit klingender Stimme Käufer herbei, ihre Ware anpreisend; Bauernwagen rasselten, sich mit Mühe durch die Menschengruppen einen Weg bahnend, welche sich kaufend und verkaufend, in Erwartung von Arbeit und Erfolg, auf der Straße stauten. Wirbelnd zog ein Chaos von Lauten durch die einem stagnierenden Graben gleichende Straße und zerschlug sich an den schmutzigen Mauern ihrer Gebäude, die, da der Stuck abgebröckelt war und Schimmelflecke sie bedeckten, aussahen, als wären sie verwundet.

In diesem Graben voll brodelnden Schmutzes, voll betäubenden Lärms und zynischer Reden schlüpften und rannten immer Kinder umher, – Kinder aller Altersstufen, doch alle gleich schmutzig, hungrig und verkommen. Sie liefen hier vom Morgen bis zum Abend umher, existierend auf Kosten wohlwollender Hökerinnen und der Geschicklichkeit ihrer kleinen Hände, und nachts schliefen sie irgendwo abseits – unter einem Tor, unter dem Kasten eines Piroggenverkäufers, in der Vertiefung eines Kellerfensters. In der Morgendämmerung waren diese mageren Opfer der Rachitis und Skrofulose schon auf den Füßen, um wiederum schmackhafte und kostbare Bissen zu stehlen und zu erbetteln, was für den Verkauf untauglich war. Wem gehörten diese Kinder? Allen . . . Und hier in dieser Straße strich auch Kain tagein, tagaus umher, bot seine Waren aus und verkaufte sie den Weibern der Straße. Sie borgten bei ihm für einige Stunden zwanzig Kopeken mit der Verbindlichkeit, zweiundzwanzig wiederzugeben, und bezahlten immer pünktlich. Überhaupt machte Kain große Geschäfte in dieser Straße: er kaufte von den sich umhertreibenden Arbeitern Hemden, Mützen, Stiefel und Harmonikas, von den Weibern – Röcke, Jacken, Groschenschmuck; dann vertauschte er diese Sachen oder verkaufte sie mit zwanzig Kopeken Gewinn. Allstündlich war er Spott und Schlägen ausgesetzt, und manchmal wurde er sogar beraubt. Über alles das beklagte er sich nicht, sondern lächelte nur sein tragisch-sanftes Lächeln.

Es kam vor, daß der Jude, in einem dunklen Straßenwinkel von zwei, drei handfesten Burschen ergriffen, die, durch Hunger und Trunk dazu gebracht, bereit waren, einen Mord zu begehen, durch den Schreck oder ihre Fäuste niedergestreckt, seinen Plünderern zu Füßen lag, krampfhaft in den Taschen wühlend, und sie zitternd anflehte:

»Herren! Gute Herren! Nehmt nicht alles . . . Wie soll ich dann handeln?«

Und vor unaufhörlichem Lächeln bebte sein ganzes, mageres Gesicht.

»Nu, winsle nicht! Gib bloß dreißig Kopeken . . .«

Diese guten Herren wußten wohl, daß man der Kuh nicht das ganze Euter abreißen darf, um Milch zu bekommen.

Es kam vor, daß er sich von der Erde erhob und spaßend und lächelnd auf der Straße neben ihnen herging, daß sie auch herablassend mit ihm sprachen und über ihn lachten, und alle gaben sich einfach und offen. Kain aber erschien nach solchem Vorfall noch magerer, und – das war alles.

Mit dem Kahal schien er sich nicht gut zu stehen. Er wurde sehr selten mit einem Glaubensgenossen gesehen, und stets konnte man merken, daß dieser sich verächtlich und von oben herab gegen Kain benahm. In der Straße ging das Gerücht, Kain wäre mit einem Fluch belegt, und eine Zeitlang nannten ihn die Straßenhöker einen Verfluchten.

Dies war schwerlich wahr, obwohl Kain unzweifelhafte Merkmale von Ketzerei zeigte – er beobachtete nicht den Sabbat und nahm nicht »koscheres« Fleisch zur Nahrung. Bittend und fordernd wurde ihm zugesetzt, er solle erklären, wie er zu essen wagen dürfe, was seine Religion verbot. – Dann kroch er ganz in sich zusammen, lächelte, machte sich mit einem Spaß los oder lief fort, ohne jemals etwas über die Religion und die Gebräuche der Juden zu äußern.

Selbst die unglücklichen Kinder dieser Straße verfolgten ihn und bewarfen seinen Kasten und Rücken mit Schmutz, Melonenschalen und allerhand Unrat. Er suchte sie mit freundlichen Worten abzuwehren, öfter aber lief er von ihnen fort, in die Menge hinein, wohin sie ihm nicht nachkamen, aus Furcht, dort zertreten zu werden.

So lebte Kain von einem Tag zum andern, allen bekannt und von allen verfolgt, – er handelte, zitterte vor Furcht und lächelte; und siehe da, einmal lächelte das Schicksal auch ihm . . .

* * *

Jedes Winkelchen des Lebens hat seinen Despoten. In Schichan spielte diese Rolle der schöne Artem, ein kolossaler junger Bursch mit einem regelmäßig runden Kopfe, in einer dicken Kappe lockigen, schwarzen Haares. Dies weiche Haar fiel in launischen Ringeln in seine Stirn bis auf die prächtigen samtenen Brauen und die großen, braunen, länglichen, immer mit einem feuchten Schimmer überzogenen Augen. Seine Nase war gerade, antik-regelmäßig, die Lippen rot und voll, mit einem schwarzen Schnurrbart bedeckt; sein ganzes, rundes, reines, bräunliches Gesicht war wunderbar regelmäßig und geradezu schön, und die umflorten Augen paßten gut zu ihm, als vervollständigten und erklärten sie seine Schönheit. Hoch und schlank, mit breiter Brust, immer mit einem sorglos zufriedenen Lächeln auf den Lippen, war er in Schichan der Schrecken der Männer und die Freude der Weiber. Den größten Teil des Tages verbrachte er, irgendwo träg und massig an einer sonnigen Stelle liegend, indem er mit langsamen Zügen, die seine mächtige Brust hoch und gleichmäßig hoben, Luft und Sonnenlicht einsog.

Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Vor etwa drei Jahren war er mit einem Aufladerartel aus Promsino in der Stadt erschienen und nach beendeter Schiffahrt dageblieben, um zu überwintern, da er die Erfahrung gemacht hatte, daß er auch ohne zu arbeiten, vermöge seiner Kraft und Schönheit, angenehm leben könne. Und siehe da, seit jener Zeit hatte er sich aus einem Dorfburschen und Auflader in den Liebling der Krämerfrauen, Kloßverkäuferinnen und anderer Weiber in Schichan verwandelt. Diese Beschäftigungsart versorgte ihn stets mit Nahrung, Schnaps und Tabak, sobald er es wünschte; weiter wußte er sich nichts zu wünschen, und so lebte er.

Die Weiber schimpften und zankten sich heimlich seinetwegen miteinander, die verheirateten wurden bei ihren Männern verklatscht und von Gatten und Liebhabern geschlagen, – Artem war alles das gleichgültig, er wärmte sich in der Sonne, dehnte sich wie eine Katze und wartete, bis sich einer der wenigen ihm erreichbaren Wünsche in ihm regte.

Gewöhnlich lag er auf dem Berge, an den sich die Straße lehnte. Hier sah er den Fluß gerade vor sich, hinter welchem sich bis an den Horizont eine Flur ausbreitete, auf deren gleichmäßig grünem Teppich sich hier und da graue Flecke zeigten, – das waren Dörfer. Dort war es immer – still, hell und grün . . . Wandte er aber den Kopf links, so sah er seine Straße von Anfang bis zu Ende, und in ihr brauste lärmendes Leben; betrachtete er aufmerksam ihr dunkles Gewimmel, so konnte er die Gestalten bekannter Leute unterscheiden, er hörte das hungrige Geheul der Straße und dachte vielleicht an irgend etwas. Um ihn herum auf dem Berge wuchs dichtes Steppengras, ragten einsame, kümmerliche Birken empor, standen abgebrochene Fliederbüsche, – hier durchlebten die Mitglieder der »goldnen Rotte« ihren Rausch und spielten Karten, flickten ihre Kleider oder ruhten von Arbeit und Händeln aus.

Artem war bei ihnen schlecht angeschrieben. Er war unbezwinglich stark und suchte oft Händel, und dann erwarb er sich sein Brot gar zu leicht. Das erweckte den Neid; außerdem teilte er selten seinen Gewinn mit irgendwem. Überhaupt waren kameradschaftliche Gefühle nicht in ihm entwickelt, und es zog ihn nicht zur Gemeinschaft mit Menschen. Kam man zu ihm und sprach mit ihm, so antwortete er willig, aber er selbst fing kein Gespräch an; wurde er um Geld zum Trinken gebeten, so gab er, aber aus eigenem Antriebe bewirtete er nie Bekannte. Und unter ihnen war es Sitte, jede erbeutete Kopeke in Gesellschaft zu verzehren und zu vertrinken.

Hier, im Gebüsch, erschienen bei Artem die Boten der Liebe – in Gestalt eines zerlumpten, schmutzigen Straßenmädchens oder eines ebenso schmutzigen Jungens. Das waren sehr junge Leute von 7-8 Jahren, selten zehn Jahre alt, aber sie waren stets durchdrungen von dem Bewußtsein der tiefen Wichtigkeit der ihnen aufgetragenen Bestellungen, sie sprachen halblaut, und auf ihren Frätzchen lag immer ein geheimnisvoller Ausdruck . . .

»Onkelchen Artem, Tantchen Marja läßt dir sagen, daß ihr Mann fortgefahren ist, du sollst heute ein Boot mieten und mit ihr nach der Wiese fahren . . .«

»So–o«, dehnt Artem träge, und seine schönen Augen lächeln umflort.

»Ganz bestimmt, daß . . .«

»Ich kann . . . Aber . . . was noch . . . das ist . . . wer ist denn Tante Marja?«

»Die Krämerfrau doch«, sagte der Bote vorwurfsvoll.

»Die Krämerfrau . . . n–ja? Das ist die neben dem Eisenladen?«

»Aber neben dem Eisenladen ist doch Anisia Nikolajewna . . . wie denn!«

»Nu, nu, ich weiß ja, Bruder . . . Ich sag ja bloß so . . . Zum Spaß tu ich, als hätt' ich's vergessen . . . Ich kenn' Marja doch.«

Aber der Bote ist davon nicht überzeugt; er will seinen Auftrag gut ausrichten und erklärt Artem dringend:

»Marja – das ist die kleine, rotbäckige, die neben den Fischen . . .«

»Nu, nu! . . . Die neben den Fischen. Siehst du! du wunderlicher Kauz! . . . Verwechsle ich das denn? Gut, sag' Marja, ich komme. Er wird fahren, sag' ihr. Geh!«

Dann machte der Bote ein süßes Frätzchen und sagt gedehnt:

»Onkelchen Artem, gib 'n Kopekchen!«

»Kopekchen? Wenn ich aber keins habe?« sagt Artem, beide Hände gleichzeitig in die Taschen seiner Pluderhosen steckend. Aber immer findet sich irgendein Geldstück. Vergnügt lachend, rennt der Bote davon, um die verliebte Krämersfrau von dem erfüllten Auftrag zu benachrichtigen und auch von ihr eine Belohnung zu bekommen. Er kennt den Wert des Geldes und braucht es nicht nur, weil er hungrig ist, sondern auch, weil er Zigaretten raucht, Schnaps trinkt und seine eigenen kleinen Herzensangelegenheiten hat. Am Tage nach einer solchen Szene ist Artem noch unzugänglicher für die Eindrücke des Daseins als sonst, und noch schöner in seiner seltenen Schönheit eines starken, aber friedlichen Tieres. So zog sich diese satte, ihrer selbst fast unbewußte Existenz hin, ruhig, trotz der zahlreichen Menge der Neider und Eifersüchtigen, ruhig, weil die schreckliche Kraft von Artems Fäusten sie schützte.

Aber manchmal verdichtete sich etwas Dunkles, Drohendes in den braunen Augen des schönen Artem; seine samtenen Brauen zogen sich finster zusammen, und eine tiefe Falte durchschnitt die braune Stirn. Er stand auf und ging von seinem Lager auf die Straße, und je mehr er sich dem Getümmel näherte, desto runder wurden seine Augensterne, und desto mehr bebten die feinen Nasenflügel. Über der linken Schulter hängt die gelbe Jacke aus Bauerntuch, die rechte ist mit dem Hemd bedeckt, und durch das Hemd sieht man die mächtige Schulter. Stiefel liebt er nicht, sondern geht immer in Bastschuhen; die weißen Fußlappen mit den schön gekreuzten Bändern zeichnen seine Waden deutlich ab. Er geht langsam wie eine große Gewitterwolke . . .

Die Straße kennt seine Gewohnheiten und sieht schon an seinem Gesicht, was sie von ihm zu erwarten hat. Vorbeugendes Flüstern wird hörbar: »Artem kommt!«

Und eilfertig wird ihm auf der Straße Platz gemacht, die Warenmulden, die Kessel und Näpfe mit Heißem werden beiseite gerückt, ihm wird entgegenkommend zugelächelt, er wird gegrüßt, und alle fürchten ihn. Er aber geht durch diese Zeichen der Aufmerksamkeit und Furcht vor seiner Kraft hindurch, geht finster und schweigend, – schön, wie ein großes wildes Tier.

Da stößt sein Fuß an eine Mulde mit Gehacktem, mit Leber und Lunge, und alles fliegt auf das schmutzige Pflaster. Der Händler kreischt verzweifelt auf und schimpft los.

»Was stehst du im Wege?« fragt Artem ruhig, aber unheilkündend.

»Was hast du hier zu gehen, Ochse?« brüllt der Händler.

»Wenn ich hier aber gehen will?!«

Unter Artems Backenknochen blähen sich die Wangen auf, und seine Augen sehen aus wie zur Rotglut erhitzte Nägel. Der Händler sieht es und brummt:

»Für dich ist die Straße zu eng . . .«

Artem schreitet langsam weiter. Der Händler geht in die Schenke, holt dort siedendes Wasser, wäscht seine Ware darin ab, und nach fünf Minuten ruft er wieder durch die ganze Straße:

»Leber, Lunge, heißes Herz! Heda, Matrose! Komm her, zum Anfang, – für 'n Fünfer Zunge schneid' ich ab! Tantchen, kauf' das Geschlinge! Wer will heißes Herz? Leber, Lunge!«

Stimmenlärm erhebt sich, und der schwere Geruch von Fäulnis, Schnaps, Schweiß, Fischen, Teer und Zwiebeln steigt auf.

Die Pferde am Gehen hindernd, bewegen sich die Leute auf dem Pflaster hin und her, rufen, handeln und lachen. Hoch über ihnen der blaue Himmelsstreifen ist matt von dem Staub und Schmutz, der sich aus dieser Straße in die Luft erhebt, in welcher selbst die Häuser feucht und schmutzgetränkt erscheinen . . .

»Galanterie–waren! Garn! Nadeln!« ruft Kain laut aus, indem er Artem folgt, der ihm noch schrecklicher ist, als den andern.

»Piroggen und Birnen, kauft und eßt«, schmettert hell eine junge Piroggenhändlerin.

»Zwiebeln, junge Zwiebeln!« . . . sekundiert ihr eine andere.

»Kwa–as! Kwa–as!« quakt heiser ein kleiner, dicker Alter mit rotem Gesicht, im Schatten seines Fasses sitzend.

Und ein Mensch, der unter dem sonderbaren Beinamen des »schlechten Bräutigams« in der Straße bekannt ist, verkauft einem Schiffsarbeiter sein schmutziges, aber starkes Hemd von der Schulter, indem er ihm überredend zuruft:

»Dummkopf, wo kaufst du solch Staatsstück für 20 Kopeken? Eine Kaufmannstochter kannst du darin freien! Mit Millionen . . . Teufel!«

Und plötzlich klingt durch das allgemeine wilde, aber harmonische Gebrüll und Getöse der helle Ton einer Kinderstimme:

»Um Christi willen, schenkt 'ne Kopeke . . . 'ner armen Waise . . . die nicht Vater noch Mutter hat . . .«

Seltsam und allen fremd klingt der Name Christi in dieser Straße!

»Artjuschka! Komm mal her!« ruft freundlich das dralle, muntere Soldatenweib, Darja Gromowa, das mit gefüllten Mehlklößen handelt. »Was treibst du denn, daß du uns ganz vergißt?«

»Hast schon viel verkauft?« fragt Artem ruhig und wirft mit einem leichten Fußstoß ihre Ware um. Die gelben, glatten Mehlklöße gleiten dampfend über die Pflastersteine, und Darja, bereit, sich in eine Rauferei einzulassen, ruft wütend:

»Du mit deinen unverschämten Augen! Du Räuber! Daß dich die Erde trägt, astrachanisches Kamel.«

Sie wird ausgelacht – alle wissen, daß sie es Artem wieder verzeiht. Er aber geht ebenso langsam weiter, indem er die Leute anstößt, sie mit der Brust anrennt, ihnen auf die Füße tritt. Und schnell wie eine Schlange gleitet vor ihm her das warnende Geflüster:

»Artem kommt!«

In diesen beiden Worten fühlte sogar der, welcher sie zuerst hörte, etwas ihm Drohendes und machte Artem Platz, indem er die mächtige Gestalt des schönen Menschen mit Neugier und Vorsicht ansah.

Da begegnet Artem einem ihm bekannten »Barfüßer«. Sie begrüßen sich, und Artem drückt die Hand des Bekannten so mit seiner Eisentatze, daß dieser vor Schmerz aufschreit und losschimpft. Dann kneift ihn Artem in die Schulter oder verursacht ihm sonst einen Schmerz und beobachtet ruhig und schweigend, wie der Mensch unter seinen Händen stöhnt und ächzt und, vor Schmerz außer Atem, flüstert:

»Laß los, Henker! . . . Verfluchter!«

Doch der Henker ist unerbittlich, wie das Schicksal.

Nicht selten ist auch Kain in Artems grausame Hände gefallen, der mit ihm spielte, wie ein neugieriges Kind mit einem Käferchen.

Dies eigentümliche und unbegreifliche Benehmen des Athleten hieß in Schichan »Artjuschkas Ausgang«. Es schuf ihm eine Menge Feinde, aber sie konnten seine ungeheuerliche Kraft nicht brechen, wenn sie es auch versuchten. So hatten sich einmal sieben handfeste Burschen zusammengetan und beschlossen, von der ganzen Straße ermutigt, Artem eine Lehre zu geben und ihn zu demütigen. Ihrer zwei mußten diesen Versuch sehr teuer bezahlen, die übrigen kamen leichter davon. Ein andermal hatten Krämer – beleidigte Ehemänner – einen als Kraftmenschen berühmten Fleischer aus der Stadt gedungen, der mehrmals im Kampfe mit Zirkusathleten als Sieger hervorgegangen war. Der Fleischer hatte sich für eine große Belohnung anheischig gemacht, Artem halbtot zu schlagen. Sie wurden zusammengebracht, und Artem, der nie abgeneigt war, »zum Vergnügen« zu raufen, schlug dem Fleischer den Arm aus dem Gelenk und streckte ihn mit einem Schlag bewußtlos zu Boden. Diese Tatsachen erhöhten das Prestige seiner Kraft, aber machten ihm allerdings auch noch mehr Feinde.

Er aber setzte wie vordem seine »Ausgänge« fort, alles und alle auf seinem Wege vernichtend. Was für Gefühle mochte er auf diese Weise ausdrücken? Vielleicht war es Rache an der Stadt und ihren Lebenseinrichtungen seitens eines Menschen der Fluren und Wälder, der von seinem Heimatboden losgerissen war; vielleicht empfand er dunkel, wie die Stadt ihn verdorben, indem sie Leib und Seele mit ihrem Gift infizierte, und aus diesem Gefühle kämpfte er so mit der verhängnisvollen Macht, die ihn knechtete. Manchmal endeten seine »Ausgänge« auf der Wache, wo sich die Polizei gegen ihn besser als gegen die übrigen Schichaner benahm, weil sie sich über seine fabelhafte Stärke wunderte, sich daran ergötzte und wohl wußte, daß er kein Dieb und unfähig war, ein solcher zu sein – weil er zu dumm dazu war. Häufiger aber ging er danach in irgendeine Spelunke, und dort nahm ihn eins der in ihn verliebten Weiber in seine Fürsorge. Nach seinen Heldentaten war er mürrisch und launisch, in seinen Augen lag etwas Wildes, und die Unbeweglichkeit seiner Gesichtszüge gab ihm etwas Idiotenhaftes.

Irgendeine bis zum Mark der Knochen fettige Krämersfrau, ein kerniges Weib im Balzakschen Alter, schwänzelte um ihn herum mit einer Miene, als sei sie die Eigentümerin dieses wilden Tieres, und mit dem Gefühl der Furcht vor ihm.

»Vielleicht noch ein paar Glas Bier bestellen, Artjuschka? Oder einen Likör? Oder magst du 'was essen? Warum bist du mir nur heut' gar nicht so munter? . . .«

»Bleib' mir vom Halse!« . . . sagte Artem dumpf, und für einige Minuten hörte sie auf, um ihn herumzuschwänzeln, aber dann fing sie von neuem an, den schönen Artem mit Getränken zu versorgen, denn sie wußte bereits, daß der nüchterne Artem mit Liebkosungen kargte.

Und siehe da, einmal gefiel es dem oft gar spaßhaften Schicksal, daß dieser Mensch und Kain zusammentrafen.

Das geschah so.

Einmal nach einem »Ausgang« und ihm folgenden, ausgiebigen Zechgelage ging Artem mit seiner Dame schwankend zum Besuch zu ihr durch eine enge und öde Quergasse der Vorstadt. Dort wurde er erwartet. Einige Männer warfen sich auf ihn und schlugen ihn sofort nieder. Vom Weine geschwächt, konnte er sich schlecht verteidigen, und da rächten sich diese Leute wohl eine Stunde lang an ihm für die zahlreichen Kränkungen, die er ihnen zugefügt hatte. Artems Begleiterin war fortgelaufen. Die Nacht war dunkel, der Platz leer – da konnten sie in aller Bequemlichkeit voll mit Artem abrechnen, und sie taten es, ohne ihre Kräfte zu schonen. Und als sie, ermüdet, ein Ends machten, lagen zwei regungslose Körper auf der Erde, der eine war der des schönen Artem, und der andere – der eines Menschen, dessen Name »Roter Bock« war.

Nachdem sie beratschlagt hatten, was mit diesen Körpern zu tun war, beschlossen die Burschen, Artem unter einer alten, beim Eisgang zerbrochenen Barke zu verstecken, die umgestülpt am Flußufer lag, und den »Roten Bock«, welcher stöhnte, mit sich zu nehmen.

Als sie Artem auf der Erde nach dem Ufer schleppten, kam er vor Schmerz zur Besinnung, aber da er erkannte, daß der Zustand eines Toten jetzt vorteilhafter für ihn war, schwieg er, den Schmerz verbeißend. Sie schleppten ihn, schimpften und rühmten sich voreinander der Schläge, die sie dem Kraftmenschen beigebracht hatten. Artem hörte, wie Mischka Wawilow zu seinen Gefährten sagte, daß er beständig danach getrachtet habe, seine Stöße Artem unter das linke Schulterblatt zu versetzen, um das Herz zu treffen. Und Ssuchoplujew erzählte, er habe immer auf den Leib geschlagen, denn wenn dem Menschen die Eingeweide ruiniert werden, nützt ihm das Essen nichts, und wieviel er immer genießen mag, Kräfte bekommt er davon nicht. Auch Lomakin erklärte, daß er zweimal mit den Füßen auf Artems Leib gesprungen sei. Ebenso glänzend hatten sich auch die übrigen ausgezeichnet, wovon sie rühmend erzählten, bis sie an die Barke kamen und Artem darunter versteckten. Er hatte alle ihre Reden gehört, und als sie fortgingen, hörte er auch, wie sie einstimmig das Urteil fällten – Artem würde nicht wieder aufstehen.

Da blieb er nun allein, im Dunklen, auf einem Haufen nassen Bauschutts, der bei hohem Wasserstande von den Flußwellen unter der Barke angeschwemmt worden war. Es war eine frische Mainacht, und diese Frische brachte Artem immer wieder zu sich. Doch als er versuchte, an den Fluß zu kriechen, fiel er vor schrecklichen Schmerzen im ganzen Körper wieder in Ohnmacht. Aber vom Schmerz gepeinigt und von schrecklichem Durst geplagt, kam er wieder zu sich. Als wollte ihn der Fluß seiner Ohnmacht wegen foppen, plätscherte er leise am Ufer, irgendwo ganz in seiner Nähe. Die ganze Nacht brachte er in dieser Lage zu und hatte Angst, zu stöhnen und sich zu bewegen.

Aber als er wieder einmal zum Bewußtsein kam, fühlte er, daß ihm etwas Gutes geschehen war, das seine Schmerzen sehr linderte. Er konnte mit Mühe ein Auge öffnen und kaum die zerschlagenen, geschwollenen Lippen regen. Es war Tag, denn Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Barke und schufen eine Dämmerung um Artem. Dann hob er, so gut es ging, eine Hand zum Gesicht und fühlte feuchte Lappen darauf. Lappen lagen auch auf Brust und Leib. Er war ganz entkleidet, und die Kälte verminderte seine Qualen.

»Trinken . . .« sagte er, dunkel vermutend, daß jemand um ihn sei. Eine zitternde Hand streckte sich über seinen Kopf, und der Hals einer Flasche wurde ihm in den Mund gesteckt. Die Flasche schwankte in der Hand des Gebers und schlug an Artems Zähne. Nachdem er Wasser getrunken hatte, wollte Artem erkennen, wer bei ihm sei, aber der Versuch, den Kopf zu wenden, gelang nicht, da er Schmerzen im Halse hervorrief. Röchelnd und stammelnd fing er da an zu sprechen: »Schnaps . . . innerlich ein Glas . . . und äußerlich damit abreiben . . . Dann könnt ich vielleicht aufstehen . . .«

»Auf–stehen? Ihr könnt' nicht aufstehen, ihr seid ja ganz, blau und geschwollen wie ein Ertrunkener . . . Aber Schnaps – ist möglich, Schnaps ist da . . . ich habe eine ganze Flasche Schnaps . . .«

Es wurde leise, scheu und sehr schnell gesprochen. Artem kannte diese Stimme, aber er konnte sich nicht erinnern, wem sie gehörte, welchem der Weiber.

»Gib«, sagte er.

Und wieder reichte ihm jemand, der augenscheinlich seinen Augen auswich, die Flasche von hinten über den Kopf. Artem sah mit dem einen Auge den feuchten, schwarzen, mit Pilzen bewachsenen Boden der Barke an, während er den Branntwein mit Anstrengung hinunterschluckte.

Als er mehr als ein Viertel der Flasche ausgetrunken hatte, seufzte er tief und erleichtert auf und sagte mit einem Röcheln in der Brust, mit schwacher, modulationsloser Stimme:

»Ordentlich haben sie mich zugerichtet . . . Aber wart' . . . ich stehe auf. Ich stehe auf . . . dann steht mir . . .«

Ihm wurde nicht geantwortet, aber er hörte ein Geräusch – gerade als spränge jemand von ihm fort – und dann wurde es still, nur die Wellen plätscherten, und irgendwo weit fort wurde gesungen und geächzt – als würde ein schwerer Gegenstand geschleppt. Dann gellte durchdringend die Pfeife eines Dampfers, gellte, brach ab und tönte nach einigen Sekunden ganz dumpf, als wäre es ein Abschied von der Erde für immer . . . Artem wartete lange auf eine Antwort, aber unter der Barke blieb es still, und ihr schwerer, von grünlicher Fäulnis durchtränkter Boden hing und schaukelte über seinem Kopfe, sich bald hebend, bald senkend, als wolle er sich mit einem Schwunge auf ihn stürzen und ihn zu Tode drücken. Artem tat sich selbst leid. Er war plötzlich ganz durchdrungen von dem Bewußtsein seiner fast kindlichen Hilflosigkeit, und zugleich empfand er die Beleidigung seiner Persönlichkeit. Er, so stark, so schön, und nun so verstümmelt, so entstellt! . . .

Mit schwachen Händen begann er die Abschürfungen und Beulen im Gesicht und auf der Brust zu betasten, und dann fing er bitterlich zu weinen und zu schimpfen an. Er schluchzte, schimpfte bekümmert, und kaum die Lider bewegend, preßte er mit ihnen die Tränen hervor, die seine Augen füllten. Groß und brennend rannen sie ihm über die Wangen und tropften in die Ohren . . . und er hatte das Gefühl, als werde durch die Tränen in seinem Innern etwas geläutert.

»Gut! . . . Wartet . . .« murmelte er durch sein Schluchzen.

Und plötzlich hörte er, daß irgendwo ganz nahe, als wolle es ihm nachäffen, auch ersticktes Schluchzen und Flüstern ertönte.

»Wer ist da?« fragte er drohend, obwohl ihm etwas bange war.

Seine Frage wurde nicht beantwortet. Da nahm Artem seine ganze Kraft zusammen und wandte sich, vor Schmerz wie ein Tier aufbrüllend, auf die Seite, erhob sich auf den Ellbogen und erblickte in der Dämmerung eine kleine Figur, die ganz zusammengedrückt am Bord der Barke sah. Mit den langen, dünnen Armen seine Knie umfassend, hatte der Mensch den Kopf daraufgelegt, und seine Schultern bebten. Es schien Artem, als wäre es ein halbwüchsiger Bursche . . .

»Komm her!« sagte er.

Aber jener hörte nicht und fuhr fort, sich wie im Fieber zu schütteln. Artem wurde es vor Schmerz und Furcht vor dieser Gestalt dunkel vor den Augen, und er heulte los:

»Komm!«

Ein ganzer Hagel zitternder, hastiger Worte kam ihm zur Antwort: »Was hab' ich Euch denn Böses getan? Warum schreit Ihr mich an? Habe ich Euch nicht mit Wasser abgewaschen, Euch getränkt, Euch Schnaps gegeben? Hab' ich nicht geweint, als Ihr weintet, und tat es mir nicht weh, als Ihr stöhntet? Oh, mein Gott und mein Herr! Auch mein Gutes trägt mir nur Qual ein! Was hab' ich Eurer Seele oder Eurem Leibe Böses getan? Was kann ich Euch Böses tun – ich, ich, ich!«

Und mit dreimaligem Wehklagen seine Rede abbrechend, schwieg dieser Mensch, griff sich mit den Händen an den Kopf und wiegte sich hin und her, auf der Erde sitzend.

»Kain? Ach . . . du bist es!«

»Nu was denn? Ich bins . . .«

»Du? Nu–u! Alles das – du hier? Ei – ei! Komm her. Nu . . . wunderlicher Mensch, du!« –

Artem war ganz verwirrt vor Überraschung und empfand zugleich, daß sich eine gewisse Freude in ihm regte. Er lachte sogar, als er bemerkte, daß der Jude zaghaft auf allen Vieren herankroch, und wie häufig und ängstlich die kleinen Augen in dem komischen, ihm lange bekannten Gesicht blinzelten.

»Komm dreist heran! Wahrhaftig, ich tu dir nichts!« hielt er für nötig, den Juden zu ermutigen.

Kain kroch bis an seine Füße, hielt an und sah dieselben mit solchem ängstlichen und flehenden Lächeln an, als erwarte er, daß sie seinen furchterschöpften Leib zertreten würden.

»Nu . . . da bist du ja! Und alles das hast du getan? Wer hat dich geschickt – Anisia?« fragte Artem, kaum die Zunge bewegend.

»Ich bin von selbst gekommen.«

»Von selbst? Du lügst!«

»Ich lüge nicht, ich lüge nicht!« fing Kain schnell an zu flüstern. »Ich bin von selbst gekommen – bitte, glaubt mir! Ich will erzählen, wie ich gekommen bin. Hört nur – ich erfuhr davon in der ›Räuberhöhle‹ . . . Ich trank Tee und hörte: ›Artem haben sie in der Nacht totgeschlagen‹. Ich glaubte es nicht – pche! Kann man Euch denn totschlagen? Ich lachte für mich. Oh, ihr dummen Leute, dachte ich. Dieser Mensch ist – wie Simson, wer von euch kann ihn bezwingen? Aber immerfort kamen sie und sagten: geschlagen, geschlagen! Und schimpften und lachten über Euch . . . Alle freuten sich . . . und ich fing an zu glauben. Ich erfuhr, daß Ihr hier seid. Sie waren schon hergekommen, nach Euch zu sehen und sagten, Ihr wäret tot . . . Ich ging und kam und sah Euch . . . Ihr stöhntet, als ich hier stand. Als ich Euch sah, dachte ich – der stärkste Mensch in der Welt – da haben sie ihn erschlagen! . . . solche Stärke, solche Stärke! Entschuldigt, Ihr tatet mir leid! Ich dachte, es wäre nötig, Euch mit Wasser abzuwaschen . . . ich tat es, und da fingt Ihr an, Euch zu beleben . . . Ich war darüber so froh . . . ach, wie froh war ich . . . Ihr glaubt's mir nicht, ja? Weil ich ein Jude bin? ja? Aber nein, Ihr werdet es glauben . . . ich werde Euch sagen, warum ich mich freute, und was ich dachte . . . ich sage die Wahrheit . . . Ihr werdet nicht böse auf mich sein?«

»Ich schwör' es dir! . . . Der Blitz soll mich erschlagen!« beteuerte der zu Schanden geschlagene schöne Artem.

Kain rückte noch näher an ihn heran und dämpfte seine Stimme noch mehr.

»Ihr wißt, welch' gutes Leben ich habe? Ihr wißt es, ja? Entschuldigt, hab' ich denn nicht Schläge von Euch erduldet? Und habt Ihr denn nicht den räudigen Juden verspottet? Was? Ist das die Wahrheit? Ah! Ihr verzeiht mir die Wahrheit, Ihr habt's geschworen. Seid nicht böse! Ich sage nur, daß Ihr, wie alle übrigen Leute, den Juden verfolgt habt . . . Warum, ah? Ist denn der Jude nicht Eures Gottes Sohn, und hat nicht derselbe Gott Euch und ihm die Seele gegeben?«

Kain sprach heftig und warf eine Frage nach der andern auf, ohne die Antworten abzuwarten: – plötzlich wallten all die Worte in ihm auf, mit denen er die ihm zugefügten Kränkungen und Beleidigungen in seinem Herzen angemerkt hatte, sie alle bebten in ihm auf und ergossen sich aus seinem Herzen wie ein heißer Strom. Artem wurde es unbehaglich vor ihm.

»Hör', Kain,« sagte er dumpf, »laß das! Ich sage dir . . . wenn ich dich jetzt noch mit einem Finger anrühre . . . oder sonst wer – ich schlage ihn in Stücke! Verstanden?«

»Aha!« rief Kain triumphierend aus und schnalzte sogar mit der Zunge. »Seht –! Ihr seid vor mir schuldig . . . verzeiht! Seid mir nicht böse deshalb, weil Ihr wißt, Ihr seid vor mir schuldig! Ich sage schuldig, aber ich weiß ja, oh, ich weiß, Ihr seid weniger schuldig als die andern . . . ich verstehe das! Sie alle speien ihren garstigen Geifer nur auf mich, Ihr aber auf mich und auf alle andern! Ihr habt viele ärger beleidigt als mich . . . Da dachte ich – sieh, dieser starke Mensch schlägt und beleidigt mich nicht, weil ich ein Jude bin, sondern weil ich bin, wie sie alle, nicht besser als sie, und weil ich unter ihnen lebe . . . Und . . . ich habe Euch immer voll Furcht geliebt. Ich sah Euch an und dachte, auch Ihr könntet den Rachen des Löwen zerreißen und die Philister schlagen . . . Ihr habt sie geschlagen . . . und ich mochte gern sehen, wie Ihr das tatet . . . Und auch mich verlangte es, stark zu sein . . . aber ich bin wie ein Floh . . .«

Artem lachte heiser.

»Das ist schon wahr – wie ein Floh! . . .« Was ihm Kain sagte, hatte er kaum verstanden, aber es war ihm angenehm, die kleine Gestalt des Juden neben sich zu sehen. Und bei Kains erregtem, halblautem Geflüster ordneten sich allmählich seine Gedanken:

»Wie spät ist es jetzt? Ich meine, es ist um Mittag. Und wirklich keine kommt, den lieben Freund zu besuchen . . . Und der Jude hier ist gekommen . . . hat geholfen, sagt – ich hab' dich lieb, und ich habe ihn wie oft gekränkt . . . Er rühmt meine Kraft . . . Wird sie mir wiederkehren? Herrgott, daß sie wiederkäme!«

Schwer atmend, stellte sich Artem seine Feinde vor, von ihm zu Schanden geschlagen und ebenso geschwollen wie er. Und ebenso wie er werden sie sich kraftlos irgendwo hin- und herwälzen, aber zu ihnen kommen die Ihrigen, die Gefährten, und kein Jude . . .

Artem blickte auf Kain, und ihm war, als würde es ihm von seinen Gedanken bitter in Hals und Mund. Er spie aus und seufzte schwer.

Aber Kain, schrecklich erregt, sprach immerfort mit vor Aufregung verzerrtem Gesicht, und am ganzen Körper zitternd.

»Und als Ihr weintet, hab' ich auch geweint . . . So leid tat es mir um Eure Kraft . . .«

»Und ich dachte, wer äfft mir da nach?« lachte Artem mit finsterer Miene auf.

»Ich habe immer Eure Kraft geliebt . . . und Gott gebeten: Ewiger Gott unser im Himmel und auf Erden und in fernen Himmelshöhen! Laß es geschehen, daß dieser starke Mensch meiner bedürfe! Laß es mich an ihm verdienen, daß seine Kraft mir zum Schilde werde! Laß mich durch sie vor Verfolgungen bewahrt bleiben, und mögen meine Verfolger durch sie umkommen! So habe ich gebetet . . . und lange habe ich so meinen Gott angefleht, er möge mir aus dem stärksten meiner Feinde einen Beschützer schaffen, wie er Mardochai den König zum Beschützer gab, der alle Völker besiegt hatte . . . Und also weintet Ihr, und ich weinte . . . und plötzlich schriet Ihr mich an, und meine Gebete waren aus . . .«

»Konnte ich das denn wissen, du wunderlicher Mensch . . .« lachte Artem verlegen auf.

Aber Kain hörte diese Worte kaum. Er bewegte sich hin und her, schwenkte die Arme nach oben und flüsterte fort und fort in leidenschaftlicher Weise, aus der Freude und Hoffnung klang, Vergötterung der Kraft dieses gemißhandelten Menschen, und Furcht und Bangigkeit.

»Angebrochen ist mein Tag, und allein bin ich um Euch. – Alle haben Euch verlassen, aber ich bin gekommen . . . Ihr werdet doch wieder gesund werden, Artem? Dies ist doch nicht gefährlich für Euch? Und Eure Kraft wird Euch wiederkehren?«

»Ich stehe auf . . . hab' keine Angst . . . Und dich werde ich für deine Guttat behüten wie ein kleines Kind . . .«

Artem fühlte, daß ihm allmählich besser wurde, – der Körper schmerzte weniger, und im Kopf wurde es heller. Er muß für Kain vor den Leuten eintreten – das ist gewiß! . . .

Wie gut und aufrichtig er ist – sagt alles geradehin, wie's ihm ums Herz ist. So denkend, lächelte Artem plötzlich – schon lange quälte ihn ein unbestimmtes Verlangen, und jetzt verstand er, was es war.

»Ich möchte wohl etwas essen. Könntest du etwas Eßbares beschaffen, Kain?«

Kain sprang so schnell auf die Füße, daß er fast an die Barke stieß. Sein Gesicht war entschieden verwandelt – etwas Starkes und zugleich Kindlich-Helles erschien darin. Artem, dieser fabelhafte Kraftmensch, bittet ihn, Kain, um etwas zu essen!

»Ich mache Euch alles, alles! Ich hab's schon hier, da, im Winkel! Ich hab' mich damit versorgt . . . ich weiß. Wenn jemand krank ist, muß er essen . . . nu, ja! Und als ich herkam, hab' ich einen ganzen Rubel ausgegeben.«

»Wir rechnen ab! Ich geb' dir zehn wieder . . . Ich kann das ja . . . selbst hab' ich's nicht . . . Ich sage – gib! und man gibt . . .«

Und er fing gutmütig an zu lachen, und Kain strahlte noch mehr bei diesem Lachen und kicherte sogar. »Ich weiß . . . Ihr werdet sagen, was Ihr wollt. Ich mache alles, alles!«

»Ja, sieh! . . . wenn schon so . . . dann reibe mich mit Branntwein ab! Gib nichts zu essen, sondern reibe mich zuerst ab . . . kannst du?«

»Warum sollt' ich nicht können? Wie der beste Doktor mach ich's!«

»Vorwärts! Wenn du mich abgerieben hast, werd' ich aufstehen . . .«

»Auf–stehen? Ach, nein, Ihr könnt nicht aufstehen!«

»Ich zeig' dir, daß ich kann! Soll ich hier etwa übernachten?

Du wunderlicher Mensch . . . Reibe mich nur ab, und dann lauf in die Vorstadt zu der Piroggenverkäuferin Mokewna . . . sag' ihr, daß ich zu ihr in den Schuppen übersiedeln will . . . sie möchte dort Stroh aufschütten. Bei ihr lieg' ich's ab . . . so! Für alles und jedes bezahl' ich dich . . . zweifle nicht daran!«

»Ich glaub's,« sagte Kain, indem er Artem Branntwein auf die Brust goß, »ich glaub' Euch mehr als mir selbst . . . Ach, ich kenn' Euch!«

»O–oh! Reibe, reibe . . . Tut nichts, wenn es schmerzt . . . reib' nur! Ah – ah – ah! . . . So, so, so . . .« brüllte Artem.

»Ich geh' für Euch ins Wasser . . .« erklärte Kain.

»So, so, so . . . die Schulter da, die Schulter reibe . . . Ach Teufel! Ordentlich haben sie mich durchgewalkt! Und an allem sind die Weiber schuld. Wär' das Weib nicht gewesen, wär' ich nüchtern geblieben . . . und wenn ich nüchtern bin, dann komm' mir einer!«

Kain erklärte, während er seine Dienerrolle ausübte:

»Oh, die Weiber! Das sind – alle Sünden der Welt . . . wir Juden haben sogar solch Morgengebet: Gepriesen seist du, ewiger Gott, Herr des Weltalls, daß du mich nicht als Weib geschaffen hast . . .«

»Nu? Nicht möglich!« rief Artem aus. »So geradezu betet ihr zu Gott? Was seid ihr doch für Menschen . . . Was ist denn das Weib? Es ist nur dumm . . . und ohne das Weib geht's nicht . . . Aber so zu Gott sogar zu beten . . . das ist doch . . . das ist doch kränkend für das Weib! Es fühlt doch auch . . .«

Er lag groß und unbeweglich da – sein Umfang noch vergrößert durch die Beulen, und der kleine, gebrechliche Kain, vor Anstrengung außer Atem, mühte sich um ihn ab, indem er ihm aus allen Kräften Seiten, Brust und Leib abrieb, und hustete vom Branntweindunst.

Fortwährend gingen Leute am Flußufer hin und her; Stimmen und Schritte wurden gehört. Die Barke aber lag über einem sandigen Abhang von mehr als einem Faden Höhe, und von oben war sie nur dicht am Rande des Abhangs zu sehen. Ein mit Spänen und verschiedenem Schutt beworfener Sandstreifen trennte sie vom Flusse. Unter ihr war es noch schmutzig. Aber heute erregte sie ein großes Interesse bei den Leuten. Kain und Artem bemerkten, daß beständig an ihr vorübergegangen, sich darauf gesetzt und mit den Füßen an die Borde gestoßen wurde . . . Auf Kain wirkte dies sehr schlecht. Er hörte zu sprechen auf und lächelte furchtsam und kläglich, indem er schweigend um Artem herumkroch.

»Hört Ihr? . . .«

»Ich höre«, lachte der Riese zufrieden. »Ich verstehe . . . sie überlegen, ob ich bald wieder bei Kräften sein werde . . . sie müssen das ja auch wissen . . . um ihre Rippen in Sicherheit zu bringen . . . Ha, ha! Teufel! Es kränkt sie vermutlich, daß ich nicht krepiert bin . . . Ihre Arbeit ist umsonst gewesen . . .«

»Aber wißt Ihr was?« flüsterte ihm Kain mit dem Ausdruck des Schreckens und der Warnung im Gesicht ins Ohr. »Wißt Ihr? Wenn ich fortgehe, und Ihr allein bleibt . . . und sie dann zu Euch kommen und . . . und . . .«

Artem öffnete den Mund und gab eine ganze Salve heiteren Gelächters von sich.

»Ach du . . . Knirps!« Du denkst also – daß sie vor dir Angst haben? Ach, du! . . .«

»Ah! Aber ich kann doch Zeuge sein.«

»Sie geben dir eine Kopfnuß! . . . ha, ha, ha! Und dann bezeug' es! . . . in jener Welt.«

Kains Furcht wurde durch Artems Lachen verjagt, und feste, freudige Sicherheit nahm in der schmalen, eingefallenen Brust des Juden die Stelle der Furcht ein. Jetzt wird Kains Leben einen anderen Gang nehmen, jetzt besitzt er eine mächtige Hand, die stets die Schläge und Ungerechtigkeiten der Leute von ihm abwenden wird, die ihn ungestraft gefoltert haben . . .

* * *

Ein Monat ungefähr war vergangen.

Einst eines Mittags, um die Stunde, wenn das Leben in Schichan einen besonders gespannten Charakter annimmt, wenn es sich konzentriert und seinen Siedepunkt erreicht, wenn die Eßwarenhändler von den Haufen der Hafen- und Schiffsarbeiter mit leerem Magen und riesigen Nahrungsbedürfnissen umringt werden, und die ganze Straße von dem warmen Geruch gekochten verdorbenen Fleisches erfüllt ist, – zu dieser Stunde rief jemand halblaut:

»Artem kommt!«

Einige Lumpazi, die sich müßig in der Straße umhertrieben, eine Gelegenheit abpassend, sich einen Vorteil zu machen, verschwanden schnell. Scheel und verstohlen fingen die Bewohner Schichans voll Unruhe und Neugier an dorthin zu sehen, woher der Warnungsruf gekommen war.

Artem wurde längst mit großem Interesse erwartet, wobei leidenschaftlich erörtert wurde, in welcher Weise er erscheinen würde.

Wie früher auch ging Artem inmitten der Straße, ging mit seinem gewöhnlichen, langsamen Gang des satten Menschen, der einen Spaziergang macht. In seinem Äußeren war nichts Neues. Wie immer hing ihm die Jacke über der einen Schulter, die Mütze war auf ein Ohr gesetzt . . . und die schwarzen Locken hingen ihm, wie immer, in die Stirn. Den Daumen der rechten Hand hatte er in den Gurt gesteckt, die Linke war tief in der Hosentasche vergraben, und die Brust war reckenhaft vorgewölbt. Nur war es, als ob sein schönes Gesicht beseelter geworden wäre. Das ist nach Krankheiten stets so. Er ging und erwiderte die Begrüßungen mit nachlässigem Kopfnicken.

Die ganze Straße begleitete ihn mit Blicken und einem leisen Geflüster der Verwunderung und des Entzückens über diese unverwüstliche Kraft, die so leicht die Schläge ausgehalten hatte. Viele Leute waren in der Straße, die mit Groll von seiner Gesundung sprachen: die schimpften voll Verachtung auf diejenigen, die ihm nicht die Lunge zu zerschlagen und die Rippen zu zerbrechen verstanden hatten. Es kann ja doch keinen Menschen geben, der nicht zu Tode gemißhandelt werden kann! . . . Die anderen stellten mit Vergnügen Mutmaßungen auf, wie der Riese mit dem »Roten Bock« und seinen Kameraden Abrechnung halten würde. Aber die Stärke ist um so bezaubernder, je größer sie ist, und die Mehrzahl befand sich unter dem Einfluß von Artems Kraft.

Und Artem ging bereits nach der »Räuberhöhle«, dem Klub von Schichan.

Als seine hohe, mächtige Gestalt auf der Schwelle der Schenke erschien, waren nur wenige Gäste in der langen, niedrigen Stube mit gewölbter Backsteindecke. Bei Artems Anblick erschallten zwei – drei Ausrufe unter ihnen, eine gewisse unruhige Bewegung entstand, und jemand nahm Reißaus in einen entfernten Winkel dieses Grabgewölbes, das feucht, von Tabaksdunst verräuchert, voller Schmutz und Schimmel war. –

Ohne irgendwen zu beachten überflog Artem die Schenke langsam mit den Augen und beantwortete den freundlichen Gruß des Büffetiers Ssawka Chlebnikoff mit der Frage:

»War Kain nicht da?«

»Er muß bald kommen . . . Seine Zeit ist heran . . .«

Artem trat an einen Tisch an einem der eisenvergitterten Fenster, bestellte Tee und besah sich, seine großen Hände auf den Tisch legend, gleichgültig das Publikum. Etwa zehn Leute, lauter Landstreicher, waren in der Schenke; sie hatten sich an zwei Tischen in ein Häuflein zusammengedrängt und beobachteten Artem von dort aus. Als aber ihre Augen denen des schönen Artem begegneten, lächelten die Beobachter unruhig und entgegenkommend; augenscheinlich hatten sie den Wunsch, sich mit Artem in eine Unterhaltung einzulassen, aber jener sah sie schwer und finster an. Und alle schwiegen, da sich keiner entschloß, ihn anzureden. Chlebnikoff, der am Büffet geschäftig war, summte sich etwas in den Bart und sah sich mit Fuchsaugen um.

Durch die Fenster drang dumpfer Straßenlärm und schallten derbe Schimpfworte, Beteuerungen und Ausrufe der Händler herein. Ganz nahe fielen klirrend Flaschen hin und zerschmetterten auf dem Steinpflaster. Artem wurde es ganz langweilig, in diesem dumpfen Keller zu sitzen . . .

»Nu, ihr Wölfe,« redete er sie plötzlich laut und langsam an, – »was seid ihr so zahm geworden? Glotzen und reden nicht . . .«

»Wir können auch reden, Ew. Gestrengen!« sagte der »schlechte Bräutigam«, indem er aufstand und zu Artem kam.

Das war ein hagerer Mensch in einer Segeltuchjacke und Soldatenhosen, kahlköpfig, mit einem Spitzbart und kleinen roten, tückisch zusammengekniffenen Augen. »Du bist krank gewesen, heißt es?« fragte er, indem er sich Artem gegenüber setzte.

»Nu?«

»Nichts . . . du warst lange nicht zu sehen . . . Man fragt – wo ist denn Artem? Es heißt, er beliebt krank zu sein . . .«

»So . . . Nu?«

»Noch . . . nu? Fahren wir weiter fort . . . Was hat dir denn gefehlt?«

»Das weißt du nicht?«

»Hab' ich dich denn kuriert?«

»Das alles lügst du ja, Hund«, lächelte Artem. »Und warum lügst du? Du weißt ja doch die Wahrheit.«

»Ich weiß . . .« sagte der Bräutigam, auch lächelnd.

»Warum lügst du also?«

»So ist's klüger, folglich . . .«

»Klüger. Ach du . . . Lump!«

»Ja . . . denn sagt man dir die Wahrheit, wirst du am Ende böse . . .«

»Ich spuck' darauf!«

»Danke! Und auf deine Genesung läßt du uns nicht trinken?«

»Bestelle . . .«

Der Bräutigam bestellte eine halbe Flasche Branntwein und lebte auf.

»Was hast du für'n leichtes Leben, Artem! . . . Immer hast du Geld . . .«

»Nu, also?«

»Nichts . . . Die Weiber – verfluchten – kommen dir zu Hilfe!«

»Und dich sehen sie nicht an.«

»Warum nicht gar! Wir sind nicht dazu angetan, um es dir gleichtun zu können«, seufzte der Bräutigam.

»Weil die Weiber gesunde Männer lieben. Was bist du? Aber ich bin ein reinlicher Mensch, das ist es . . .« In diesem Tone unterhielt sich Artem stets mit den Landstreichern. Seine gleichgültige, träge, tiefe Stimme gab seinen Worten eine besondere Kraft und Schwere, und sie waren immer grob und kränkend. Vielleicht fühlte er, daß diese Leute in vielem schlimmer, aber in allem und immer klüger waren als er.

. . . Kain erschien mit seinem Warenkasten vor der Brust und mit einem gelben Kattunkleid auf dem Arm. Von dem ihm eigenen Furchtgefühl bedrückt, stand er in der Tür, reckte den Hals und sah sich mit unruhigem Lächeln im Innern der Schenke um; als er aber Artem erblickte, strahlte er vor Freude. Artem sah ihn an und lächelte breit, indem er die Lippen regte.

»Komm zu mir her!« rief er Kain zu, und sich an den Bräutigam wendend, befahl er ihm spöttisch:

»Und du geh weg . . . Mach' einem Menschen Platz . . .«

Des Bräutigams rote, borstige Fratze wurde einen Moment ganz starr vor Verwunderung und Verdruß; er erhob sich langsam vom Stuhl, sah seine Kameraden an, die nicht weniger betroffen waren als er und Kain, der geräuschlos und vorsichtig an den Tisch getreten war . . . und spie plötzlich erbost auf den Boden.

»Pfui!«

Danach ging er langsam und schweigend an seinen Tisch, wo sich sogleich ein dumpfes Gemurmel erhob, aus dem Laute des Spottes und des Zornes deutlich zu hören waren. Kain lächelte immerfort verwirrt und froh und schielte zugleich voll Unruhe nach dem beleidigten Bräutigam und seiner Gesellschaft.

Aber Artem sagte gutmütig zu ihm:

»Nu, wir wollen Tee trinken, Kaufmann . . . Piroggen kaufen, – wirst du Piroggen essen? Was siehst du dahin? . . . Mach' dir nichts daraus, hab' keine Angst . . . Ich werd' ihnen gleich 'ne Predigt halten . . .«

Er stand auf, warf mit einer Schulterbewegung die Jacke zu Boden und trat an den Tisch der Unzufriedenen. Hoch und stark, mit vorgewölbter Brust, die Schultern bewegend und sich auf jede Weise mit seiner Stärke brüstend, stand er mit einem Lächeln auf den Lippen vor ihnen, und sie, in lauernder Haltung verharrend, schwiegen, bereit, fortzulaufen. »Nu . . .« fing Artem an, »was knurrt ihr?«

Er wollte etwas schrecklich Gewaltiges sagen, aber er fand keine Worte und hielt an . . .

»Sags auf einmal!« winkte der schlechte Bräutigam mit der Hand, indem er die Lippen verzog. »Sonst bleibt uns lieber so weit wie möglich vom Leibe, du Dummkopf! . . .«

»Schweig!« runzelte Artem die Brauen . . . »Du bist erbost, es ist dir schimpflich, daß ich mit dem Juden Freundschaft halte und dich fortgejagt habe . . . Ich sage euch allen – der Jude ist besser als ihr! Weil er Menschenfreundlichkeit besitzt und ihr nicht . . . Er wird nur gequält . . . aber jetzt nehme ich ihn in meinen Schutz . . . und wenn irgendein Gespenst von euch ihm etwas zuleide tut – dann hat ers mit mir zu tun! Ich sage frei heraus – nicht schlagen, aber peinigen werde ich . . .«

Seine Augen loderten in wildem Feuer, die Adern an seinem Halse schwollen, und die Nasenflügel bebten.

»Daß ich in der Betrunkenheit geschlagen worden bin, hat für mich nichts zu bedeuten! Meine Kraft ist nicht geringer, nur mein Herz ist noch fühlloser geworden . . . Richtet euch danach! Für Kain, für jedes beleidigende Wort, das ihr zu ihm sagt, trete ich ein und mißhandle denjenigen zu Tode. Das sagt allen andern . . .«

Er atmete tief auf, als hätte er eine Last abgeworfen, und ging davon, ihnen den Rücken zukehrend . . .

»Gut geschossen!« rief der schlechte Bräutigam halblaut und schnitt ein klägliches Gesicht, als er sah, wie sich Artem Kain gegenübersetzte.

Kain saß, bleich vor Aufregung, am Tische, und voller Gefühle, die Worte nicht auszudrücken vermögen, hafteten seine weitgeöffneten Augen unverwandt auf Artem.

»Hast du gehört?« fragte ihn dieser streng. »Siehst du . . . Wisse also, wenn jemand dir zu nahe tritt, komm zu mir gelaufen und sag's. Ich komme sofort und renke ihm die Knochen aus . . .«

Der Jude murmelte etwas, entweder betete er zu Gott oder er dankte dem Menschen. Nachdem der »schlechte Bräutigam« und seine Gesellen miteinander geflüstert hatten, verließen sie einer nach dem andern die Schenke. Als der Bräutigam an Artems Tisch vorbeiging, summte er vor sich hin:

»Würde beim Verstande mein
Geld 'ne schwere Menge sein,
Ei, wie gut doch wäre das, –
Tränke ohne Unterlaß«.

und beendete, nachdem er Artem angeblickt hatte, sein Lied unerwartet mit seinen eigenen Worten, indem er eine Fratze schnitt und mit dem Fuß den Takt trat:

»– Alle Narren würd ich kaufen,
Und im Schwarzen Meer ersaufen.
Siehst du wohl! –«

und schlüpfte schnell zur Tür hinaus.

Artem schimpfte los und sah sich um. In dem halbdunklen, verräucherten, dunstigen Gewölbe waren nur drei Leute geblieben – er, Kain ihm gegenüber und Ssawka am Büffet.

Ssawkas Fuchsaugen begegneten Artems schwerem Blick, und sein langes Gesicht nahm den Ausdruck süßester Frömmigkeit an.

»Herrlich und vortrefflich handelst du, Artem Michailitsch!« sagte er, sich den Bart streichend. »Ganz nach dem Evangelium . . . Wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter . . . Voll Eiter und Schwären war auch Kain . . . Und du hast ihn nicht verabscheut.«

Artem hörte nicht seine Worte, sondern nur ihr Echo. Von der gewölbten Decke widerhallend, tönte es durch die dicke, dunstige Luft und schallte ihm ins Ohr. Artem schwieg und schüttelte leise den Kopf, als wolle er diese Laute verscheuchen. Aber sie schallten und pickten ihm ins Ohr, ihn erzürnend. Es war schwül und langweilig. Auf Artems Herz legte sich eine sonderbare Schwere.

Er sah Kain starr an.

Sich verbrennend und auf die Untertasse blasend, trank der Jude, den Kopf beugend, gierig seinen Tee, und die Tasse zitterte in seinen Händen. Dann und wann ertappte Artem einen flüchtigen Blick Kains auf sein Gesicht, und es wurde ihm dadurch noch langweiliger. Ein dumpfes Gefühl der Unzufriedenheit mit irgend etwas entstand in seiner Brust, seine Augen verdunkelten sich, und er sah sich wild um. Wie Mühlsteine drehten sich Gedanken ohne Worte in seinem Kopfe herum. Früher hatten sie ihn nicht heimgesucht, aber zur Zeit der Krankheit waren sie gekommen. Und sie gehen nicht fort . . .

Durch die wie im Gefängnis mit eisernen Gittern versehenen Fenster tönt betäubender Straßenlärm herein . . . Feuchte, schwere Steinmassen hängen über dem Kopfe, schlüpfrig von Schmutz, mit Kehricht bedeckt, ist der Ziegelboden . . . Und dieser kleine, zerlumpte, furchtsame Mensch . . . Er sitzt, zittert und schweigt . . . Und in den Dörfern beginnt bald die Ernte. Hinter dem Flusse, der Stadt gegenüber, reicht das Gras in den Wiesen schon fast bis zum Gurt. Und wenn der Wind von dort herüberweht und solche verlockenden Düfte mitbringt . . . dann möchte er wohl die Sense nehmen und die Wiese entlanggehen!

»Was schweigst du immer, Kain?« fing Artem unzufrieden zu sprechen an. »Hast du denn noch immer Angst vor mir? Ach, du bist ein konfuser Mensch! . . .«

Kain hob den Kopf und schüttelte ihn sonderbar, aber sein Gesicht war verwirrt und kläglich.

»Was soll ich sagen? Und mit welcher Zunge soll ich mit Euch reden? Mit dieser?« Der Jude steckte die Zungenspitze aus und zeigte sie Artem, »mit welcher ich mit allen anderen Leuten rede? Schäme ich mich denn nicht, mit dieser Zunge zu Euch zu reden? Ihr denkt, ich weiß nicht, daß Ihr Euch auch schämt, neben mir zu sitzen? Wer bin ich und wer Ihr? – Denkt Ihr denn, Artem, großherzige Seele, der Ihr seid wie Judas Makkabäus! . . . was Ihr tätet, wenn Ihr wüßtet, wozu Euch Gott erschaffen hat? Ah! Niemand kennt die großen Geheimnisse des Schöpfers, und niemand kann erraten, wozu das Leben ihm gegeben ist. Ihr wißt nicht, wieviel Tage und Nächte meines Lebens ich gedacht habe: Wozu lebe ich? Wozu mein Geist und mein Verstand? Was bin ich den Menschen? Nichts als ein Gegenstand, den sie mit ihrem giftigen Geifer besudeln. Und was sind die Menschen mir? Gewürm, das mich an jeder Stelle meines Leibes und meiner Seele verwundet hat . . . Wozu bin ich auf Erden? Und warum kenne ich nur Unglück . . . und die Sonne hat keinen Strahl für mich!«

Er sprach diese Worte in leidenschaftlichem, halbem Flüsterton, und – wie immer in den Augenblicken der Erregung seiner leidzerrissenen Seele – bebte sein ganzes Gesicht.

Artem verstand seine Reden nicht, aber hörte und sah, daß Kain sich beklagte. Dadurch wurde ihm noch schwerer zumute.

»Nu, wieder die alte Leier!« schüttelte er ärgerlich den Kopf. »Ich hab dir ja doch gesagt, daß ich dir beistehen will!«

Kain lachte leiser und bitter.

»Wie könnt Ihr vor dem Angesichte meines Gottes für mich einstehen? Er ist es, der mich verfolgt . . .«

»Nu das . . . natürlich! Gegen Gott kann ich nichts,« pflichtete Artem treuherzig bei und gab dem Juden mitleidig den Rat: »Dulde nur! Gegen Gott ist nichts zu machen.«

Kain sah seinen Beschützer an und lächelte . . . auch mitleidig. So bemitleidete zuerst der Starke den Klugen, dann bemitleidete die Klugheit die Stärke, und zwischen den beiden Gefährten entstand ein Rapport, der sie einander etwas näherte.

»Bist du verheiratet?« fragte Artem.

»Oh, ich habe für meine Kräfte eine große Familie . . .« seufzte Kain schwer.

»Ach du!« sagte der Hüne. Es wurde ihm schwer, sich ein Weib vorzustellen, das den Juden lieben könnte, und er sah denselben mit neuem Interesse an, der so schwächlich, klein, schmutzig und verschüchtert war.

»Ich hatte fünf Kinder, jetzt noch vier. Ein Mädchen, Chaja, hustete, hustete immerfort und ist gestorben . . . Mein Gott . . . mein Herr und Gott! . . . Und meine Frau ist auch krank . . . hustet immer . . .«

»Das ist schwer für dich,« sagte Artem und verfiel in Gedanken.

Kain ließ den Kopf hängen und dachte auch nach.

In die Tür der Schenke waren Leute gekommen, traten ans Büffet und unterhielten sich dort halblaut über etwas mit Ssawka. Er erzählte ihnen geheimnisvoll etwas, indem er nach Artem und Kain hinblinzelte, und die Leute sahen die beiden spöttisch und verwundert an. Kain hatte diese Blicke bereits bemerkt und war zusammengefahren. Aber Artem stellte sich wieder sich selbst auf der Wiese vor, mit einer Sense in den Händen . . . Die Sense saust, und mit leisem Rauschen legt sich das Gras ihm zu Füßen . . .

»Geht Ihr fort, Artem . . . oder wenn Ihr nicht wollt, geh ich . . . Da sind Leute gekommen,« flüsterte Kain, »und sie lachen über Euch um meinetwillen . . .«

»Wer lacht?« brüllte Artem auf, aus seinen Träumen erwachend, indem er seine Augen wild umherschweifen ließ.

Aber alle in der Schenke waren ernst und in ihre Angelegenheiten vertieft. Nicht einen Blick fing Artem auf. Und finster die Brauen runzelnd, sagte er zu dem Juden:

»Das lügst du . . . Du beklagst dich unnütz . . . Gib acht, das ist kein Spiel! Beklage dich, wenn etwas gegen dich verschuldet wird. Oder vielleicht willst du mich auf die Probe stellen, hast es absichtlich gesagt?«

Kain lächelte ihm wehmütig ins Gesicht und antwortete nicht. Einige Minuten saßen beide schweigend da. Dann stand Kain auf, hing seinen Kasten um den Hals und machte sich zum Fortgehen bereit. Artem reichte ihm die Hand:

»Gehst du? Nu, geh, handle . . . Ich bleib noch ein bißchen hier sitzen . . .«

Mit seinen beiden kleinen Händen schüttelte Kain die Riesentatze seines Beschützers und ging schnell davon.

Auf die Straße hinausgekommen, trat er hinter eine Ecke, blieb dort stehen und sah von dort hervor. Er konnte die Tür der Schenke sehen und brauchte nicht lange zu warten. Bald erschien Artems Gestalt in dieser Tür, wie in einem Rahmen. Seine Brauen waren zusammengezogen, und sein Gesicht sah aus, als fürchte Artem etwas ihm Unangenehmes zu sehen. Er betrachtete die auf der Straße sich drängenden Leute lange und anhaltend, dann nahm sein Gesicht den gewohnten faul-gleichgültigen Ausdruck an, und er ging durch die Menge hindurch, dorthin, wo sich die Straße an den Berg lehnte, – augenscheinlich nach seinem Lieblingsplatze.

Kain sah ihm mit bangem Blicke nach und das Gesicht mit den Händen bedeckend, lehnte er sich mit der Stirn an die eiserne Speichertür, neben der er stand . . .

* * *

Artems schwerwiegende Drohung verfehlte nicht ihre Wirkung – sie flößte Schrecken ein, und der Jude wurde nicht mehr verfolgt.

Kain sah deutlich, daß in dem Dornengesträuch, durch welches er seinem Grabe zuwanderte, der Dornen weniger wurden. Es war, als hörten die Leute auf, seine Existenz zu bemerken. Wie früher schlüpfte er, seine Waren ausrufend, flink zwischen ihnen hindurch, aber ihm wurde nicht mehr absichtlich auf die Füße getreten, wie es früher geschah, er wurde nicht mehr in die hageren Seiten gestoßen, ihm nicht mehr in den Kasten gespien . . . obschon sie ihn früher nicht so kalt und feindlich angesehen hatten, wie sie es jetzt taten.

Mit seiner feinen Witterung für alles, was ihn betraf, bemerkte er auch diese neuen Blicke und fragte sich, – was sie bedeuten und womit sie ihn bedrohen? Viel dachte er darüber nach und konnte nicht begreifen, warum er so angesehen wurde . . . Und ihm fiel ein, daß sie sich früher, wenn auch selten, freundschaftlich in ein Gespräch mit ihm eingelassen, sich manchmal nach dem Gange seiner Geschäfte erkundigt und dann und wann sogar gespaßt und keineswegs böse gespaßt hatten . . .

Kain wurde nachdenklich. So pflegt es ja immer zu sein, daß der Mensch geneigt ist, in der Vergangenheit auch das geringste Gute zu sehen, das er früher nicht bemerkt hat . . .

Er dachte nach, lauschte feinhörig und beobachtete scharfsichtig. Einmal traf sein Ohr ein neues Lied, das der schlechte Bräutigam, der Troubadour dieser Straße, gemacht hatte. Dieser Mensch erwarb mit Musik und Gesang sein Brot; acht hölzerne Eßlöffel dienten ihm als Instrument; er nahm sie zwischen die Finger und schlug sich damit auf die aufgeblähten Wangen, auf den Leib, fingernd schlug er die Löffel aneinander, und es ergab sich eine ordentliche Begleitung zum Rezitativ der Couplets, die er auch selbst verfaßte. War diese Musik auch wenig angenehm, so erforderte sie dafür von dem, der sie ausübte, die Geschicklichkeit eines Taschenspielers; Geschicklichkeit in jeder Hinsicht aber wußte das Publikum dieser Straße zu schätzen.

Und so stieß Kain einmal auf eine Gruppe Menschen, inmitten welcher der Bräutigam, mit seinen Löffeln ausgerüstet, munter also sprach:

»Heda, ehrenwerte Herren, Reservearrestanten! Ich spiele ein neues Stück, eben erst gebacken – noch ganz heiß! Pro Schnauze eine Kopeke, und wer 'ne Fratze hat, zahlt mehr! Ich fange an!

»– Kommt die Sonn' ins Fenster nein –
Freuen sich die Leute,
Steige aber ich hinein . . .«

»Das haben wir schon gehört!« rief skeptisch einer aus dem Publikum.

»Das wissen wir! Vor dem Brot werd ich dir doch nicht umsonst 'nen Kuchen geben . . .« erklärte der Bräutigam, indem er mit den Löffeln klapperte und im Singen fortfuhr:

»Ach, bitter ist mein Leben!
Ich habe wenig Glück.
Vater und Bruder wurden gehängt,
Und bei mir riß der Strick! . . .«

»Schade!« erklärte das Publikum.

Aber die Kopeken gaben sie dem Bräutigam, denn sie wußten, daß er ein gewissenhafter Mensch war, und wenn er ein neues Lied versprochen hatte, so würde er es schon geben.

»Jetzt das neue, jeder sich freue!« Und die Löffel schlugen einen aufreizenden Wirbel.

»Bekannt ward der Ochs mit der Spinne,
Bekannt wurden Jude und Narr,
Auf dem Schwanz trägt der Ochs die Spinne,
Weibern wird verhandelt der Narr.
Heda, ihr . . .«

»Stop, Maschine! Herrn Kain meine Empfehlung mit einem Zaunpfahl! Haben Sie beliebt, das Lied anzuhören, Kaufmann? Es ist nicht für Sie gemacht . . . gehen Sie Ihres Weges!«

Kain verschwendete sein Lächeln vor dem Artisten und ging seufzend mit einem bösen Vorgefühl von ihm fort.

Er schätzte diese Tage und fürchtete für sie. Jeden Morgen erschien er auf der Straße, fest überzeugt, daß heut niemand wagen würde, ihm seine Kopeken abzunehmen. Und seine Augen waren etwas klarer und ruhiger geworden. Artem sah er täglich, aber wenn der Recke ihn nicht rief, ging Kain nicht zu ihm heran.

Artem aber rief ihn selten heran, und wenn er ihn rief, fragte er:

»Nu was – lebst du?«

»O ja! Ich lebe . . . und ich danke Euch,« sagte Kain mit froh glänzenden Augen.

»Rührt dich keiner an?«

»Können sie denn wider Euch?« rief der Jude voll Furcht aus.

»Nu . . . eben! . . . Aber wenn – dann sag's.«

»Ich sag' es!«

»Also . . .«

Finsteren Auges maß er die kleine Gestalt des Juden und entließ ihn.

»Geh nur – handeln!«

Und Kain ging schnell von seinem Beschützer hinweg, stets auf sich die spöttischen und bösen Blicke des Publikums empfindend, Blicke, die ihm bange machten.

So war etwa ein Monat vergangen.

Und da einmal abends, als Kain schon nach Hause gehen wollte, begegnete ihm Artem. Nachdem er mit dem Kopf genickt, winkte ihn dieser mit dem Finger zu sich heran. Kain eilte schnell zu ihm und sah, daß Artem düster und verdrießlich aussah, wie eine Herbstwolke.

»Bist du für heut mit dem Handeln fertig?« fragte er.

»Ja . . . ich wollte schon nach Hause gehen . . .«

»Wart noch . . . komm mal mit, ich will dir was sagen . . .« sagte Artem dumpf.

Und groß und schwer schritt er voran, und Kain schritt hinter ihm.

Sie verließen die Straße und wandten sich dem Flusse zu, wo Artem an dem steilen Ufer eine einsame Stelle hart an den Wellen fand.

»Setz dich,« sagte er zu Kain.

Jener setzte sich, indem er seinen Beschützer ängstlich von der Seite ansah. Artem krümmte den Rücken und fing an, langsam eine Zigarette zu drehen, und Kain blickte gen Himmel, auf den Mastenwald am Ufer, auf das jenseitige Flußufer, auf die ruhigen, in Abendstille verharrenden Wellen und suchte sich vorzustellen, was der Hüne ihm zu sagen habe.

»Nu,« fragte Artem, »lebst du?«

»Ich lebe, oh! jetzt hab ich keine Angst . . .«

»Nu, das ist gut.«

»Ich danke . . .«

»Warte!« sagte Artem.

Und er schwieg lange und schwer, indem er hastig an der Zigarette drehte, während der Jude seine Worte, dunkler, ängstlicher Ahnungen voll, erwartete.

»N-ja, . . . Also geht's jetzt leidlich, dir wird nichts getan?«

»Oh, sie fürchten Euch! Sie alle sind wie Hunde, und Ihr – wie ein Löwe! Und jetzt kann ich . . .«

»Warte!«

»N-nu? Was wollt Ihr mir denn sagen?« fragte Kain mit Zittern.

»Sagen? Das ist nicht so einfach . . .«

»Was ist es denn?«

»Ah! . . . siehst du . . . wir wollen ohne Umschweife reden. Mit einem Mal, und alles!«

»Aha!«

»Ich muß dir sagen, daß ich länger – nicht kann . . .«

»Was? Was könnt Ihr nicht?« . . .

»Nichts! Ich kann nicht! Es ist mir zuwider . . . Es geht nicht . . . Das ist meine Sache nicht . . .« sagte Artem aufseufzend.

»Was denn? Nicht Eure Sache . . . was?«

»Alles das . . . du und alles . . . Ich will dich nicht mehr kennen . . . weil – das mich nichts angeht.«

Kain sank in sich zusammen, als hätte er einen Schlag bekommen, und schwieg.

»Und wenn sie dich beleidigen, komm nicht zu mir und beklage dich . . . ich kann dir nicht helfen . . . und will dich nicht beschützen. Hast du verstanden? Ich kann das nicht . . .«

Kain schwieg, wie tot.

Aber Artem atmete befreit auf, als er diese Worte gesagt hatte, und fuhr klarer und zusammenhängender fort:

»Dafür, daß du damals Mitleid mit mir gehabt hast, kann ich dich bezahlen. Wieviel willst du? Sag, und du bekommst es. Aber bedauern kann ich dich nicht . . . Das ist nicht in mir . . . und ich hab mich bloß so angestellt. Ich dachte es wohl, aber es ist doch bloß Täuschung. Ich kann gar kein Mitleid haben.«

»Weil ich – ein Jude bin?« fragte Kain leise.

Artem sah ihn von der Seite an und sagte einfach eines jener Worte, welche aus dem Herzen kommen:

»Was – Jude? Vor Gott sind wir alle Juden . . .«

»Warum also?« fragte Kain leise.

»Weil ich eben nicht kann! Verstehst du, ich habe kein Mitleid für dich . . . und für niemand . . . Und versteh auch das: . . . einem andern hätt' ich es nicht gesagt, sondern ihm einfach eins an den Schädel gegeben! Aber dir sag' ich's . . .«

»Wer stehet bei mir wider die Boshaftigen? Wer tritt zu mir wider die Übeltäter?« fragte der Jude leise und traurig mit den Worten des Psalmisten.

»Ich kann nicht . . .« schüttelte Artem verneinend den Kopf. – »Nicht deshalb, weil sie lachen . . . ich scher' mich den Teufel um ihr Lachen! . . . Ich bedaure dich nicht . . . Und für das andere . . . bezahl' ich dich lieber . . .«

»Oh, rächender Gott! Ewiger Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Welt . . .« betete Kain, ganz in sich zusammengesunken.

Der Sommerabend war still und warm. Traurig-freundlich lag der Widerschein der Sonnenuntergangsstrahlen auf dem Wasser. Von der Böschung fiel der Schatten auf Kain und Artem.

»Bedenke,« sagte Artem traurig und überredend, »was jetzt meine Aufgabe ist! Du verstehst das nicht . . . aber ich – ich muß für mich selber einstehen . . . wie haben sie mich zuschanden geschlagen, – weißt du noch?«

Er knirschte mit den Zähnen und rückte auf dem Sande hin und her, dann legte er sich auf den Rücken, die Arme unter dem Kopf, und die Beine gegen den Fluß ausgestreckt.

»Ich kenne sie jetzt alle . . .«

»Alle?« fragte Kain niedergeschlagen.

»Alle! Jetzt beginnt meine Abrechnung mit ihnen . . . Und du hinderst mich . . .«

»Wieso kann ich dich hindern?« rief der Jude aus.

»Nicht gerade hindern, aber . . . das ist die Sache – ich bin auf alle Leute erbittert. Bin ich schlechter als sie? Das ist es . . ., und du bist mir folglich – überflüssig. Verstanden?«

»Nein!« antwortete der Jude sanft und schüttelte den Kopf.

»Du verstehst nicht? Was bist du für einer! Du willst bedauert werden – ja? Nu, und ich kann jetzt mit niemand Mitleid haben . . . Ich habe kein Mitleid . . .«

Er stieß den Juden in die Seite und fügte hinzu:

»Gar keins. Verstanden?«

Langes Schweigen trat ein. Um die beiden Gefährten tönte in der warmen, duftigen Luft das Geplätscher des Wassers, und fernher von dem verschlafenen, dunklen Flusse kamen dumpfe, ächzende Laute.

»Was soll ich jetzt machen?« fragte Kain endlich, aber er bekam keine Antwort, denn Artem war eingeschlafen oder dachte über etwas nach. »Wie werde ich leben ohne Euch?« sagte der Jude lauter.

Artem sah gen Himmel und antwortete ihm:

»Das mußt du schon selber bedenken . . .«

»Mein Gott, mein Gott!«

»Das kann man doch nicht so mit einem Male sagen – wie leben«, sagte Artem träge.

Nachdem er gesagt hatte, was er wollte, wurde er mit einem Mal klar und ruhig.

»Ich wußte das ja . . . schon damals, als ich zu Euch kam, als Ihr geschlagen wart, wußte ich schon . . . daß Ihr mir nicht lange beistehen würdet . . .«

Und der Jude sah mit flehenden Blicken Artem an, aber begegnete nicht seinen Augen.

»Vielleicht deshalb, weil meinetwegen über Euch gelacht wird?« fragte Kain vorsichtig und fast flüsternd.

»Die? Was sind mir die?« lachte Artem auf, indem er die Augen öffnete. »Wenn ich Lust hätte, setzte ich dich auf die Schultern und trüge dich durch die Straße. Laß sie lachen . . . Aber das ist vergeblich . . . Man muß alles der Wahrheit gemäß machen . . . Dem Herzen nach . . . Was nicht darin ist – das nicht . . . Und mir, Bruder, ich sag' es geradezu, ist es zuwider, daß du so bist . . . ja! Darauf kommt's hinaus.«

»Ach! . . . richtig. Nu, und was jetzt?! Soll ich gehen?«

»Geh, so lange es hell ist . . . noch wird man dir nichts tun. Unser Gespräch kennt ja niemand . . .«

»Ja–a. Und Ihr sagt es niemand, ah?« fragte Kain.

»Nu . . . natürlich. Aber komm mir nicht oft vor Augen . . .«

»Gut«, willigte der Jude leise und traurig ein und stand auf.

»Es wär' besser für dich, wenn du an einen andern Ort handeln gingst«, sagte Artem gleichgültig. »Denn hier – ist das Leben hart . . . Ganz offen wird einem aufgelauert . . .«

»Wohin sollt' ich wohl gehen?«

»Nu denn . . . wie du meinst.«

»Lebt wohl, Artem.«

»Leb wohl, Bruder!«

Und liegend reichte er dem Juden die Hand und drückte mit seinen Fingern dessen trockene Knochen.

»Leb wohl . . . Nimm es nicht übel . . .«

»Ich nehme es nicht übel«, seufzte der Jude bedrückt.

»Nu also . . . Es ist doch besser so, urteile selbst . . . Du bist doch kein Kamerad für mich . . . Sollte ich denn für dich leben? Das geht nicht . . .«

»Lebt wohl!«

»Geh nur . . .«

Kain ging gesenkten Hauptes und sehr gebeugt den Fluß entlang.

Der schöne Artem wandte den Kopf nach ihm, und nach einigen Sekunden nahm er wieder seine frühere Lage ein, mit dem Gesicht gen Himmel, den die Nähe der Nacht schon verdunkelte.

Seltsame Laute entstanden und verhallten in der Luft. Der Fluß plätscherte einförmig, traurig und bang am Ufer.

Doch Kain kehrte wieder um, nachdem er fünfzig Schritt gegangen war, trat an Artems mächtige, auf der Erde ausgestreckte Gestalt und fragte leise und ehrerbietig, indem er vor ihr stehen blieb:

»Vielleicht habt Ihr's Euch anders überlegt?«

Artem schwieg.

»Artem!« rief Kain und wartete lange auf eine Antwort. »Artem! Vielleicht tut Ihr nur so?« wiederholte der Jude mit zitternder Stimme. »Denkt doch daran, wie ich Euch damals . . . ah? Artem!? Niemand kam zu Euch, aber ich kam . . .«

Ihm zur Antwort ertönte ein schwaches Schnarchen.

. . . Kain stand noch lange vor dem starken Artem und blickte immerfort in sein leblos-schönes, vom Schlaf gemildertes Gesicht. Die reckenhafte Brust hob sich gleichmäßig, und der durch die Atemzüge bewegte schwarze Schnurrbart ließ die festen, glänzenden Zähne des schönen Menschen sehen. Es war, als lächle er . . .

Tief aufseufzend, neigte der Jude sein Haupt noch tiefer und ging wieder an das Flußufer.

Zitternd vor Furcht vor dem Leben, ging er vorsichtig – auf freien, weiten, monderhellten Stellen mäßigte er den Schritt, in den Schatten tauchend – schlich er langsam . . .

Und er glich einem Mäuschen, einem kleinen, feigen Diebe, der sich durch viele Gefahren, die ihn von allen Seiten bedrohen, zu seinem Neste schleicht. –

Und schon brach die Nacht herein, und am Ufer des Flusses war es öde . . .


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