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Chronik einer Privatmoral

I

Ich will nicht von der öffentlichen Moral sprechen, weil es keine gibt – doch bei dieser Gelegenheit eine Anekdote:

Als Prometheus auf der Höhe des Kaukasus heraus bekommen hatte, dass ihn die Ketten, Klammern, Zwangsjacken, Brustwehren und andre Skrupel, überhaupt alles, steif machte, richtete er sich, um die Lage zu wechseln, auf der linken Seite in die Höhe, streckte seinen rechten Arm und stieg zwischen vier und fünf Uhr im Herbst auf den Boulevard herunter, der von der Madeleine zur Oper führt.

Verschiedene Pariser Berühmtheiten jagten an ihm vorbei. Wo gehen die hin? fragte er sich und, nachdem er sich in einem Café vor einem Bock niedergelassen, den Kellner: »Kellner, wo gehen die hin?«

Geschichte vom Kellner und vom Müllionär

Wenn der Herr sie wie ich jeden Tag wieder zurückkommen sähe, sagte der Kellner, könnte er ebensogut fragen woher sie kommen. Das ist nämlich ganz alles eins, weil sie jeden Tag wieder zurückkommen. Ich sage mir: sie kommen zurück, weil sie nicht gefunden haben. Jetzt wird mich der Herr fragen: was suchen sie? weil der Herr wissen möchte, was ich darauf antworte. Und so fragte Prometheus: Was suchen sie?

Und der Kellner: Weil sie nicht dort bleiben, so ist es das Glück nicht. Der Herr mag mir glauben oder nicht – und er kam ganz nah und flüsterte: – Was die suchen, das ist ihre Persönlichkeit; – der Herr sind nicht von hier?

Nein, sagte Prometheus.

Übrigens, das sieht man, sagte der Kellner; ja: Persönlichkeit; das, was wir hier Idiosynkrasie nennen. Ich zum Beispiel, wie Sie mich da sehen, Sie würden schwören, ich sei ein Kellner. Aber kein Gedanke! Das bin ich nur so – aus Liebhaberei. Sie mögen mir glauben oder nicht; ich habe ein inneres Leben: ich beobachte. Es gibt nichts Interessanteres als die Persönlichkeiten; und dann die Beziehungen unter den Persönlichkeiten. Das ist hier in diesem Restaurant sehr gut eingerichtet, mit diesen Tischen für drei. Ich erkläre Ihnen den ganzen Betrieb sofort. Sie speisen doch bald, nicht? Man stellt Ihnen ...

Prometheus war ein bisschen müde. Der Kellner fuhr fort: Ja, diese Tische für drei, das ist es, was ich ausserordentlich bequem finde: drei Herren kommen; man stellt sie einander vor (natürlich nur wenn sie es wünschen), denn in meinem Restaurant muss man vor dem Diner seinen Namen angeben; und dann, was man macht: um so schlimmer, wenn man sich täuscht. Dann setzt man sich (ich nicht); man unterhält sich (ich natürlich nicht) – aber ich stelle den Kontakt her; ich höre zu; ich forsche aus; ich dirigiere die Konversation. Am Ende des Diners kenne ich drei innere Wesen, drei Persönlichkeiten! Jene kennen nichts. Ich, Sie verstehen doch, ich höre, ich mache die Beziehung; jene gehen auf die Beziehung ein. – Sie werden mich fragen, was mir das einbringt? – Ganz und gar nichts. Es ist mein Vergnügen, Beziehungen zu schaffen ... O! nicht für mich ..., nein, so wie, möchte man sagen, etwas, das man gratis abgibt, eine Gratistätigkeit, eine Gratishandlung!

Prometheus schien ein wenig ermüdet. Der Kellner fuhr fort: Eine Gratishandlung! Sagt Ihnen das nichts, gar nichts? – Mir scheint das ganz ausserordentlich. Ich habe lange gedacht, das sei es, was den Menschen vom Tiere unterscheidet – eine Gratistätigkeit. Ich nannte den Menschen: das Tier, das einer Gratistätigkeit fähig; – aber später habe ich das Gegenteil gedacht: dass er das einzige Wesen ist, unfähig etwas umsonst zu tun; – umsonst! denken Sie mal; ohne Vernunft – ja, gut, das gebe ich Ihnen zu – aber ohne Grund: dazu ist er unfähig! Unfähig! Übrigens fing mir das an langweilig zu werden. Ich sagte mir immer: warum macht er das? warum macht er dies? ... Ich will trotzdem nicht behaupten, dass ich Determinist bin ... übrigens, dabei fällt mir eine Anekdote ein:

Ich habe einen Freund, Herr; der ist, Sie werdens nicht glauben, Müllionär. Intelligent ist er auch. Der sagte sich: etwas tun umsonst? wie das? Sie müssen nicht vergessen, nicht um eine Tätigkeit, die nichts einbringt, handelt es sich, denn ohne das ... nein, eine umsonst! ein Akt, der durch nichts motiviert ist. Verstehen Sie? Nicht Interesse, nicht Leidenschaft, Nichts. Die interesselose uninteressierte Tat, geboren aus sich selber. Ohne Zweck, ohne Meister. Die freie Tat, die Autochtontat.

Wie? machte Prometheus.

Passen Sie gut auf, sagte der Kellner. Mein Freund kommt eines Morgens den Boulevard herunter, mit einem fünfhundert Franksschein in einem Couvert und einer bereitgehaltenen Ohrfeige in der Hand.

Es handelt sich darum, einen zu finden ohne ihn sich auszusuchen. Also, auf der Strasse lässt er sein Taschentuch fallen und zu dem, der es aufhebt (der gutmütig ist, weil er es aufhebt) sagt der Müllionär: – Entschuldigen Sie, mein Herr, sollten Sie vielleicht jemanden kennen?

Der andere: Ja, Mehrere.

Der Müllionär: Dann haben Sie, hoffe ich, die Güte und schreiben seinen Namen auf diesen Umschlag; hier ist Tisch, Tinte, Feder ... Der andere schreibt als ein Gutmütiger; dann: Bitte, möchten Sie mir jetzt erklären ...?

Der Müllionär antwortet: – Das ist ein Prinzip; dann (ich vergass zu erwähnen, dass er sehr stark ist) haut er ihm die Ohrfeige ins Gesicht, die er in der Hand trug, ruft einen Fiaker an und verschwindet.

Verstehen Sie? Zwei einfach geschenkte Taten auf einmal! Dieser fünfhundert Franksschein an eine Adresse, die er nicht gewählt hat und diese Ohrfeige, für einen, der sie sich ganz allein gewählt hat, indem er ihm das Taschentuch aufhob. Sagen Sie, ist das nicht etwa gratis und geschenkt?

Und die Relation! die Beziehung! Ich wette, Sie beachten die Beziehung nicht genügend; während nämlich die Tat umsonst ist, ist sie auch wie wir hier sagen: reversibel, heimfällig; so nämlich: der eine, der 500 Franks für eine Ohrfeige bekommen, der andere, der eine Ohrfeige für 500 Franks erhalten hat ... und dann: weiss man nichts weiter ... man geht auseinander, verliert sich. – Denken Sie doch! Eine Leistung absolut umsonst! Es gibt nichts, das demoralisierender wäre. – Aber der Herr beginnt Hunger zu bekommen; ich bitte vielmals um Entschuldigung; man kommt so ins Plaudern ... Möchten mir der Herr gefälligst seinen Namen sagen, – wegen der Vorstellung ... – Prometheus, sagte Prometheus einfach.

Prometheus! Ich sagte ja gleich, der Herr sind nicht von hier ... und Beschäftigung, wenn ich bitten darf?

Keine, sagte Prometheus.

Ach nein, sagte der Kellner mit einem süssen Lächeln. – Nein. Man braucht ja den Herrn bloss anzusehen, um zu wissen, dass er sich mit etwas beschäftigt.

Das ist so lang her, stammelte Prometheus.

Um so schlimmer, um so schlimmer, sagte der Kellner. Übrigens möge sich der Herr beruhigen. Ich stelle, wenn man will, mit dem Namen vor, aber nie mit der Beschäftigung. – Und die Ihre, mein Herr ... was beliebten Sie zu machen?

Zündhölzer, murmelte Prometheus errötend.

Das Schweigen, das nun folgte, war etwas peinlich. Der Kellner sah ein, dass er unrecht hatte, so auf seiner Frage zu bestehen, Prometheus fühlte, dass er nicht recht tat, darauf zu antworten.

Im Tone des Tröstens fing der Kellner an: Nun, der Herr machen ja keine mehr ... Aber etwas muss ich doch einschreiben, ich kann doch nicht einfach schreiben: Prometheus Punkt. Der Herr hat doch gewiss eine Profession, eine Spezialität ... oder weiss doch wenigstens etwas zu machen ...

Nichts, erklärte Prometheus.

Dann schreiben wir: Schriftsteller. – Nun, wenn es dem Herrn gefällig ist, in den Speisesaal einzutreten? ich serviere nicht draussen. Und er schrie hinein: Einen Tisch für Drei! Einen! ... Durch zwei Türen traten zwei Herren ein. Man sah, wie sie dem Kellner ihre Namen nannten. Aber da die Vorstellung nicht verlangt wurde, setzten sie sich ohne das. Und als sie sassen:

 

II

Meine Herren, begann der eine, ich bin in dieses Restaurant, in dem das Essen elend ist, einzig wegen der Unterhaltung gekommen. Ich habe ein Grauen vor einsamen Mahlzeiten und darum behagt mir dieses System des Tisches für Drei sehr, denn zu zweit würde man vielleicht zu streiten anfangen ... Aber Sie machen ein sehr schweigsames Gesicht?

Ganz gegen meinen Willen, entgegnete Prometheus.

Darf ich fortfahren?

Ich bitte Sie darum.

Ich sollte meinen, dass im Laufe einer Stunde drei Unbekannte Zeit hätten, sich kennen zu lernen – indem sie nicht zu viel essen (was hier leicht ist), indem sie wenig sprechen und die Gemeinplätze vermeiden; ich meine, dass jeder nur erzählt, was ihm durchaus eigentümlich ist. Ich behaupte ja nicht, dass diese Unterhaltung durchaus nötig wäre, aber, wenn sie uns nicht gefällt, wozu sind Sie eigentlich – man isst doch hier miserabel – wozu sind Sie eigentlich in dieses Restaurant gekommen?

Prometheus war sehr müde. Der Kellner beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: Das ist Kokles. Und der, der jetzt sprechen wird, das ist Damokles.

Damokles sagte:

Geschichte des Damokles

Mein Herr, vor einem Monat, wenn Sie mich das gefragt hätten, ich hätte nichts darauf zu antworten gewusst; aber seitdem mir das vergangenen Monat passiert ist, existiert für mich nichts mehr von dem, was ich vorher dachte. Ich würde Ihnen auch nicht meine älteren Gedanken erzählen, wenn die Bekanntschaft mit ihnen nicht zum vollen Verständnis meiner neueren Gedanken durchaus nötig wäre. – Nämlich, meine Herren: seit dreissig Tagen fühle ich mich als ein Original, als ein einzig dastehendes Original, mit einem eigentümlichen und besonderen Schicksal. Und daraus, meine Herren, ergibt sich, dass ich mich vorher durchaus als das Gegenteil davon fühlte. Ich führte ein ganz gewöhnliches Leben und machte mir diese Regel zur Pflicht: einem ganz gewöhnlichen Menschen zu gleichen. Jetzt weiss ich bestimmt, dass ein ganz gewöhnlicher Mensch gar nicht existiert, dass es einfach eine vergebliche Ambition ist, wie jedermann zu sein. Weil jedermann aus jedem zusammengesetzt ist und jeder nicht jedem ähnlich ist. Gleichwohl; ich studierte mich; ich trieb Statistik, ich berechnete das juste milieu – ohne zu wissen, dass die Extreme sich berühren, dass derjenige, der spät zu Bett geht, dem begegnet, der früh aufsteht und dass der, der den Platz in der richtigen Mitte sucht, sicher ist, sich zwischen zwei Stühle zu setzen. – Jeden Abend legte ich mich um 10 Uhr schlafen. Ich schlief acht und eine halbe Stunde. Ich trug Sorge, in jeder meiner Handlungen es der Art der grossen Menge gleich zu tun, in jedem meiner Gedanken so gewöhnlich als möglich zu sein. Genug davon.

Da begegnet mir eines Morgens ein ganz persönliches Abenteuer. Die Bedeutung desselben in dem Leben eines gesetzten Mannes kann man nur aus der Folge verstehen. Der Anfang ist gemacht. Jetzt kommen die Folgen. Es ist schrecklich.

 

III

Also denken Sie sich, an einem Morgen bekomme ich einen Brief. – Meine Herren, daran, dass Sie nicht erstaunen, erkenne ich, dass ich Ihnen meine Geschichte schlecht erzähle. Ich hätte voraus schicken müssen, dass ich nie Briefe erwarte. Das heisst, ich bekomme jährlich drei: einen von meinem Hausherrn, der die Miete verlangt; einen von meinem Bankier, dass ich die Miete bezahlen könne; einen am ersten Jänner ... von wem kann ich Ihnen nicht sagen. Die Adresse war von einer mir gänzlich unbekannten Hand. Der gänzliche Mangel an Charakter in ihr, von dem mich zu rat gezogene Graphologen überzeugten, machte mir die Sache noch unklarer. Die Graphologen fanden nichts darin als Anzeichen einer grossen Güte, andere sprachen auch von einer gewissen Schwäche. Bestimmtes konnten sie aber nicht sagen. Die Schrift ... ich spreche wohlgemerkt nur von der Adresse; denn in dem Couvert war keine Zeile, kein Wort, nichts – nichts als ein Fünfhundertfranksschein.

Ich trank gerade eine Chokolade, aber mein Erstaunen war so gross, dass ich sie kalt werden liess. Also ich suche, denke nach ... Niemand ist mir Geld schuldig. Ich habe meine bestimmten Einkünfte, und meine kleinen Ersparnisse im Jahre kompensieren so beiläufig den jährlich fallenden Zinsfuss. Ich hatte nichts zu erwarten, wie ich Ihnen sagte. Und habe auch nie etwas verlangt. Die ausserordentliche Regelmässigkeit meiner Gewohnheiten reizte mich nicht zu dem kleinsten Bedürfnis. Ich dachte also viel nach, und nach der besten Methode: cur, unde, quo, qua? Woher, wozu, wodurch, warum? Und dieser Schein war auf nichts Antwort, da ich zum ersten Mal fragte.

Ich dachte: es ist wahrscheinlich ein Irrtum; ich werd ihn gutmachen können. Die Summe war für einen andern mit gleichem Namen. Ich suche also im Bottin nach dem Gleichnamigen, der vielleicht schon auf das Geld wartet. Aber es gibt nicht mehr viele Träger meines Namens, und ich sah wie ich das enorme Buch durchblättere, dass ich der einzige Damokles bin. Ich dachte, dass ich durch die Schrift auf dem Umschlag zu einem Resultat käme, den Absender finden könne wenn schon nicht den Adressaten; und ging zu den Graphologen. Das Resultat war Null. Mein Unbehagen nahm zu. Diese fünfhundert Franks bereiten mir mit jedem Tag mehr Aufregung; ich möchte sie los sein und ich weiss nicht wie. Denn schliesslich ... wenn sie mir dennoch jemand und nicht irrtümlich gegeben hat, so verdient das doch mindestens meinen Dank. Dankbar möchte ich sein – aber ich weiss nicht gegen wen.

In der Hoffnung auf einen neuen Zufall, der mich aus meinem Kummer erlöst, trage ich den Schein bei mir, Tag und Nacht; wie verwachsen damit ich bin. – Vorher, vor dieser Geschichte, war ich gewöhnlich aber frei. Jetzt gehöre ich zu etwas. Dieses Abenteuer bestimmt mich; ich war Irgendeiner, jetzt bin ich Jemand.

Seit diesem Erlebnis bin ich ganz heraus; ich suche Unterhaltung auf und komme oft in dieses Restaurant, dessen famose Einrichtung der Tisch für drei mich hoffen lässt, dass einer der beiden andern vielleicht die Schrift dieses Couverts erkennt; sehen Sie mal ...

Und da zog Damokles aus seiner Brust einen Seufzer und aus seiner Rocktasche ein gelbes beschmutztes Couvert. Sein Name stand da deutlich von einer massigen Hand geschrieben.

Da passierte etwas Seltsames: Kokles, der immer geschwiegen hatte, schwieg auch jetzt noch, – aber er erhob seine Hand gegen Damokles, die der Kellner im Fluge aufzufangen gerade noch Zeit hatte. Kokles beruhigte sich wieder und sprach traurig die Worte, die erst in der Folge verstanden wurden; – Übrigens ist es besser so, denn wenn ich Ihnen die Ohrfeige gegeben hätte, hätten Sie geglaubt, mir die 500 Franks erstatten zu müssen, und ... sie gehören mir nicht. Und, da Damokles noch auf eine Erklärung von Kokles' Handbewegung zu warten schien, sagte dieser noch: Ich war es, der darauf ihre Adresse geschrieben hat.

Aber woher wissen Sie meinen Namen? fragte Damokles, der die Sache übel nahm.

Ganz zufällig – sagte Kokles sanft; übrigens hat das in dieser Geschichte keine grosse Bedeutung. Die meine ist nämlich weit merkwürdiger als die Ihre. Gestatten Sie, dass ich sie in wenigen Worten erzähle.

 

Geschichte des Kokles

Ich habe nicht viele Beziehungen auf dieser Welt, dachte mich auch in keine bevor das passierte, was ich Ihnen erzählen will. Ich kenne meine Eltern nicht und habe lange einen Grund gesucht, warum ich mein Leben weiterführe. Ich ging auf die Strasse, um da irgend eine Bestimmung zu finden. Ich suchte den Zufall, irgend etwas, das ich tun müsste und das dann die Richtung meiner Existenz bestimmen sollte; denn ich habe mich nicht selber gemacht, zu gutmütig dafür von Natur aus. Von Haus aus gut, wie ich Ihnen sage, bestand meine Tat darin, dass ich ein Taschentuch vom Boden aufhob. Der es verloren hatte war noch keine drei Schritte vor mir her, ich lief ihm nach, überreichte es ihm. Er nimmt es ohne überrascht zu sein, – nein, überrascht war ich, als er mir ein Couvert überreichte, gerade das, welches hier liegt.– Wollen Sie, sagte er lächelnd, darauf eine Adresse schreiben? – Welche? frage ich. – Irgendeine, antwortete er. – Und dabei überreichte er mir, was man zum Schreiben braucht. In dem Bedürfnis, mich ganz von der Umgebung bestimmen zu lassen, tat ich, was er verlangte. Ich sagte Ihnen schon, dass ich nicht viele Beziehungen auf dieser Erde habe. Der Name, den ich aufschrieb und der mir, ich weiss nicht warum, gerade durch den Kopf schoss, war der eines mir völlig Unbekannten. Ich schreibe, glaube die Sache erledigt, grüsse und will gerade weitergehen – da bekomme ich eine ziemlich bedeutende Ohrfeige.

Das Erstaunen liess mich den Spender aus den Augen verlieren. Als ich zu mir selbst kam, war ich von einer Menschenmenge umringt. Alles sprach und gestikulierte. Einige packten mich und wollten mich zur nächsten Apotheke bringen. Mit Mühe konnte ich mich damit losmachen, dass ich erklärte, mir täte nichts weh, obschon ich aus der Nase blutete und mir der Unterkiefer ernstlich schmerzte.

 

Der geschwollenen Backe wegen musste ich eine Woche lang zu Hause bleiben, welche Zeit ich mit Nachdenken verbrachte:

Warum hat er mir die Ohrfeige gegeben? Aus Irrtum natürlich. Was kann er gegen mich haben? Ich tu niemandem was zu leide, niemand kann mir ein Leid wünschen. Das Böse ist etwas, das man vergilt.

Und wenn es kein Irrtum ist, – dachte ich, denn zum erstenmal dachte ich überhaupt. Wenn mir diese Ohrfeige richtig bestimmt war? Übrigens, kam ich zum Schluss, was liegt an Irrtum oder Nichtirrtum, ich habe die Ohrfeige bekommen – und ... werde ich sie zurückgeben? – Ich sagte schon, ich bin von Hause aus ein gutmütiger Mensch; und dann war da noch ein Haken: der mich geohrfeigt hatte war viel stärker als ich.

Als meine Wange wieder normal war und ich endlich wieder ausgehen konnte, suchte ich meinen Ohrfeigenmann; ja, um ihm auszuweichen. Ich traf ihn nicht, und wenn ich ihn vermied, geschah es ohne mein Wissen.

Aber sehen Sie – und dabei beugte er sich zu Prometheus – sehen Sie, wie sich heute alles verkettet, alles sich kompliziert statt sich zu explizieren: – Ich erfahre, dass dieser Herr dank meiner Ohrfeige 500 Franks bekommen hat ...

Erlauben Sie ... sagte Damokles.

Kokles ist mein Name, wandte sich Kokles an Damokles; Kokles, damit Sie so glücklich sind, zu wissen, wem sie Ihre 500 Franks zu danken haben ...

Aber ...

Ja, ich weiss: sagen wir nicht: wem; sagen wir: dem Erdulden wessen ... Denn wissen Sie und vergessen Sie nicht, dass Ihr Gewinn auf meinem Unglück ...

Aber ...

Regen Sie sich nicht auf, ich bitte Sie. Zwischen Ihrem Gewinn und meinem Schmerz besteht eine Beziehung; ich weiss nicht welche, aber es besteht eine Beziehung ...

Aber, mein Herr ...

Nennen Sie mich nicht: mein Herr.

Aber, wertester Herr Kokles.

Sagen Sie: Kokles zu mir, ganz einfach.

Also, mein lieber Kokles ...

Nein, werter Herr, – nein Damokles – Sie können sagen, was Sie wollen, ich habe hier auf meiner Wange noch eine Erinnerung an die Ohrfeige, eine Narbe, die ich Ihnen gleich zeigen will.

Zeichnung Pierre Bonnard

Die Unterhaltung wurde unangenehm persönlich. Und hier ist es, wo der Takt des Kellners sich so schön zeigte.

 

Durch ein geschicktes Manöver – er goss einfach eine volle Schüssel auf Prometheus – lenkte er plötzlich die Aufmerksamkeit der beiden andern auf ihn. Prometheus konnte einen Ausruf nicht unterdrücken und seine Stimme klang nach denen der Beiden so tief, dass man nun bemerkte, dass er bis jetzt geschwiegen hatte.

Der Ärger des Damokles vereinte sich mit dem des Kokles.

Aber Sie sagen ja gar nichts – schrien sie ...

 

Prometheus spricht

O, meine Herren, was ich sagen kann ist so ohne Zusammenhang ... Ich sehe nicht einmal, wie ... Je mehr ich darüber nachdenke ... Nein, wirklich, ich weiss nichts zu sagen. Sie haben beide Ihre Geschichte, ich ... ich habe keine. Sie müssen entschuldigen. Seien Sie versichert, dass ich mit ungeteiltem Interesse der Erzählung Ihres Abenteuers folgte, das ich ... könnte ich ... Aber ich kann mich nicht einmal leicht ausdrücken. Sie müssen mich wirklich entschuldigen, Verehrteste. Ich bin erst seit kaum zwei Stunden in Paris; nichts kann mir da noch passiert sein – als Ihre unschätzbare Bekanntschaft, die mich ahnen lässt, was aus einer Pariser Unterhaltung werden kann, wenn sie von geistreichen Leuten ...

Aber vorher, bevor Sie hierher kamen, sagte Kokles.

Da waren Sie doch wo, fügte Damokles hinzu.

Ja, das muss ich zugeben, sagte Prometheus, aber, ich muss es wiederholen, das hat nicht die geringste Beziehung ...

Das macht nichts, sagte Kokles, wir sind hierhergekommen, uns zu unterhalten. Wir beide, Damokles und ich, wir haben unsern Vorrat schon herausgezogen, nur Sie wollen nichts mitgebracht haben; Sie hören nur zu; das geht nicht. Jetzt ist es an Ihnen zu erzählen, mein Herr ...

Der Kellner fühlte mit seinem ganzen Takt, dass es Zeit zum Vorstellen sei, und nannte den Namen wie zur Vollendung des Satzes:

Prometheus – sagte er einfach.

Prometheus? nahm Damokles auf. – Entschuldigen Sie, aber mir ist als ob ich den Namen schon ...

O, unterbrach ihn rasch Prometheus, das hat gar keine Bedeutung.

Aber, wenn Nichts eine Bedeutung hat, riefen ungeduldig die Beiden, warum sind Sie denn dann hergekommen, werter Herr ...

Herr ...?

Prometheus, ergänzte Prometheus bescheiden.

Werter Herr Prometheus – denn schliesslich, ich bemerkte schon vorhin, fuhr Kokles fort, dass dieses Restaurant zum Reden einladet, und nichts kann mich glauben machen, dass der sonderbare Name, den Sie tragen, das Einzige ist, das Sie auszeichnet; wenn Sie nichts getan haben, so werden Sie doch was tun; und was können Sie tun? Zeigen Sie uns doch Ihren Hauptcharakterzug: was haben Sie, das sonst Niemand hat? Warum heissen Sie Prometheus?

Von dieser Flut der Fragen übergossen beugte Prometheus das Haupt und leise und mit tieferem Tone kam die beinah verwirrte Antwort:

Was ich habe, meine Herren? – Was ich habe, ich? – Ach! Einen Adler.

Einen was?

Einen Adler – oder einen Aasgeier vielleicht ... man weiss nicht bestimmt.

Einen Adler! Sehr gut! Einen Adler! Und wo denn!

Sie möchten ihn gern sehen?

O, wenn es nicht indiskret ist ...

 

Dann ganz vergessend wo er sich befand, erhob sich Prometheus plötzlich und stiess einen starken Schrei aus, einen Rufschrei nach seinem Adler.

Und dann passierte diese verblüffende Sache.

 

Geschichte vom Adler

Ein Vogel, der in der Ferne enorm erschien, in der Nähe aber nicht so gross ist wie so, verfinstert für einen Augenblick den Himmel des Boulevard, saust wie ein Windstoss gegen das Café, zerbricht die Glastafel des Schaufensters, drückt mit einem Flügelschlag dem Kokles ein Auge aus und lässt sich mit starkem, zärtlichem, wohl, doch auch sehr bestimmtem Gekrächze auf der rechten Schulter des Prometheus nieder.

Dieser öffnet sofort seine Weste und gibt dem Vogel von seiner Leber.

 

Der Spektakel im Café war gross. Alles schrie und redete durcheinander, – denn es waren noch mehr Gäste gekommen.

Aber geben Sie doch Acht! rief Kokles.

Aber sein Vorwurf wurde völlig übertönt von dem bedeutendsten Lärm:

Das? Ein Adler? Lassen Sie sich nicht auslachen!! – Dieser armselige zerzauste Vogel ein Adler? Machen Sie uns nichts weiss!! Das ist höchstens ein Gewissen.

Tatsache ist, dass es erbärmlich zum ansehn war, wie sich der jämmerliche federarme Vogel gierig auf die schmerzhafte Portion Leber stürzte; er schien seit drei Tagen nichts gefressen zu haben.

Leute kamen näher und redeten auf Prometheus ein: Glauben Sie doch nicht, Verehrtester, dass Sie mit dem Adler da irgendwie was besonderes haben. Muss ich Ihnen erst sagen, dass wir im Grunde alle unsern Adler haben?

Aber, sagte Einer ...

Aber man trägt ihn nicht in Paris – fuhr der andere fort, – in Paris steht das nicht. Der Adler geniert. Schauen Sie nur, was er angerichtet hat! Wenn es Sie amüsiert, ihm von Ihrer Leber zu geben – gut, Ihre Sache; aber ich versichere Ihnen, dass das für die, die es mit ansehn müssen, peinlich ist. Wenn Sie es schon tun, so machen Sie's heimlich.

Und Prometheus murmelte zerknirscht: Entschuldigen Sie, meine Herrn, – ich bin ganz untröstlich. Was soll ich tun?

Aber, man entfernt das eben, bevor man eintritt, Bestester.

Und die einen sagten: man erwürgt ihn.

Und die andern sagten: man verkauft ihn. Wozu sonst sind denn die Zeitungsredaktionen da?

In dem allgemeinen Tumult bemerkte keiner den Damokles, der plötzlich die Rechnung verlangte. Der Kellner schrieb ihm folgendes auf:

3 Déjeuners complets (mit Conversation) 30. Fr.
Eine Spiegelscheibe 450. "
Ein Glasauge für Herrn Kokles 3.50 "

... behalten Sie den Rest, sagte Damokles und schob dem Kellner den Fünfhundertfranksschein hin. Dann entfernte er sich selig.

 

Das Ende dieses Kapitels ist weit weniger interessant. Das Restaurant wurde einfach nach und nach leer. Umsonst verlangten Prometheus und Kokles ihr Teil an der Rechnung; Damokles hatte alles bezahlt. – Prometheus verabschiedete sich vom Kellner, von Kokles, und indem er langsam dem Kaukasus zuging, überlegte er: Verkaufen? ... Erwürgen? ... Zähmen vielleicht? ...

Zeichnung Pierre Bonnard

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