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Das Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder

Es ist die Kammer neben der des Verlorenen, nicht gerade klein, mit leeren Wänden. Eine Lampe in der Hand, nähert sich der Verlorene dem Bett, wo sein jüngerer Bruder ruht, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Er beginnt mit leiser Stimme, um das Kind, wenn, es schläft, nicht in seinem Schlummer zu stören.

»Ich möchte mit dir sprechen, mein Bruder.«

»Was hindert dich daran?«

»Ich glaubte, du schliefst.«

»Man braucht nicht zu schlafen, um zu träumen.«

»Du träumtest; wovon denn?«

»Was kümmerts dich. Wenn schon ich meine Träume nicht versteh, so wirst du, glaub ich, kaum imstande sein, sie mir auszulegen.«

»Sie sind also sehr eigen. Wenn du sie mir erzählst, ich wills versuchen.«

»Kannst du dir deine Träume wählen? Die meinen sind, was ihnen einfällt, und haben mehr Freiheit als ich ... Was willst du übrigens hier? Was störst du mich in meinem Schlaf?«

»Du schläfst nicht, und ich komme im Guten mit dir sprechen.«

»Was hast du mir zu sagen?«

»Nichts, wenn du diesen Ton anschlägst.«

»Dann lebwohl.«

Der Verlorene geht auf die Türe zu, aber er stellt nur die Lampe auf die Erde, die das Zimmer so nur noch schwach erleuchtet, dann kommt er zurück, setzt sich auf den Bettrand, im Halbdunkel, und streichelt lange die abgewendete Stirn des Kindes.

»Du antwortest mir schärfer, als ich je deinem Bruder geantwortet habe. Und ich war doch auch voller Widerspruch gegen ihn.«

Das trotzige Kind hat sich heftig aufgerichtet.

»Sag: schickt dich unser Bruder?«

»Nein, mein Kleiner, nicht er, unsere Mutter.«

»Ah, von selbst wärst du nicht gekommen.«

»Aber ich komme dennoch als Freund.«

Halb aufgesetzt in seinem Bett, starrt das Kind den Verlorenen an.

»Wie brächte es einer von den Meinigen zuwege, mein Freund zu sein?«

»Du irrst dich in unserem Bruder ...«

»Sprich mir nicht von ihm. Ich hasse ihn ... Von ganzem Herzen ist er mir zuwider. Er ist der Grund, daß ich dir hart geantwortet habe.«

»Aber wie denn?«

»Du wirst das nicht begreifen.«

»Trotzdem, sprich ...«

Der Verlorene zieht den Bruder an sich und wiegt ihn leise, und das halberwachsene Kind hält sich nicht länger zurück:

»Am Abend, da du heimkehrtest, war es mir nicht möglich zu schlafen. Die ganze Nacht dachte ich: Ich hatte noch einen Bruder, und ich wußte es nicht ... Deshalb hat mir das Herz so stark geklopft, als ich dich hereinkommen sah, in den Hof des Hauses, ruhmbedeckt.«

»Ach! bedeckt mit Lumpen, wie ich war.«

»Ja, ich habe dich gesehen, und doch schon ruhmvoll. Und ich habe gesehen, was unser Vater tat: er hat an deinen Finger einen Ring gesteckt, einen solchen, wie ihn unser Bruder nicht besitzt. Ich wollte niemanden über dich befragen. Ich wußte nur, daß du von sehr weit kamst, und dein Blick, bei Tisch ...«

»Warst du denn dabei?«

»Oh, ich weiß wohl, daß du mich nicht gesehen hast. Während des ganzen Essens war dein Blick in der Ferne, ohne etwas zu sehen. Auch, daß du am zweiten Abend mit dem Vater gesprochen hast, war gut – aber am dritten ...«

»Sprich ...«

»Ach, wenn es nur ein liebes Wort gewesen wäre, du hättest wohl kommen können und es mir sagen.«

»Hast du mich denn erwartet?«

»Und wie! Glaubst du, ich würde unseren Bruder so hassen, wenn du nicht an jenem Abend so endlos mit ihm gesprochen hättest. Was könnt ihr euch denn zu sagen gehabt haben? Du weißt wohl, wenn du Ähnlichkeit mit mir hast, so kannst du mit ihm nichts gemein haben.«

»Ich hatte schweres Unrecht gegen ihn begangen.«

»Ist es möglich?«

»Wenigstens gegen unseren Vater und unsere Mutter. Du weißt, daß ich aus dem Haus geflohen war.« »Ja, ich weiß. Es ist lange her, nicht wahr?«

»Ungefähr als ich so alt war wie du.«

»So. Und das nennst du dein Unrecht.«

»Ja, das war mein Unrecht, meine Sünde.«

»Als du weggingst, fühltest du da, daß du schlecht handeltest?«

»Nein; ich fühlte in mir etwas wie eine Verpflichtung, fortzugehen.«

»Und was ist denn seither geschehen, daß aus deiner Wahrheit von damals Irrtum wurde?«

»Ich habe gelitten.«

»Und deshalb sagst du: ich hatte unrecht?«

»Nein, nicht gerade deshalb; aber das hat mich zur Besinnung gebracht.«

»Früher also bist du nie zur Besinnung gekommen?«

»Doch, aber meine schwache Vernunft war nachgiebig gegen meine Begierden.«

»Wie später gegen das Leiden. So daß du heute zurückkehrst ... überwunden.«

»Nein, nicht eigentlich; – ergeben.«

»Mit einem Wort, du hast darauf verzichtet, der zu sein, der du sein wolltest.«

»Der, der ich, meinem Hochmut nach, zu sein glaubte.«

Das Kind verharrt eine Weile schweigend, dann schluchzt es auf und schreit:

»Mein Bruder, ich bin der, der du warst, als du weggingst. Oh, sag: War alles Trug auf deinen Wegen? Meine Ahnung von dem da draußen, das anders ist als das hier, ist also nichts als Täuschung? Was ich Neues in mir fühle – Wahnsinn? Sprich: Was hast du denn so völlig Entmutigendes auf deinem Weg getroffen? Was war schuld, daß du umkehrtest?«

»Die Freiheit, die ich suchte, ging mir verloren; einmal in Gefangenschaft, mußte ich dienen.«

»Ich bin hier in Gefangenschaft.«

»Ja, aber schlimmen Herren dienen. Hier dienst du deinen Eltern.«

»Ach, dienen ist dienen; hat man nicht wenigstens die Freiheit, sich seine Knechtschaft zu wählen?«

»Das hoffte ich. So weit meine Füße mich trugen, wanderte ich, auf der Suche nach meiner Sehnsucht, wie Saul auf der Suche nach seinen Eselinnen. Aber dort, wo ein Königreich auf ihn wartete, dort hab ich das Elend gefunden. Und dennoch ...«

»Hast du auch nicht den Weg verfehlt?«

»Mein Ich ging vor mir her.«

»Bist du sicher? Und doch gibt es andere Königreiche und Länder ohne König, die noch zu entdecken sind.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Ich weiß es. Ich fühle es. Ich seh mich schon dort herrschen.«

»Hochmütiger!«

»Sieh, da ist das Wort, das dir unser Bruder gesagt hat. Wie kommst du jetzt dazu, es mir zu sagen? Hättest du dir nur diesen Hochmut bewahrt! Du wärst nicht zurückgekehrt.«

»Dann hätte ich dich nie gekannt.«

»Doch, doch, dort draußen, wohin ich dir nachgekommen wäre, dort würdest du mich schon erkannt haben als deinen Bruder. Ja, mir ist doch jetzt zumut, als wärs, um dich wiederzufinden, daß ich fortgehe.«

»Daß du fortgehst?«

»Hast du es nicht begriffen? Ermutigst du mich nicht selbst, fortzugehen?«

»Ich möchte dir die Rückkehr sparen ... aber dadurch, daß ich dir den Aufbruch erspare.«

»Nein, nein, sag mir das nicht; nein, das willst du ja gar nicht sagen. Du bist doch auch – nicht wahr? – du bist wie ein Eroberer ausgezogen?«

»Darum empfand ich meine Knechtschaft nur um so härter.«

»Warum hast du dich dann unterworfen? Warst du schon müde?«

»Nein, noch nicht; aber ich war im Zweifel.«

»Was meinst du damit?«

»Im Zweifel an allem, an mir selbst. Ich wollte bleiben, mich irgendwo anschließen. Der Halt, den mir dieser Meister versprach, war eine Versuchung für mich. Ja, jetzt sehe ich es wohl ein: ich bin schwach gewesen.«

Der Verlorene neigt das Haupt und verbirgt den Blick in seinen Händen.

»Aber im Anfang?«

»Ich war lange gewandert über die große, noch ungebändigte Erde.«

»Die Wüste?«

»Nicht immer war es die Wüste.«

»Was hast du da gesucht?«

»Ich versteh es selber nicht mehr.«

»Steh auf von meinem Bett. Sieh auf den Tisch dort hinter meinem Kissen, bei dem altmodischen Buch.«

»Ich seh einen offenen Granatapfel.«

»Den hat mir der Schweinehirt gebracht neulich abends; drei Tage war er nicht nach Haus gekommen.«

»Ja, das ist ein wilder Granatapfel.«

»Ich weiß. Er ist von einer Bitterkeit, beinah furchtbar; und doch, ich fühle, wenn ich nur genügend Durst hätte, ich würde hineinbeißen.«

»Ah, so kann ich es dir jetzt sagen: Was ich suchte in der Wüste, war dieser Durst.«

»Ein Durst, den nur diese Frucht löscht, die ohne Süße ist ...«

»Nein, aber man liebt diesen Durst um ihretwillen.«

»Weißt du, wo man sie holt?«

»Ein kleiner verlassener Garten ist da; man kommt gegen Abend hin. Keine Mauer schließt ihn mehr ab nach der Wüste. Ein Bach floß dort vorbei. Ein paar Früchte, halbreif, hingen an den Zweigen.«

»Was für Früchte?«

»Die gleichen, wie in unserm Garten, nur wild. Es war den ganzen Tag über sehr heiß gewesen.«

»Hör zu. Weißt du, warum ich dich heute abend erwartete? Eh die Nacht um ist, geh ich. Diese Nacht; diese Nacht, sowie sie anfängt zu verblassen ... Mein Gürtel ist geschnallt, ich habe die Sandalen anbehalten.«

»Was! Du willst tun, was ich nicht konnte?«

»Du hast mir den Weg aufgetan. Der Gedanke an dich wird mir beistehn.«

»Ich kann dich nur bewundern. Du dagegen mußt mich vergessen. Was nimmst du mit?«

»Du weißt wohl, ich, als der Jüngere, habe keinen Anteil am Erbe. Ich gehe ohne alles.«

»Besser so.«

»Was siehst du denn nach dem Fenster?«

»Den Garten seh ich, wo unsere Toten ruhen.«

»Mein Bruder ... (und das Kind, das vom Bett aufgestanden ist, schmiegt den Arm um den Hals des Verlorenen, und es legt dieselbe Zärtlichkeit in diese Gebärde und in seine Stimme) ... komm mit mir!«

»Laß mich, laß mich; ich will bleiben und unsere Mutter trösten. Ohne mich wirst du tapferer sein. Es ist Zeit jetzt. Der Himmel bleicht. Geh, ohne Lärm. Komm! Küß mich, mein junger Bruder. Du nimmst alle meine Hoffnungen mit dir. Sei stark. Vergiß uns, vergiß mich. Mögst du nicht wiederkommen ... Steig leise hinab. Ich halte die Lampe.«

»Gib mir wenigstens noch die Hand bis an die Tür.«

»Achtung bei den Stufen auf dem Vorplatz ...«


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