Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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XIV. Bildung der Zusammengesezten Blüthen und Fruchtstände

§ 94.

Wir haben bisher die einfachen Blüthenstände, ingleichen die Samen, welche in Kapseln befestiget hervorgebracht werden, durch die Umwandlung der Knotenblätter zu erklären gesucht, und es wird sich bey näherer Untersuchung finden; daß in diesem Falle sich keine Augen entwickeln, vielmehr die Möglichkeit einer solchen Entwickelung ganz und gar aufgehoben wird. Um aber die zusammengesezten Blüthenstände sowohl, als die gemeinschaftlichen Fruchtstände, um Einen Kegel, Eine Spindel, auf Einem Boden, und so weiter zu erklären, müssen wir nun die Entwickelung der Augen zu Hülfe nehmen.

§ 95.

Wir bemerken sehr oft, daß Stengel, ohne zu einem einzelnen Blüthenstande sich lange vorzubereiten und aufzusparen, schon aus den Knoten ihre Blüthen hervortreiben, und so bis an ihre Spitze oft ununterbrochen fortfahren. Doch lassen sich die dabey vorkommenden Erscheinungen aus der oben vorgetragenen Theorie erklären. Alle Blumen, welche sich aus den Augen entwickeln, sind als ganze Pflanzen anzusehen, welche auf der Mutterpflanze ebenso wie diese auf der Erde stehen. Da sie nun aus den Knoten reinere Säfte erhalten; so erscheinen selbst die ersten Blätter der Zweiglein viel ausgebildeter, als die ersten Blätter der Mutterpflanze welche auf die Cotyledonen folgen; ja es wird die Ausbildung des Kelches und der Blume oft sogleich möglich.

§ 96.

Eben diese aus den Augen sich bildenden Blüthen würden bey mehr zudringender Nahrung, Zweige geworden seyn, und das Schicksal des Mutterstengels, dem er sich unter solchen Umständen unterwerfen müßte, gleichfalls erduldet haben.

§ 97.

So wie nun von Knoten zu Knoten sich, dergleichen Blüthen entwickeln, so bemerken wir gleichfalls jene Veränderung der Stengelblätter, die wir oben bey dem langsamen Uebergange zum Kelch beobachtet haben. Sie ziehen sich immer mehr und mehr zusammen, und verschwinden endlich beynahe ganz. Man nennt sie alsdann Bracteas, indem sie sich von der Blattgestalt mehr oder weniger entfernen. In eben diesem Maße wird der Stiel verdünnt, die Knoten rücken mehr zusammen, und alle oben bemerkten Erscheinungen gehen vor, nur daß am Ende des Stengels kein entschiedener Blüthenstand folgt, weil die Natur ihr Recht schon von Auge zu Auge ausgeübt hat.

§ 98.

Haben wir nun einen solchen an jedem Knoten mit einer Blume gezierten Stengel wohl betrachtet; so werden wir uns gar bald einen gemeinschaftlichen Blüthenstand erklären können: wenn wir das was oben von Entstehung des Kelches gesagt ist mit zu Hülfe nehmen.

§ 99.

Die Natur bildet einen gemeinschaftlichen Kelch, aus vielen Blättern, welche sie auf einander drängt und um eine Axe versammlet; mit eben diesem starken Triebe des Wachsthums entwickelt sie einen gleichsam unendlichen Stengel, mit allen seinen Augen in Blüthengestalt, auf einmal, in der möglichsten aneinander gedrängten Nähe, und jedes Blümchen befruchtet das unter ihm schon vorbereitete Samengefäß. Bey dieser ungeheuren Zusammenziehung verlieren sich die Knotenblätter nicht immer; bey den Disteln begleitet das Blättchen getreulich das Blümchen, das sich aus den Augen neben ihnen entwickelt. Man vergleiche mit diesem Paragraph die Gestalt des Dipsacus laciniatus. Bey vielen Gräsern wird eine jede Blüthe durch ein solches Blättchen, das in diesem Falle der Balg genannt wird, begleitet.

§ 100.

Auf diese Weise wird es uns nun anschaulich seyn, wie die, um einen gemeinsamen Blüthenstand entwickelten Samen, wahre, durch die Wirkung beyder Geschlechter ausgebildete und entwickelte Augen seyen. Fassen wir diesen Begriff fest, und betrachten in diesem Sinne mehrere Pflanzen, ihren Wachsthum und Fruchtstände, so wird der Augenschein bey einiger Vergleichung uns am besten überzeugen.

§ 101.

Es wird uns sodann auch nicht schwer seyn, den Fruchtstand der in der Mitte einer einzelnen Blume, oft um eine Spindel versammleten, bedeckten oder unbedeckten Samen zu erklären. Denn es ist ganz einerley, ob eine einzelne Blume einen gemeinsamen Fruchtstand umgiebt, und die zusammengewachsenen Pistille von den Antheren der Blume die Zeugungssäfte einsaugen und sie den Samenkörnern einflößen, oder ob ein jedes Samenkorn sein eignes Pistill, seine eigenen Antheren, seine eigenen Kronenblätter um sich habe.

§ 102.

Wir sind überzeugt daß mit einiger Uebung es nicht schwer sey, sich auf diesem Wege die manigfaltigen Gestalten der Blumen und Früchte zu erklären; nur wird freylich dazu erfordert, daß man mit jenen oben festgestellten Begriffen der Ausdehnung und Zusammenziehung, der Zusammendrängung und Anastomose, wie mit Algebraischen Formeln bequem zu operiren, und sie da, wo sie hingehören anzuwenden wisse. Da nun hierbey viel darauf ankommt, daß man die verschiedenen Stufen, welche die Natur so wohl in der Bildung der Geschlechter, der Arten, der Varietäten, als in dem Wachsthum einer jeden einzelnen Pflanze betritt, genau beobachte und mit einander vergleiche: so würde eine Sammlung Abbildungen zu diesem Endzwecke neben einander gestellt, und eine Anwendung der botanischen Terminologie auf die verschiedenen Pflanzentheile bloß in dieser Rücksicht angenehm und nicht ohne Nutzen seyn. Es würden zwey Fälle von durchgewachsenen Blumen, welche der oben angeführten Theorie sehr zu statten kommen, den Augen vorgelegt, sehr entscheidend gefunden werden.


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