Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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XVIII. Wiederholung

§ 112.

Ich wünsche daß gegenwärtiger Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, zu Auflösung dieser Zweifel einiges beytragen, und zu weiteren Bemerkungen und Schlüssen Gelegenheit geben möge. Die Beobachtungen, worauf er sich gründet, sind schon einzeln gemacht, auch gesammlet und gereiht worden ( d); und es wird sich bald entscheiden, ob der Schritt, den wir gegenwärtig gethan, sich der Wahrheit nähere. So kurz als möglich fassen wir die Hauptresultate des bisherigen Vortrags zusammen.

§ 113.

Betrachten wir eine Pflanze in sofern sie ihre Lebenskraft äußert, so sehen wir dieses auf eine doppelte Art geschehen, zuerst, durch das Wachsthum, indem sie Stengel und Blätter hervorbringt, und sodann durch die Fortpflanzung, welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet wird. Beschauen wir das Wachsthum näher, so sehen wir, daß, indem die Pflanze sich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortsezt, indem sie sproßt, gleichfalls eine Fortpflanzung geschehe, die sich von der Fortpflanzung durch Blüthe und Frucht, welche auf einmal geschiehet, darinn unterscheidet, daß sie successiv ist, daß sie sich in einer Folge einzelner Entwickelungen zeigt. Diese sprossende, nach und nach sich äußernde Kraft ist mit jener, welche auf einmal eine große Fortpflanzung entwickelt, auf das genauste verwandt. Man kann unter verschiedenen Umständen eine Pflanze nöthigen, daß sie immerfort sprosse, man kann dagegen den Blüthenstand beschleunigen. Jenes geschieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem größeren Maße zudringen; dieses, wenn die geistigeren Kräfte in derselben überwiegen.

114. Schon dadurch daß wir das Sprossen eine successive, den Blüthen- und Fruchtstand aber eine simultane Fortpflanzung genannt haben, ist auch die Art wie sich beyde äußern, bezeichnet worden. Eine Pflanze welche sproßt, dehnt sich mehr oder weniger aus, sie entwickelt einen Stiel oder Stengel, die Zwischenräume von Knoten zu Knoten sind meist bemerkbar, und ihre Blätter breiten sich von dem Stengel nach allen Seiten zu aus. Eine Pflanze dagegen welche blüht, hat sich in allen ihren Theilen zusammengezogen, Länge und Breite sind gleichsam aufgehoben und alle ihre Organe sind in einem höchst concentrirten Zustande zunächst an einander entwickelt.

§ 115.

Es mag nun die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es doch nur immer dieselbigen Organe welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst manigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum leztenmal auszudehnen.

§ 116.

Diese Wirkung der Natur ist zugleich mit einer andern verbunden, mit der Versammlung verschiedener Organe um ein Centrum nach gewissen Zahlen und Maßen, welche jedoch bey manchen Blumen oft unter gewissen Umständen weit überschritten und vielfach verändert werden.

§ 117.

Auf gleiche Weise wirkt bey der Bildung der Blüthen und Früchte eine Anastomose mit, wodurch die nahe an einander gedrängten, höchst feinen Theile der Fructification, entweder auf die Zeit ihrer ganzen Dauer, oder auch nur auf einen Theil derselben innigst verbunden werden.

§ 118.

Doch sind diese Erscheinungen der Annäherung, Centralstellung und Anastomose nicht allein dem Blüthen- und Fruchtstande eigen; wir können vielmehr etwas Ähnliches bey den

Cotyledonen wahrnehmen, und andere Pflanzentheile werden uns in der Folge reichen Stoff zu ähnlichen Betrachtungen geben.

§ 119.

So wie wir nun die verschiedenscheinenden Organe der sprossenden und blühenden Pflanze alle aus einem einzigen, nehmlich dem Blatte, welches sich gewöhnlich an jedem Knoten entwickelt, zu erklären gesucht haben; so haben wir auch diejenigen Früchte, welche ihre Samen fest in sich zu verschließen pflegen, aus der Blattgestalt herzuleiten gewagt.

§ 120.

Es verstehet sich hier von selbst, daß wir ein allgemeines Wort haben müßten wodurch wir dieses in so verschiedene Gestalten metamorphosirte Organ bezeichnen, und alle Erscheinungen seiner Gestalt damit vergleichen könnten: gegenwärtig müssen wir uns damit begnügen, daß wir uns gewöhnen die Erscheinungen vorwärts und rückwärts gegeneinander zu halten. Denn wir können eben so gut sagen: ein Staubwerkzeug sey ein zusammengezogenes Blumenblatt, als wir von dem Blumenblatte sagen können: es sey ein Staubgefäß im Zustande der Ausdehnung; ein Kelchblatt sey ein zusammengezogenes, einem gewissen Grad der Verfeinerung sich näherndes Stengelblatt, als wir von einem Stengelblatt sagen können es sey ein, durch Zudringen roherer Säfte ausgedehntes Kelchblatt.

§ 121.

Eben so läßt sich von dem Stengel sagen; er sey ein ausgedehnter Blüthen- und Fruchtstand, wie wir von diesem prädicirt haben: er sey ein zusammengezogener Stengel.

§ 122.

Außerdem habe ich am Schlusse des Vortrags noch die Entwickelung der Augen in Betrachtung gezogen und dadurch die zusammengesezten Blumen, wie auch die unbedeckten Fruchtstände zu erklären gesucht.

§ 123.

Und auf diese Weise habe ich mich bemüht, eine Meynung welche viel Überzeugendes für mich hat, so klar und vollständig als es mir möglich seyn wollte, darzulegen. Wenn solche dem ohngeachtet noch nicht völlig zur Evidenz gebracht ist; wenn sie noch manchen Widersprüchen ausgesezt seyn, und die vorgetragne Erklärungsart nicht überall anwendbar scheinen möchte: so wird es mir desto mehr Pflicht werden, auf alle Erinnerungen zu merken, und diese Materie in der Folge genauer und umständlicher abzuhandeln, um diese Vorstellungsart anschaulicher zu machen, und ihr einen allgemeinern Beyfall zu erwerben, als sie vielleicht gegenwärtig nicht erwarten kann.


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