Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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IX. Bildung des Griffels

§ 67.

War ich bisher bemüht, die innere Identität der verschiedenen, nach einander entwickelten Pflanzentheile, bey der größten Abweichung der äußern Gestalt, so viel es möglich gewesen, anschaulich zu machen; so wird man leicht vermuthen können daß nunmehr meine Absicht sey, auch die Strucktur der weiblichen Theile auf diesem Wege zu erklären.

§ 68.

Wir betrachten zuvörderst den Griffel von der Frucht abgesondert, wie wir ihn auch oft in der Natur finden; und um so mehr können wir es thun, da er sich in dieser Gestalt von der Frucht unterschieden zeigt.

§ 69.

Wir bemerken nehmlich daß der Griffel auf eben der Stufe des Wachsthums stehe, wo wir die Staubgefäße gefunden haben. Wir konnten nehmlich beobachten, daß die Staubgefäße durch eine Zusammenziehung hervorgebracht werden; die Griffel sind oft in demselbigen Falle, und wir sehen sie, wenn auch nicht immer mit den Staubgefäßen von gleichem Maße, doch nur um weniges länger oder kürzer gebildet. In vielen Fällen sieht der Griffel fast einem Staubfaden ohne Anthere gleich, und die Verwandtschaft ihrer Bildung ist äußerlich größer als bey den übrigen Theilen. Da sie nun beyderseits durch Spiralgefäße hervorgebracht werden, so sehen wir desto deutlicher, daß der weibliche Theil so wenig als der männliche ein besonderes Organ sey, und wenn die genaue Verwandtschaft desselben mit dem männlichen, uns durch diese Betrachtung recht anschaulich wird, so finden wir jenen Gedanken die Begattung eine Anastomose zu nennen passender und einleuchtender.

§ 70.

Wir finden den Griffel sehr oft aus mehreren einzelnen Griffeln zusammengewachsen, und die Theile aus denen er bestehet lassen sie kaum am Ende, wo sie nicht einmal immer getrennt sind, erkennen. Dieses Zusammenwachsen, dessen Wirkung wir schon öfters bemerkt haben, wird hier am meisten möglich; ja es muß geschehen, weil die feinen Theile vor ihrer gänzlichen Entwickelung in der Mitte des Blüthenstandes zusammengedrängt sind, und sich auf das innigste mit einander verbinden können.

§ 71.

Die nahe Verwandtschaft mit den vorhergehenden Theilen des Blüthenstandes zeigt uns die Natur in verschiedenen regelmäßigen Fällen mehr oder weniger deutlich. So ist z. B. das Pistill der Iris mit seiner Narbe, in völliger Gestalt eines Blumenblattes vor unsern Augen. Die schirmförmige Narbe der Sarracenie zeigt sich zwar nicht so auffallend aus mehreren Blättern zusammengesezt, doch verläugnet sie sogar die grüne Farbe nicht. Wollen wir das Mikroscop zu Hülfe nehmen, so finden wir mehrere Narben, z. E. des Crocus, der Zanichella, als völlige ein- oder mehrblätterige Kelche gebildet.

§ 72.

Rückschreitend zeigt uns die Natur öfters den Fall, daß sie die Griffel und Narben wieder in Blumenblätter verwandelt; z. B. füllt sich der Ranunculus asiaticus dadurch, daß sich die Narben und Pistille des Fruchtbehälters zu wahren Kronenblättern umbilden, indessen die Staubwerkzeuge, gleich hinter der Krone, oft unverändert gefunden werden. Einige andere bedeutende Fälle werden unten vorkommen.

§ 73.

Wir wiederholen hier jene oben angezeigten Bemerkungen, daß Griffel und Staubfäden auf der gleichen Stufe des Wachsthums stehen, und erläutern jenen Grund des wechselsweisen Ausdehnens und Zusammenziehens dadurch abermals. Vom Samen bis zu der höchsten Entwickelung des Stengelblattes, bemerkten wir zuerst eine Ausdehnung, darauf sahen wir durch eine Zusammenziehung den Kelch entstehen, die Blumenblätter durch eine Ausdehnung, die Geschlechtstheile abermals durch eine Zusammenziehung; und wir werden nun bald die größte Ausdehnung in der Frucht, und die größte Concentration in dem Samen gewahr werden. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur unaufhaltsam das ewige Werk der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwey Geschlechter.


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