Johann Wolfgang von Goethe
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Ugolino Gherardesca, ein Trauerspiel

Dresden, b. Gerlach: Ugolino Gherardesca, ein Trauerspiel, herausgegeben von Böhlendorf. 1801. 188 S. gr. 8.

Wenn das außerordentliche Genie etwas hervorbringt, das Mit- und Nachwelt in Erstaunen setzt, so verehren die Menschen eine solche Erscheinung durch Anschauen, Genuß und Betrachtung, jeder nach seiner Fähigkeit; allein da sie nicht ganz untätig bleiben können, so nehmen sie öfters das Gebildete wieder als Stoff an, und fördern, welches nicht zu leugnen ist, manchmal dadurch die Kunst.

Die wenigen Terzinen, in welche Dante den Hungertod Ugolinos und seiner Kinder einschließt, gehören mit zu dem höchsten, was die Dichtkunst hervorgebracht hat: denn eben diese Enge, dieser Lakonismus, dieses Verstummen bringt uns den Turm, den Hunger und die starre Verzweiflung vor die Seele. Hiermit war alles getan, und hätte dabei wohl bewenden können.

Gerstenberg kam auf den Gedanken, aus diesem Keim eine Tragödie zu bilden, und obgleich das Große der Dantischen Darstellung durch jede Art von Amplifikation verlieren mußte, so faßte doch Gerstenberg den rechten Sinn, daß seine Handlung innerhalb des Turms verweilt, daß er durch Motive von Streben, Hoffnung, Aussicht den Beschauer hinhält, und innerhalb dieser stockenden Masse einige Veränderung des Zustandes bis zur letzten Hülflosigkeit hervorzubringen weiß. Wir haben ihm also zu danken, daß er etwas gleichsam unmögliches unternommen, und es doch mit Sinn und Geschick gewissermaßen ausgeführt.

Hr. B. war dagegen bei Konzeption seines Trauerspiels ganz auf dem falschen Wege, wenn er sich einbildete, daß man ein politisch-historisches Stück erst ziemlich kalt anlegen, fortführen, und es zuletzt mit dem Ungeheueren enden könne.

Das schlimmste bei der Sache ist, daß gegenwärtiger Ugolino auch wieder zu den Stücken gehört, welche ohne Wallensteins Dasein nicht geschrieben wären. In dem ersten Akte sehen wir statt des zweideutigen Piccolomini, einen sehr unzweideutigen Schelmen von ghibellinischem Erzbischof, der zwar nicht ohne Ursache, doch aber auf tückische und verruchte Weise den Guelfen Ugolino haßt; ihm ist ein schwacher Legat des Papstes zugesellt, und der ganze erste Akt wird darauf verwendet, die Gemüter mehr oder weniger vom Ugolino abwendig zu machen.

Zu Anfang des zweiten Akts erscheint Ugolino auf dem Lande, von seiner Familie umgeben, ungefähr wie ein stiller Hausvater, dessen Geburtstag man mit Versen und Kränzen feiert. Sein ältester Sohn kommt siegreich zurück, um die Familienszene recht glücklich zu erhöhen. Man spürt zwar sogleich einen Zwiespalt zwischen Vater und Sohn, indem der Vater nach der Herrschaft strebt, der Sohn aber die sogenannte Freiheit, die Autonomie der Bürger zu lieben scheint, wodurch man wieder an Piccolomini und Max erinnert wird. Nun kommen die Burgemeister von Pisa, um den auf dem Lande zaudernden hypochondrisierenden Helden nach der Stadt zu berufen, indem ein großer Tumult entstanden, wobei das Volk Ugolinos Palast verbrannt und geschleift. Sie bieten ihm und den Seinigen das Stadthaus zur Wohnung an.

Im dritten Akte erscheint nun ein Nachbild vom Seni, Marco Lombardo, der die ganze Unglücksgeschichte voraussieht. Ugolino hat von dem Senatspalast Besitz genommen und sucht einen Ritter Nino, einen wackern Mann, auch Guelfen, doch in Meinungen einigermaßen verschieden, aus der Stadt zu entfernen, und beraubt sich, indem er einen Halbfreund von sich stößt, des besten Schutzes gegen seinen heimlichen Erzfeind den Ghibellinen Rhugieri. Eine Szene zwischen Vater und Sohn erinnert wieder an die Piccolomini, und damit wir ja nicht aus diesem Kreise kommen, endigt der dritte Akt mit einer geschmückten Tafel, wobei die Handlung um nichts vorwärts kommt, als daß Ugolino seine Gesundheit als Pisas Fürst zu trinken erlaubt. Der Freiheit atmende Franzesco tritt dagegen auf, wodurch ein widersprechend Verhältnis zwischen Vater und Sohn sich lebhaft ausdrückt, und wir uns zu der Mühe verdammt finden, disjecti membra poetae abermals zusammenzulesen.

Im vierten Akt erzählt Ugolino dem Wahrsager einen Traum, wird aber durch den Seher um nichts klüger. Frau und Kinder kommen, die Geburtstagszene wird etwas trauriger wiederholt, endlich findet sich Ugolino im Dom ein, um die Herrschaft zu übernehmen, wo er gefangen genommen, und von dem schwankenden Volke verlassen wird.

Zu Anfang des fünften Akts treten auf einmal in diese prosaische Welt drei Schicksals-Schwestern, und parodieren die Hexen des Macbeths. Dann werden wir in den Hungerturm geführt, wo der Vf. der Leitung Gerstenbergs mehr oder weniger folgt, die Wirkung aber völlig zerstört, indem er die Hungerszene zerstückt, und den Leser wechselsweise in den Turm und auf die Straße führt. Zuletzt wird der Bischof, wunderlich genug, Mitternachts in den Dom gelockt und ermordet, nachdem vorher Ugolinos Geist hinten über das Theater gegangen.

Man darf kühnlich behaupten, daß man im ganzen Stück auf keine poetische Idee treffe. Die historisch-politisch-psychologischen Reflexionen zeugen übrigens von einem mäßigen geraden Sinn. Die Einleitung des tristen Ugolinischen Charakters durch Erzählung seiner unglücklichen Jugend ist gut. Jene oben erwähnte Situation, da sich ein vorzüglicher Mann dadurch ins Unglück stürzt, daß er, Versöhnung heuchelnden Feinden zu Liebe, einen wenig dissentierenden Freund verstößt, und sich des einzigen Schutzes beraubt, wäre dramatisch interessant genug, nur müßte die Behandlung viel tiefer gegriffen werden.

An Aufführung dieses Stücks ist gar nicht zu denken, um so weniger, als es nicht durch theatralische Vorstellung, sondern durch Lektüre Wallensteins eigentlich entstanden sein mag.


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