Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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XVI. Durchgewachsene Nelke

§ 105.

Wenn wir diese Erscheinung recht beobachtet haben, so wird uns eine andere, welche sich an einer durchgewachsenen Nelke zeigt, fast noch merkwürdiger werden. Wir sehen eine vollkommene, mit Kelch und überdies mit einer gefüllten Krone versehene, auch in der Mitte mit einer, zwar nicht ganz ausgebildeten, Samenkapsel völlig geendigte Blume. Aus den Seiten der Krone entwickeln sich vier vollkommene neue Blumen, welche durch drey- und mehrknotige Stengel von der Mutterblume entfernt sind; sie haben abermals Kelche, sind wieder gefüllt, und zwar nicht so wohl durch einzelne Blätter als durch Blattkronen, deren Nägel zusammengewachsen sind, meistens aber durch Blumenblätter, welche wie Zweiglein zusammengewachsen, und um einen Stiel entwickelt sind. Ohngeachtet dieser ungeheuren Entwickelung sind die Staubfäden, und Antheren in einigen gegenwärtig. Die Fruchthüllen mit den Griffeln sind zu sehen und die Receptakel der Samen wieder zu Blättern entfaltet, ja in einer dieser Blumen waren die Samendecken zu einem völligen Kelch verbunden, und enthielten die Anlage zu einer vollkommen gefüllten Blume wieder in sich.

§ 106.

Haben wir bey der Rose einen gleichsam nur halbdeterminirten Blüthenstand, aus dessen Mitte einen abermals hervortreibenden Stengel, und an demselbigen neue Stengelblätter sich entwickeln gesehen: so finden wir an dieser Nelke, bey wohlgebildetem Kelche und vollkommener Krone, bey wirklich in der Mitte bestehenden Fruchtgehäusen, aus dem Kreise der Kronenblätter, sich Augen entwickeln, und wirkliche Zweige und Blumen darstellen. Und so zeigen uns denn beyde Fälle, daß die Natur gewöhnlich in den Blumen ihren Wachsthum schließe und gleichsam eine Summe ziehe, daß sie der Möglichkeit ins Unendliche mit einzelnen Schritten fortzugehen Einhalt thue, um durch die Ausbildung der Samen schneller zum Ziel zu gelangen.


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