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XIX

Es war, als wenn ein Strahl lebendigen Wassers auf die beiden niedergegangen wäre.

Marfinka nahm rasch die Noten samt dem Buch und Wikentjew seinen Hut, eben wollten sie zur Tür hinausstürmen, als plötzlich von draußen, aus der Richtung vom Hoftor her, eine laut dröhnende, durchs ganze Haus schallende Stimme sich vernehmen ließ:

»Tatjana Markowna! Erhabene und würdige Beherrscherin dieser Gebiete! Verzeih dem Unwürdigen, der es wagt, vor dein Antlitz zu treten und den Staub vor deinen Füßen zu küssen! Nimm den armen Pilger unter dein gastliches Dach auf, der von fernher kommt, an deinem Tische Atzung zu finden und sich vor der Gluthitze der Mittagssonne zu bergen! Ist sie daheim, die gottgesegnete Herrin dieses Hauses? Niemand antwortet mir – wie geht das zu?«

Ein Kopf erschien draußen vor dem Fenster des Speisezimmers. Alle drei, Tatjana Markowna, Marfinka und Wikentjew, wurden plötzlich mäuschenstill und rührten sich nicht auf ihrem Platz.

»Mein Gott, Openkin!« flüsterte die Großtante ganz erschrocken. »Ich bin nicht zu Hause, ich bin nicht zu Hause! Für den ganzen Tag bin ich weggefahren – über die Wolga ...«, sagte sie ganz leise zu Wikentjew.

»Sie ist nicht zu Hause, für den ganzen Tag ist sie weggefahren, über die Wolga!« wiederholte Wikentjew, der an das Fenster des Eßzimmers getreten war.

»Ah! Meinen demütigen Gruß dem hochedlen und talentvollen Nikolai Andrejewitsch, Herrn auf Koltschino und zahlreichen anderen Landgütern!« sprach die Stimme vor dem Fenster. »Oh, möge dir eher die Zunge im Munde vertrocknen, als daß du eine Lüge aussprichst! Wenn der Kutscher und die Kutsche zu Hause sind, so kann doch auch die Herrin des Hauses nicht allzu ferne weilen. Laß uns sie suchen, oder laß uns warten, bis sie von ihren Äckern und Weiden und aus ihren Weinbergen zurückkehrt in ihr trauliches Heim.«

»Was nun, Tatjana Markowna?« fragte Wikentjew hastig flüsternd. »Er ist zur Treppe gegangen und kommt sicher hierher.«

»Dann müssen wir ihn schon vorlassen«, sagte die Großtante resigniert. »Er wird hungrig sein, der arme Kerl. Wohin soll er jetzt gehen, bei dieser Hitze? Ich will mich gleich für einen ganzen Monat mit ihm abfinden. Vor dem Abend werden wir ihn nun kaum los ...«

»Lassen Sie ihn nur, Tatjana Markowna; er wird sich bald volltrinken und auf dem Heuboden sein Schläfchen machen. Später lassen Sie ihn durch Kusjma nach Hause bringen ...«

»Mütterchen, Mütterchen!« rief Openkin, der eben das Kabinett betrat, mit schmalzig-heiserer Stimme, »warum hat dieser Springinsfeld mein Herz unnötig mit Angst und Trauer erfüllt? Reich mir deine Händchen zum Kusse, alle beide! Marfa Wassiljewna, liebliche Rahel! Das Händchen, das Händchen ...«

»Laß ab, Akim Akimytsch, rühr sie nicht an! Setz dich, setz dich – nun, schon gut! Bist wohl sehr müde, was? Willst du Kaffee trinken?«

»So lange schon ist's her, daß ich dich zum letztenmal sah, unsere herrliche Sonne! Die Sehnsucht nach dir verzehrte mich«, sprach Openkin, während er mit seinem gewürfelten Baumwolltuch sich die Stirn trocknete. »Ich ging und ging, die Sonne brannte, und ich war ganz hin vor Hunger und Durst. Und plötzlich höre ich: sie ist weggefahren, über die Wolga! Wie es mich da durchzuckte, Mütterchen – ganz bleich ward ich vor Schrecken! Was fällt dir denn ein?« rief er, zu Wikentjew gewandt, in unwilligem Ton, »eine pockennarbige Frau sollst du zur Strafe dafür bekommen! Oh, liebliche Schöne, holdes Gartenvögelchen, zarter Schmetterling!« wandte er sich dann zu Marfinka, »jag ihn fort, den herzlosen Bösewicht, daß deine hellen Äuglein ihn nicht mehr sehen! O Gott, o Gott! Du sprachst da soeben von Kaffee, Mütterchen, der steht mir nicht an, meine Liebe! Aber wenn dieses himmlische Engelskind mir mit seinem Zuckerhändchen etwas anderes darreichen wollte ...«

»Branntwein, nicht wahr?« fiel ihm Wikentjew lebhaft ins Wort.

»Branntwein!« wiederholte Openkin in geringschätzigem Ton. »Seit einem Monat hab ich keinen Branntwein gesehen und weiß gar nicht mehr, wie er riecht. Weiß Gott, Mütterchen!« wandte er sich an die Großtante, »bei Goroschkins sollte ich gestern durchaus welchen trinken, doch ich sprang auf, ließ alles liegen und lief ohne Mütze davon!«

»Was möchtest du also trinken, Akim Akimytsch?«

»Wenn mir diese Engelshändchen vielleicht ein Gläschen Madeira, oder auch zwei, kredenzen wollten ...«

»Es ist noch von gestern eine angefangene Flasche da, vom Italiener. Geh, Marfinka, laß ein Glas davon einschenken.«

»Nicht doch, mein Engel, warte noch!« rief Openkin, als Marfinka bereits nach der Tür ging. »Nicht vom Italiener! Das ist kein Hafer für meine Pferde! Der greift nicht mehr durch, man spürt nichts. Ob ich den Madeira vom Italiener trinke oder klares Wasser – die Wirkung ist gleich! Er kostet zehn Rubel die Flasche – wozu die Verschwendung? Laß mir von Watruchin welchen kommen, Mütterchen, von Watruchin – dort kostet die Flasche Madeira nur zweiundeinenhalben Rubel!«

»Eine schöne Sorte Madeira!« bemerkte Wikentjew, »den fabriziert er doch selbst!«

»Das ist's ja eben, das ist's; er hat seinen Madeira den Bedürfnissen des Landes und dem Geschmack seiner Mitbürger angepaßt, hat seiner Vaterstadt einen Dienst geleistet. Wir stehen mitten im Kriege, alle Zugänge zum Reich sind verschlossen, kein Mensch kommt hindurch, kein Vogel, kein ausländisches Parfüm, kein Pariser Frack, kein Margaux oder Burgunder. Verdursten kann das ganze Land! Nur in dieser gottgesegneten Stadt fließt die Quelle der Lust, der Madeira Watruchins. Es lebe Watruchin! Ihr Händchen, meine Gnädige – Tatjana Markowna, Ihr Händchen!«

Er faßte die Hand der Großtante – ein Silberrubel, den sie für den Watruchinschen Madeira bestimmt hatte, entglitt ihr und rollte über den Fußboden.

»So bleib doch nur sitzen, warum bist du denn so unruhig?« sprach die Großtante ärgerlich. »Marfinka, schick zu Watruchin – wart einmal, hier ist noch mehr Geld, laß gleich zwei Flaschen bringen, denn eine wird kaum reichen ...«

»Oh, welche Weisheit rinnt über deine Lippen; reich mir dein Händchen ...«, sprach Openkin.

»Wo warst du denn die ganze Zeit über, Akim Akimytsch? Was hast du getrieben, armer Schlucker?«

»Ja, wo war ich?« wiederholte Openkin mit einem Seufzer. »Überall und nirgends, wie die Vögel des Himmels bin ich umhergeflattert. Drei Tage lang war ich bei Goroschkins, vorher bei Pestows, und noch früher ... ja, das weiß ich nicht mehr, wo ich da war.«

Er stieß von neuem einen Seufzer aus und machte eine Handbewegung, die seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte.

»Warum bleibst du denn nicht zu Hause?«

»Ach, Mütterchen, ich möchte schon bleiben, aber du weißt ja selbst, die Geduld eines Engels reicht nicht hin ...«

»Ich weiß, ich weiß – aber vielleicht trägt deine Frau doch nicht alle Schuld, vielleicht trägst auch du dein Teil dazu bei ...«

»Gewiß, auch ich mag so manches Mal schuld sein – ganz richtig! Wenn ich den Mund halten würde, würde der Sturm vielleicht vorübergehen, aber ich kann mich eben nicht beherrschen, ich lasse mich hinreißen – und das Unglück ist da! Aber wie setzt sie mir auch zu! Sitz ich schweigend in einem Winkel, dann heißt es: ›Warum hockst du da wie ein Klotz und tust nichts?‹ Nehme ich mir eine Arbeit vor, so kreischt sie: ›Laß sein, steck die Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen!‹ Leg ich mich hin, heißt es: ›Faulenzen kannst du, sonst nichts!‹ Steck ich einen Bissen Brot in den Mund, dann schreit sie: ›Was der Kerl zusammenfrißt!‹ Mache ich den Mund auf, um etwas zu entgegnen, so ruft sie: ›Schweig lieber!‹ Will ich lesen, so reißt sie mir das Buch aus den Händen und wirft es auf den Boden. So ist das Leben, das ich führe: Gott der Herr ist mein Zeuge! Einzig im Büro kann ich aufatmen oder wenn ich bei guten Menschen zu Gast bin.«

Man brachte den Wein. Marfinka schenkte ein Glas davon ein und reichte es Openkin. Er ergriff es voll Gier mit der zitternden Hand, führte es vorsichtig an die Unterlippe, hielt die andere Hand wie einen Präsentierteller darunter, um keinen Tropfen des Getränks zu Boden fallen zu lassen, und goß den Inhalt des Glases mit einer raschen Bewegung in den Mund. Dann wischte er sich die Lippen und machte den Versuch, Marfinka die Hand zu küssen, doch sie entfernte sich rasch und setzte sich in ihre Ecke.

Openkin hatte mit kurzen Worten die ganze Geschichte seines Lebens erzählt. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, zu untersuchen, wer eigentlich an seiner häuslichen Fehde schuld war, er oder seine Frau. Wer hätte auch schließlich ein Interesse daran haben sollen? Vielleicht hatte er mit seiner Neigung zum Trunke zuerst ihre Geduld erschöpft, vielleicht hatte umgekehrt ihre Zanksucht ihn erst dem Laster in die Arme getrieben. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls war er in seinem eigenen Heim ein Fremder und suchte es nur auf, um dort zu nächtigen, und oft genug geschah es, daß er sich mehrere Tage hintereinander überhaupt nicht bei den Seinigen sehen ließ. Er überließ es seiner Frau, das Gehalt zu erheben und sich samt den beiden Kindern damit durchzubringen, so gut es ging. Er selbst begab sich unmittelbar aus dem Amt irgendwohin zu Bekannten, um da zu Mittag zu essen. Er blieb bis zum Abend da, oder auch über Nacht, um am nächsten Tage, als ob nichts geschehen wäre, wieder ins Amt zu gehen und dort, sobald er nüchtern geworden, bis drei Uhr seine kratzende Feder übers Papier zu führen. So hatte er all die letzten Jahre seines Lebens zugebracht.

Man hatte sich in der Stadt an ihn gewöhnt, und von einigen exklusiven Familien abgesehen, hatte er, dank seiner Friedlichkeit, seinem häuslichen Ungemach und dem gastlichen Sinn der Bewohner, überall Zutritt. Die Großtante hielt ihn nur dann ihrem Hause fern, wenn sie vornehme Gäste erwartete. Seine Trunksucht wäre wohl Grund genug für sie gewesen, ihn nicht zu empfangen, denn alle Trinker waren ihr in der Seele verhaßt, aber er war ein Unglücklicher, und überdies brauchten mit ihm keine Umstände gemacht zu werden. Sobald er im Zimmer unbequem wurde, brachte man ihn einfach auf den Heuboden oder führte ihn nach Hause. Es hätte der Landessitte widersprochen, wenn sie ihm ihre Tür ganz verschlossen hätte, und es lag auch nicht im Charakter Tatjana Markownas, sosehr die Gegenwart des Betrunkenen mit seinen ewigen Klagen und Seufzern ihr auch lästig fiel.

Raiskij konnte sich Openkins noch aus seiner Kindheit erinnern, als dieser seinem Vater die Akten vom Gericht ins Haus gebracht hatte. Er hatte damals noch keine Glatze und keine so buntschillernde Nase gehabt. Er war ein ruhiger, bescheidener Mensch gewesen, der das Priesterseminar besucht, aber aus Liebe zu der Tochter irgendeines Priesters, die keine Küster- oder Popenfrau werden wollte, die geistliche Lehranstalt verlassen hatte. Raiskij hielt es indes nicht für angebracht, die alte Bekanntschaft jetzt zu erneuern, da er Trunkenbolde ebensowenig leiden konnte wie die Großtante. Er beobachtete Openkin jedoch im stillen und hatte bereits seine Karikatur zu Papier gebracht.

Beim Mittagessen, solange er noch nicht betrunken war, fuhr Openkin fort, die Großtante mit schmeichelhaften Lobeserhebungen zu feiern und Werotschka wie Marfinka liebliche Himmelstauben zu nennen; als ihm dann später der Rausch zu Kopf stieg, begann er zu ächzen und zu seufzen, und nach dem Mittagessen begab er sich auf dem Heuboden zur Ruhe.

Den Tee trank er mit Rum, beim Abendbrot hielt er sich wieder an den Madeira, und als alle Gäste bereits gegangen waren und Wera wie Marfinka sich in ihre Zimmer begeben hatten, saß er immer noch da und langweilte die Bereshkowa mit seinen Schilderungen des einstigen Lebens und Treibens in der Stadt, erzählte ihr von Leuten der Vergangenheit, die längst von aller Welt außer ihm vergessen waren, von Vorkommnissen, an die kein Mensch mehr dachte, und schließlich von seinem häuslichen Unglück, wobei er immer wieder einen Schluck kalten Tee mit Rum nahm oder um ein Gläschen Madeira bat.

Die rücksichtsvolle Alte konnte sich nicht entschließen, ihn an die späte Nachtstunde zu gemahnen, und wartete immer, ob er nicht selbst daran denken würde, sich zu empfehlen. Aber er dachte nicht daran.

Sie ging mehrmals aus dem Zimmer und blieb schließlich ganz fort; von Zeit zu Zeit nur schickte sie Marina oder Jakow hinein, damit sie die Fensterläden schlössen und die Kerzen bis auf eine auslöschten – aber auch das hatte keine Wirkung.

Openkin unterhielt sich mit Marina und Jakow.

»Ah, Marinuschka, wie geht's dir denn? Wann wirst du mich zu Gevatter bitten? Ich freue mich schon darauf, auf die Gesundheit der jungen Mutter zu trinken ...«

»Haben Sie noch nicht genug? Sie sind doch bis obenhin voll! Die Gnädige will zu Bett gehen, machen Sie, daß Sie nach Hause kommen ...« brummte Marina, während sie das Geschirr wegräumte.

»Spare deine Scheltworte, Vermessene! Tatjana Markowna verjagt ihre Gäste nicht; ein Gast ist eine geheiligte Person ... Tatjana Markowna!« brüllte er plötzlich, daß es durchs ganze Haus schallte, »gestatten Sie einem Unwürdigen, Ihr Händchen zu küssen ...«

»Schämen Sie sich doch, so zu schreien; Sie werden noch die jungen Damen wecken!« redete Wassilissa, die von der Großtante zu seiner Beschwichtigung abgesandt worden war, ihm vorwurfsvoll zu.

»Die lieblichen Himmelstauben!« flötete Openkin mit süßlicher Stimme, »nun haben sie die Köpfchen unter die Flügel gesteckt und schlafen! Marinuschka, komm her, laß dich umarmen ...«

»Was fällt Ihnen ein? Gehen Sie endlich, hören Sie. Ihre Frau wird Sie schön ansehen, wenn Sie nach Hause kommen.«

»Prügeln wird sie mich, Marinuschka, prügeln wie einen kleinen Jungen!«

Und er begann zu greinen und zu schluchzen.

»Gib mir noch von dem Madeira; aus deinen goldenen Händchen wird er mir noch einmal so gut schmecken!« sagte er wehmütig.

»Es ist keiner mehr da; die Flasche ist leer, wie Sie sehen. Alles haben Sie hinter die Binde gegossen!«

»Dann bring mir ein Gläschen Rum, mein Herz; du hast mir noch nie etwas kredenzt.«

»Warum nicht gar! Der Rum ist im Büfett, und die Gnädige hat die Schlüssel.«

»Rum will ich haben, du Racker!« brüllte Openkin wieder aus vollem Halse.

Im nächsten Augenblick stand Tatjana Markowna, in Nachthaube und Schlafrock, vor dem Betrunkenen.

»Was fällt dir ein, Akim Akimytsch? Hast du den Verstand verloren?« sagte sie streng.

»Mütterchen, Mütterchen!« begann Openkin wehklagend, während er vor ihr niederkniete und ihre Füße umfing, »laß mich dein Füßchen küssen, meine Wohltäterin, verzeih mir.«

»Geh endlich nach Hause, hier ist keine Schenke. Schäm dich doch! In Zukunft werde ich dich nicht mehr empfangen.«

»Eine Schenke – ach, Mütterchen! Wer sagt denn, daß hier eine Schenke ist? Eine Schenke – oh! Ein Tempel der Weisheit und Tugend ist hier! Bin ich ein ehrlicher Mann, Mütterchen, ja oder nein? Entscheide – bin ich ehrlich oder nicht? Habe ich jemanden betrogen, verletzt, belogen, verleumdet oder verklatscht? Habe ich Gott gelästert oder sonst eine Niedertracht verübt? Keineswegs!« rief er in stolzem Ton, während er sich emporzurichten suchte. »Habe ich den Eid der Treue gegen den Zaren und das Vaterland verletzt? Habe ich Bestechungsgelder genommen, den Sinn des Gesetzes verdreht, das Interesse der Staatskasse vernachlässigt? Keineswegs! Nicht eine Fliege habe ich beleidigt, Mütterchen; unschuldig bin ich wie das Würmchen, das im Staube kriecht.«

»Nun, steh schon auf, steh auf und geh nach Hause! Ich bin müde und will schlafen gehen.«

»Der Segen des Herrn ruhe auf dir, du Gerechte!«

»Jakow, sag doch Kusjma, er möchte Akim Akimytsch nach Hause bringen!« befahl die Großtante. »Geh auch du mit, damit ihm unterwegs nichts passiert. Nun, leb wohl, Gott behüte dich – und schrei nicht mehr, sonst weckst du mir die Mädchen auf!«

»Mütterchen, dein Händchen, dein Händchen; die lieben, holden Himmelstauben.«

Die Bereshkowa ging aus dem Zimmer; diese Szenen mit Openkin, die sich allmonatlich wiederholten und jedesmal denselben Verlauf nahmen, hatten weiter keinen Eindruck auf sie gemacht. Jakow machte sich daran, mit Hilfe Marinas den immer noch Knienden emporzurichten.

»Ah, der gottesfürchtige Jakow!« fuhr Openkin fort. »Hebe mich unwürdigen Joachim in deinen Schoß empor und reiche mir mit deinen ehrwürdigen Händen ein Gläschen Jamaika.«

»Machen Sie keinen Spektakel und kommen Sie, es ist höchste Zeit, daß Sie nach Hause gehen!«

»Nun ... nun ... nun ...« brummte Openkin, während er mit Mühe aufstand, »gehen wir also, gehen wir. Aber warum nach Hause, wo eine schreckliche Natter mich bis zum hellen Morgen stechen und peinigen wird? Nein, gehen wir in dein Kämmerchen, du guter Mensch; ich will dir erzählen, wie Erzvater Jakob mit Gott gerungen hat.«

Jakow ließ sich gern etwas aus der Heiligen Schrift erzählen, und da er auch einem Tröpfchen nicht abgeneigt war, so gefiel ihm der Vorschlag Openkins nicht übel.

»Gut, komm mit, hier können Sie nicht mehr bleiben«, sagte er.

Zwei Stunden lang saß Openkin bei Jakow im Vorzimmer. Dumpf vor sich hin brütend, hörte dieser die biblischen Erzählungen an und holte, um den Eifer des Erzählers anzufeuern, eine Flasche Bier aus der Gesindestube. Als Openkin die Flasche geleert hatte, begann der Faden seiner Erzählungen sich zu verwirren, und schließlich berichtete er allen Ernstes, daß Simson den Walfisch verschluckt und drei Tage lang mit sich im Magen herumgetragen habe.

»Wie war das?« fiel Jakow ihm nachdenklich ins Wort, »wer soll wen verschluckt haben?«

»Ich sagte es doch schon, Mensch, Simson ... oder vielmehr Jonas.«

»Aber ein Walfisch ist doch ein so großer Fisch; man sagt, er würde in der Wolga kaum Platz finden.«

»Und wozu ist denn das Wunder da?«

»Hat er nicht doch vielleicht einen anderen Fisch verschluckt?« äußerte Jakow einen schüchternen Zweifel.

Doch Openkin begann bereits zu schnarchen.

»Nein, nein, er hat ihn verschluckt ... bei Gott, er hat ihn verschluckt!« murmelte er zusammenhanglos halb im Schlaf.

»Ja, aber sagen Sie, mein Gott – wer hat wen verschluckt?« wiederholte Jakow eindringlich seine Frage.

»Reich mir mit deinen ehrwürdigen Händen ...« flüsterte Openkin kaum vernehmlich, während er schon schlief.

›Nun, jetzt ist aus ihm nichts mehr herauszukriegen‹, meinte Jakow für sich, ›jetzt wollen wir ihn fortbringen.‹

Er suchte den Gast wach zu bekommen, aber Openkin schnarchte weiter. Jakow holte nun Kusjma zu Hilfe, und zu zweien brachten sie Openkin nach seiner Wohnung, die am entgegengesetzten Stadtende lag. Vier Stunden brauchten sie zu der nächtlichen Reise. Sie übergaben ihren Schützling der Obhut der Köchin; sie selbst kehrten am nächsten Tage zum Mittagessen heim. Sie hatten den ganzen Morgen in der Vorstadt unter dem gastlichen Dach einer Schenke zugebracht. Als sie die Schenke verließen, nahm Kusjma eine höchst geschäftige Miene an, und je näher sie dem Hause kamen, desto aufmerksamer und gespannter hielt er überall Umschau, ob nicht irgendwo etwas in Unordnung sei oder unnütz herumliege, untersuchte das Schloß am Hoftor, ob es auch richtig schließe, und war in allem das Pflichtbewußtsein selbst. Jakow aber spähte bald nach rechts, bald nach links, ob nicht ein Kirchenkreuz oder Heiligenbild sichtbar würde, vor dem er seine Andacht verrichten könnte.


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