Maxim Gorki
Meister-Erzählungen
Maxim Gorki

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Die Holzflößer

I.

Schwere Wolken ziehen langsam über dem verschlafenen Flusse; es ist, als senkten sie sich immer tiefer und tiefer, und es scheint, als berührten ihre grauen Fetzen in der Ferne die Oberfläche der schnellen, trüben Frühlingswogen, und als erhöbe sich dort, wo sie das Wasser berühren, bis zum Himmel eine undurchdringliche Wolkenwand, die dem Flusse den Lauf und den Flöhen den Weg versperrte.

Diese Wand unterspülend, schlagen die Wellen erfolglos mit leisem, klagendem Murren daran und verlaufen sich, zurückgeworfen, links und rechts, wo das feuchte Dunkel der frischen Frühlingsnacht liegt.

Doch die Flöße schwimmen vorwärts, und im weiten Raume voll schwerer Wolkenmassen verschiebt sich die Ferne vor ihnen.

Die Ufer sind nicht zu sehen. Die Nacht deckt sie, und die breiten Wogen der Überschwemmung gehen darüber hinweg.

Der Fluß ist wie ein Meer, und der ganz von Wolken verhüllte Himmel darüber – schwer, feucht und traurig.

In diesem grauen, trüben Bilde gibt es keine Luft, keine lichten Farben.

Die Flöße gleiten schnell und geräuschlos über das Wasser, und aus dem Dunkel kommt ihnen ein Dampfer entgegen, aus dessen Schornstein lustige Funken sprühen, und dessen Schaufelräder dumpf aufs Wasser schlagen . . .

Zwei rote Laternen an den Seiten werden immer größer, immer heller, und die Laterne auf dem Mast schwankt leise hin und her und winkt geheimnisvoll der Finsternis zu.

Der weite Raum ist von dem Rauschen des zerteilten Wassers und dem schweren Gestöhn der Maschine erfüllt.

»Vorgesehen!« erschallt eine kräftige Bruststimme auf den Flößen.

An den Rudern am Ende des Floßes stehen zwei: Mitja, der Sohn des Flößers, ein blonder, schwächlicher, nachdenklicher Bursch von 22 Jahren, und Ssergej – der Arbeiter, ein verdrießlicher, gesunder junger Mensch mit rotem Bart; aus dem Rahmen der nicht geschlossenen, spöttisch aufgeworfenen Oberlippe traten große, starke Zähne hervor.

»Haltet links!« erschütterte ein lauter Ruf von vorne die Finsternis von neuem.

»Das wissen wir allein! was brüllst du?« knurrte Ssergej unzufrieden und legte sich seufzend in die Riemen.

»O–uch! Wende stärker, Mitja!«

Dimitry stemmt die Füße auf die feuchten Balken, zieht mit den schwachen Händen die schwere Stange – das Ruder – nach sich und hustet heiser.

»Mehr nach links! . . . Teufel, ihr!« wurde vorne erregt und zornig geschrien.

»Brüll' nur! Dein abgezehrter Sohn kann keinen Strohhalm überm Knie zerbrechen, und du stellst ihn ans Steuer und brüllst nachher über den ganzen Fluß. Dem Knicker war es schade, noch einen Arbeiter zu dingen. Nu, brüll' dir jetzt den Hals aus! . . .«

Ssergej brummte ganz laut, als befürchte er augenscheinlich nicht, gehört zu werden, oder als wünsche er es sogar . . .

Der Dampfer schießt an den Flößen vorüber, murrend die schäumenden Wogen unter den Rädern fortkehrend. Die Balken schaukeln auf dem Wasser, und die aus Reisern gedrehten Bänder geben einen kläglichen, knarrenden Ton von sich.

Die erleuchteten Fenster des Dampfers sehen auf den Fluß, und die Flöße, wie eine Reihe feuriger Augen, spiegeln sich im bewegten Wasser als lichte, zitternde Flecke ab und verschwinden.

Die Wellen rauschen auf die Flöße, die Balken fangen an zu tanzen, und schwankend stützt sich Mitja fest aufs Steuer, da er zu fallen fürchtet.

»Nu, nu!« knurrt Ssergej spöttisch, »du willst wohl tanzen! Der Vater wird dich wieder anbrüllen . . . Oder er kommt und versetzt dir eins, dann wirst du nicht tanzen! Halte rechts! Eu–nu! Oh, oh!« . . .

Und mächtig, mit Armen wie stählerne Sprungfedern, dreht und wendet Ssergej sein Ruder, tief das Wasser damit durchfurchend . . .

Groß, energisch, ein wenig schlimm und spöttisch, steht er so da, als sei er mit den nackten Füßen an den Balken festgewachsen, und in stark gespannter Haltung, jeden Augenblick bereit, das Floß zu wenden, blickt er scharf vorwärts.

»Da, wie dein Vater die Marja umarmt! Nu – nu, das sind doch Teufel! Weder Scham noch Gewissen! Warum gehst du nicht weg von den schamlosen Teufeln? . . . ah? Hörst du?«

»Ich höre«, sagte Mitja halblaut, ohne dort hinzusehen, wo Ssergej seinen Vater durch die Dunkelheit sieht.

»Ich höre! Ach, du Weichbrot!« äfft Ssergej ihm nach und lacht ironisch.

»So etwas!« fährt er fort, von Dimitrys Apathie angestachelt. »Verteufelter Kerl, der Alte! Verheiratet den Sohn, macht die Schwiegertochter abspenstig, und – ist im Recht! Teufelskerl!« Mitry schweigt und blickt auf den Fluß zurück, wo sich auch eine dichte Wolkenwand gebildet hatte.

Jetzt waren überall Wolken, und es sah so aus, als schwämmen die Flöße nicht, sondern ständen unbeweglich in diesem dicken, schwarzen Wasser, auf dem die dunkelgrauen Wolkenhaufen lasteten, die, vom Himmel gefallen, ihm den Weg versperrten.

Der Fluß sieht aus wie ein bodenloser Abgrund, den von allen Seiten himmelhohe, mit dichten Nebelschleiern bedeckte Berge umgeben.

Ringsumher – eine drückende Stille, und das Wasser, das leise an den Flößen plätschert, scheint auf etwas zu warten. Viel heimlicher Kummer und eine scheue Frage klingen aus diesem dürftigen Laut, dem einzigen inmitten der Nacht, der ihre Stille noch vertieft . . .

»Jetzt sollte es windig werden,« sagte Ssergej, »doch nein, wir brauchen keinen Wind, weil er den Regen herbeitreibt«, erwiderte er sich selbst und fing, sich räuspernd, an, seine Pfeife zu stopfen.

Ein Streichholz flammt auf, Blasen durch das verstopfte Pfeifenrohr wird hörbar, und ein rotes, bald aufflackerndes, bald erlöschendes Flämmchen beleuchtet Ssergejs breites, in der Dunkelheit gleichsam untertauchendes Gesicht.

»Mitry!« ertönt seine Stimme. Jetzt ist er nicht mehr so mürrisch, und die lustige Note in ihm erklingt deutlicher.

»Ah?« antwortet Mitry halblaut, ohne den Blick von der Ferne zu wenden, wo er mit seinen großen, traurigen Augen starr etwas betrachtet.

»Wie war's doch, Bruder mein, ah?«

»Was?« fragt Mitry unwillig.

»Die Heirat doch?! Zum Lachen! Wie war's doch? Nu, als ihr schlafen gingt . . . Nu, wie denn?! Ha, ha, ha!«

»Heda, ihr! Was wiehert ihr da! Vorgesehn!« schallte es drohend über den Fluß.

»Da, wie er brüllt, der verteufelte Alte«, bemerkt Ssergej vergnügt und kehrt wieder zu dem ihn interessierenden Thema zurück.

»Nu, sag' doch! Mitja! Sag' doch! ah!«

»Laß mich in Ruh', Sserjoga! Ich hab's ja schon gesagt!« flüstert Mitja bittend, aber, da er wohl wußte, daß er Ssergej nicht los wurde, fing er doch hastig an:

»Nu, als wir schlafen gingen, sagte ich zu ihr: ich kann dein Mann nicht sein, Marja. Du bist ein gesundes Mädchen, ich ein kranker, schwächlicher Mensch. Ich wollte auch überhaupt nicht heiraten, der Vater trieb mich mit Gewalt . . . heirate, sagt er, und so in einem fort. Ich mag euresgleichen nicht, und dich weniger als alle. Du bist zu keck . . . Ja . . . Und ich kann alles das nicht, verstehst du . . . Unfug ist es, und Sünde . . . Kinder auch . . . Für sie ist man Gott Verantwortung schuldig . . .«

»Unfug!« quiekt Ssergej und lacht laut auf. »Nu, und Marja? ah?«

»Nu . . . Was soll ich jetzt tun, sagt sie. Sitzt und weint. Weshalb gefalle ich dir denn nicht? Bin ich denn so häßlich? Schamlos ist sie, Sserjoga, und – böse. Soll ich denn, sagt sie, gesund wie ich bin, zum Schwiegervater gehen? Ich sage: wie du willst . . . Geh', wohin du willst. Ich kann nicht wider meine Seele handeln . . . Wenn noch Liebe da wäre! Aber so – Großvater Iwan hat gesagt – eine Todsünde ist es. Sind wir beide denn Vieh, sage ich . . . Sie weint in einem fort. Meine Mädchenschönheit ist dahin, sagt sie. Sie tat mir leid. Laß gut sein, irgendwie wirst du dich behelfen. Oder geh' ins Kloster. Sie schimpft: Du bist ein Narr, Mitka, sagt sie, ein niederträchtiger . . .«

»Ach, B–Batjuschki!« zischte Ssergej voller Wonne. »So hast du sie abgewehrt – ins Kloster?«

»So hab' ich gesagt!« erwiderte Mitja einfach.

»Und sie hat dich – einen Narren genannt?« – erhebt Ssergej die Stimme.

»Ja . . . sie hat geschimpft.«

»Das war dir recht, Bruder! Ach, ach, das war dir recht! Schläge hättest du haben müssen!« ändert Ssergej plötzlich den Ton. Er spricht jetzt streng und tadelnd.

»Darfst du dich denn gegen das Gesetz auflehnen? Das hast du getan! So ist es bestimmt – nun, das ist genug. Das streite nicht. Du aber hast es beim verkehrten Ende angefangen. Ins Kloster! Dummkopf! Was braucht denn solch Mädchen? Das Kloster etwa? Nu, und jetzt! Bedenke – was daraus geworden ist! Du bist selbst nicht bä, nicht mä, und das Mädchen hast du ins Verderben gestürzt . . . sie ist jetzt deines Vaters Liebste. An des Alten Sünde bist du auch schuld . . . Wieviel Gesetze hast du übertreten? Dummkopf!«

»Das Gesetz, Ssergej, ist in der Seele. Ein Gesetz für alle: tue nichts, was deiner Seele zuwider ist, und du wirst nichts Böses auf Erden tun«, sagte Mitja leise und friedfertig, indem er den Kopf schüttelte.

»Und was hast du getan?« entgegnete Ssergej energisch. »In der Seele! Auch noch . . . Was nicht alles in der Seele sein soll! Es ist doch nicht alles verboten. Seele, Seele . . . Verstehen muß man sie, Bruder, und danach denn schon . . .«

»Nein, Ssergej, so ist es nicht!« fing Mitja lebhaft an zu sprechen, als werde er plötzlich entflammt. »Die Seele ist immer rein wie ein Tautropfen, Bruder. Sie ist in einer Hülle, daran liegt's. Sie ist tief. Aber wenn man auf sie hört, irrt man sich nicht. Stets ist nach Gottes Willen, was nach ihr getan wird. Gott ist ja in der Seele, das heißt, das Gesetz liegt in ihr. Von Gott ist sie geschaffen, von Gott dem Menschen eingehaucht. Man muß nur in sie hineinzublicken verstehen. Man muß nur sich selbst nicht schonen.«

»Heda, ihr! Verschlafene Teufel! Gebt beide acht!« dröhnte es schallend über den Fluß.

Dem kraftvollen Laut war es anzuhören, daß ein gesunder, energischer, mit sich selbst zufriedener Mensch rief, ein Mensch mit großer und ihm selbst klar bewußter Lebensfähigkeit. Er rief nicht, weil die Flößer einen Verweis hervorgerufen hatten, sondern weil seine Seele voll war von etwas Freudigem und Starkem, und dieses Freudige und Starke wollte heraus, wollte sich frei machen und riß sich in diesem donnernden, energischen Laut los.

»Da, wie der alte Teufel belfert!« bemerkte Ssergej vergnügt und sah schmunzelnd mit scharfem Blick vorwärts.

»Die Täubchen kosen! Bist du nicht neidisch, Mitja?«

Mitry sieht gleichgültig nach den vorderen Rudern, wo zwei menschliche Gestalten arbeitend von rechts nach links über die Flöße laufen und, nahe beieinander stehenbleibend, zuweilen in eine kompakte, dunkle Masse verschmelzen.

»Bist du nicht neidisch, sag?« wiederholte Ssergej.

»Was geht's mich an? Ihre Sünde – ihre Verantwortung«, sagte Mitja leise.

»So–o!« dehnte Ssergej ironisch und tat von neuem Tabak in die Pfeife. Wieder leuchtete das rote Flämmchen in der Finsternis auf.

Und die Nacht wurde immer dunkler, die grauen und schwarzen Wolken senkten sich immer tiefer auf den stillen, breiten Fluß herab.

»Wo hast du nur diese große Weisheit her, Mitry, ah? Oder ist sie dir schon angeboren? Du ähnelst nicht deinem Vater, Brüderchen. Dein Vater ist ein Held. Sieh mal, er ist 52 Jahre alt, und was für ein schönes Mädchen liebkost er. Ein kerniges Weib! Und sie liebt ihn – das ist schon so! Sie liebt ihn, Bruder. Solch einen muß man lieben! Wie Trumpfkönig ist dein Vater, arbeitet, daß es eine Lust ist, zu sehen, hat ein großes Vermögen, Ehren in Überfluß und den Kopf auf der richtigen Stelle. N–ja. Du gleichst weder der Mutter noch dem Vater, Mitja? Was würde dein Vater wohl gemacht haben, wenn die selige Anfisia noch lebte? Das sollt' mich wundern! Das hätt' ich sehen mögen, wie sie ihn . . . Deine Mutter war auch ein rasches Weib . . . Sie paßte zu Ssilan.«

Mitry schwieg, sich auf das Ruder stützend und ins Wasser blickend.

Ssergej verstummte auch. Von vorne tönte ein helles Frauenlachen herüber. Eine männliche Baßstimme sekundierte ihm. Ssergej, der neugierig und scharf durch das Dunkel nach ihnen schaute, konnte ihre vom Nebel umhüllten Gestalten kaum erkennen. Man konnte nur sehen, daß der Mann groß war und breitbeinig am Ruder stand, mit halber Wendung nach dem rundlichen, kleinen Weibe, das, etwa anderthalb Faden vom ersteren entfernt, auf das andere Ruder gebeugt dastand. Sie drohte dem Manne mit dem Finger, wobei sie abgebrochen und neckisch lacht. Ssergej wendet sich mit einem betrübten Seufzer ab und fängt, nachdem er sinnend geschwiegen, wieder an:

»Ach ja! Sie haben es doch gut. Schön so! Ich Herumtreiber ohne Haus und Hof sollte es so haben! Ich würde nicht fortgehen von solchem Weibe! Ach, du! So würde ich sie immer in die Arme pressen und nicht loslassen. Da, fühle, wie ich dich lieb habe . . . Aber zum Teufel, ich habe kein Glück bei den Weibern. Es scheint, sie mögen die Rothaarigen nicht. N–ja. Launisch sind sie . . . und Schelme! Gierig, zu leben! Mitja! Ha, schläfst du?«

»Nein«, antwortete Mitja.

»Das ist's grade! Wie wirst du durchs Leben kommen, Bruder! Die Wahrheit zu sagen, du bist mutterseelenallein! Das ist schwer! Was soll jetzt aus dir werden? Nichtiges Leben kannst du nicht unter den Leuten finden. Du bist zu komisch. Ein Mensch, der nicht für sich einstehen kann! Zähne und Krallen muß man haben, Bruder. Jeder kann dir was zuleide tun. Kannst du dich denn wehren? Wie willst du dich wehren? Hehehe! Du bist wunderlich. Wo willst du hin?«

»Ich?« fuhr Mitja von neuem auf. »Ich geh' fort. Diesen Herbst geh' ich nach dem Kaukasus, Bruder, und alles ist aus! Herrgott! Nur so schnell wie möglich von euch fort! Seelenlose, gottlose Leute seid ihr alle – die einzige Rettung – von euch fort. Wozu lebt ihr? Wo ist euch Gott? Ihr habt nur das Wort . . . Lebt ihr denn in Christus? Ach ihr, Wölfe ihr! Aber dort sind andre Leute, ihre Seelen sind in Christo lebendig, ihre Herzen enthalten Liebe und leiden um die Erlösung der Welt. Ihr aber? Ach, ihr! Tiere, greulich brüllende, seid ihr! Es gibt andre Leute. Ich habe sie gesehen. Sie haben mich gerufen. Zu ihnen geh' ich. Sie haben mir die Heilige Schrift gebracht. Lies, sagen sie, Mensch Gottes, unser lieber Bruder, lies das wahrhaftige Wort . . . Und ich habe gelesen, und meine Seele ist vom Worte Gottes neubelebt! Ich gehe fort. Ich verlasse euch, sinnlose Wölfe – ihr nährt euch einer vom Fleisch des andern. Verflucht seid ihr!«

Mitry sprach in leidenschaftlichem Flüsterton und atmete schwer in dem ihn erfüllenden Gefühl zorniger Verachtung der sinnlosen Wölfe und vor Sehnsucht nach den Leuten, deren Seelen sich um die Erlösung der Welt kümmern.

Ssergej war ganz betäubt. Er schwieg mit weitoffnem Munde und hielt seine Pfeife in der Hand, dachte nach, sah sich um und sagte mit tiefer, finstrer Stimme:

»Sieh, wie bissig er ist! . . . Er kann auch böse werden. Ganz umsonst hatte er das Buch gelesen. Wer weiß, was es für eins ist? Nu . . . mach', mach', das du dahinkommst, sonst wirst du noch ganz verdorben. Vorwärts! eile, eh du noch ganz zum Tier wirst . . . Was sind denn das da für Leute im Kaukasus? Mönche? Oder vielleicht Altgläubige? Oder Molokanen? ah?«

Aber Mitry war ebenso schnell verstummt, wie er aufgebraust war. Schweratmend vor Anstrengung hantierte er mit dem Ruder und flüsterte etwas schnell und erregt.

Ssergej wartete lange auf seine Antwort, aber es kam keine. Diese düstre, totenstille Nacht bedrückte seine gesunde, einfache Natur, es verlangte ihn, sich ans Leben zu erinnern, diese Stille mit Lauten zu erwecken und auf jede Weise das verhaltene, beschauliche Schweigen der schweren, sich langsam ins Meer ergießenden Wassermassen und die traurig in der Luft verharrenden, regungslosen Wolkenhaufen zu stören und zu verscheuchen. An jenem Ende des Floßes wurde gelebt, und das reizte auch ihn zum Leben.

Beständig schallten von dort bald abgerissene Ausrufe, bald leises, zufriedenes Lachen herüber, abgetönt durch die Stille und Finsternis dieser Nacht so voller Frühlingsduft, der das heiße Verlangen erweckte, zu leben.

»Laß, Mitry, was machst du? Der Alte schimpft, du wirst sehen«, bemerkte er endlich, da er das Schweigen nicht länger ertrug und sah, daß Mitry das Wasser zwecklos mit dem Ruder aufrührte. Mitry blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verharrte so, schweratmend, die Brust aufs Ruder gestützt.

»Heut sind recht wenig Dampfer . . . Solange wir schon schwimmen, ist uns erst einer begegnet . . .«

Und da er sah, daß Mitry sich nicht anschickte, auf diese Bemerkung zu antworten, erklärte es sich Ssergej logisch selbst:

»Das ist, weil die Schiffahrt noch nicht eröffnet ist. Sie fängt eben erst an. Aber wir werden schnell nach Kasan kommen – tüchtig treibt die Wolga. Sie hat einen Riesenrücken – trägt alles. Was stehst du? Bist du bös geworden, ah, Mitja! He!«

»Nu, was denn?« fragt Mitry unlustig.

»Nichts, wunderlicher Kauz . . . Was schweigst du, frag' ich? Denkst du immer nach? Das taugt zu nichts. Das ist dem Menschen schädlich. Ach, du Grübler, grübelst, aber daß du keinen Verstand hast, kommt dir nicht in den Sinn. Ha, ha!«

Und lachend räusperte sich Ssergej kräftig im Bewußtsein seiner Überlegenheit, dann schwieg er ein Weilchen, wollte schon pfeifen, brach aber ab und fuhr fort, seinen Gedanken weiter auszuspinnen.

»Gedanken! Ha! Ist das eine Beschäftigung für einen gewöhnlichen Menschen. Sieh, dein Vater da, der grübelt nicht, – der lebt. Er liebkost dein Weib und lacht mit ihr über dich, den klugen Toren. So ist's! Horch nur! Hab' keine Angst, Markas Kind wird dir nicht ähnlich. Es wird wohl solch ein rascher Kerl wie Ssilan Petroff selbst. Aber für dein Kind wird es doch gelten. Das sind Sachen! Ha, ha! ›Papachen‹ – wird es dich nennen. Und du wirst doch nicht sein Papa, sondern sein Bruder sein. Und sein Papa – der Großvater. Du, das ist geschickt! Solche Unfuganstifter! Aber Allerweltskerle! ah! 's ist doch so, Mitja?«

»Ssergej!« ertönte ein erregtes, leidenschaftliches, fast schluchzendes Flüstern. »Um Christi willen bitt' ich dich, zerreiß' mir nicht das Herz, quäle mich nicht, laß mich! Schweige! Um Gottes und Christi willen bitt' ich dich, sprich nicht mit mir, hetze mich nicht auf, saug nicht mein Blut. Ich stürz mich in den Fluß, und die große Sünde wird auf dir ruhen! Ich verderbe meine Seele, laß mich in Ruh! So wahr Gott lebt, ich bitte dich! . . .«

Das krankhaft weinerliche Wehklagen unterbrach die nächtliche Stille, und Mitry ließ sich, wie er stand, auf die Balken nieder, als hätte ihn etwas Schweres getroffen, das aus den finstren, über dem schwarzen Flusse hängenden Wolken auf ihn herabgefallen war.

»Nu, nu, nu!« knurrte Ssergej erschrocken, als er sah, wie sich sein Gefährte auf den Balken hin und her warf, als wäre er vom Feuer versengt.

»Wunderlicher Mensch! Solch ein wunderlicher Mensch . . . hättest doch sagen sollen . . . wenn dir das und dies nicht . . .«

»Den ganzen Weg quälst du mich . . . warum? Bin ich dein Feind? ah? dein Feind?« flüsterte Mitja heftig . . .

»Du bist ein wunderlicher Kauz, Bruder! Ach, wie wunderlich!« brummte Ssergej bestürzt und gekränkt. »Wußte ich das denn? Ich kann dir doch nicht ins Herz sehen.«

»Ich will es vergessen, versteh! Vergessen für immer! Meine Schande . . . die grimmige Qual! Grausame Menschen seid ihr! Ich gehe fort! Für immer geh ich . . . Ich kann nicht mehr . . .«

»Ja, geh doch! . . .« brüllte Ssergej über den ganzen Fluß hin, verstärkte den Ausruf durch ein donnerndes, zynisches Schimpfwort, aber verstummte sogleich, zog sich zusammen und hockte sich hin, sichtlich auch bedrückt von dem sich vor ihm enthüllenden Seelendrama, das er nun doch nicht mehr mißverstehen konnte.

»Heda, ihr! Man ruft euch! Seid ihr denn taub geworden?« schallte Ssilan Petroffs Stimme über den Fluß. »Was habt ihr? Was belfert ihr? ah–he!« Es mußte Ssilan Petroff wohl gefallen, mit seinem tiefen, starken Baß voll kraftvoller Gesundheit inmitten des lastenden Schweigens auf dem Flusse zu lärmen. Die Zurufe kamen schnell nacheinander, die warme, feuchte Luft erschütternd, und erdrückten mit ihrer Lebenskraft die schwächliche Gestalt Mitrys, der wieder am Ruder stand. Ssergej, der nach Kräften dem Herrn antwortete, schimpfte zugleich halblaut auf ihn mit derben und gesalzenen russischen Schimpfworten.

Die beiden Stimmen unterbrachen die nächtliche Stille, weckten sie, rüttelten sie auf und verschmolzen bald in eine tiefe Note, voll wie der Klang eines großen Kupferrohrs, bald schwebten sie, sich zum Falsett erhebend, durch die Luft, dann vergingen sie und verloren sich. Danach – wurde es wieder still.

Durch einen Ritz in den Wolken fiel gelbes Mondlicht auf das dunkle Wasser, funkelte einen Augenblick auf und verschwand, von dem feuchten Dunkel verwischt.

Die Flöße schwammen weiter inmitten der Finsternis und des Schweigens.

II.

An einem der vorderen Ruder stand Ssilan Petroff, in einem weiten, roten Hemd mit offnem Kragen, der seinen kräftigen Hals und die behaarte Brust freiließ, die fest war wie ein Amboß. Ein Flausch grauschwarzer Haare hing ihm in die Stirn, und große, feurige Augen lachten darunter hervor. Die bis zum Ellbogen aufgestreiften Hemdärmel entblößten sehnige Arme, die fest das Ruder hielten, und den Leib ein wenig vorgestreckt, beobachtete Ssilan scharf etwas in dem dichten Dunkel der Ferne.

Marja stand drei Schritte von ihm, seitwärts zur Strömung, und schaute mit zufriedenem Lächeln auf die breitbrustige Gestalt des Geliebten. Beide schwiegen, mit ihren Beobachtungen beschäftigt: er – die Ferne, sie das Spiel seines lebhaften bärtigen Gesichts.

»Wahrscheinlich ein Feuer der Fischer!« wandte er ihr das Gesicht zu. »Schadet nichts. Wir wollen rechts halten! – O–och!« atmete er eine ganze Säule heißer Luft aus, indem er das Ruder links gleichmäßig einschlug und kräftig mit ihm das Wasser teilte.

»Streng dich nicht so sehr an, Maschurka!« bemerkte er, als er sah, daß sie mit ihrem Ruder eine geschickte Bewegung machte.

Rundlich, voll, mit muntren schwarzen Augen und über und über rot, barfüßig, in einem einzigen nassen Sarafan, der ihrem Körper anlag und ihn deutlich abzeichnete, wandte sie ihr Gesicht Ssilan zu und sagte freundlich lächelnd:

»Du schonst mich doch gar zu sehr. Dank dir dafür!«

»Wenn ich dich küsse, – schone ich dich nicht!« zuckte Ssilan die Schultern.

»Du brauchst auch nicht!« flüsterte sie herausfordernd.

Und sie verstummten beide, einander mit sehnsüchtigen Blicken betrachtend.

Melodisch rauschte das Wasser unter den Flößen. Rechts, irgendwo in der Ferne, fingen die Hähne an zu krähen.

Kaum merklich unter den Füßen schwankend, schwammen die Flöße vorwärts, dorthin, wo das Dunkel sich schon lichtete und löste und die Wolken schärfere Umrisse und hellere Schattierungen annahmen.

»Ssilan Petrowitsch! Weißt du, weshalb sie dort greinten? Ich weiß es, wahrhaftig, ich weiß es! Mitry hat sich bei Sserjoschka über uns beklagt und vor Kummer so jämmerlich geplärrt, und Sserjoschka hat auf uns geschimpft.«

Marja sah forschend in Ssilans Gesicht, das jetzt – nach ihren Worten – finster, kalt und starr war.

»Nu, was also?« fragte er kurz.

»So, ich sag nur. Nichts.«

»Wenn es nichts ist, war auch nichts zu sagen nötig.«

»Sei nur nicht böse!«

»Auf dich? Ich war manchmal froh aber ich kann's nicht.«

»Liebst du Maschka?« flüsterte sie schelmisch, sich zu ihm neigend.

»E–ech!« räusperte sich Ssilan nachdrücklich, streckte seine starken Arme nach ihr aus und sagte durch die Zähne:

»Komm schon . . . Neck nicht . . .«

Sie duckte sich wie eine Katze und schmiegte sich weich an ihn. »Wir werden wieder die Flöße abbringen!« flüsterte er, ihr Gesicht küssend, das unter seinen Lippen brannte.

»Genug schon! Es wird hell . . . Von jenem Ende kann man uns sehen.«

Und indem sie mit dem Kopf hinter sich deutete, suchte sie sich von ihm loszumachen. Aber er hielt sie mit einem Arm noch fester und nahm mit dem andern das Steuer.

»Sehen! Laß sie sehen! Mögen es alle sehen! Ich mach mir nichts daraus. Ich begehe eine Sünde, gewiß. Ich weiß das. Nu, was denn? Ich werde es vor Gott verantworten. Du bist ja doch nicht seine Frau gewesen, bist folglich frei, gehörst dir selbst. Schwer für ihn? Ich weiß. Und wir? Ist diese Lage etwa für mich schmeichelhaft? Obwohl du immerhin nicht seine Frau bist . . . Aber dennoch! Wie steht es jetzt mit meiner Achtung? Und ist es nicht Sünde vor Gott? Es ist Sünde! Ich weiß das alles. Und habe sie doch begangen. Weil – es sich verlohnt. Einmal lebt man nur auf der Welt, und jeden Tag kann man sterben. Ach, Marja! Einen Monat hätte ich mit Mitjas Verheiratung warten sollen! Dann wäre alles dies nicht geschehen. Gleich nach Anfisias Tod hätte ich die Freiwerber zu dir geschickt – und basta! Ganz gesetzlich. Ohne Sünde, ohne Schande. Es war mein Fehler. Fünf – zehn Jahre kostet er mich, dieser Fehler. Man stirbt davon um so früher.«

Ssilan Petroff sprach ruhig, entschlossen, und eiserne Beharrlichkeit spiegelte sich auf seinem energischen Gesicht ab, als sei er sogleich bereit, sein Recht zu lieben vor jedermann zu verteidigen. »Nu, gut, laß, reg dich nicht auf! Wir haben ja schon oft davon gesprochen«, flüsterte Marja, löste sich leise aus seiner Umarmung und ging wieder an ihr Ruder. Er fing heftig und kraftvoll an zu arbeiten, als wolle er jene Last loswerden, die auf seiner Brust lag und sein schönes Gesicht verfinsterte.

Es tagte.

Aber die sich lichtenden Wolken zogen langsam am Himmel dahin, als wollten sie der aufgehenden Sonne nicht Platz machen. Das Wasser des Flusses wurde klar und nahm den kalten Glanz matten Stahles an.

»Er hat neulich wieder davon geredet. Vater, sagte er, ist es nicht Schimpf und Schande für dich und mich? Gib sie auf, d. h. dich also,« lächelte Ssilan Petroff, »gib sie auf, sagte er, versetz dich in meine Lage. – Mein lieber Sohn, sag ich, laß mich in Ruh, wenn dir dein Leben lieb ist! Ich zerreiß dich in Stücke wie einen verfaulten Lappen, und von deiner Tugend bleibt nichts übrig. Zu meiner Qual hab ich dich erzeugt. Er zittert. Bin ich denn schuld, Vater, sagt er . . . Schuld bist du, du piepsende Mücke, weil du mir ein Stein im Wege bist, schuld, weil du nicht für dich einstehen kannst. Du bist wie ein Kadaver, bist wie faules Aas. Wenn du gesund wärst, – könnte man dich totschlagen, aber so geht auch das nicht. Das unglückliche Gespenst jammert einen. Er heult! Ach, Marja! Die Menschen sind jämmerlich geworden! Ein andrer . . . ach, ach! Der hätte sich vielleicht schnell aus der Schlinge gezogen! Wir aber – sind darin! Ja, vielleicht ziehen wir sie noch einer dem andern zu.«

»Was meinst du damit?« fragte Marja scheu und sah den Finstren, Starken, Kalten, erschrocken an.

»So . . . Wenn er stürbe . . . Siehst du! Wenn er stürbe . . . dann wär's bequem! Alles käme ins Gleis zurück. Das Land gäbe ich den Deinigen, stopfte ihnen den Hals, und mit dir ging ich nach – Sibirien . . . oder nach dem Kuban! Wer ist das! Meine Frau? Begreifst du? Solch ein Dokument – ein Papier – würden wir bekommen. Irgendwo in einem Dorfe würden wir einen Laden aufmachen. Und wir lebten. Unsere Sünde würden wir Gott abbitten. Brauchen wir denn viel? Wir würden den Leuten helfen, daß sie leben, und sie würden uns helfen, unser Gewissen zu beruhigen. Das wäre gut, ah? Mascha!?« . . .

»Ja–a!« seufzte sie und dachte, die Augen zudrückend, angestrengt über etwas nach.

Beide schwiegen, . . . das Wasser murmelte . . .

»Er ist kränklich . . . Vielleicht stirbt er bald«, sagte Ssilan Petroff dumpf.

»Gebe Gott, daß es bald sei!« sagte Marja wie betend und bekreuzte sich.

* * *

Die Strahlen der Frühlingssonne funkelten durch die Wolken und spielten goldig und regenbogenfarbig auf dem Wasser. Es wurde windig, alles erschauerte, belebte sich und fing an zu lachen. Der blaue Himmel zwischen den Wolken lächelte auch dem von der Sonne gefärbten Wasser zu. Und schon blieben die Wolken hinter den Flößen zurück.

Dort standen sie, sich in eine schwere, dunkle Masse zusammenziehend, regungslos und unentschlossen über dem breiten Flusse, als wollten sie sich einen Weg aussuchen, auf dem sie so schnell wie möglich der belebenden Frühlingssonne entgehen könnten, die so reich an Glanz und Freude und ihr Feind war.

Vor den Flößen strahlte der reine, klare Himmel, und die Sonne, noch morgendlich kalt, aber frühlingshaft-grell, stieg aus den purpurgoldigen Flußwellen schön und majestätisch immer höher in die blaue Himmelseinsamkeit hinauf.

Rechts von den Flößen war das braune Bergesufer mit den grünen Fransen des Waldes zu sehen, links erglänzte der hell-smaragdgrüne Teppich der Wiesen in Taubrillanten.

Durch die Luft zog der kräftige Geruch der Erde, eben erst aufsprossenden Grases und der harzige Duft des jungen Nadelwaldes. Ssilan Petroff schaute auf die hinteren Ruder. Es war, als seien Ssergej und Mitry ihnen angewachsen. Aber noch war es von fern schwer, den Ausdruck ihrer Gesichter zu erkennen.

Er richtete die Augen auf Marja.

Ihr war es kalt. Am Ruder stehend, zog sie sich zusammen und war ganz rund. Ganz von der Sonne übergossen, sah sie mit gedankenvollen Augen vorwärts, und um ihre Lippen spielte jenes rätselhafte und bezaubernde Lächeln, das auch ein unschönes Weib reizend und begehrenswert macht.

»Gebt acht, Kinder!« donnerte Ssilan Petroff, der einen gewaltigen Aufschwung der Energie und des Mutes in seiner breiten Brust fühlte.

Und es war, als käme von seinem Schrei alles ringsum ins Schwanken. Lange hallte das Echo an dem bergigen Ufer.


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