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XXI

In verärgerter Stimmung begab sich Raiskij nach Hause.

›Wo mag sie jetzt weilen, diese rätselhafte Schöne?‹ dachte er voll Ingrimm. ›Wahrscheinlich sitzt sie auf irgendeiner Lieblingsbank und gähnt; ich will doch sehen, ob ich sie nicht finde.‹

Er hatte ihre Gewohnheiten genau studiert und glaubte fast mit Bestimmtheit sagen zu können, wo sie sich zu dieser oder jener Zeit aufhielt.

Er kletterte den Abhang hinauf, gelangte in den Park und sah sie in der Tat hier mit einem Buch auf ihrer Bank sitzen.

Sie las nicht, sondern blickte vor sich hin, bald auf die Wolga, bald ins Gebüsch hinein. Als sie Raiskij bemerkte, veränderte sie ihre Haltung, nahm das Buch, stand leise auf und ging auf dem Gartenpfad dem alten Hause zu. Er gab ihr ein Zeichen, doch auf ihn zu warten, aber sie sah es nicht oder tat wenigstens, als bemerke sie es nicht, ja sie beschleunigte sogar, als sie über den Hof ging, ihre Schritte. Dann verschwand sie im Hause.

Raiskij wurde von heftigem Zorn ergriffen.

›Diese Törin bildet sich wohl ein, ich sei in sie verliebt; nicht die einfachsten Anstandsregeln wahrt sie! Man sieht gleich, daß sie in der Mägdestube aufgewachsen ist. Eine Dorfschöne, deren Herzensroman vor dem Strafrichter enden wird.‹

Seine zornige Erregung hielt auch beim Mittagessen noch an. Er maß alle mit finsteren Blicken, und Wera sah er nicht ein einziges Mal an. Als sie die Bemerkung machte, daß es »heute sehr heiß sei«, würdigte er sie gar keiner Antwort.

Es schien ihm, daß er sie bereits hasse oder vielleicht auch verachte – genau konnte er es selbst noch nicht sagen; doch hatte er jedenfalls das Gefühl, daß eine feindselige Empfindung gegen sie in seinem Innern emporkeimte.

Dieses Gefühl war ihm ganz besonders deutlich zum Bewußtsein gekommen, als er ihr eines Tages einen Besuch im alten Hause abstattete, mit ein paar Bänden Goethe, Byron, Heine und einem englischen Roman unter dem Arm, und sich am Fenster ihres Stübchens neben ihr häuslich niederließ.

Ganz verwundert sah sie zu, wie er die Bücher auf dem Tisch ausbreitete und es sich selbst auf seinem Platz bequem machte.

»Was haben Sie denn vor?« fragte sie neugierig.

»Ich möchte, daß wir gemeinsam einen Flug auf den Fittichen der Poesie unternehmen«, antwortete er, auf die Bücher zeigend. »Wir wollen lesen, schwärmen, uns von den Dichtern in ihr Phantasiereich entführen lassen.«

Sie lachte ihm munter ins Gesicht.

»Aber ich erwarte jetzt gleich hier meine Nähmamsell; wir wollen hier Nachtjacken zuschneiden«, sagte sie. »Dort auf dem Tisch und auf den Stühlen müssen wir die Leinwand ausbreiten, und dann unternehmen wir einen Flug in das Reich der Ellen und Zolle.«

»Pfui, Wera – was soll das? Das gehört doch in die Mägdestube.«

»Nein, nein, Tantchen schilt ohnedies schon, daß ich so faul bin. Wenn sie brummt – nun, das ertrage ich allenfalls noch; aber wenn sie schweigt, mich scheel von der Seite ansieht und heimlich stöhnt – nein, das geht über meine Kraft. Doch da ist ja Natascha bereits; auf Wiedersehen, Cousin! Gib her, Natascha, leg die Sachen auf den Tisch! Hast du alles mitgebracht?«

Sie legte flink die Bücher auf einen Stuhl, rückte den Tisch in die Mitte des Zimmers, nahm ein Maß aus der Kommode und vertiefte sich ganz in die Arbeit des Abmessens und Zuschneidens. Einer jener Anfälle von nervösem Arbeitseifer war über sie gekommen, nicht einen Blick warf sie auf Raiskij, nicht ein Wort sprach sie mit ihm und tat, als ob er überhaupt nicht da wäre.

Fast zähneknirschend verließ er sie, ohne die Bücher mitzunehmen; als er jedoch nach einem kurzen Gang durch den Garten in sein Zimmer kam, fand er sie bereits auf dem Tisch vor.

›Das ging ja sehr rasch – sie will also auch in Zukunft nicht damit belästigt sein!‹ flüsterte er grimmig. ›Was ist das eigentlich; wer ist sie denn, möcht ich wissen? Die Sache wird wirklich interessant. Treibt sie mit mir ihren Scherz?‹

Marks seltsamer Wettvorschlag hatte noch mehr Bitterkeit in ihm hervorgerufen. Als er Wera bei Tisch gegenübersaß, sah er fast gar nicht nach ihr hin. Nur ein einziges Mal blickte er sie wie zufällig voll an und war sogleich wieder von ihrer betörenden Schönheit geblendet.

Sie hatte ihn das eine oder das andere Mal harmlos und freundlich, ja fast freundschaftlich angesehen. Als sie jedoch seine zornigen Blicke bemerkte, wußte sie, daß er sich in lebhafter Gemütserregung befand und daß sie selbst die Ursache dieses Zustandes war.

Sie neigte sich über den leeren Teller und sah wie in tiefem Sinnen vor sich hin. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an; ihr Blick hatte etwas Kaltes und zugleich Trauriges.

»Ich will heute mit Marfinka zur Heuernte hinausfahren«, sagte die Großtante zu Raiskij. »Hat der Herr Gutsbesitzer nicht vielleicht auch einmal die Gnade, sich seine Wiesen anzusehen?«

Raiskij sah gerade zum Fenster hinaus; er schüttelte verneinend den Kopf.

»Die Kaufleute sind nämlich da; sie bieten siebenhundert Rubel in Papier, und ich verlange tausend.«

Niemand wußte etwas auf diese Mitteilung zu sagen.

»Nun, warum schweigt denn der gnädige Herr? Jakow«, wandte sie sich an den hinter ihrem Stuhl stehenden Diener, »morgen wollen die Kaufleute kommen, führ sie sogleich zu Boris Pawlowitsch, wenn sie da sind.«

»Zu Befehl.«

»Jag sie zum Teufel!« sagte Raiskij gleichmütig.

»Zu Befehl«, wiederholte Jakow.

»Was soll das heißen, die Käufer zum Teufel jagen? Wenn nun alle Gutsherren so dächten wie du?«

Er schwieg und fuhr fort, zum Fenster hinauszuschauen.

»Was schweigst du denn, Boris Pawlowitsch? Mach doch wenigstens ein Zeichen mit dem Finger! Iß wenigstens etwas! Reich ihm den Braten, Jakow, und die Pilze; sieh, was für köstliche Pilze!«

»Ich mag nicht!« sprach Raiskij ungeduldig und winkte Jakow mit der Hand ab.

Wiederum schwiegen alle.

»Sawelij hat wieder einmal die Marina geschlagen«, erzählte die Großtante.

Raiskij zuckte kaum merklich die Achseln.

»Du solltest ihm doch ins Gewissen reden, Boris Pawlowitsch!«

»Bin ich der Polizeimeister?« sagte er unwirsch. »Meinetwegen mögen sie sich gegenseitig die Hälse umdrehen!«

»Gott schütze und behüte dich! Du hast es wohl durchaus auf ein Drama abgesehen?«

»Was mich die beiden wohl angehen!« brummte er vor sich hin. »Als wenn ich nicht meine eigenen Dramen hätte.«

»Ja, ja, du hast es sehr schwer auf der Welt!« versetzte die Großtante spöttisch. »Es ist ja auch keine Kleinigkeit, sich so den ganzen lieben Tag immer von einer Seite auf die andere zu legen!«

Er blickte zu Wera hinüber; sie goß sich eben etwas Rotwein ins Wasser, trank ihr Glas aus, erhob sich und ging, nachdem sie der Großtante die Hand geküßt hatte, aus dem Zimmer.

Auch Raiskij erhob sich vom Tisch und begab sich in sein Zimmer.

Bald darauf fuhr die Großtante mit Marfinka und Wikentjew, der sich inzwischen eingefunden hatte, nach den Wiesen hinaus. Das ganze übrige Haus war vom Mittagsschlaf umfangen. Die einen hatten sich auf den Heuboden begeben, andere machten es sich in den Hausfluren oder in der Scheune bequem; noch andere waren, die Abwesenheit der Herrin benutzend, nach der Vorstadt gegangen, und Todesstille herrschte nun im ganzen Hause. Die Türen und Fenster standen weit offen, nicht ein Blättchen rührte sich im Garten.

Raiskij sah immer und immer wieder das Bild Weras vor sich.

›Wo ist sie jetzt, was treibt sie so ganz allein? Warum ist sie nicht mit der Großtante gefahren, warum hat diese sie nicht einmal dazu aufgefordert?‹ so jagte in seinem Kopfe eine Frage die andere.

Er hatte sich das Wort gegeben, sich nicht mehr mit Wera zu beschäftigen, ihr keine Beachtung mehr zu schenken, sie ganz wie ein albernes Mädchen vom Lande zu behandeln – und dennoch konnte er den Gedanken an sie nicht loswerden.

Absichtlich suchte er seine Aufmerksamkeit auf seine Petersburger Verbindungen, auf seine Freunde, die Künstler, die Akademie, die Belowodowa hinzulenken. Zwei, drei Personen, zwei, drei Bilder der Vergangenheit tauchten vor seiner Seele auf – und als viertes Bild trat jedesmal Wera daneben. Er nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift, machte zwei, drei Striche – und sah, daß das, was er hingeworfen hatte, ihre Stirn, ihre Nase, ihr Mund war. Er blickte zum Fenster hinaus, wollte in den Park schauen oder aufs Feld – und spähte in Wirklichkeit nach ihrem Fenster, ob nicht vielleicht, wie Mark sich ausdrückte, »das weiße Händchen den lila Vorhang lüfte«. Woher wußte dieser Mark das eigentlich? Hatte jemand es beobachtet und ihm hinterbracht?

Eine förmliche Wut bemächtigte sich Raiskijs. Er suchte um jeden Preis das Bild Weras aus seiner Seele zu bannen, sei es selbst mit einem Fluch – doch er brachte den Fluch nicht über seine Lippen, leise flüstern sie ihren Namen, seine Knie beugen sich unwillkürlich, er schließt die Augen und spricht still für sich:

»Wera, Wera – nie hat die Schönheit eines Weibes mir so viel Qual bereitet! Ich bin der Gefangene, der klägliche Sklave deiner Schönheit.«

»Ach was – das ist ja alles Unsinn, sentimentales Zeug!« sagte er sich gleich darauf, um sich mit Gewalt aus seiner Träumerei aufzurütteln. »Ich will zu ihr gehen und mich mit ihr aussprechen. Wo mag sie stecken? Das ist alles nur Neugier, weiter nichts. Liebe ist etwas ganz anderes!«

Er nahm seine Mütze und begann das ganze Haus abzusuchen, schlug mit den Türen und spähte in alle Ecken und Winkel. Wera war nicht zu finden, weder in ihrem Zimmer noch überhaupt im alten Hause, weder im Garten noch auf dem Felde bekam er sie zu Gesicht. Selbst auf dem hinteren Hof suchte er sie, dort war aber nur Ulita zu sehen, die irgendeinen Zuber scheuerte, und Prochor, der mit offenem Mund unter einem Schafpelz in der Scheune schlief.

Er sagte sich schließlich, daß es doch wohl überflüssig sei, Wera dort zu suchen, wo sich sonst andere Leute aufzuhalten pflegten; er begab sich in den Park und suchte am Rande der Schlucht und tiefer unten am Abhang, wohin sie gern ihren Schritt lenkte. Doch war sie nirgends zu entdecken; und schon wollte er ins Haus zurückkehren, um nach ihr zu fragen, als er sie plötzlich zehn Schritte vom Hause entfernt im Garten sitzen sah.

»Ah!« sagte er, »du bist hier, und ich suche dich in allen Ecken und Winkeln.«

»Und ich erwarte Sie hier«, antwortete sie.

Es war ihm, als wehe ihn plötzlich mitten im kalten Winter ein lauer Südwind an.

»Du erwartest mich?« versetzte er mit seltsam veränderter Stimme, während er sie voll Erstaunen mit leidenschaftlich glühenden Augen ansah. »Ist's möglich?«

»Warum nicht? Sie haben mich doch auch gesucht.«

»Ja, ja, ich wollte mich mit dir aussprechen.«

»Und ich mich mit Ihnen.«

»Was hast du mir denn zu sagen?«

»Und was haben Sie mir zu sagen?«

»Sprich du zuerst, dann will ich reden.«

»Nein, reden Sie zuerst, dann will ich sprechen.«

»Gut«, sagte er, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, und nahm neben ihr Platz. »Ich wollte dich also fragen, warum du immer vor mir die Flucht ergreifst?«

»Und ich wollte Sie fragen, warum Sie mich immer verfolgen?«

Raiskij fiel aus allen Himmeln.

»Weiter nichts?« sprach er.

»Vorläufig nur dieses eine; ich will sehen, was Sie darauf antworten.«

»Aber ich verfolge dich doch gar nicht! Ich gehe dir eher aus dem Wege, spreche nur wenig mit dir.«

»Es gibt verschiedene Arten, jemanden zu verfolgen, Cousin! Sie haben eine Art gewählt, die mir ganz besonders lästig ist.«

»Aber ich bitte dich, ich rede fast gar nicht mit dir.«

»Sie reden allerdings nur selten mit mir, und Sie sehen mich auch nicht offen an, dafür werfen Sie mir aber so böse Seitenblicke zu – auch das ist eine Art von Verfolgung! Und wenn das das einzige wäre.«

»Nun, was denn noch?«

»Was noch? Sie überwachen mich heimlich. Sie stehen früher auf als alle andern und geben acht, wann ich erwache, wann ich den Vorhang zurückziehe und das Fenster öffne. Und wenn ich dann zur Großtante gehe, wählen Sie einen neuen Beobachtungsposten und spähen, wohin ich gehe, welchen Gartenweg ich wähle, auf welche Bank ich mich setze, was für ein Buch ich lese. Sie wissen jedes Wort, das ich zu jemandem sage. Und dann treffen Sie mich.«

»Das geschieht selten genug«, sagte er.

»Allerdings, nur zwei- oder dreimal in der Woche; das wäre nicht zuviel, im Gegenteil, wenn es wie zufällig, wie von selbst, ohne Absicht geschähe. Aber es geschieht stets mit ganz bestimmter Absicht. In jedem Ihrer Blicke, jedem Schritt erkenne ich das Bestreben, meine Ruhe zu stören, jeden meiner Blicke, jedes Wort, womöglich jeden meiner Gedanken abzufangen. Mit welchem Recht tun Sie das, erlaube ich mir zu fragen?«

Er war verblüfft von der Kühnheit ihrer Worte und der Selbständigkeit, die in den von ihr geäußerten Wünschen und Gedanken zum Ausdruck kam. Vor ihm stand nicht das junge Mädchen, das, wie er bisher angenommen, sich aus Schüchternheit vor ihm verbarg und aus Furcht, beim näheren Verkehr mit ihm durch die Überlegenheit seines Verstandes und seiner Bildung gedemütigt zu werden, ihm aus dem Wege ging. Nein, das war eine neue Erscheinung, eine neue Wera!

»Und wenn dir das alles nur so scheint?« sagte er unsicher, immer noch ganz im Banne seines Staunens.

»Suchen Sie keine Ausflüchte!« fiel sie ihm ins Wort. »Wenn Ihr Spürsinn fein genug ist, um jeden meiner Schritte, jede Bewegung zu bemerken, dann dürfen Sie mir auch nicht die Fähigkeit absprechen, das Lästige einer solchen Beobachtung zu empfinden. Ja, ich sage es Ihnen ganz offen, daß mir diese Überwachung höchst peinlich ist. Ich fühle mich wie im Gefängnis. Ich bin doch, Gott sei Dank, nicht die Gefangene irgendeines türkischen Paschas.«

»Was willst du eigentlich von mir? Was soll ich tun?«

»Das ist's eben, wovon ich mit Ihnen jetzt reden wollte. Aber sagen Sie mir doch zuvor, was Sie eigentlich von mir wollen?«

»Nein, sprich du zuerst«, sagte er, auf seiner Forderung bestehend und noch ganz verdutzt, ja betroffen durch diesen ungeahnten Zug ihres Wesens, der ihm ihre ohnedies auf ihn so beklemmend wirkende Schönheit in einem neuen, fast beängstigenden Licht erscheinen ließ.

Schon fühlte er, daß der Genuß, den der Anblick dieser Schönheit ihm bereitete, für ihn zur Qual wurde.

»Was ich will?« wiederholte sie. »Ich will Freiheit!«

Erneutes Staunen malte sich bei diesen Worten in seinen Zügen.

»Freiheit!« wiederholte er. »Nun, ich bin der erste Parteigänger, der wärmste Verteidiger und Ritter der Freiheit, und darum ...«

»Und darum gönnen Sie einem armen Mädchen nicht einen freien Atemzug.«

»Ach, Wera, wie kannst du nur so schlecht von mir denken! Zwischen uns herrscht ein Mißverständnis; wir haben einander nicht verstanden! Wohlan denn, sprechen wir uns aus, vielleicht werden wir doch noch Freunde!«

Sie warf ihm plötzlich einen forschenden Blick zu.

»Halten Sie das für möglich?« sagte sie. »Ich wäre aufrichtig froh, wenn ich mich getäuscht haben sollte.«

»Meine Hand darauf, daß es so ist. Ich werde dein Freund, dein Bruder sein, kurz alles, was du willst, verlange jedes Opfer!«

»Es bedarf keiner Opfer«, sagte sie. »Beantworten Sie mir zunächst meine Frage: Was wollen Sie von mir?«

»Was ich von dir will? Ich verstehe nicht, wie du das meinst.«

»Warum verfolgen Sie mich, warum sehen Sie mich immer mit so großen Augen an? Was ist Ihr Begehr?«

»Ich habe durchaus kein Begehr. Aber du kannst dir's wohl selbst sagen, daß ein Mann deine berückende Schönheit nur mit verliebten, begehrlichen Augen zu schauen vermag.«

Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern erhob sich in jäher Empörung von ihrem Platze.

»Wie können Sie es wagen, so zu mir zu reden?« sprach sie, während sie ihn vom Scheitel bis zu den Füßen maß.

Er sah sie mit großen, bestürzten Augen an.

»Was ist dir, Wera, mein Gott? Was habe ich denn gesagt?«

»Sie stolzer, gebildeter Geist, Sie Ritter der Freiheit, schämen sich nicht, auszusprechen ...«

»Daß die Schönheit Verehrung heischt und daß ich deine Schönheit verehre – ist das ein Verbrechen?«

»Ich sehe, daß Sie gar nicht begreifen, wie beleidigend Ihre Worte sind! Würden Sie es wohl wagen, mich mit begehrlichen Augen anzusehen, wenn mir ein wachsamer Gatte, ein fürsorglicher Vater, ein strenger Bruder zur Seite stände? Nein, dann würden Sie mich nicht so verfolgen, nicht tagelang ohne Ursache finster auf mich blicken, nicht hinter mir her spionieren und meinen Frieden, meine Freiheit beeinträchtigen! Sagen Sie, welchen Anlaß gab ich Ihnen, mich mit anderen Augen anzusehen als irgendeine andere Frau, die sich wohlbeschützt weiß?«

»Die Schönheit weckt Bewunderung; das ist ihr Recht.«

»Die Schönheit«, unterbrach sie ihn, »hat aber auch ein Recht auf Achtung und Freiheit.«

»Schon wieder die Freiheit!«

»Ja, immer und immer wieder! Die Schönheit, die Schönheit! Gehen Sie mir mit Ihrer Schönheit! Oder meinetwegen, ich will sie gelten lassen – aber sie ist doch wohl kein Apfel, der über dem Zaun hängt und von jedermann gepflückt werden kann!«

»Wie denn?« versetzte Raiskij ganz bestürzt. »Was verlangst du von mir?«

»Nichts weiter; ich lebte hier ruhig für mich, bevor Sie herkamen. Reisen Sie ab – und ich werde ebenso ruhig weiterleben.«

»Du verlangst, ich soll abreisen – wohlan, ich bin bereit.«

»Nun, ich weiß Ihre Rechte zu respektieren. Sie sind hier in Ihrem Hause, ich kann so etwas nicht verlangen.«

»Verlange, was du willst – ich tue alles! Sprich nur und zürne nicht länger!« bat er, ihre beiden Hände fassend. »Ich bekenne mich schuldig vor dir. Ich bin ein Künstler, ich habe eine empfängliche Natur, habe mich vielleicht gar zu leidenschaftlich dem Eindruck des Augenblicks hingegeben. Dann kommt wohl dazu, daß du mir nicht ganz fremd bist. Ständest du mir ferner, dann wäre ich wohl zurückhaltender gewesen. Ich bin blindlings ins Feuer hineingerannt und habe mich verbrannt – nun, ich will mein Unglück tragen, du hast mir eine empfindliche Lektion gegeben! Schließen wir nun Frieden – sag mir deine Wünsche, ich will sie heilig erfüllen ... und laß uns Freunde sein! Ich verdiene wirklich nicht alle diese Vorwürfe, dieses strafende Gewitter. Vielleicht hast auch du mich nicht ganz verstanden.«

Sie reichte ihm die Hand.

»Wohl möglich – vielleicht ging ich in meiner Erregung zu weit. Ich sehe, daß Sie nicht nur einsichtig sein können«, sagte sie, »sondern auch, wie Ihr Geständnis beweist, gut und gerecht sind. Wir wollen sehen, ob Sie wirklich großmütig gegen mich sein werden.«

»Oh, sicher, sicher werde ich es sein. Du kannst fest auf mich bauen!« sprach er, wieder ganz hingerissen.

Sie zog leise ihre Hand fort, die sie auf die seinige gelegt hatte.

»Nein«, sagte sie halb im Scherz, »dieser begeisterte Ton beweist mir, daß wir von der Freundschaft doch noch weit entfernt sind.«

»Ach, diese Frauen mit ihrer Freundschaft!« versetzte Raiskij ärgerlich. »Als wenn sie einem einen Kuchen zum Namenstag präsentierten!«

»Auch dieser ärgerliche Ton scheint mir nichts Gutes zu versprechen!«

Sie hatte sich von ihrem Platz erhoben.

»Nein, nein, geh nicht fort; ich fühle mich so wohl in deiner Nähe!« sprach er, sie zurückhaltend. »Wir haben uns noch nicht ausgesprochen. Sag mir, was dir gefällt oder mißfällt – ich werde alles tun, um mich deiner Freundschaft würdig zu zeigen.«

»Ich sagte Ihnen doch gleich anfangs, wie Sie meine Freundschaft verdienen können; wissen Sie es nicht mehr? Sie sollen mich nicht beobachten, mich in Frieden lassen, mich nicht bemerken – dann werde ich von selbst in Ihr Zimmer kommen, wir werden die Zeit bestimmen, wann wir zusammen plaudern, lesen, spazierengehen wollen.«

»Du verlangst, ich solle so tun, als ob ich dich überhaupt nicht sähe?«

»Ja.«

»Ich soll deine Schönheit nicht bemerken, soll auf dich ebenso gleichmütig schauen wie auf die Großtante?«

»Ja.«

»Mit welchem Recht verlangst du das?«

»Mit dem Recht, das mir meine Freiheit gibt.«

»Und wenn ich dich nun schweigend von weitem anbete, ohne daß du es bemerkst und weißt? Dagegen kannst du doch nichts haben!«

»Schämen Sie sich, Cousin! Die Zeiten Werthers und Charlottens sind längst vorüber. Schließlich muß ich doch wieder fürchten, Ihren leidenschaftlichen Blicken, Ihrer Spionage zu begegnen! Ich fühle mich von neuem beunruhigt und angewidert.«

»Du bist keine Kokette, Wera, ich weiß es. Wenn du mir aber wenigstens eine ganz leise Hoffnung ließest, mir sagtest, daß eine treue, beständige Neigung vielleicht einmal das Eis schmelzen und mit der Zeit eine Gegenneigung aufkeimen lassen könnte.«

Er sprach diese Worte langsam, in der Erwartung, daß sie vielleicht durch irgendeine Äußerung, irgendein Zeichen ihm zu verstehen geben würde, er könne doch noch hoffen.

»Sie sagten ganz richtig«, bemerkte sie, »daß ich keine Kokette bin. Ich kann es nicht verstehen, daß es eine Frau nicht langweilt, sich die Verehrung eines Menschen gefallen zu lassen, dessen Gefühle sie nicht zu erwidern vermag.«

»Du könntest das also nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht? Es kann doch sein, daß eine Zeit kommt ...«

»Sie wird nicht kommen, Cousin – Sie werden vergeblich warten.«

›Sie spricht genauso wie die Belowodowa; als wenn sich beide miteinander verabredet hätten‹, dachte er im stillen.

»Dein Herz ist nicht frei? Du liebst?« fragte er und erschrak fast vor seiner eigenen Frage.

Ihre Miene verfinsterte sich und sie wandte wie im Trotz ihre Augen der Wolga zu.

»Und wenn ich liebte – das wäre in Ihren Augen wohl eine Sünde, Vetter? Das dürfte nicht sein, das wäre eine Schmach, das würden Sie nie zugeben?« sagte sie ironisch.

»Ich?«

»Ja, Sie, der Ritter der Freiheit!« versetzte sie, den ironischen Ton noch verstärkend.

»Du hast nicht nötig, mich zu verspotten; ich meine es wirklich ernst mit dem Eintreten für die Freiheit! Du meinst, ich würde nicht zugeben, daß du liebst. Wohl denn, ich predige im Gegenteil die Freiheit des Herzens! Zeig deine Liebe offen vor aller Welt, verbirg sie nicht. Fürchte dich weder vor der Großtante noch vor sonst jemandem! Die alte Welt ist im Zerfall begriffen, neue Keime, neue Ideen sprießen überall – das Leben ruft uns, öffnet uns seine Arme. Du bist jung, hast kaum einen Blick in die Welt hinein getan, und doch hast du schon den Hauch der Freiheit verspürt, bist zum Bewußtsein deiner Rechte, deines Anspruchs auf freies Denken gekommen. Wenn das Morgenrot der Freiheit für die Menschheit heraufgezogen ist, soll dann das Weib allein eine Sklavin bleiben? Du liebst, wohlan, so bekenne es frei! Leidenschaft ist Glück! Laß mich dich wenigstens beneiden, Wera!«

»Warum soll ich's aller Welt erzählen, ob ich liebe oder nicht? Das geht doch niemanden etwas an! Ich weiß, daß ich frei bin und niemand ein Recht hat, von mir Rechenschaft zu verlangen.«

»Und die Großtante – hast du vor ihr keine Furcht? Und Marfinka?«

»Ich habe vor niemandem Furcht«, sagte sie leise, »und die Großtante weiß das und achtet meine Freiheit. Folgen Sie ihrem Beispiel ... das ist mein Wunsch! Nur so viel wollte ich Ihnen sagen.«

Sie erhob sich von der Bank.

»Jetzt verstehe ich dich ein klein wenig, Wera, und ich verspreche dir – hier, meine Hand darauf! –, daß du im Hause nichts mehr von mir hören und sehen sollst. Ich will verständig und gerecht sein, will deine Freiheit achten, will großmütig sein, wie es einem Ritter geziemt, mit einem Wort: in jeder Beziehung grand coeur!«

Sie lachten beide.

»Nun, Gott sei Dank«, sagte sie und reichte ihm die Hand, die er leidenschaftlich an seine Lippen preßte.

Sie zog ihre Hand zurück.

»Wir wollen sehen«, fügte sie hinzu. »Übrigens, wenn ich mich ... Doch nein, wir werden sehen.«

»Sprich es nur aus, was du sagen wolltest – sonst zerbrech ich mir unnütz den Kopf.«

»Wenn ich mich hier nicht frei fühlen sollte, dann würde ich, sosehr ich diesen Winkel hier auch liebe« – sie ließ ihren Blick fast zärtlich über die Landschaft hinschweifen –, »von hier fortgehen!« sprach sie in entschiedenem Tone.

»Wohin?« fragte er erschrocken.

»Gottes Welt ist groß. Auf Wiedersehen, Cousin!«

Sie ging. Er blickte ihr nach. Mit fastunhörbaren Schritten schwebte sie über das Gras hin, fast ohne es zu berühren, die Linie ihrer Schultern und ihrer Taille machte bei jedem Schritt eine wellenartige Bewegung; die Ellbogen waren dicht an den Körper gezogen, der Kopf verschwand und erschien abwechselnd zwischen den Blumen und Sträuchern. Noch einmal tauchte die ganze Gestalt jenseits des Gartengitters auf, um dann hinter der Tür des alten Hauses zu verschwinden.

›Sieh, sieh!‹ dachte Raiskij, während er ihr voller Erstaunen mit den Augen folgte. ›Und ich hatte mir vorgenommen, sie zu entwickeln, ihren Geist und ihr Herz mit neuen Ideen über Unabhängigkeit, über Liebe, über ein anderes, ihr unbekanntes Leben zu beunruhigen. Sie ist ja schon emanzipiert! Doch wer ist sie eigentlich?‹

»Sie hat mich gründlich abgefertigt! Das sollte ich einmal Tantchen erzählen!« sagte er laut und drohte ihr mit dem Finger. Dann lachte er hell auf und begab sich in sein Zimmer.


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