Johann Wolfgang von Goethe
Biographische und autobiographische Schriften 1792 - 1797
Johann Wolfgang von Goethe

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[Selbstschilderung]

Immer tätiger nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz; hat man den gefaßt, so lösen sich alle übrigen anscheinenden Widersprüche. Da dieser Trieb rastlos ist so muß er um sich nicht stofflos selbst zu verzehren sich nach außen wenden und da er nicht beschauend sondern nur praktisch ist nach außen gerichtet entgegen wirken. Daher die vielen falschen Tendenzen zur bildenden Kunst zu der er kein Organ, zum tätigen Leben wozu er keine Biegsamkeit, zu den Wissenschaften wozu er nicht genug Beharrlichkeit hat; da er sich aber gegen alle drei bildend verhält auf Realität des Stoffs und Gehalts und auf Einheit und Schicklichkeit der Form überall dringen muß so sind selbst diese falschen Richtungen des Strebens nicht unfruchtbar nach außen und innen; in den bildenden Künsten arbeitet er so lange bis er sich den Begriff sowohl der Gegenstände als der Behandlung eigen machte und auf den Standpunkt gelangte wo er sie zugleich übersehen und seine Unfähigkeit dazu einsehen konnte, seine teilnehmende Betrachtung ist dadurch erst rein geworden; in Geschäften ist er brauchbar wenn dasselbe einer gewissen Folge bedarf und zuletzt auf irgend eine Weise ein dauerndes Werk daraus entspringt oder wenigstens unter weges immer etwas gebildetes erscheint; bei Hindernissen hat er keine Biegsamkeit aber er gibt nach er widersteht mit Gewalt er dauert aus oder er wirft weg je nachdem seine Überzeugung oder seine Stimmung es ihm im Augenblicke gebieten; er kann alles geschehen lassen was geschieht und was Bedürfnis Kunst und Handwerk hervorbringen, nur dann muß er die Augen wegkehren, wenn die Menschen nach Instinkt handeln und nach Zwecken zu handeln sich anmaßen. Seitdem er hat einsehen lernen daß es bei den Wissenschaften mehr auf die Bildung des Geists der sie behandelt als auf die Gegenstände selbst ankommt seitdem hat er das was sonst nur ein zufälliges unbestimmtes Streben war, hat er dieser Geistestätigkeit nicht entsagt sondern sie nur mehr reguliert und lieber gewonnen; so wie er sich jenen andern beiden Tendenzen die ihm teils habituell teils durch Verhältnisse unerläßlich geworden sich nicht ganz entzieht sondern sie nur mit mehr Bewußtsein und in der Beschränkung die er kennt, gelegentlich ausübt um so mehr da das was eine Geisteskraft mäßig ausbildet einer jeden andern zu statten kommt. Den besondern Charakter seines poetischen Bildungstriebes mögen andere bezeichnen; leider hat sich seine Natur sowohl dem Stoff als der Form nach durch viele Hindernisse und Schwierigkeiten ausgebildet und kann erst spät mit einigem Bewußtsein wirken indes die Zeit der größten Energie vorüber ist. Eine Besonderheit die ihn sowohl als Künstler als auch als Menschen immer bestimmt ist die Reizbarkeit und Beweglichkeit welche sogleich die Stimmung von dem gegenwärtigen Gegenstand empfängt, und ihn also entweder fliehen oder sich mit ihm vereinigen muß; so ist es mit Büchern mit Menschen und Gesellschaften, er darf nicht lesen ohne durch das Buch gestimmt zu werden er ist nicht gestimmt ohne daß er, die Richtung sei ihm so wenig eigen als möglich, tätig dagegen zu wirken und etwas ähnliches hervorzubringen strebt.

 


 


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