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Der Schmerz

Der Schmerz ist das Allerheiligste unsrer Seele, die Verklärung aller Liebe und Leidenschaft.

Im Schmerze erfassen wir die Unendlichkeit und Unsterblichkeit unseres Wesens; denn ein Geschöpf mit solchen Gefühlen ist nicht für diesen Erdenaugenblick gemacht.

Der Schmerz zeugt in uns einen Charakter und ein Gemüt, er gibt uns Ernst und Weisheit, er erschließt uns die Tiefen des Lebens und erweckt unser Mitgefühl für alles irdische Leid.

Bis uns nicht der Todesschmerz das Herz von Fleisch blutig gepreßt und zerrissen hat, ist unser Gefühl nicht mündig gesprochen für den Himmel, ist unsere Poesie, wie unsre Liebe und Andacht und alle Erkenntnis, eine grüne und herbe Frucht.

Erst der Schmerz verleiht unserm ganzen Wesen himmlische Zeitigung und Milde. Und so entbindet sich auch ein weiches Gewissen aus dem verhärteten Verstandestrotz.

Nur der Tod ist der ewige große Erzieher der Lebendigen, der Begründer aller Kultur- und Naturgeschichten, weil der alleinige Bändiger und Dämpfer des sinnlichen Übermutes zum himmlischen Lebens- und Todesmute.

Schmerz aber ist die Urform, in und mit welcher der Tod das Menschengeschlecht erzieht. Denn aller Schmerz ist nur der eine: des Todes, der Vergänglichkeit, der Unbeständigkeit, des jähen Wechsels und Wandels alles irdischen Daseins.

Im Schmerz geschieht es, daß uns der Tod reif findet und mündig spricht für diese und jene Welt.

Wir erkennen aber den Tod zum erstenmal in seiner wahren Gestalt, wenn er einen Lebensfaden durchschneidet, der mit unserm eignen Leben und Lieben versponnen war, wenn er mit seinem eisigen Hauche unser liebewarmes Leben in den Starrkrampf dumpfer Verzweiflung verwandelt hat.

Wenn dann endlich die Lebenskraft und Wärme obgesiegt und die Starrsucht gelöst, wenn die irdisch-überirdische, die sinnlich-übersinnliche Geschichte dieser Todeserkenntnis, wenn die Entwicklung einer Seele in der Seele, und ihre Bildung zu einem ätherischen Leibe in dem Körper von Fleisch und Bein ihren Anfang genommen hat: so ist dies Werden und Geschehen, diese Umbildung, diese gegenseitige Durchdringung des Himmlischen und Irdischen, des zeitlichen und ewiglichen Lebens: der Schmerz.

Erst der Todesschmerz gibt dem eiteln, dem wetterwendischen und sinnlichen Herzen eine Stetigkeit und Charakterwürde, weil einen übersinnlichen Halt. Und in der Lösung aller innern Härten, im Schmerze, geschieht es, daß ein allzuenges Herz zum Gefühle der idealen Welt, zur Anschauung des Zukünftigen und Vergangenen, daß es zur Weltfühlung erweitert wird.

So muß der Tod, so müssen seine Schmerzen vollenden, was allen Mächten des Lebens nimmer gelingt; denn im Tode geschieht es, daß das Leben wiedergeboren, daß für eine Zeitlichkeit die Ewigkeit wiedergewonnen wird.

Wer das Schlimmste erfahren, steht erhaben über dem Leben: denn er ist Herr des Lebens, Tod und Schmerz rühren ihn nicht weiter an.

Wie man aber nur einmal des Lebens höchstes Entzücken erfahren, nur einmal lieben kann, so verzweifelt man auch nur einmal. Hat uns der Tod erst mit seinem übersinnlichen und ewigen Schmerze angerührt, so ist ihm ferner keine Gewalt über uns gegeben und kein Recht.

Wer das Liebste verloren, erfährt keinen neuen Schmerz mehr in dieser Welt; der alte kann sich nur erneuern, und dieser verklärte Schmerz ist dann die Poesie, die Läuterung und das Heiligtum des menschlichen Lebens.

Wir sind Gott, der Erde und dem Leben einen Tod schuldig. So laßt uns denn sterben, wie es unsterblichen Geistern und Seelen geziemt! Laßt uns dem Tode ins Antlitz schauen und mit ihm leben, wie Männer, wie die Kinder Gottes, mit freudigem Mut!


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