Johann Wolfgang von Goethe
Zur deutschen Literatur. Rezensionen
Johann Wolfgang von Goethe

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Gottlieb Hiller: Gedichte und Selbstbiographie

Cöthen, bei Aue. Gottlieb Hillers Gedichte und Selbstbiographie. Erster Teil. 1805. 250 S. 8. Mit des Verfassers Bilde und einem unendlichen Pränumeranten-Verzeichnis.

Indem wir uns an den Gedichten des Wunderhorns eines entschiedenen, mannigfaltigen Charakters, ohne ausgebildetes Talent, erfreuten, so finden wir hier, in umgekehrtem Sinne, ein Talent auf einer hohen Stufe der Ausbildung, aber leider ohne Charakter. Jede frische Quelle, die aus dem Gebirg hervorsprudelt, jeder ursprüngliche Wasserfall, der ärmere wie der reichere, hat seinen besondern Charakter, so auch jene Lieder, die uns mit einer unendlichen Mannigfaltigkeit ergetzen. Aber hier sieht man nur den Teil eines breiten Wassers, das ins Meer geht, einen schmalen Arm halb versandet wie seine Gesellen, die irgend ein berühmtes Delta bilden.

Warum sollte man aber gegenwärtiges Büchlein geradezu von der schwächsten Seite, von der poetischen her betrachten? Beseitigen wir doch den Dichtertitel, wenn er auch schon in Hillers Passe steht, und halten uns an die Person. Denn wie man sich sonst gegen den Menschen dankbar erzeigt, daß er uns treffliche Poesien liefert, so muß man es hier der Poesie recht lebhaft verdanken, daß sie uns mit einem wackern Menschen bekannt macht.

Geboren in einem engen, ja einem niedern Kreise zeichnet er sich aus durch technische Fähigkeit, ruhiges redliches Anschaun der Gegenwart, durch manches Talent das sich auf Wort und Rede bezieht, durch praktischen Sinn, ein tiefes sittliches Gefühl, durch ein à plomb auf sich selbst, einen edlen Stolz, eine Leichtigkeit im Leben, genug von mehr als einer Seite als eine musterhafte Natur. Die Anmut, womit er seine Persönlichkeit, sein Talent, seine Fortschritte gewahr wird, ist durchaus liebenswürdig und kindlich, und wir fordern das Gewissen aller Gebildeten auf, ob sie sich wohl in gleichem oder ähnlichem Falle so viel Mäßigkeit des Selbstgefühls und Betragens zutrauen dürften.

Die Skizze seiner Gesichtsbildung, die dem Bändchen vorgeheftet ist, auch von einem Dilettanten und Naturkinde radiert, kann als höchst interessant betrachtet werden. Sie erinnert uns an die silenenhaften, Götterbilder enthaltenden Futterale mit denen Socrates verglichen wird; und wir leugnen nicht, daß wir in dem ganzen Menschen, wie ihn seine Lebensbeschreibung, seine Gedichte darstellen, etwas Sokratisches zu finden glauben. Der Gerad- und Rechtsinn, das derbe tüchtige Halten auf einer verständigen Gegenwart, die Unbestechlichkeit gegen jede Art von Umgebung, etwas Lehrhaftiges ohne schulmeisterlich zu sein, und was sich jeder selbst aus dem Büchelchen entwickeln mag, dem diese Äußerung nicht ganz paradox vorkommt, entschuldigen wenigstens diese Ansicht.

Kommt Hillern aber dies alles als Menschen zu statten, so verliert er dagegen gerade hierdurch nur destomehr als Dichter. Wenn er vor einem großen Könige sich auch ein kleiner König dünkt, wenn er der liebenswürdigen Königin viertelstundenlang getrost in die schönen Augen sieht, so soll er deshalb nicht gescholten, sondern glücklich gepriesen werden. Aber ein wahrer Dichter hätte sich ganz anders in der Nähe der Majestät gefühlt, er hätte den unvergleichbaren Wert, die unerreichbare Würde, die ungeheure Kraft geahndet, die mit der ruhigen Persönlichkeit eines Monarchen sich einem Privatmann gegenüber stellt. Ein einziger Blick aus solchen Augen hätte ihm genügt, in ihm wäre so viel aufgeregt worden, daß sein ganzes Leben sich in eine würdige Hymne verloren hätte.

Betrachten wir die gute Aufnahme, die er überall fand, in den untern Ständen, die sich durch ihn geehrt fühlten, in den mittlern, die ihn ehrten, in den obern, die ihn zu sich heraufzogen; so bewundert man, so erfreut man sich an der Humanität im besten Sinne des Wortes, die sich durchaus im nördlichen Deutschland verbreitet hat. Eine gewisse Kultur, die vom Herzen ausgeht, ist daselbst einheimisch wie vielleicht nirgends, er selbst ist ein Kind, eine Ausgeburt dieser Kultur, und es zeugt für die gute Natur jener Gegenden, daß man ihn, unbewußt was man eigentlich sagen wollte, einen Naturdichter nannte. Wir glauben wenigstens hier einen Beweis zu finden, daß eine Bildung die über das Ganze geht, auch dem Einzelnen zu gut kommt, ohne daß man begreift, wie sie ihn berühren kann. Ein Barometer deutet im verschlossensten Zimmer genau den Zustand der äußern Luft an.

Wie dieser auf alle Fälle bedeutende Mensch in Cöthen wuchs und ward, und was er in einer Art von Poesie geleistet, wird ein jeder Deutscher aus der Selbstbiographie und aus den hinzugefügten Gedichten erfahren. Es ist eins der Phänomene, von denen man nicht nur reden hören, sondern die man selbst kennen sollte.

Erfuhr nun aber unser Poet eine verdiente und wünschenswerte Aufnahme in der Hauptstadt und in manchen andern Orten, wozu man ihm allerdings Glück zu wünschen Ursache hat; so muß man doch bedauern, daß ihm manche seiner Gönner dadurch den größten Schaden zugefügt, daß sie, indem seine Produktionen freilich unzulänglich befunden wurden, ihn gleichsam der künftigen Zeit widmeten, hofften und versprachen daß es nun jetzt erst recht angehen solle, und daß ihr einmal gestempelter, und sogar obrigkeitlich anerkannter Naturdichter sich nun gewiß auch als ein vorzüglicher und über allen Zweifel erhobener Dichter durchaus zeigen werde.

Keinesweges im Geiste des Widerspruchs, sondern aus wahrem Anteil an diesem bedeutenden Menschen, erklären wir uns hier für das Gegenteil, und sprechen ganz unbewunden aus, daß er nie etwas besseres machen werde, als er schon geliefert hat. Wir sagen dieses mit Wohlwollen gegen ihn voraus. Denn wenn er zwei oder drei Jahre hindurch, nur immer das was seinem Talent gemäß ist, hervorbringt und wieder hervorbringt, und die falschen Hoffnungen seiner Freunde nicht realisiert; so beschämt er sie und wird verlassen, ja vernichtet, ohne um ein Haar schlimmer zu sein, als jetzt. Dann, ehe man sich's versieht, ist er, ohne seine Schuld, verschollen und hat nicht einmal sich zu einer bürgerlichen Existenz heran gebracht, innerhalb welcher er sich über einen verlornen Ruhm trösten könnte.

Wir sind in Deutschland sehr verständig und haben guten Willen, beides für den Hausgebrauch; wenn aber einmal etwas Besondres zum Vorschein kommt, so wissen wir gar nicht, was wir damit anfangen sollen und der Verstand wird albern und der gute Wille schädlich. Es ließen sich höchst traurige, ja tragische Beispiele anführen, wie vorzügliche Menschen aus einem niedern Zustande durch verwundernde, betuliche und wohlwollende Gönner hervorgezogen, in das größte Unglück geraten sind, bloß darum, weil man nur halb tat, was zu tun war. Wäre es doch besser die Schiffbrüchigen versinken zu lassen, als sie ans Ufer schleppen, um sie dort der Kälte, dem Hunger und allen tödlichen Unbilden preis zu geben.

Leider sehen wir uns in der eigentlichen deutschen wirklichen Welt vergebens nach einem Plätzchen um, wo wir diesen besondern Mann unterbringen könnten; aber unsre Einbildungskraft spiegelt uns in der Höhe und Ferne zwei Zustände vor, in welchen unser Günstling ein gemäßes, seinem Wesen behagliches Leben führen würde, wenn sie für ihn erreichbar wären.

Haben wir oben vielleicht einigen unserer Leser dadurch Unmut erregt, daß wir den Mann beinahe zu hoch schätzten, daß wir ihn dem Socrates verglichen; so können wir unser Wort deswegen nicht ganz zurücknehmen, aber wir wollen es mildern, indem wir sagen, daß eine solche Erscheinung der Rechtlichkeit, Sittlichkeit, der Unbestechlichkeit, wenn sie aus dem gemeinen Volke hervortritt, am liebsten mit etwas Lächerlichem und Fratzenhaften begleitet aufgenommen wird.

Führte also der gute Genius unsern jungen Mann so, daß er eine Art von Till werden könnte, so wäre er geborgen. Socrates-Till läßt sich vielleicht recht gut verdeutscht für Socrates Mänomenos setzen. Ist auch unser Kandidat für diesen Posten vielleicht ein wenig zu zahm, so finden sich die erforderlichen Qualitäten nach und nach, wenn nur die Anlage gründlich ist. Und wie er sich bisher gezeigt, fehlt ihm kein's der Erfordernisse zu einem ernst-lustigen Rat.

Seine Geburt, sein Herankommen, sein Stand, seine Beschäftigung, sein Wesen, seine Neigungen stehn ihm durchaus entgegen, daß er irgend in ein Staatsgefüge eingreifen, oder sich zu einer Stelle im Adreßkalender qualifizieren sollte. Ihn dem Ackerbau widmen, der Scholle zueignen, wäre unerlaubt, selbst wenn er aus Irrtum zu einem solchen festen und sicher scheinenden Besitz einige Neigung fühlte. Er ist eine Art von Hurone, der eben deswegen und nur in sofern gefällt. Dabei hat er richtigen Sinn, Klarheit, Klugheit und nicht mehr Duldung, als gerade nötig ist. Er sieht die Verhältnisse recht gut, und wenn er auf seinen Reisen als ein Meteor glücklich in alle Kreise eindringt; so muß er freilich für gute Bewirtung und reichliche Pränumeration dankbar sein. Doch wenn seine Wirte und Wirtinnen es ihm nicht ganz nach dem Sinne machen, so schenkt er ihnen nichts, und hat gewisse platte Behandlungen, ohne Bosheit in seiner Biographie recht lebhaft dargestellt.

Man denke sich ihn als einen armen beifalls- und hülfsbedürftigen Teufel, der als Pilgrim dem Halberstädter Parnasse entgegen tritt, um daselbst in eine Dichtergilde aufgenommen zu werden; man denke sich ihn, wie er von dem Dechanten und Patriarchen der deutschen Reimkunst mit einem Lobgedicht empfangen wird, das Lobgedicht anhört und sogleich, von frischem Herzen, aus dem Stegereife, Vater Gleimen ins Gesicht sagt, was Deutschland schon seit dreißig Jahren weiß, was aber so viel gesellige Verehrer und so viel Fuß- und Bauchfällige Klienten des einflußreichen Mannes einander nur fromm ins Ohr sagten, daß Vater Gleim sehr schlechte Verse mache; so muß man denn doch bekennen, hier sei Gottes Finger, und der erwählte Prophet, der dieses öffentliche Geheimnis dem alten verstockten Sünder ans Herz legen und dem ganzen Volke buchstäblich verkünden sollte, sei kein gemeines Werkzeug.

Wenn nun ein solcher auf sich gestellter, rücksichtsloser Mensch, indem er aus dem Staube hervortritt, von einer glänzenden und mannigfaltigen Welt sich nicht geblendet noch verwirrt fühlt, vielmehr immerfort alles nur nach seiner eigenen Norm empfindet, und aufnimmt; der sollte doch wohl geeignet sein, eine Stelle zu bekleiden, die sonst an Höfen nicht leicht ausgehen konnte, und die in unsrer Nachbarschaft, selbst ihrer äußern Form nach, bis auf die letzten Zeiten nicht ganz unbesetzt blieb.

Wer erinnert sich nicht eines Gundling, Taubmann, Morgenstern, Pöllnitz, d'Argens, Icilius und mancher andern, welche mit mehr oder weniger äußerer Würde, in guten Stunden dem Herrscher und dem Hofe zum Plastron dienten, und sich dagegen auch als wackre Klopffechter etwas herausnehmen durften.


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