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Die Gefangenschaft des Prometheus

I

Wenige Tage später sah sich Prometheus, von der freundschaftlichen Fürsorge des Kellners denunziert, als Zündholzfabrikant ohne obrigkeitliche Erlaubnis im Gefängnis. Das lag ganz abseits von der Welt und gab nur Aussicht auf den Himmel; von aussen sah es aus wie ein Turm, und drinnen langweilte sich Prometheus.

Der Kellner kam ihn besuchen.

Oh! sprach zu ihm Prometheus und lächelte, wie freue ich mich, Sie zu sehen! Ich langweile mich sehr. Sie kommen von draussen, erzählen Sie mir was; die Gefängnismauern trennen mich von allem und ich erfahre nichts mehr von den Andern. Was machen sie? – Und vor allem – was machen Sie?

Seit Ihrem Skandal, antwortete der Kellner, fast nichts; es kommt kein Mensch mehr zu uns. Man hat viel Zeit verloren mit der neuen Fensterscheibe, die man einsetzen musste.

Ich bin untröstlich darüber, sagte Prometheus; – aber doch wenigstens Damokles? Haben Sie Damokles wiedergesehen? Er verliess damals so schnell das Restaurant; ich konnte ihm nicht Adieu sagen, was ich bedaure. Denn er schien ein sanfter Mensch zu sein, voll Anstand und Zartgefühl; er sprach von seinen Leiden mit kunstloser Einfachheit und er rührte mich. – War er wenigstens als er den Tisch verliess wieder heiter?

Das war nicht von Dauer, sagte der Kellner. Ich sah ihn am nächsten Tag und seine Unruhe war eher schlimmer. Während er mit mir sprach weinte er. Was ihn besonders beunruhigt ist der Gesundheitszustand des Kokles.

Geht es ihm denn schlecht? fragte Prometheus.

Dem Kokles? Ach nein, antwortete der Kellner. Ich möchte fast sagen: Er sieht besser, seitdem er nur mehr mit einem Auge sieht. Er zeigt jedem Menschen sein Glasauge und ist glücklich, wenn man ihn bemitleidet. Wenn Sie ihn wiedersehen sollten, sagen Sie ihm, dass ihm sein neues Auge famos steht, dass er es nicht ohne Grazie trägt; aber fügen Sie hinzu, dass er sehr gelitten haben müsse ...

Er leidet also?

Davon, dass man es ihm nicht sagt – ja, vielleicht.

Aber wenn es Kokles gut geht, wenn er nicht einmal leidet, worüber beunruhigt sich denn Damokles?

Dass Kokles hätte leiden müssen.

Sie empfahlen mir doch gerade, zu sagen ...

Zu sagen, ja, aber Damokles denkt es; und das bringt ihn um.

Und was macht er sonst?

Nichts. Diese einzige Beschäftigung erfüllt ihn völlig. Unter uns: er ist ein Mann, der sich verzehrt. – Er sagt, dass ohne seine 500 Franks Kokles nicht unglücklich wäre.

Und Kokles?

Der sagt es auch ... Übrigens ist er sehr reich geworden.

Wieso?

Ich weiss nicht recht; – aber man hat ihn in den Zeitungen sehr bedauert; man hat zu seinen Gunsten eine Kollekte eröffnet.

Und was macht er damit?

Er ist ein Geriebener. Mit dem Geld, das ihm die Kollekte einbringt, will er ein Hospiz gründen.

Ein Hospiz?

Ein ganz kleines, ja; für die Einäugigen. Er hat sich zum Direktor ernannt.

Sie interessieren mich lebhaft, rief Prometheus.

Das hoffte ich, sagte der Kellner ...

Und was ist mit ... dem Müllionär?

Ach der! Glauben Sie, dass den das alles irgendwie bekümmert? Er ist wie ich: er beobachtet ... Wenn es Ihnen Vergnügen macht, will ich ihn Ihnen vorstellen – wenn Sie wieder da heraus sind ...

Übrigens, begann Prometheus endlich, weshalb bin ich denn hier? Wessen klagt man mich an? Wissen Sie es, Kellner, der Sie so viel wissen?

Wahrhaftig: nein, heuchelte der Kellner. Ich weiss nur das eine, dass dies bloss Untersuchungshaft ist. Wenn man Sie verurteilt haben wird, werden Sie wissen warum.

Um so besser, sagte Prometheus, ich ziehe es immer vor, genau zu wissen.

Adieu, sagte da der Kellner; es wird spät. Merkwürdig, wie einem mit Ihnen die Zeit vergeht ... Aber sagen Sie mal: Ihr Adler, was ist aus dem geworden?

Ich dachte gar nicht mehr an ihn, sagte Prometheus. Und, nachdem der Kellner fort war, begann Prometheus an seinen Adler zu denken.

 

Er muss wachsen und ich muss abnehmen

Und als Prometheus sich langweilte, rief er am Abend seinen Adler. – Der Adler kam.

Ich habe lange auf dich gewartet, sagte Prometheus.

Warum hast du mich nicht früher gerufen? antwortete der Vogel.

Zum erstenmal betrachtete Prometheus seinen Adler, der sich auf die Gitterstäbe des Fensters niedergekauert hatte. In der goldenen Abendsonne sah er noch viel matter und glanzloser aus; er war grau, hässlich, verkümmert, verdrüsslich, elend, resigniert, er schien zu schwach zum Fliegen; als Prometheus das sah, weinte er aus Mitleid über seinen Adler.

Treuer Vogel, du scheinst zu leiden – sag: was fehlt dir?

Ich habe Hunger.

Iss, sagte Prometheus und deckte seine Leber auf.

Der Vogel ass.

Du tust mir weh, sagte Prometheus.

Aber der Adler sprach an diesem Tage kein Wort mehr.

 

II

Am andern Morgen im Tagesgrauen schon verlangte es Prometheus nach seinem Adler; er rief ihn aus den tiefen Röten des Tagerwachens, und der Adler kam mit der Sonne. Er hatte drei Federn mehr. Prometheus schluchzte vor Zärtlichkeit.

Wie spät du kommst, sagte er und streichelte die Federn.

Das ist, weil ich noch nicht schnell genug fliegen kann. Ich schleife den Boden ...

Weshalb?

Ich bin so schwach.

Was brauchst du, um schnell zu fliegen?

Deine Leber.

Hier; iss.

Aber am nächsten Morgen hatte der Adler acht Federn mehr; und wenige Tage darauf kam er der Morgenröte zuvor. Prometheus aber magerte ab.

Erzähl mir von draussen, sprach Prometheus zu ihm, was geschieht aus den andern?

O! jetzt schwebe ich, antwortete der Adler; jetzt weiss ich nichts mehr als den Himmel und dich.

Seine Schwingen waren langsam weit und stark geworden.

Schöner Vogel, was erzählst du diesen Morgen?

Ich habe meinen Hunger in den Lüften spazieren geführt.

Adler! Wirst du niemals weniger grausam sein?

Nein! Aber ich kann sehr schön werden.

Prometheus, verliebt in die künftige Schönheit seines Adlers, gab ihm jeden Tag mehr zu essen.

Und eines Abends ging der Adler nicht mehr fort.

Auch den nächsten Tag nicht.

Der Adler gab dem Gefangenen die Wunden und dieser ihm die Zärtlichkeit seiner Liebkosung. Und Prometheus wurde mager und verzehrte sich in Liebe, da er tagüber die Federn streichelte, des Nachts unter dem Flügel schlief und ihn fressen liess, wie er wollte.

Süsser Adler! wer hätte das gedacht?

Was denn?

Dass unsere Liebe so köstlich sein würde.

Ach, Prometheus ...

Du weisst es, sag, du, mein süsser Adler! warum bin ich hier eingesperrt?

Was liegt daran? Bin ich es denn nicht mit dir?

Ja; was liegt mir daran! Bist du aber zufrieden mit mir, schöner Adler?

Ja, wenn du mich sehr schön findest.

 

III

Der Frühling kam; und um die Gitter des Turmes blühten duftende Glycinien.

Eines Tages werden wir gehen, sagte der Adler.

Wirklich? rief Prometheus aus.

Denn ich bin sehr stark geworden; du so mager; und so kann ich dich tragen.

Adler, mein Adler ... trag mich.

Und der Adler trug Prometheus fort.

Ein Kapitel in Erwartung des folgenden Kapitels

An diesem Abend trafen sich Kokles und Damokles und plauderten miteinander; natürlich fühlten sie sich etwas geniert.

Was wollen Sie, meinte Kokles, unsere Gesichtspunkte sind entgegengesetzte.

Erlauben Sie, erwiderte Damokles. Ich möchte ja nur, dass wir uns verstehen.

Das sagen Sie, aber Sie verstehen sich nur selber.

Und Sie, Sie hören mich nicht einmal an.

Ich weiss alles, was Sie sagen wollen.

So sagen Sie es doch, wenn Sie es wissen.

Sie behaupten es besser zu wissen als ich.

Mein Gott, Kokles, Sie geraten in Ärger; – aber, um Himmelswillen, sagen Sie mir: was soll ich tun?

Absolut nichts mehr für mich, ich bitte Sie darum; Sie haben mir ein Glasauge zugezogen ...

Natürlich aus Glas, es gibt nichts besseres, teurer Kokles.

Ja, nachdem Sie mich blind gemacht haben.

Doch nicht ich, Teuerster!

Übrigens, das ist das Geringste; und dann, Sie waren in der Lage, es zu bezahlen – dank meiner Ohrfeige.

Kokles! Vergessen wir das Vergangene! ...

Natürlich passt es Ihnen, das zu vergessen.

Das wollte ich nicht sagen.

Aber was wollen Sie denn sagen? Was denn eigentlich?

Sie hören mir ja nicht zu.

Weil ich weiss, was Sie sagen wollen! ...

Die Unterhaltung, welche aus Mangel an neuem Stoff eine unangenehme Wendung zu nehmen drohte, wurde plötzlich dadurch unterbrochen, dass die beiden auf ein umfangreiches Plakat aufmerksam wurden. Und da war zu lesen:

 

Diesen Abend 8 Uhr im
Saale der Nouvelles Lunes
wird
Der befreite Prometheus
von seinem
Adler
sprechen.

Um 8½ Uhr wird der Adler einige Touren ausführen.
Um 9 Uhr wird durch den Kellner eine Kollekte vorgenommen werden zugunsten von Kokles' Asyl.

 

Das muss man sich ansehen, sagte Kokles.

Ich gehe mit Ihnen, sagte Damokles.

 

IV

Punkt 8 Uhr trat die Menge in den Saal der Nouvelles IV Lunes.

Kokles setzte sich in das linke Zentrum, Damokles in das rechte; der übrige Teil des Publikums in die Mitte. Donnernder Applaus begrüsste den Eintritt Prometheus; er kletterte die Stufen der Estrade hinan, setzte sich den Adler zur Seite und richtete sich. Im Saale ängstliche Stille ...

 

Die Petitio Principii

Meine Herren, fing Prometheus an, ich habe nicht die Pretention, Sie mit dem zu interessieren, was ich Ihnen sagen will, und deshalb nahm ich diesen Adler mit mir. Nach jeder langweiligen Stelle meiner Rede wird er Ihnen ein bisschen vorfliegen. Ich habe auch obscöne Photographien und Raketen bei mir: bei den ernsteren Momenten meiner Rede werde ich dafür sorgen, das Publikum damit zu zerstreuen. So darf ich also auf einige Aufmerksamkeit hoffen, meine Herren.

An jedem Wendepunkte meiner Rede werde ich, werte Versammlung, die Ehre haben, Sie der Fütterung meines Adlers beiwohnen zu lassen – denn, meine Herren, meine Rede hat drei Teile; ich glaubte, diese Form nicht zurückweisen zu dürfen, die meinem klassischen Geiste gefällt. – Und dies zum Eingang gesagt, nenne ich nun sofort ohne viel Wortgepränge die beiden ersten Punkte meiner Rede:

Erster Punkt: Man muss einen Adler haben.

Zweiter Punkt: Im übrigen haben wir alle einen.

Fürchtend, dass Sie mich der Parteilichkeit beschuldigen, meine Herren; fürchtend auch, die Freiheit meines Gedankenganges zu stören, habe ich meine Rede nur über diese beiden Punkte ausgearbeitet; der dritte wird sich ungezwungen aus den beiden andern ergeben; ich lasse da der Begeisterung ihre Rechte. – Zum Schluss, meine Herren, wird der Adler einsammeln.

Bravo! Bravo! schrie Kokles.

Prometheus nahm einen Schluck Wasser. Der Adler flog pirouettierend dreimal um Prometheus, dann grüsste er. Prometheus blickte in den Saal, lächelte Damokles zu, Kokles zu, und da sich noch kein Zeichen der Langweile bemerkbar machte, hob er die Raketen für später auf und begann:

 

V

Welch rednerisches Geschick ich auch immer hineinlege, weiss ich doch nicht, meine Herren, wie ich vor Ihrem klarsehenden Geiste mit dieser petitio principii zurechtkomme, die mich am Beginn meiner Rede erwartet. Meine Herren, wir können jedes tun, was wir wollen, wir entgehen nicht der petitio principii. Ich frage nun: was ist eine petitio principii? Meine Herren, ich wage zu sagen: jede petitio principii ist eine Bejahung des Temperaments; denn wo die Prinzipien fehlen, da behauptet sich das Temperament.

Wenn ich erkläre: Man muss einen Adler haben, so können Sie alle ausrufen: «Wozu? – Nun, was wollen Sie, das ich antworte und das sich nicht auf diese Formel der Behauptung meines Temperaments zurückführen Hesse: Ich liebe die Menschen nicht, ich liebe, was sie vernichtet.

Das Temperament, meine Herren, ist es, was sich behaupten muss. Eine neue petitio principii, werden Sie sagen. Aber ich bewies, dass jede petitio eine Behauptung des Temperamentes ist. Und wie ich sagte, dass man sein Temperament behaupten muss (denn es gebietet es), so wiederhole ich: ich liebe die Menschen nicht; ich liebe, was sie vernichtet. – «Was nun vernichtet den Menschen? Sein Adler. Darum, meine Herren, muss man einen Adler haben. Ich denke das zur Genüge bewiesen zu haben ... Pardon, meine Herren, ich sehe, dass ich Sie langweile; einige von Ihnen gähnen. Ich könnte nun, es ist wahr, einige Spässe einfügen; aber Sie würden das gezwungen finden; ich habe eine unheilbar ernsthafte Geistesverfassung. – Ich ziehe es daher vor, einige von den freien Photographien zirkulieren zu lassen; sie werden die beruhigen, die meine Worte langweilen; was mir erlauben wird fortzufahren.

Prometheus nahm einen Schluck Wasser. Der Adler flog pirouettierend dreimal um Prometheus und grüsste dann. Prometheus fuhr fort:

 

Fortsetzung der Rede Prometheus

Meine Herren, ich habe meinen Adler nicht immer gekannt. Dies führt mich zu dem Schluss – durch eine Überlegung, die einen mir momentan entfallenen bestimmten Namen in der Logik hat, die ich übrigens erst seit acht Tagen studiere – mich zu dem Schluss, sage ich, dass, wenn auch der einzige hier anwesende Adler der meinige ist, Sie doch alle einen haben.

Ich habe bis jetzt über meine Geschichte geschwiegen, die ich übrigens bis jetzt auch nicht ganz gut verstanden habe. Und wenn ich mich jetzt entschliesse, sie Ihnen zu erzählen, so ist es, weil sie mir durch meinen Adler nun so wunderbar erscheint.

 

VI

Meine Herren, ich sagte Ihnen schon, ich sah meinen Adler nicht von je. Vor ihm war ich unbewusst und schön, glücklich und nackt, ohne es zu wissen. Was für Tage! Auf den wasserreichen Gehängen des Kaukasus umarmte mich die lüsterne Asia, nackt und glücklich auch sie. Zusammen wälzten wir uns in die Tiefen der Täler; wir fühlten die Luft singen, das Wasser lachen, die einfachsten Blumen wohlduften. Oft legten wir uns unter breites Geäst, hinein in Blüten, wo flüsternde Bienenschwärme sich wiegten. Asia verband sich mir unter Lachen; dann mengte sich das Summen der Bienen und der Blätter in das Murmeln der Bäche und lud uns zu süssestem Schlafe. Alles um uns erlaubte, alles beschützte unsere aussermenschliche Einsamkeit – da, eines Tages, sprach Asia zu mir: Du solltest dich um die Menschen kümmern.

Da musste ich sie erst suchen gehen.

Ich wollte mich wohl um sie kümmern, aber: es war mit ihnen Mitleid zu haben.

Sie waren wenig aufgehellt; ich erfand einige Beleuchtung für sie; und da begann mein Adler. Es war an jenem Tage, dass ich bemerkte, ich sei nackt.

Bei diesen Worten kam von hier und da im Saale Händeklatschen. Plötzlich brach Prometheus in Tränen aus. Der Adler schlug die Flügel und gurrte. Mit einer grausamen Geste öffnete Prometheus sein Gilet und hielt dem Vogel seine schmerzhafte Leber hin. Der Beifall wurde stärker. Dann flog der Adler pirouettierend dreimal um Prometheus; dieser trank einen Schluck Wasser, richtete sich und fuhr mit folgenden Worten in seiner Rede fort:

 

VII

Meine Herren, meine Bescheidenheit übertreibt; entschuldigen Sie; es ist das erste Mal, dass ich öffentlich spreche. Doch nun soll ihn mein Freimut sich vergessen lassen: meine Herren, ich habe mich viel mehr der Menschen angenommen als ich sagte. Meine Herren, ich habe viel für die Menschen getan. Meine Herren, ich habe die Menschen leidenschaftlich, sinnlos und erbarmungswürdig geliebt. – Ich habe für die Menschen so viel getan, dass ich wohl sagen könnte, sie sind mein Werk; denn: was waren sie vorher? – Sie waren, aber sie hatten kein Wissen davon. – So wie das Feuer, um ihnen zu leuchten, so, meine Herren, machte ich ihnen aus all meiner Liebe das Wissen um sich selber. – Das erste Wissen war das um ihre Schönheit. Und dieses Wissen um ihre Schönheit liess sie sich fortpflanzen. Der Mensch lebte sich weiter in seinen Nachkommen. Die Schönheit der ersten wiederholte sich, sich selber gleich, undifferenziert, ohne Geschichte. Das hätte lange so dauern können. – Und das bekümmerte mich, der ich bereits in mir, ohne es zu wissen, das Ei meines Adlers trug: ich wollte mehr oder besseres. Diese Fortpflanzung, dieses zerstückte Sich-Weiter-Leben schien mir bei ihnen eine Erwartung anzuzeigen – und es war in Wahrheit nur mein Adler, der wartete. Ich, ich wusste nicht; diese Erwartung glaubte ich im Menschen; diese Erwartung legte ich in den Menschen hinein, ja, jetzt versteh ich es: da ich den Menschen nach meinem Bilde gemacht habe, jetzt versteh ich es, dass in jedem von ihnen etwas Unaufgebrochenes wartete; in jedem von ihnen war das Ei des Adlers ... Und dann, ich weiss nicht; ich kann das nicht erklären. – Was ich weiss, ist dies, dass ich nicht zufrieden damit war, ihnen das Wissen von sich selber zu geben, ich wollte ihnen auch einen Grund ihres Daseins geben. Ich gab ihnen das Feuer, die Flamme und alle Künste, deren Nahrung eine Flamme ist. Ihren Geist erhitzend, liess ich in ihnen den verzehrenden Glauben an den Fortschritt aufbrechen. Und ich hatte eine merkwürdige Freude daran, dass die Gesundheit des Menschen sich abnützte, um diesen Glauben zu nähren. – Kein Glaube an das Gute mehr, aber kranke Hoffnung auf das Bessere. Der Glaube an den Fortschritt, meine Herren, das war ihr Adler. Unser Adler ist unser Daseinsgrund, meine Herren.

Das Glück des Menschen nahm ab, nahm ab und es war mir gleich: der Adler war zur Welt gekommen. Ich liebte die Menschen nicht mehr, das, was von ihnen lebte, liebte ich. Aus war es da für mich mit einer Menschheit ohne Geschichte ... die Geschichte der Menschen, das ist die Geschichte der Adler, meine Herren.

 

VIII

Hier erfolgte einiges Händeklatschen. Prometheus entschuldigte sich verwirrt:

Meine Herren, ich habe gelogen: verzeihen Sie: so schnell war das gar nicht: nein, ich habe die Adler nicht immer geliebt: ich zog noch lange den Menschen vor; sein lädiertes Glück war mir teuer, denn, da ich daran gerührt hatte, glaubte ich mich dafür verantwortlich geworden, und immer, wenn ich daran dachte, des Abends, traurig wie ein innerer heimlicher Vorwurf kam mein Adler essen.

Er war zu dieser Zeit mager und grau, verdrossen und mürrisch; er war hässlich wie ein Aasgeier. – Meine Herren, sehen Sie ihn jetzt an, und verstehen Sie, warum ich spreche; warum ich Sie hier versammle, warum ich Sie beschwöre, mich anzuhören: es ist, weil ich dieses entdeckt habe: der Adler kann sehr schön werden. – Nun, jeder von Ihnen hat einen Adler; ich habe Ihnen das gerade bewiesen. Einen Adler? – Ach! Aasgeier vielleicht! ... nein, nein! keinen Aasgeier, meine Herren, einen Adler muss man haben ...

Und jetzt rühre ich an die wichtige Frage: – warum den Adler? ... Ah! warum? – er soll es selber sagen. Sehen Sie hier den meinen, meine Herren? ich bringe ihn Ihnen ... Adler! wirst du antworten, jetzt? ...

Ängstlich wandte sich Prometheus zu seinem Adler hin. Der sass unbeweglich und still ... Prometheus fing mit verzweifelter Stimme wieder an:

Meine Herren, ich habe meinen Adler vergeblich gefragt ... Adler! sprich jetzt: sprich, alle hören ... Wer schickt dich? – Warum hast du mich erwählt? Woher kommst du? Sag: welches ist deine Art? ... (der Adler blieb stumm) – Nein, nichts! Kein Wort! Kein Schrei! – Ich dachte, er würde sprechen, zu Ihnen sprechen; deshalb brachte ich ihn mit ... Spreche ich denn allein hier? – Alles schweigt! Alles schweigt! – Was ist da zu sagen? ... Ich habe umsonst gefragt.

Dann, indem er sich zur Versammlung wandte:

Oh, ich hoffte, meine Herren, dass Sie meinen Adler lieben würden, dass Ihre Liebe seiner Schönheit einen Daseinsgrund gäbe. – Deshalb habe ich mich ihm ergeben, habe ich ihn mit dem Blute meiner Seele genährt ... aber ich sehe, ich bin es allein, der ihn bewundert ... Oh! genügt es Ihnen nicht, dass er schön ist? – oder geben Sie mir nicht einmal seine Schönheit zu? – Sehen Sie ihn doch wenigstens an ... Für nichts anderes sonst habe ich gelebt – und nun bringe ich ihn: hier ist er! – Ich, ich lebte für ihn – aber er, wofür lebt er? – Adler! den ich mit meinem Blute nährte, mit meiner Seele, den ich mit meiner ganzen Liebe geliebkost habe ... (hier unterbrachen Tränen Prometheus) – soll ich jetzt die Erde verlassen, ohne zu wissen, warum ich dich geliebt habe? noch was du nach mir machen wirst, sein wirst auf der Erde ... auf der Erde, ich habe umsonst, ... ich habe umsonst gefragt ...

Die Worte erstickten ihm im Hals; die Tränen verschluckten seine Stimme.

Entschuldigung, meine Herren – begann er nach einer Weile ruhiger –; entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so ernste Dinge sage; aber wenn ich noch ernstere wüsste, so sind es die, die ich noch sagen würde ...

Prometheus trocknete sich die Stirn, nahm einen Schluck Wasser und:

 

Ende der Rede Prometheus'

Es ist nur bis hier her, dass ich vorbereitet ...

... Bei diesen Worten erhob sich ein grosser Lärm im Saal; mehrere, die sich zu sehr langweilten, wollten fort.

Meine Herren, rief Prometheus – ich beschwöre Sie zu bleiben; ich werde ganz kurz sein; aber das wichtigste ist noch zu sagen, wenn ich Sie noch nicht überzeugt habe ... meine Herren! ich bitte Sie! ... schnell ein paar Raketen, die schönsten heb ich mir für den Schluss auf.

Meine Herren, haben Sie Mitleid und setzen Sie sich wieder; schauen Sie: glauben Sie nicht, dass ich spare: ich zünde sechs auf einmal an. – Übrigens, Kellner, lassen Sie die Türen schliessen. Die Raketen machten einen genügend guten Effekt. Fast alle, die sich erhoben hatten, setzten sich wieder.

Aber, ja, wo war ich stehen geblieben? fing Prometheus an. Ich rechnete auf den Schwung; aber Ihr Aufstehen hat ihn mir zerstört.

Um so besser, schrie einer.

Ach ja, ich weiss ... fuhr Prometheus fort – ich wollte Ihnen noch sagen ...

Genug! Genug! schrie man von allen Seiten.

... dass Sie Ihren Adler lieben sollen.

Einige ironische »Warum« erhoben sich.

Ich höre, meine Herren, dass man mich »warum« fragt: ich antworte: weil er davon schön wird.

Aber wenn wir davon hässlich werden!

Meine Herren, was ich hier vorbringe, sind nicht Worte des Eigennutzes ...

Das sieht man.

Es sind Worte der Ergebung, meine Herren, man muss sich seinem Adler ergeben ... (Bewegung; viele erheben sich) Meine Herren, stehen Sie doch nicht auf: ich will anzüglich werden ... Es ist unnötig, hier an die Geschichte von Kokles und Damokles zu erinnern. Sie alle, die Sie hier sind, kennen sie. Gut. Also ich sage diesen beiden Herren ins Gesicht: das Geheimnis Eures Lebens liegt in der Ergebung in Eure Schuld; Du, Kokles, in Deine Ohrfeige; Du, Damokles, in Dein 500-Franksbillet. Kokles, Du sollst deine Narbe aushöhlen und tiefer machen Deine leere Augenhöhle, o Kokles; Du, Damokles, sollst Deine 500 Franks behalten, fortfahren, sie ohne Scham zu behalten, noch mehr zu behalten, sie mit Freuden zu behalten. Das ist der Adler für Euch; es gibt andere; es gibt glorreichere. Aber dies sage ich Euch: Der Adler, sei er wie immer, frisst uns auf, Laster oder Tugend, Schuld oder Leidenschaft hört auf, irgend wer zu sein und Ihr entrinnt ihm nicht. Aber ...

(Hier ging die Stimme des Prometheus fast völlig im Tumult unter.)

– aber wenn Ihr Euren Adler nicht mit Liebe pflegt, so bleibt er grau, elend, unsichtbar allen und verschlossen; er ist es dann, den man Gewissen nennen wird, unwürdig der Beschwerden, die er verursacht; ohne Schönheit. – Meine Herren, man muss seinen Adler lieben; lieben, damit er schön wird; denn weil er schön sein wird, darum sollen Sie Ihren Adler lieben. Ich schliesse, meine Herren, mein Adler wird absammeln; meine Herren, man muss meinen Adler lieben. – Und jetzt schnell noch einige Raketen

 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Dank der pyrotechnischen Ablenkung endete die Versammlung ohne allzugrosse Unzufriedenheit; aber Damokles zog sich auf dem Heimweg eine Erkältung zu.


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