Johann Wolfgang von Goethe
Briefe von Goethe an Johanna Fahlmer
Johann Wolfgang von Goethe

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Ueberblick.

Fassen wir unsere Eindrücke zusammen, so werden wir den Werth dieser Reihe von Briefen dem Umfang nach höher anzuschlagen haben als die bisher aus dieser Periode bekannt gewordenen. Das Interesse der an Kestner gerichteten reicht über das Jahr 1774 nicht hinaus; die Briefe an Auguste geben in seinen Seelenzustand im Jahre 1775 einen tiefern Einblick, sind aber nicht so unmittelbar natürlich als z. B. Nr. 36; die Briefe an Lavater, so wie die an Knebel und die an Frau v. Stein gehören überwiegend einer spätern Periode an, die übrigen sind vereinzelt. Hier liegt uns mit Ausnahme einiger Monate vom Herbst 1773 bis in das Jahr 1777 hinein ein vollständiges Bild dieser wunderbaren Natur vor Augen, unmittelbarer und vertraulicher als die farbenreiche Schilderung an Auguste; nur die wenigen an Frau Jacobi abgesandten stehen ihnen gleich.

Und welcher Natur? einer unendlich liebenswürdigen, sanguinisch beweglichen, aber einer echten und unermeßlich reichen. Die Liebe zur Mutter, der Respekt vor dem Vater, die wärmste Freundschaft, die flüchtigen und die dauernden Neigungen spricht er einer schwesterlichen Seele gegenüber aus.

Zugleich geben sie manche Züge zur Geschichte des Verfassers und der Litteratur. Für die erstere folgende: vor Allem die Liebe zu Lili, dann die Chronologie und Art der Schweizerreise, seine Geldnöthe, seine Stellung in Weimar, die Sammlung und Sinnesänderung im Jahre 1777. (Auch die Aeußerungen Henriettens über Goethe's Frau und Sohn wird man nicht ungern lesen.) Seine Beziehungen zu Wieland, der Respekt, die Verachtung, die Zuneigung folgen auf einander; der Bund mit Jacobi und die auftauchende Verstimmung; die innige Liebe zu Lenz gehen vor unsern Augen vorüber. Ueber Goethe's litterarische Beschäftigungen erfahren wir Näheres, über das Liegenbleiben von Claudine Auskunft, über die Entstehung der Stella in zwei Absätzen wenigstens Andeutungen, über seine Nichtbetheiligung an der Satire Prometheus Gewißheit.

Wie gering erscheinen die Schatten in diesem Lichtbilde! Tadelnswerth ist eigentlich nur die Gleichgültigkeit, womit er die Bilder von Elzheimer sofort an den Herzog verschenkt, und der Mangel einer Beileidsbezeugung nach Schlossers Tode. Sie gehören zum Alcibiadischen in seinem Wesen, wie es Johanna treffend bezeichnet. Ob sie Recht hatte, wenn sie meint, Goethe könne nicht glücklich sein? Kaum. Denn auch ihr Inneres hatte sich in der Ehe mit Schlosser und in dem Gefühl der Verschiedenheit beider Charaktere ihm entfremdet. Doch hat sie den Jugendfreund treu im Herzen behalten.

Endlich wirkt die Sprache bezaubernd. Die Briefe von der Reise zeigen die wärmste Frische der Naturempfindung, und die beiden ersten Zettel könnten im Werther stehen. Der Ausdruck fließt von den Lippen des Dichters, die reichen Bilder sind immer der unmittelbarsten Gegenwart entnommen – er fährt Schlitten, läuft auf dem Eise, führt das Ruder im Kahn – und treffen somit die reellste Bezeichnung seiner Stimmung. Aber so schnell sie ihm zuströmen, seine Gedanken und Gefühle jagen sich noch schneller, und mit Zeichnungen, Interjectionen Ausrufungszeichen, Gedankenstrichen wird nachgeholfen. In Weimar glättet sich der Wasserfall zum rasch, aber ebenfließenden Strom; der Brief aus Rom zeigt uns den ruhigen See, auf dem fortan das stolze Schiff des reifen Meisters dahin fahren wird.


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