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V

Leontij gehörte zur Sorte jener ewig in den Büchern vergrabenen, nichts außer ihnen kennenden Gelehrten, die in der Welt der Vergangenheit, oder der Ideale, oder der Ziffern, Zahlen, Hypothesen, Theorien und Systeme ganz aufgehen und von dem rings um sie pulsierenden Leben nichts merken.

Dieser interessante Menschenschlag scheint jetzt im Aussterben begriffen oder gar schon ausgestorben. Die Göttin Isis hat den Schleier von ihrem Antlitz genommen, und ihre Priester schämen sich jetzt der alten Perücken, Mäntel und Schoßröcke, haben sie gegen Frack und Paletot vertauscht und sind unter die Menschen gegangen.

Selten einmal trifft man noch irgendwo solch einen unrasierten und ungekämmten Gelehrten, mit dem unbeweglichen, ewig sinnenden Blick, der immer nur sich um die Wissenschaft drehenden Konversation, dem einseitigen, tief in ihre Geheimnisse eingedrungenen Verstande. Sie sind selten geworden, diese schwerfälligen, leicht verlegenen, den Frauen ausweichenden, gedankentiefen Männer mit der komischen Zerstreutheit und der rührend kindlichen Naivität – diese Märtyrer, Ritter und Opfer der exakten Forschung. Sie sind heute ein Anachronismus, diese Pedanten der Wissenschaft – ihre Weisheit würde kaum noch jemanden in Erstaunen setzen.

Leontij war noch einer der wenigen, die dieser Art von Gelehrten angehörten, wenn auch die Zeit, in der er lebte, so manche Schroffheit des Typus in ihm gemildert hatte. Er war ein Landsmann von Raiskij und hatte mit ihm zusammen die Schule und die Universität besucht. Verfolgte man sein Leben von seinen Kindheitsjahren an, so kam man zu dem Schluß, daß auch der Gelehrte dieses Schlages, gleich dem Dichter, »geboren werden muß«. Von klein auf sah man ihn nur immer mit zerzaustem Haar und abwesendem Blick, ewig zwischen Büchern und Heften wühlend, als ob er keine Kindheit hätte, keine Nerven, die auch einmal in mutwilligem Spiel und munteren Streichen sich austoben wollen.

Menschen dieser Art werden schon von ihren Schulkameraden zur Zielscheibe von allerhand Scherzen erwählt. Da hat irgendein Schelm dem armen Leontij das Gesicht ganz mit Ruß beschmiert, und er geht nun zur Belustigung der anderen den ganzen Tag so umher, ohne das geringste zu merken, und bekommt dann obendrein noch vom Inspektor einen Rüffel, weil er so schmutzig herumläuft.

Versetzt ihm jemand einen Puff, zwickt oder zwackt ihn jemand, dann runzelt er nur die Stirn, und statt aufzuspringen und hinter dem kecken Störenfried herzurennen, dreht er sich nur gelegentlich langsam um, guckt zerstreut nach allen Seiten, reibt, während der andere längst über alle Berge ist, höchstens die schmerzende Stelle und versinkt wieder in sein Grübeln, bis ein neuer Puff, ein neuer Nasenstüber oder das Läuten der Glocke, die ihn zu Tisch ruft, ihn aus seinem Traumland lockt.

Nimmt ihm jemand sein Frühstück oder Mittagessen weg, um es selbst zu verzehren, so macht er keinen Lärm, stellt nicht erst eine Untersuchung an, sondern nimmt sich irgendein recht schwieriges Buch vor, um über der geistigen Arbeit seinen Appetit zu vergessen, oder er geht hungrig, wie er ist, zu Bett und schläft ein.

Sich irgendwie mit List, Gewalt oder durch Bitten ein Mittagessen als Ersatz für das ihm weggenommene zu verschaffen, lag ebensowenig in seiner Art wie die Verfolgung der frechen Räuber, die es ihm wegnahmen. Nur wenn der Zufall ihn auf etwas Eßbares stieß, verzehrte er es, ohne lange zu fragen, ob es ihm selbst oder sonst jemandem gehörte.

Aber sosehr sich die Kameraden auch über seine Nachdenklichkeit und Zerstreutheit lustig machten – sein warmes Herz, seine einfache, schlichte Güte, sein einheitlicher, reiner und edler Charakter hatten selbst bei den kleinen Bürschchen der unteren Schulklassen ihren Eindruck nicht verfehlt und ihm die unbedingte Sympathie des jungen Volkes gesichert. Er hatte wohl Ursache, so manchem von ihnen feind zu sein – ihm selbst war nie jemand feind.

Als sie dann alle mit der Zeit heranwuchsen und die Flegeljahre hinter sich hatten, begriffen sie ihn allmählich und wandten ihm ihre Achtung und Teilnahme zu, um so mehr, als er ihnen nicht nur als Charakter, sondern auch als Autorität auf wissenschaftlichem Gebiet imponierte. Er hatte ganz das Wesen eines deutschen Gelehrten, kannte die alten und neuen Sprachen, wenn er auch in keiner von den letzteren praktische Übung hatte, wußte in allen Literaturen Bescheid und war ein leidenschaftlicher Bibliophile.

Sein positives Wissen war sehr umfangreich, es war kein »stehender Sumpf«, kein toter Friedhof, wie das Wissen so manches verpaukten Seminaristen, der in seinem Gedächtnis Daten an Daten reiht, wie ein Totendenkmal zum anderen, leblos, äußerlich, ohne Zusammenhang, nur durch die darübergewachsene Grasdecke und das tote Schweigen zu einem Ganzen verbunden.

Leontijs Wissen war im Gegenteil voll Leben, wenn es auch selbst der Vergangenheit angehörte. Er blickte mit offenen Augen in jene fernen Zeiten, die seinen Geist beschäftigten. Er verstand in seinen Büchern zwischen den Zeilen zu lesen. Zu einem antiken Becher fügte er im Geiste ein antikes Gastmahl, bei dem es lustig herging, zu der Münze dachte er sich die Tasche hinzu und den Mann, dem die Münze gehörte.

So manches Mal hatten sie sich mit Raiskij in diese Welt vertieft – Raiskij als der Dilettant, der für seine lebhafte Phantasie vorübergehend neue Nahrung suchte, Koslow dagegen als der begeisterte Forscher, der mit seinem ganzen Leben in der Sache aufging. In solchen Momenten hatte Raiskij bei ihm denselben Gesichtsausdruck gesehen wie bei Wasjukow, wenn der auf seiner Geige spielte, und er hatte seinen begeisterten, lebendigen Schilderungen der Alten Welt gelauscht oder ihn selbst im Spiel der Phantasie mit fortgerissen – und so hatte jeder in dem anderen diesen lebendigen Nerv liebgewonnen, der sie beide, jeden auf seine Art, mit der Wissenschaft von jenen fernen Zeiten verband.

Leontij erschien zuweilen einseitig mit seiner leidenschaftlichen Begeisterung für die griechische und lateinische Grammatik, er war dann trocken und pedantisch, doch lag in seiner Pedanterie nichts Prahlerisches, weil er seinen Gegenstand aufrichtig liebte, weil diese trockene Grammatik für ihn der Schlüssel war für das antike Leben, das er so sehr liebte, in dem er aufging und das ihm als der Quell und das Vorbild der modernen Kultur, des modernen Lebens erschien.

Er liebte ihn, diesen Urquell unseres Wissens, unserer Entwicklung – aber seine Liebe war gar zu leidenschaftlich und heiß, er gab sich ihr ganz und gar hin und verlor den Blick und das Verständnis für das Leben der Gegenwart. Er war wie ein Fremdling in diesem Gegenwartsleben, erschien unbeholfen, lächerlich, so gar nicht heimisch darin. Er achtete und ehrte bedingungslos alles, was nach den klassischen Mustern geschaffen war oder ihnen irgendwie entsprach. Er schätzte Corneille und hatte sogar eine Schwäche für Racine, wenn er auch spöttisch lächelnd zu sagen pflegte, daß sie für ihre Marquis lediglich die Togen und Chitone bei den Alten entliehen hätten, wie für eine Maskerade – immerhin jedoch versöhnte es ihn, daß aus den Schöpfungen dieser Dichter ihm die Namen der alten Heroen und der alten Stätten entgegenklangen.

In den neueren Literaturen ließ er, soweit sie sich nicht der antiken Form bedienten, nur die hohe Poesie gelten, während er allem Trivialen und Alltäglichen abgeneigt war; er liebte Dante und Milton und versuchte auch Klopstock zu lesen, kam jedoch nicht weit darin. Für Shakespeare hegte er zwar Bewunderung, liebte ihn jedoch nicht; Goethe dagegen liebte er, doch nicht den Romantiker, sondern nur den Klassiker Goethe; die »Römischen Elegien« und die »Italienische Reise« entzückten ihn weit mehr als der »Faust«; »Wilhelm Meister« kam für ihn nicht in Betracht, dafür konnte er den »Prometheus« und den »Tasso« auswendig.

Er verehrte die Gemälde Raffaels, dagegen schätzte er die Meister der flämischen Schule nicht sehr hoch und lächelte unwillkürlich, wenn er ein Bild von Teniers sah.

Er war so arm, daß kaum noch eine Steigerung seiner Armut zu denken war. Er hatte als Schüler in einem Verschlage gewohnt, zwischen dem Ofen und den Brennholzstapeln, die zum Heizen des Ofens bestimmt waren. Er arbeitete beim Licht einer elenden Tranlampe, und hätten die Freunde ihm nicht hilfreich beigestanden, er hätte nicht gewußt, woher er sich Bücher beschaffen, wie er zu Wäsche und Kleidern kommen sollte.

Geschenke nahm er nicht an, weil er keine Gegengeschenke machen konnte. Sie verschafften ihm Stunden, sie ließen sich Dissertationen von ihm anfertigen und schenkten ihm dafür Wäsche, Kleider, nur selten einmal Geld, am häufigsten jedoch Bücher, von denen sich mit der Zeit eine Menge bei ihm ansammelte.

Alle seine Jugendgenossen waren voll Leben und Unternehmungslust und trugen sich mit großen Zukunftsplänen. Nur er allein plante nichts, träumte nicht davon, einmal ein großer Heerführer oder Dichter zu werden. Er sagte nur: »Ich will als Lehrer in die Provinz gehen« – und hielt dieses bescheidene Ziel für die Bestimmung seines Lebens.

Die Kameraden, unter ihnen auch Raiskij, suchten seinen Ehrgeiz anzustacheln, sprachen ihm von produktiver, schöpferischer Tätigkeit und von einem akademischen Lehrstuhl. Gewiß war dies das höchste Ziel seiner Wünsche, der Marschallstab, den er im Tornister trug. Aber er antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, wenn sie ihm davon vorzuschwärmen begannen.

»Gewiß, sehr schön«, sagte er, während er sich in die Rolle eines Professors hineinzudenken suchte. »So auf ganze Generationen mit dem lebendigen Wort zu wirken und alles, was man weiß, was man liebt und verehrt, einer wißbegierigen Jugend zu übermitteln – gewiß, das wäre herrlich! Wieviel Arbeit gäbe das, wieviel wissenschaftliche Hilfsquellen, welches Material: die Bibliotheken, der lebendige Verkehr mit den Kollegen, dann vielleicht auch eine Reise ins Ausland, nach Deutschland, nach Cambridge, nach Edinburg ...«, fügte er begeistert hinzu, »das gäbe Bekanntschaften und Korrespondenzen ... doch nein, wie kann ich daran denken!« fuhr er, aus seinem Rausch erwachend, fort. »Solch ein Professor hat auch noch andere Pflichten, er sitzt in Kommissionen, muß Prüfungen abhalten, muß bei feierlichen Akten öffentliche Reden halten ... das würde mich nur verwirren, das ist nichts für mich! Laßt mich ruhig als Lehrer in die Provinz gehen!« sagte er, alle noch so verführerischen Träume mit Entschiedenheit ablehnend, und steckte die Nase in seine Bücher und Hefte.

Alle anderen hatten nach und nach ihre Illusionen aufgegeben. Wer sich schon als Feldherr gesehen und von der Ausrottung des Menschengeschlechts geträumt hatte, war vom Leben schließlich auf sein väterliches Stammgut verschlagen worden und begnügte sich dort damit, seine Art fortzupflanzen, Karten zu spielen, Diners mitzumachen und über die Höhe der Gerichtssporteln zu räsonieren.

Ein anderer, der eine hohe dienstliche Stellung angestrebt hatte, die ihm Gelegenheit zur Entfaltung einer vielseitigen und segensreichen Tätigkeit geben sollte, wurde schließlich Mitglied irgendeines Klubs, dem er seine ganze Muße weihte.

Und auch Raiskij hatte einst geträumt – von einer glänzenden Künstlerkarriere, und noch immer trug er das »heilige Feuer« in der Brust und zeichnete Skizzen, Motive, Studien, entwarf große Pläne, die er nicht ausführte, und sein Name war noch immer unbekannt, seine Meisterwerke noch ungeboren.

Nur Leontij hatte das Ziel erreicht, das er sich gesetzt hatte, er war – Lehrer in der Provinz geworden.

Die Zeit der Trennung war gekommen, die Kameraden verließen einer nach dem anderen die Universität. Leontij blickte unruhig um sich, er sah, wie leer es rings um ihn geworden war, und als durch und durch unpraktischer Mensch wußte er nicht, was er anfangen sollte.

»Auch du!« sagte er traurig, wenn wieder jemand kam, um von ihm Abschied zu nehmen.

Kaum einer schied ohne Tränen von ihm, und auch ihm gingen die Augen über, und er dachte weder an die Rippenstöße und Nasenstüber, noch an die Spottreden, die er heruntergeschluckt, noch an die Frühstücksschüsseln und Mittagessen, die er durch ihre Schuld nicht heruntergeschluckt hatte.

Schließlich kam die Zeit, da auch er sich um ein Stück Brot bemühen mußte. Doch wohin sollte er sich wenden? Raiskij brachte alles auf die Beine, auch die Professoren legten sich für ihn ins Zeug und schrieben seinetwegen nach Petersburg, und endlich bekam er in seiner Heimatstadt die ersehnte Stelle.

Dort, in der Heimat, richtete ihm Raiskij mit Hilfe der Großtante und einiger Bekannten eine Wohnung ein, und kaum waren alle diese Äußerlichkeiten erledigt, als Leontij sogleich mit Eifer und Geduld an sein Werk ging und sich von neuem in jene fremde, längst entschwundene Welt vertiefte, die er zu der seinigen gemacht hatte.

Tatjana Markowna hatte sich der reichhaltigen Bibliothek, die Raiskij geerbt hatte, nicht so recht annehmen können, die zum Teil sehr wertvollen Bücher lagen wenig beachtet drüben im Staub und Moder des alten Hauses. Marfinka hatte ab und zu einen Band herübergeholt, ohne Wahl, heute den »Gulliver« oder »Paul und Virginie«, morgen Chateaubriand oder Racine, dann wieder einen Roman der Madame Genlis, und sie hütete die Bücher mit derselben Sorgfalt wie ihre Blumen und Vögel. Die übrigen Bücher drüben im alten Hause nahm eine Zeitlang Wera in ihre Obhut, das heißt, sie nahm davon, was ihr gefiel, las darin oder las nicht und stellte sie wieder in ihr Fach zurück. Immerhin war doch eine menschliche Hand mit ihnen in Berührung gekommen, und sie waren in halbwegs gutem Zustande erhalten geblieben, bis auf einige der älteren und »fettigeren«, an die sich die Mäuse herangemacht hatten. Wera hatte die Großtante gebeten, darüber an Raiskij zu schreiben, und dieser hatte bestimmt, daß die Bücher Leontij zur Aufbewahrung übergeben werden sollten. Dieser stand ganz starr vor Entzücken da, als er den dreitausend Bände umfassenden Schatz erblickte. Die alten verstaubten, verschimmelten Folianten erwachten zu neuem Leben, wurden wieder gelesen und gebraucht – bis irgendein Mark, wie Koslow an Raiskij geschrieben hatte, sich darangemacht hatte, das Werk der Mäuse zu vollenden.


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