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Achtes Kapitel.
Rasmus und Martha

Der Mai, der die Miranda bringen sollte, war gekommen. Das Ende der Regenzeit, das mit dem südlichen Herbstende nahe zusammenfällt, kündete durch wochenlang anhaltende Weststürme den beginnenden Winter an. Es ist dies zwischen den Wendekreisen jene gefährliche Zeit des Jahres, wo der wiederkehrende Passat sein altes, verlassenes Windbett vom vergangenen Frühling und Winter her von neuem aufsucht und es nun eingenommen findet von nördlichen und westlichen Winden. Wenngleich der Zusammenprall der feindlichen Luftmassen stets mit dem Siege des Passatwindes endet, so geschieht es doch nicht ohne vorangegangenen Kampf unter oft schweren Stürmen und Orkanen. Auch in diesem Jahre, nur um einige Wochen verspätet gegen sonst, schien sich ein Gewaltausgleich der Elemente in dem Wind- und Wetterwinkel vorzubereiten.

Es war am 4. Mai, kurze Zeit vor Sonnenaufgang, als Rust eine Morgenröte wahrnahm, deren ungewöhnlich tiefes Karmin trotz der beginnenden Trockenzeit Regen und Sturm kündete. Die morgenstündliche Windstille wich später als sonst einer lebhaften Brise vom Meere her, die von Stunde zu Stunde immer mehr auffrischte. Es war ein steifer Nordost, der bald über Norden und Westen herumging. Am spätern Nachmittage dann machte sich nordnordöstlich eine verdächtig fahle Klärung bemerkbar, während gleichzeitig eine beklemmende Schwüle sich verbreitete. Alles unverkennbare Vorzeichen der herannahenden Wetterwende. Es dauerte denn auch gar nicht lange mehr, bis der Sturm losbrach. Schon warf das verfinsterte Meer die ersten Orkanseen gegen den Turm der Windinsel. Um das umwogte Gemäuer schossen und flatterten erschreckte Schwärme geisterhaft weißer Tropikvögel, und die beschwingten »Fürsten des Sturms«, braune, klafternde Fregatten, erfüllten mit ihrem Geschrei die Lüfte.

Die Furcht der Tiere vor etwas Drohendem, das die entfesselten Elemente zu brauen schienen, teilte sich auch den Menschen mit. Selbst Rust, dessen jahrealte Sehnsucht die Zeit nicht mehr hatte erwarten können, da er seine Kinder in die Arme schließen würde, fühlte sich plötzlich von der Angst befallen, daß sie, draußen auf dem tobenden Meere, jetzt ihm nahe sein könnten. Er hatte oben, in der Glaskammer des Turmes, gerade mit eigener Hand zum ersten Male das neue Leuchtfeuer angezündet, als ein dumpfer Kanonenschuß von der See her ein Schiff in Not verkündete. Ehe noch ein zweiter und dritter Schuß gefolgt war, flammte auf dem Meere ein Feuerzeichen auf und zeigte den segelentblätterten, stolzen Rahenbau einer in den Wellen kämpfenden Brigg. Nach der Lage des Schiffes und seiner Lastigkeit nach achtern zu urteilen, mußte es entweder mit dem Vorderschott auf eine in den Karten nicht verzeichnete neugebildete Bank aufgefahren oder im hinteren Laderaum aus sonst einer Ursache leckgesprungen sein.

Der Minutenzeiger war nur wenig erst weiter gerückt, als man schon das schwere, große Rettungsboot in der Brandung arbeiten sah. Mit Rust am Steuer und zwölf ehemaligen Matrosen der Kleopatra, seiner ständigen Besatzung, an den Riemen, ging es gegen die schäumenden Seen auf, die sich mit brüllender Wut am Winde brachen und stürzend überwarfen. Aus dem Getöse des Meeres hallte schon von weitem das Geschrei der Schiffbrüchigen herüber, Frauen- und Kinderstimmen.

Es waren die nachgeholten Schwestern und Bräute, Gattinnen und Kinder vieler nun eingewohnten Rusthafener. Wie ein Rudel verängsteter Rehe hatten sich diese Armen auf dem hochgeschobenen Vorderdecke zusammengedrängt und erwarteten das Ende. Frauen, die ihre Männer bei sich hatten, umschlangen diese und sahen ihrem letzten Stündlein anscheinend gefaßter entgegen. Eine besonders unter ihnen – sie hatte ein weißes, leichtes Musselinkleid an –, ein blankes, hübsches Weib von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren etwa, lenkte durch ihr rührendes Beispiel mütterlicher Liebe und Standhaftigkeit manches Auge auf sich, das schon die Nacht suchen wollte, und ließ auch harte Seemannsherzen nicht unbewegt. Auf einem Taugewinde sitzend, hielt sie ein Knäblein an ihrem Herzen, und selbst die eigene Todesnot konnte sie ihres Lieblings nicht vergessen machen.

Von der Kapitänsbrücke über das Kajütendeck her trat zu der Stillenden – einen kleinen Knaben an der Hand – ein jüngerer Mann heran, dessen männlich gebräuntes Gesicht durch einen angenehmen Ausdruck der Offenheit darin von vornherein für sich einnahm. »Martha,« sagte er zu der jungen Mutter, »ich habe mit dem Kapitän gesprochen. Die Gefahr ist nicht so groß, als es den Anschein hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind wir auf das Wrack eines untergegangenen Schiffes geraten, ohne jedoch einen ernstlichen Schaden dabei genommen zu haben. Nur das vorderste Schott hat ein kleines Leck erhalten und ist vollgelaufen, sonst aber ist das Schiff unversehrt. Mit der Flut, die in anderthalb Stunden einsetzt und um ein Uhr nachts ihren Höhestand erreicht, hofft der Kapitän, wenn das Schiff bis dahin aushält, wieder abzukommen und den schützenden Hafen zu gewinnen.«

Diese beruhigenden Worte verfehlten nicht, auf die zagenden Gemüter der Herandrängenden ihren Eindruck zu machen und sie mit neuer Hoffnung zu beleben. Wie ein Sonnenhusch ging es über das Angesicht der jugendlichen Mutter, und ihr glückliches Lächeln fiel auf ihr Kind herab, das eingeschlafen war.

Indessen jedoch wurde das Rasen der Brandung um das Schiff herum immer schlimmer. Über das in das tiefere Fahrwasser abhängende Achterdeck gingen unausgesetzt die Sturzseen hinweg, und das Knarren und Krachen der Masten erfüllte von neuem die Herzen mit Schrecken. Alles drängte nach der Back hinauf, und einige gar, die klettern konnten, banden sich oben in den Wanten und Webeleinen fest.

Da trat der Hochbootsmann heran: »Der Kapitän hat befohlen: Alle Frauen und Kinder, die Männer, soweit in den Booten der Platz reicht, sollen das Schiff verlassen!«

Schon sah man die Matrosen an den Davits Davit, niederdeutscher Herkunft, verderbt aus Dovjit = dove Jit, d. i. der an der Wasserkante gebräuchliche, angeblich von Judith, wahrscheinlicher von Jutta abgeleitete weibliche Spitzname »taube Jütte«: die ursprünglich scherzhafte Bezeichnung für die Vorrichtung zum Einhängen und Ausschwingen der Schiffsbeiboote. Früher ein starker Holzkran, heute meist eiserne Träger. dabei, die Boote auszuscheren Ausscheren, von scheren = schneiden, trennen, teilen – hier, im Sinne losmachen vom Schiffe: die Boote zu Wasser führen., während andere Ölfässer in das Meer entleerten, um die Wellen etwas niederzuhalten.

Die vier großen Boote waren schon alle mit Frauen und Kindern vollgefüllt und glücklich abgestoßen, als auch die Reihe an die jungen Ehegatten kam – Rasmus und Martha!

Ein Matrose stieg zuerst hinunter und nahm Rusts Tochter in Empfang. Dann folgte, ihr Jüngstes auf dem Arme, der Vater nach, während der ältere Knabe, der dreijährige kleine Ud, an der Hand des Bootsmannes oben noch an der Reeling mit den Nächsten harrte. Rasmus, nachdem er den kleinen Schläfer in die Arme der Mutter zurückgelegt hatte, wollte nun auch das ältere Söhnchen holen, als ihm der Matrose zuvorkam und oben an der Pforte aus der entgegengestreckten Hand den Jungen empfing.

In diesem Augenblick geschah es, daß, an der Schiffswand entlang rollend, eine mächtige Welle kam, die das Boot glattweg von den Enden kappte und auf ihrem Rücken davontrug. Da Ebbe war und der ablandige Wind über Norden ging, in das dunkle, weite Meer hinaus. Noch sahen Rasmus und Martha, wie der Matrose mit ihrem andern Kinde auf der Fallreepstreppe aus den Wassern tauchte und an Bord des Schiffes zurückgezogen ward, dann nahm sie die Finsternis auf.

Sämtliche Boote mit allen Frauen und Kindern erreichten, von dem Leuchtfeuer geleitet, glücklich den rettenden Strand, während die übrige Mannschaft (mit Ausnahme des Kapitäns, des Steuermanns, des Maschinenmaates und zweier Heizer, die an Bord zurückblieben) wenige Minuten später vom Rettungsboote des Hafens geborgen wurde. Das Schiff selber hatte vier lange Stunden noch den Sturm der Wogen über sich ergehen zu lassen, aber seine Rippen hielten stand. Als dann nach Mitternacht die schwellende Neumondflut es langsam höher zu heben begann, gelang es auch ihm zuletzt, aus der Umklammerung des Wrackes loszukommen und den schützenden Hafen zu erreichen. So sollte das dort vor Jahr und Tag versunkene Seeräuberschiff (die Untersuchung des Wracks stellte tatsächlich fest, daß es die Reste der Malaienprau waren) das Unheil, das es selbst in der Vernichtung noch stiftete, wenigstens nicht vollenden.

Nur die beiden Menschen, die Rust die teuersten waren, blieben aus, kamen nicht. Nur sie mit ihrem Kindlein, da sie ihm nun so nahe waren, schien das Meer als Opfer behalten zu haben. Nach dem furchtbaren Sturme der Nacht ging am andern Morgen zum erstenmal wieder die Passatsonne auf, allein die unendliche Meeresfläche, die ihre Strahlen beleuchteten, offenbarte nichts als Wasser und Wellen, vom Winde befahren. Die Schiffs-, die Hafenboote, die sie nach allen Richtungen der Windrose tagelang absuchten, kehrten unverrichteter Dinge wieder.

*

Rasmus und Martha, in der ersten Nacht, die sie in ihrem schwanken Schifflein auf dem schrecklichen Meer verbrachten, hatten sehr unter der Nässe zu leiden und dem unaufhörlichen Auf und Nieder der Wellen, die wiederholt über ihnen zusammenschlugen. Nur dem Umstande, daß der Mann so vorsichtig gewesen war, sie auf ihren Sitzen festzubinden, mochten sie es zu danken haben, daß keine dieser Wogen sie mitnahm. Jedesmal jedoch, wenn das Wasser über sie kam, glaubten sie, nun wäre das Ende, und fast verwunderten sie sich dann, daß sie lebten. »Es ist mir völlig ein Rätsel,« sagte Rasmus zu seinem jungen Weib, »wie es geschehen mag, daß wir unter dieser Wassermacht immer wieder aufkommen. Es muß ein Wunder dabei sein.« Währenddessen schöpfte er unaufhörlich mit einem Segeltucheimer das hereingelaufene Wasser über Bord.

Gegen Morgen dann, als der Tag sich rötete und die Erregung des Meeres etwas nachzulassen begann, sahen sie erst die eingebauten Luftkästen in ihrem Boote, die es wie ein Stehaufchen immer wieder hochgebracht und wohl auch durch ihre Anordnung vor dem Kentern bewahrt hatten. »Ach, da haben wir auch süßes Wasser, meine Liebe, ein ganzes Tönnchen voll, – Schiffszwieback, sieh doch, ein ganzes Kistchen, die Fülle«, rief Rasmus freudig, als er hinter dem Heckverschlage das kleine Proviantkämmerchen entdeckte, wie es heute mit seinem »eisernen Bestand« an Nahrungsmitteln und Werkzeugen jedem Rettungsboote beigegeben ist.

Wäre nicht die Ungewißheit über das Schicksal des kleinen Ud gewesen, die ihre Gedanken mit Traurigkeit erfüllte, so hätten sie jetzt wieder frohgemut sein können. Auch das Hemdeläuterchen, an der warmen Mutterbrust geborgen, hatte die Nacht glücklich überstanden und lachte nun schon wieder aus seinen blanken, blauen Augen heraus.

Als es bald wärmer wurde und die Sonne, als wollte sie nun alles wieder gutmachen, goldene Küsse herabbrannte, entkleidete Martha den kleinen Liebling, spülte sein Hemdchen und Röcklein im klaren Meerwasser durch und breitete die Stücke zum Trocknen dann über ein Kabelgarn aus, das Rasmus zwischen ein paar festgesteckte Spieren quer über das Boot gespannt hatte. Ein dahinschwimmendes süßes Bild des Friedens in der wogenden Unendlichkeit des furchtbaren Ozeans. In der unermeßlichen, unausdenklichen Meeresöde zwei flatternde Fähnlein des Lebens.

Ein Gefühl der Sicherheit, eines ruhevollen Glückes beinah, überkam sie nun mehr und mehr, und das einzige wohl, was ihnen im Augenblick noch mangelte, war eigentlich nur ein Streifen Schatten vor der Sonne. Ein großer kleiner Übelstand, dem mit einem guten Stück Korreltuch aus dem Gatt bald abgeholfen war. Nach Art eines Sonnensegels über einige gegenüberstehende, in den Dollen befestigte Spieren gezogen, gab es ein Gezelte ab, dessen Luftigkeit selbst in der hohen Tagesglut den Aufenthalt erträglich machte.

So war nach Rasmussens Uhr die zehnte Vormittagsstunde überschritten und die Zeit gekommen, wo, wie er wußte, die Flut wiederkehrte. Darauf hatten sie ihre Hoffnung gesetzt. Sie meinten nämlich, so gut wie sie die Ebbe auf das Meer hinausgetragen habe, so müsse nun die Flut auf demselben Wege sie auch wieder nach den Inseln zurückführen. Der Irrtum in dieser Berechnung war leider nur der gewesen, daß sie ganz dabei des Windes vergessen hatten. Jenes alten, Jahrtausende alten Südostpassates, der nach der Sturmwende der vergangenen Nacht nun volle sieben Monate wiederum unabänderlich wehte, und der sie immer mehr nach Nord und West hinauf entführen mußte. Nach den vergeblichen Ruderversuchen, die schon mehrere Male Rasmus unternommen hatte, glaubte er sich jetzt mit der Meeresströmung im Bunde zu wissen, und so versuchte er denn nochmals, gegen den Fußstock gestemmt, den Wellen beizukommen. Aber seine Kräfte erlahmten, ohne daß er den geringsten Erfolg seiner Anstrengung wahrnehmen konnte. Erschöpft zog er die Riemen ein, als ein merkwürdiger Laut in den Lüften seine Aufmerksamkeit nach oben lenkte. Ein Vogelschwarm wars, der, der Sonne nach, hoch über ihren Häupten dahinzog. Lauter kleine buntgefiederte Geschöpfchen, und das Wesen, das sie machten, klang beinahe wie ein heimatliches Waldgezwitscher.

»Ach, sieh doch,« rief Martha voll Entzücken, »unsere lieben kleinen Sänger sind es!« Aber sogleich fügte sie traurig hinzu: »Wird sie nicht der Kapitän, an seinem Schiffe verzweifelnd, freigegeben haben? Ach, dann lebt mein Kind nicht mehr!«

»Nein, Geliebte,« suchte sie Rasmus zu beschwichtigen, und nahm die Hand der Gattin in die seine: »Viel eher denke ich, daß beim Rettungswerke einer der Käfige zerbrochen ist. Denn wären die Tierchen freigegeben worden, dann würden alle beisammen sein, und diese sind doch nur ein kleiner Teil von ihnen. Sei gutes Mutes, mein Herz: die Braven, die sich der Kreatur erbarmten, die werden unsers Kindes nicht vergessen haben!«

Dies Wort flößte Martha von neuem Zuversicht ein und beruhigte sie wenigstens für ihr zurückgebliebenes Söhnlein. »Die armen Tiere aber,« sagte sie, »nun haben sie ihre Hamburger Gefängnisse mit einer Freiheit vertauscht, in der sie umkommen müssen wie wir!«

Rasmus legte den Arm um sie. »Nein, Geliebte, sie werden das Land der Sehnsucht erreichen und den schönen Traum deines Vaters von einer neuen Freiheit, einer neuen Heimat erfüllen helfen!«

Indem sie so sprachen, bemerkten sie, daß die ermatteten Tierchen immer tiefer das Boot umkreisten, als wollten sie Anstalt machen, sich darauf niederzulassen. Wirklich dauerte es auch gar nicht mehr lange, bis zuerst ein Goldhähnchen zugeflogen kam und auf dem äußersten Rand des Buges sein Füßchen um ein Garnende krallte. Bald darauf folgten gleich zwei Vögelchen, eine graue Waldammer und eine Blaumeise, und ließen sich neben das Safranköpfchen auf dasselbe Kabelgarn herab. Das nun schien das Zeichen für das ganze Völklein zu sein. Unter freudigem Spektakel kamen sie jetzt alle heran und pflanzten sich in dicht gedrängter Reihe auf dem Bordrande hin, mit ihrem lebhaften Gezwitscher vermutlich den Besuch erklärend und um Gastfreundschaft bittend. So saßen die Vögel eine ganze Zeitlang und rührten sich kaum. Einige sodann, die besonders zutraulich waren, kamen auf die Bootsdiele herabgeflogen und pickten die Bröslein auf, die ihnen Martha von dem Zwieback zuwarf. Andere und immer mehr noch folgten, bis schließlich alle zusammen wieder auf dem Bootrand niedersaßen. Plötzlich aber, wie auf ein heimliches Zeichen, erhob sich der ganze Schwarm in die Lüfte und flog davon. Ein dahinschießendes buntes Wölkchen, das bald im Sonnendunst verschwunden war.

Nur die zuerst gekommenen drei: das Goldhähnchen, die Blaumeise und die graue Ammer, weil sie wohl am meisten abgemattet waren, blinzelten mit den schwarzen Beerenäuglein, steckten ihren Kopf unter den Flügel und blieben, wo sie saßen. Als es dann Abend werden wollte und sie wieder aufwachten aus ihrem Schlummer, da hob das Goldhähnchen zu singen an: »Der Sonnenkönig sitzichhier, sitzichhier!« Und schlug mit den goldgebänderten Flügelchen, als wenn es fliegen wollte.

»Zürnmirnicht, zürnmirnicht, zerretetett!« antwortete das blaue Meislein und bewegte sein Federröckchen, wie es das vom Goldhähnchen sah.

Die Grauammer aber, die die weiseste unter ihnen war, zog das eine Beinchen an und ließ ihren Lockton hören: »Slick, slick, flieg mit!«

Da flogen sie alle drei auf und davon.

Rasmus und Martha standen hinten im Schifflein und schickten den flüchtigen kleinen Freunden noch lange ihre sehnsuchtsvollen Blicke nach. Erst als sie, nur noch Flimmerpünktchen, in der Luft vergangen waren, wandten sich beide nach vorn, wo ihr Kind schlief. Wieder allein nun, wußten sie, daß ihnen nichts blieb, als Ergebung in ihr Schicksal. Mit inniger Liebe sah Rasmus sein junges, blondes Weib an. Still und ruhig, gleich einer schönen Schnitterin der großen Wasserernte, stand sie in der schlanken Fülle ihrer Gestalt, deren süßherber Kraft doch auch die zarte, frauenhafte Weiche gegeben war des hingebenden Weibes. Ihr schönes, volles Haar, das sich gelöst hatte, floß in der goldenen Abendluft wie reifer Weizen, der im Winde geht. Eine schwere, duftatmende Sommergarbe.

Rasmus und Martha, die Schiffbrüchigen, treiben in der Wasseröde des Stillen Ozeans

So schwammen sie auf ihrem schwanken Brettlein im grenzenlosen Ozean wie auf einer stillen Insel der Liebe dahin.

Am andern Morgen, als sie in dem weißen, mit klarem Meerwasser aufgefüllten Ammeral ihre Gesichter gefrischt, sich getrocknet und ihr Haar geordnet hatten, badeten sie wie gestern ihr Kind in dem Gefäße und lüfteten sein Kleidchen. Dann überzählten sie zusammen den Bestand ihres Vorrates an Schiffszwieback. 580 Stück waren es noch. Zwanzig hatten sie schon aufgegessen oder den Vögeln gegeben. Sie machten sich nun einen kleinen Überschlag und rechneten aus, daß sie noch 29 Tage zu leben haben würden, wenn sie es so weiter hielten und einen jeden Tag nicht mehr als höchstens 20 Stück von dem Vorrate entnähmen. Diesen Vorsatz hielten sie auch gewissenhaft inne, und nicht weniger sparsam gingen sie mit ihrem Wasservorrat um. Da das Tönnchen auf sieben Gallonen geeicht war, so durften sie sich zusammen jeden Tag gerade ein Quart (das ist etwa ein Liter) gönnen, um es noch 28 Tage auszuhalten. In dieser langen Zeit, wenn sie bis dahin das Meer nicht verschlang, konnten sie immerhin hoffen, einem Schiffe zu begegnen.

Aber Tag um Tag verging, Woche um Woche verstrich, und es war noch immer dasselbe. Wenn der Morgen schien und die Sonne aus den Fluten sich hob, wenn der Abend kam und das Gestirn des Tages sank ins Meer – immer dasselbe Bild der grenzenlosen Öde. Die Wellen unter den Wolkenzügen, die Wolken über den Wellenhügeln – sie alle, ob sie wollten oder nicht, trieb der unabänderliche Wind. Heute wie gestern, morgen wie heute – immer dasselbe. Ein einziges Mal hatte es geschienen, als sollten ihre Leiden ein Ende haben. Eines Morgens glaubten sie vor sich in der glutzitternden Ferne eine schöne, grüne Insel mit den herrlichsten Fruchtbäumen und Palmen zu sehen. Aber je näher sie dem lockenden Bilde kamen, je mehr zerfloß es vor ihren Blicken und erwies sich bald zu ihrer Betrübnis als eine irreführende Luftspiegelung. Da war es wieder das alte Lied ewigen Wellengesanges.

Zweiundzwanzig Tage zählten sie nun schon, daß sie so auf dem Meere herumirrten, und ihr kleiner Vorrat war bis auf 180 Zwiebäcke zusammengeschmolzen. Dabei hatte Rasmus den eigenen Anteil, ohne daß er es Martha sagte, schon seit einigen Tagen um mehrere Stück herabgesetzt. Nun faßte er den stillen Vorsatz, sich selber täglich nur noch fünf Stück zu bewilligen, und hoffte so für die geliebte Frau und sein Kind noch ein paar Tage länger Frist zu gewinnen. Da er sich vor Marthas Augen immer die gleiche Anzahl nahm wie sie, um dann die Hälfte bei einer Gelegenheit heimlich wieder hinzulegen, so wurde sie sein Opfer aber nicht gewahr. Am sechsten Tage der fünften Woche – es war der 7. Juni – teilte er den letzten Rest, 15 Stück, gerecht aus, denn sie hatte es wegbekommen, daß es alle war damit. Und sie nahm um keinen Preis mehr für sich, als er auch hatte. Davon aber lebten sie noch drei Tage. Am 9. Juni, mittags, teilten sie in scheinbarer Heiterkeit, die jedes dem anderen vortäuschte, das letzte Stück miteinander, und am Abend desselben Tages ging auch ihr Wasservorrat zu Ende. Das war am sechsunddreißigsten Tage ihrer Irrfahrt.

Nun ging es unaufhaltsam abwärts.

Am 10. Juni empfingen sie den ersten ungebetenen Gast in ihrem Schifflein, das war der Hunger. Am 11. Juni stellte sich der Durst ein. Sie sahen sich gegenseitig an in ihrer Not, sagten aber nichts; doch in beider Augen stand um den anderen hilfloses Mitleid zu lesen. Und noch sollte das Maß ihrer Leiden nicht voll sein. Am Donnerstag, dem Zwölften, wurden sie von drei Übeln zugleich heimgesucht: dem Hunger, dem Durste und dem Fieber. Das letzte dieser Leiden hatte es jedoch nur auf den Mann abgesehen. Es faßte ihn, nachdem es ihm schon in den Morgenstunden als seinen Vorboten einen Schüttelfrost geschickt hatte, unter allen Erscheinungen eines plötzlichen Verfalles. Martha hatte das Haupt des Geliebten auf ihren Schoß gebettet und wachte in unendlicher Sorge über ihn. Obgleich Rasmus mit keinem Worte klagte, so konnten doch dem Blick der Liebe die Qualen nicht entgehen, die er auszustehen hatte. Sein Auge glühte von dem innern Feuer, das ihn verzehrte, und, in ihrer Hand, seine Finger zuckten. Hin und wieder tränkte Martha ihr Busentuch im kühlen Meerwasser, um es über seine Stirn zu breiten, während ihr Mund mit bangen Küssen seine Lippen feuchtete, wenn sie sah, wie die Fieberhitze sie versengte. »Gott, Gott, laß ihn mir nicht sterben!« betete sie inbrünstig. Gegen Abend, als die Glut etwas nachzulassen begann, schlief er ein und schlief die ganze Nacht hindurch. Erst am andern Tage, dem vierzigsten ihrer Leidensfahrt, war es um die Mittagsstunde, als Rasmus die Augen wieder aufschlug.

*

Er fand sich zu seiner größten Verwunderung in einer prächtig eingerichteten Kajüte auf einem Diwan liegen, an dessen Fußende Martha saß, ihr Knäblein auf dem Schoße. Durch die geöffneten Fensterluken strich die kräftige, frische Seeluft herein, und hell schien die Sonne. Er atmete tief und ließ seinen Blick, der heute etwas klarer sah, herumgehen: »Wo sind wir?«

»Nicht unter Freunden, mein Lieber«, gab Martha, die aufgestanden war, zurück und strich mit der treuen Hand über sein Haupt hin. »Aber wie es uns gestern noch erging, müssen wir nicht froh sein, daß wir leben?«

»Wie sagst du?« forschte der Kranke voll Erstaunen. »Gerettet sind wir, und doch nicht unter Freunden, die es aus Menschenliebe getan? In dieser schönen, angenehmen Kajüte hier, und nicht unter Leuten, die es wohl mit uns meinen? Ja, sind wir denn in Piratenhände gefallen?«

»Du hast es erraten, Rasmus, es ist ein Seeräuberschiff, auf dem wir uns befinden! Die Mannschaft, soviel ich als einfache Frau beurteilen kann, scheint zusammengewürfelt zu sein aus aller Herren Ländern: die meisten von ihnen machen den Eindruck von Abenteurern oder Ausgestoßenen. Die Herren des Schiffes aber sind Menschen einer fremden, gelben Rasse, die wohl irgendwo in diesen Gewässern heimisch ist.«

Wie sie noch so sprachen, öffnete sich die Tür, und es trat unter dem roten Damastvorhange ein gelbes, mißgewachsenes Männlein hervor. Es hatte einen Turban auf dem Kopfe und trug in den vertrockneten Händen eine seltsame silberne Schale mit allerhand Früchten und Backwerk, nebst den gleichen Tellerchen und kleinen elfenbeinernen Messern dazu. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, stellte er alles auf ein türkisches Tischchen hin, das sich zu Häupten des Kranken befand. Dann kam er noch einmal und brachte auf einer goldenen Platte, die er wieder mit sich nahm, zwei aus blitzendem Kristall geschliffene venedische Karaffen, in deren einer frisches, klares Trinkwasser, in der anderen aber dunkelroter Muskatwein enthalten war. Schweigend, wie er gekommen, entfernte sich der Zwerg wieder, um sich nicht mehr blicken zu lassen, bis zum anderen Tage.

Der rote Seidenvorhang, der sich hinter dem Männlein wieder geschlossen hatte, erschien ihnen in diesem Augenblicke wie ein geheimnisvoller Schleier, dahinter ihr Schicksal stand. Doch ließen sie den Mut nicht sinken. Tranken von dem süßen Weine, den sie sich mit Wasser mengten, und aßen auch ein wenig von dem Kuchen. Bald darauf schliefen sie ein und wachten nicht mehr auf, bis die Sonne wieder schien.

Martha erinnerte sich bald eines kleinen Schlüssels wieder, den man ihr gestern, auf eine Truhe deutend, übergeben hatte. Diese alte Lade untersuchte sie jetzt näher und fand, daß sie von oben bis unten Gewänder und Linnen enthielt. Alles von einer Kostbarkeit und Fülle, die kaum die Natur des Schiffes der Erstaunenden erklären konnte. Sie sah sich nun weiter um, und immer mehr und angenehmer überrascht, fand sie in einer kleineren Kabine, die hinten an ihre Kajüte anschloß, ein warmes Bad gerüstet. Dieser schon langentbehrten Wohltat konnten sich freilich nur Mutter und Kind allein erfreuen, da sich Rasmus noch zu matt fühlte. Doch Martha netzte ihn wenigstens mit einem weichen Levanteschwamm und trocknete ihn. Dann kleidete sie den Erquickten in das frische Linnen ein, wie sie auch mit sich getan hatte, und ordnete sich selber mit schnellen Händen das hochgebundene schöne Haupthaar.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als der Zwerg wiederkam. Er redete sie in einer Sprache an, deren fremde Laute sie noch nie gehört hatten. Als sie lächelnd mit dem Kopfe schüttelten, sagte er etwas zu ihnen, das wie Englisch klang, aber sie verstanden es wieder nicht. Auch Marthas Kenntnisse im Französischen, womit ein dritter Versuch gemacht wurde, waren doch zu bescheiden, als daß die Verständigung hätte gelingen können. So dauerte es noch eine kleine Weile, bis das sprachkundige Männlein, das anscheinend alle Zungen der Welt beherrschte, endlich auch zu ihrem geliebten Deutsch gelangte. Da war denn die Freude groß, um so mehr, als sie dies nicht vermutet hatten. Was sie freilich dann zu hören bekamen, gefiel ihnen weniger. Das erste war, daß sie das Männlein einem peinlichen Verhör unterwarf. Woher sie kämen, wohin sie wollten, wer sie wären und was ihre Freundschaft und Sippe sei. Und so fort bis ins Endlose. Alles aber, was dem Buckligen wichtig erschien, das notierte er sich auf eine Pergamenttafel. Als er dann fertig war mit diesem Geschäft, zwinkerten seine Äuglein, und er sagte in einem freundlicheren Tone zu Martha, daß man sie am Nachmittage dem Patron vorführen werde, der in seiner Kajüte schwerkrank daniederliege. Wenn sie nicht viel, sehr viel Gold besitze, womit sie sich loskaufen könne, habe sie die Wahl, entweder die Sklavin des Kapitäns zu werden oder aber mit ihrem Manne zu sterben. Sie solle sich, wenn ihr ihr Leben lieb sei, nur ja nicht weigern und nicht dem Kapitän entgegen sein, denn alsdann wäre sie sogleich verloren. Sonst aber könne es möglicherweise ihr Glück bedeuten, daß sich der Patron genau in derselben Lage befunden habe wie sie auch. Denn erst vor kurzem sei er durch eines seiner Schiffe, die in diesen Gewässern kreuzten, nach Jahr und Tag langer Verschollenheit aus dem weiten Meere als ein schon fast Verlorener aufgefischt worden und wie durch ein Wunder zu ihnen zurückgelangt. Das Schiff aber, auf dem sie sich befänden, sei der gefürchtete Caliban, der Schrecken aller Seefahrer, von dem sie wohl schon gehört habe!

Mit diesen Worten entfernte sich das Männlein und ließ sie beide in Zagen und Angst zurück.

Stunde um Stunde verrann, ohne daß sich wieder ein Mensch um sie bekümmerte. Wäre nicht eine alte Pendule gewesen, deren geheimes Räderwerk an der Wand die Zeit vertropfte und hin und wieder einmal durch einen tieferen, dröhnenden Schlag die Stille lautbar machte, sie hätten meinen können, auf einem Totenschiff zu fahren. Nicht einmal der Stundenruf der Wachen in den Gängen und oberen Verdecken drang zu ihrer abgelegenen Kajüte herunter.

Sie hatten ihre Fassung wiedererlangt und ihr Entschluß stand fest, als endlich knarrende Schritte nahten und die Tür sich öffnete. Durch den Schlitz des Vorhangs schob ein Kopf hindurch, und die dünne Stimme des Buckligen kreischte heiser: »Folge mir, Frau!«

Die Gatten tauschten noch einen schnellen Blick und Händedruck miteinander, dann nahm Martha ihr Kind und gehorchte schweigend. Vor der Tür befahl ihr der Zwerg niederzuknien und legte ihr eine schwarze Binde um die Augen. Da diese aber nicht ganz fest saß, bekam sie von unten her doch einen Schimmer Licht herein, und sie konnte, wenn sie den Kopf hob, sogar ein wenig sehen. Sie stiegen eine kleine Treppe hinauf und gelangten in einen langen, spärlich erleuchteten Gang, der nach dem Hinterschiff führte. Vor einer schmalen Vertäfelung, die sich in nichts von den anderen Feldern der hölzernen Wandverkleidung unterschied, machte das Männlein halt und schlug dreimal einen kleinen, silbernen Gong an, worauf sich von innen her die Wand bewegte und zurückschob.

Sie traten in eine Kammer ein, die, da sie mitten im Schiff lag und keine Fenster hatte, ihr gedämpftes Licht von einer Ampel erhielt. Außer dem geheimen Eingang, der sich hinter ihnen wieder geschlossen hatte, zeigte sie nur eine einzige schmale Tür, die, rechts und links, zwei finsterblickende Flibustier bewachten. An ihren vier Wänden verlief eine mit bengalischer Seide bespannte Ottomane, auf der sich Martha mit dem Kinde niederließ. Zwei, drei bange Minuten, die ihr Ewigkeiten dünkten, mochte sie hier gesessen haben, als sie das Männlein auf den Arm tippte. Vorher schon hatte sie der Zwerg von der Binde befreit.

Plötzlich wurde blendende Tageshelle um sie. Überrascht sah Martha in eine Kajüte hinein, die, kaum viel geräumiger als die ihr und Rasmus zugewiesene, doch eine Pracht zeigte, die noch weit größer war. Ganz und gar in indischem Gelb, mit der leuchtenden Seide von Mysore ausgeschlagen, welche nachtsatte, ozeanblaue Streifen durchzogen, war der Raum von einem verwirrenden Licht durchflutet. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie, gewöhnt daran, ihre Aufmerksamkeit gesammelt hatte und näher trat. Ihr Blick fiel auf ein großes Ruhebett an der hinteren Wand, das die gleißende Pracht eines mächtigen Tigerfelles bedeckte. Sie zuckte zusammen, wie von dem Blick der Schildviper getroffen. Aus den Kissen glühte ihr ein Auge entgegen – ein einziges Auge ...

Tod und Zerstörung stand darin ...

Und dann hörte sie auch die schreckliche Stimme, deren Laut ihr sagte, was sie zu erwarten hatte.

Ein Flüstern mahnte sie: »Verneige dich, es ist der Schiffshauptmann!« ...

Sie gehorchte ...

Der Zwerg stand neben ihr und verdolmetschte ihr jedes Wort des Einäugigen.

» Orangbrani, der Herr des Caliban, begehrt dich zu seinem Weibe.«

»Sage deinem Herrn,« antwortete Martha beherzt, »daß ich das Weib des Mannes bin, der mit mir ist.«

»Orangbrani hat beschlossen, daß dein Mann sterben soll. Er spricht: ›Du wirst keines Mannes Weib sein als Orangbranis.‹«

»Sage deinem Gebieter, der nicht der meine ist, daß wir zwar das Sterben, aber nicht den Tod fürchten. Er möge tun mit uns, was ihm gefällt.« Bei diesen Worten warf sie das Haupt zurück und zeigte einen sonst nicht vorhandenen stolzen Ausdruck in dem schönen, edlen Angesicht.

»Der Herr des Caliban,« sprach mit einer unheimlichen Betonung der Zwerg wiederum: »Er kann dich ins Meer werfen lassen, den Fischen zur Speise. Er kann es sogleich befehlen!«

»Er möge es tun«, beharrte Martha zitternd und mit leiserem Tone, indem sie das Knäblein an sich preßte. Ihr war es im Augenblick, als wolle der Mißgeschaffene jede Silbe dieser furchtbaren Drohung auf seiner Zunge mit ihren Qualen abwiegen.

»Orangbrani will, nun sollst du auch nicht sterben: Die letzte seiner Sklavinnen sollst du sein, die ihm Balsam auf die Füße legt.«

»Ich werde deinen Herrn töten, wenn er meinen Gatten tötet und ich seine Sklavin bin – der Himmel mein Zeuge hierfür!« Wie eine Göttin des heiligen Zornes stand sie in diesem Augenblicke.

Das Männlein machte ein erschrocken Gesicht, und es schien, als ob er sie retten wolle. Er blinzelte, daß sie schweigen solle. Nachdem er einige Worte leise mit dem Kapitän gewechselt hatte, der in der flammenden Seide wie ein Fürst der Hölle lag und, stöhnend vor Schmerzen, sein schreckliches Auge rollte, wendete sich der Zwerg an Martha zurück.

»Kannst du Lösegeld zahlen?« fragte er.

»Ich nicht,« erwiderte Martha, »aber ich zweifle nicht, daß es mein Vater tun wird, wenn er von meiner und meines Mannes Lage Kenntnis erlangt. Wieviel Gold wollt ihr von ihm?«

»Hm ...« brummte der Zwerg sinnend in seinen schwarzen Bart und meinte dann geringschätzig, als ob das so gar nichts wäre: »Dreitausend englische Pfund für dich und noch einmal tausend Pfund für deinen Gemahl – ich denke, daß das nicht zuviel ist!«

»Gut. Zweitausend Pfund Gold für meinen Mann und zweitausend für mich, so soll es sein!« handelte Martha auf der einen Seite für sich selbst ab und legte sie auf der andern für ihren Mann wieder dazu.

Das Männchen lächelte. »Die Rechnung soll uns gleich sein. Sorge, daß du bald gelöst bist!« Mit diesen Worten ließ er sie niederknien und legte ihr von neuem die Binde um. Dann führte er sie auf demselben Wege, auf dem sie gekommen waren, nach ihrer Kajüte zurück.

Das war die schwerste Stunde ihres Lebens. Von da ab hatten sie beide über die Behandlung auf dem Schiffe nicht wieder zu klagen. Sie genossen nach wie vor eine aufmerksame Verpflegung und durften sich sogar, nachdem Rasmus genesen war, jeden Tag einige Stunden auf dem Vorderdeck ergehen. Die Grenze des ihnen freigegebenen Striches lag durch den Fockmast bezeichnet, über dessen Pfeiler hinaus ihnen allerdings bei Todesstrafe das Schiff verboten war. Jetzt erst erfuhren sie, daß sie der Caliban in der Nähe eines Eilandes aufgefunden hatte, welches Ysabel heißt und eine von den Salomonischen Inseln im Nordosten des Korallenmeeres ist. Soweit waren sie in ihrer Nußschale von der Wind- und Wasserströmung hinaufgeführt worden.

Acht Tage hiernach passierte der Korsar bei günstigem Wind die Torresstraße und lief bald darauf eine Insel an, die den Namen Timorlaut hat. In einer der versteckten Buchten dieses Eilandes erhielt der Caliban einen neuen Anstrich, der ihm ein gänzlich verändertes Aussehen gab. Von da ging die Fahrt zunächst nach der Insel Timor, wo gerade großer Wochenmarkt war und sie allerhand Kram und Tand gegen Wachs, Gold und Opium eintauschten, und dann weiterhin nach Sumba auf Sandelbosch. Von hier aus wurde ein Brief Marthas an ihren Vater mit der Prau eines den Räubern ergebenen Eingeborenen nach Sumbawa befördert, von wo ihn ein holländischer Dampfer über Lombok nach Colombo mitnahm, dem bekannten vorderindischen Hafen, der ab und zu von den Schiffen des Hauses Wullenweber angelaufen wurde. Der Caliban selbst aber richtete seinen Kurs durch die Inselwelt der Molukken nach der Sulusee, nördlich von Celebes, wo er zu Hause war. Zuvor hatte er noch einen heftigen Sturm in der Nähe der Gewürzinseln zu bestehen, aus dem er jedoch wohlbehalten hervorging. Er hatte sogar noch das Glück dabei, mit der Kaperung einer chinesischen Kauffahrteidschunke, die sich zu weit in diese gefährlichen Gewässer herabgewagt hatte, eine gute Prise zu machen.

*

Während dieser Geschehnisse beklagte Rust seine Kinder und beweinte sie als verloren. Und zu der Trauer um ihren vermeintlichen Verlust gesellte sich noch die gerechtfertigte Betrübnis um den Tod des alten Wullenweber, seines unvergeßlichen Wohltäters und Freundes. Die Miranda hatte die Nachricht mitgebracht. Seinen Schmerz zu betäuben, stürzte sich Rust noch tiefer als sonst in die Arbeit an seinem Werke. Durch die letztwillige Verfügung des alten Herrn war er nunmehr in den alleinigen Besitz Simsiniens, seiner Lieblingskolonie, gelangt, und hatte hier freie Hand bekommen. Seine Freude darüber konnte um so ehrlicher sein, als auch der alte Thomsen, sein Teilhaber, und die treue Pflegerin des alten Herrn, Frau Katharine Möbius, nicht vergessen worden waren. Thomsen hatte das herrliche Weinbergsgut in Blankenese und Frau Möbius das Haus am Jungfernstieg erhalten, während alle übrigen Besitztümer des Hauses bis auf eine größere Summe, die für Stiftungen vorbehalten war, in der Hand der beiden Teilhaber vereinigt blieben.

So konnte denn Rust im dritten Jahre seiner Anwesenheit daran denken, die weiteren Pläne, die er seit langem zum Wohle der geliebten Insel ins Auge gefaßt hatte, der Verwirklichung näherzuführen.

Sein Entschluß ging dahin: Jeder Kopf in Simsinien, gleichviel ob Mann, Weib oder Kind, sollte auf Lebenszeit ein Stück Erde erhalten, gerade so klein und so groß, daß er daran genug hatte. Diese Landstücke, von denen eines so wertvoll wie das andere war, wurden durch das Los gezogen, waren unveräußerlich und fielen bei Tode an die Volksgemeinde zurück. Es stand einem jeden aber frei, das ihm zugefallene Land gegen ein anderes Stück, das ihm vielleicht lieber war, gütlich umzutauschen. Dem Sohne stand nach dem Tode der Eltern auf die väterliche Scholle sogar das Recht des Tausches zu. Wer indessen kein Land zu bebauen wünschte und aus eigenen Stücken auf sein Teil verzichtete, der erhielt zur Entschädigung eine entsprechend kleine Geldaussteuer in barem vergütet und konnte sich dann einen anderen Erwerb damit begründen. Eine Vergünstigung, die auch den Frauen zustand. Sie sollten hierbei ebensowenig vergessen sein wie die Kinder, deren Anteile von den Eltern mitbewirtschaftet wurden.

Große Summen mußte Rust darangeben, um diese tiefeingreifende Umgestaltung, von der die Bewohner Rusthafens fast noch mehr berührt wurden als die Landeskinder selber, nach Möglichkeit schmerzlos durchzuführen, aber im Bewußtsein der guten Sache tat er es gern.

*

Ungefähr ein Jahr war nach diesen Begebenheiten und Wandlungen verstrichen, als sich in einer warmen Aprilnacht, zur Zeit der Herbstwende, ein schlanker Kauffahrteier mit Briggschifftakelage dem Suchlicht von Kap York näherte. Den Richtfeuern der australischen Seite der Torresstraße entlang, nahm das Schiff seinen Weg nach Westen und tauchte bald in die Nacht der Arafurasee hinein. Zwei Tage fuhr es in diesem Meere, bis es am dritten sein Steuer herumlegte und in ein Gewässer gelangte, das von den Fahrstraßen der Völker abseits liegt. Hier, zwischen Timor und Timorlaut, findet sich einer jener hinterindischen Inselschwärme verstreut, deren Gewimmel auf ein großes Naturereignis in den Urzeiten hinzuweisen scheint und die vielleicht als die letzten Brückentrümmer einer uralten Verbindung zwischen Asien und Australien anzusehen sind. In ihre Irrnisse einzudringen, wenn es nicht unbedingt sein muß, vermeidet am liebsten der Schiffer. Nicht so sehr verborgener Klippen und Untiefen wegen, sondern weil es eine einsame Wassergegend ist, die ihrer guten Verstecke halber mit Vorliebe von Flaggen aufgesucht wird, die nicht immer ganz unverdächtig sind.

Unserm Kapitän jedoch schien die blasse Farbe nicht anzuliegen, und so steuerte er denn getrost in das blaudurchflossene Insellabyrinth hinein. Es war ein strahlender Maimorgen, als die Brigg angesichts eines dieser Eilande Anker warf. Im Kartenhause auf dem Brückendeck stand, mit dem Kapitän im Gespräch, ein Herr in den mittleren Jahren, dessen von einer auffallenden Willenskraft ausgeprägtes Gesicht ein kurzgeschnittener schwarzer Vollbart säumte. Vor ihm auf dem Tische lag ein Seeplan aufgeschlagen, auf dem ihm der Kapitän mit einem Stäbchen soeben einen Punkt bezeichnete: »Sehen Sie, da haben wir die Stelle ... ganz genau, es ist die Insel, die wir sehen.«

»Nun,« antwortete der zweite, der kein anderer als Rust war, »wenn der höllische Caliban so pünktlich ist wie unsere blinkeblanke flinke Miranda, so brauch ich nicht mehr lange zu warten, bis ich meine Kinder umarmen kann.«

Mit diesen Worten traten sie auf die Schiffsbrücke hinaus und richteten ihre Ferngläser auf den nördlichen Horizont. Ein wundervoller Himmel, den hier und da ein weißes Lämmerwölkchen durchschwamm, spannte sein tiefes, sattes Kornblau über die Millionen hüpfender Diamantflächen hin und senkte in den Fernen, wo Luft und Wasser in einem einzigen Duft zusammenzufließen scheinen, jene unendlich zarten Schleier herab, die an solchen Tagen gewebt sind wie von der Sehnsucht selber. Rust hatte sich schon wieder abgewendet und wollte gerade die Leitertreppe zum Verdeck herabsteigen, als ein leiser Ausruf des Kapitäns ihn zurückhielt: »Hol mich der Düker, wenn nicht der Halunke pünktlicher ist als wir!« Hierbei deutete er mit der Hand auf eine Landzunge hin, die sich im Hintergrunde der Insel, anscheinend vor einer Bucht, um einige Schiffslängen nach Westen herausschob.

Rust richtete sein Glas dorthin, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Die ganze Insel schien durch eine sie umlaufende Barrikade undurchdringlicher Mangrovenwälder unnahbar zu sein. Erst hinter den breiten Kronen dieses Gezeitenwaldes, der sich auf hohen Luftwurzelgerüsten wie auf Pfahlbauten über dem Wasser erhebt, steigen die Palmenhäupter und höheren Kronen des Innenwaldes empor. Rings, so weit man sehen konnte: kein Zugang, kein nahbares Ufer tat sich auf. Der umgürtende Wasserwald, eigentlich ein Doppelwald übereinander, ist ein undurchschiffbarer, wurzeldurchkletterter Sumpf, da wäre keine Jolle eingedrungen. Und auch die Labyrinthe seiner immergrünenden beiden Stockwerke: oben breitästige, mit Blüten und schmarotzenden Blumen weiß und gelb und scharlachen durchwirkte Laubräume; darunter, auf den schmächtigen Nebenstämmen der Luftwurzelstützen ruhend, die moosbepelzten Baumgewölbe; alle erfüllt und durchsponnen bis hinauf in die obersten Kuppen von den Netzen, Geweben, Seilgehängen farbenglühender Lianen, saftstrotzender Schlinggewinde – sie lassen keinen Platz mehr dem Lebendigen. Hier, in smaragdenem Dunkel, ruht das Schweigen einer anderen Welt. Hier, wo die gefangenen Wasser in Käfigen steigen und fallen, sperren Land und Meer einander, als wäre ein Geheimnis in diesen grünen Irrnissen und hätte von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang, jeglichen Tag, über dem Schöpfungsrätsel der Jahrtausende zu brüten. Etwas Starres, Gläsernes über tausend Spiegeln der Stille ... ewig zeugender Verwesung ... Ein einziger Vogel nur, ein einsam über den Wipfeln streichender bunter Flügelbreiter, der sich erschreckt herab in die grünen Dämmerungen dieser Dickichtschauer zu bergen suchte, schien das seltsame Wesen zu sein, das die verwunschene Insel belebte.

»Ich sehe nichts«, sagte Rust, »als Wasser und Land.«

Schweigend reichte ihm der Kapitän jetzt sein eigenes Fernrohr hin und richtete es ihm auf jenen Landvorsprung hin, auf dessen Rücken über dem Zwillingswald der Mangrove ein hoher Hain schlanker Palmyrapalmen seine grünen Fächelwedel im leichten Ost schaukelte. »Sehen Sie nicht die drei Spitzen über dem Walde? Ich will Jan heißen, wenn das keine Spieren von den Masten eines Schiffes sind!«

Jetzt erkannte sie auch Rust, und er hatte noch nicht das Glas zurückgegeben, als plötzlich die grünkristallene Fläche, die in den Binsen und Wurzelgestellen der ersten Leuchterbäume stand, von einer anschlagenden Welle flüssig ward. Unmittelbar darauf sah man hinter den Bäumen eine vierte Spitze, die tiefer und schräg ragte, sich langsam vor- und herausbewegen, um sich schon im nächsten Augenblicke als der Klüverbaum eines Schiffes zu erweisen. Vor ihren erstaunten Augen zeigten sich die schlanken, scharfen Linien eines schwarzgestrichenen Klipperschiffes, über dem sich wie die verwitterten Brüste einer Sphinxreihe steingraue Segel blähten.

Als das seltsame Schiff eine gewisse Höhe erreicht hatte, wurde alle Leinwand seiner Masten und Rahen von unsichtbaren Händen eingezogen und ein Boot zu Wasser gelassen, das sich langsam der Miranda näherte. In diesem Augenblick zogen beide Schiffe an ihren Fockmasten weiße Flaggen auf, und auch die Brigg ließ eine Pinasse zu Wasser. Mit einigen hundert Ruderschlägen waren die Boote so weit aneinander herangekommen, daß die beiderseitigen Insassen sich mustern konnten.

Das Malaienboot wurde von zwölf Flibustiern gerudert. Reichgekleidete kraftvolle Gestalten alle, die von Dolchen, Flinten und Pistolen bis an die Zähne starrten. Auf der mit einem Teppich verkleideten Mittelbank des Bootes hatte ein Männlein Platz genommen, das anscheinend jener Zwerg war. Das verschrumpfte Körperchen steckte ihm in einem prächtigen karmesinroten Gewande aus dem kostbarsten indischen Seidentaft, während ein weißer, goldgestickter Turban seinen Kopf zierte. Unförmlich, wie von tausend Weisheiten aufgetrieben, sah dieser Kopf wie eine große vertrocknete Pomeranze aus, die sich auf einem schmächtigen Pergamentröllchen schaukelte.

»Ein kurioses Männchen«, dachte Rust bei sich, und doch schien es ihm in seinem Blicke etwas zu haben, daß man sich vor ihm fürchten konnte. Jetzt aber zwinkerte es abschiedsfreundlich zu denen hinüber, die, mit dem Rücken nach dem Vater gekehrt, klopfenden Herzens den Zwölfschlag der einfallenden Ruder zählten.

Noch eine letzte Anstrengung, und die Boote lagen aneinander. Ein paar Fangleinen fielen herüber und hinüber, und schnell waren die Bordwände gegenseitig festgemacht. Rust hatte sich erhoben und überreichte dem Zwerg, der auf die Ducht gestiegen und gleichfalls herangetreten war, zwei lederne Beutel, deren Inhalt in wenigen Minuten von dem Männlein geprüft war.

Mit glühender Seele stand Martha, ihr Kind auf dem Arme, mitten im Boot neben Rasmus und sah zu ihrem Vater auf. Als sich ihre Blicke begegneten und sie fühlte, wie sie das Auge des Vaters stolz und bewundernd überglitt, stieg eine tiefe Röte in ihr auf. Im nächsten Augenblick, von Tränen der Freude heiß, lagen sich Vater und Tochter in den Armen.


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