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Zweites Buch.
Rusthafen

Sechstes Kapitel.
Die Diamantinsel

Rusts Eiland ist eine jener entlegenen Inseln der innersten Südsee, die bis vor kurzem noch auf keiner Karte zu finden waren. Ihr eigentlicher Name Siniam oder wie sie auch heißt, Simsinien, war noch um das Jahr der Niederschrift dieser Geschichte so gut wie unbekannt. Auch Rusts Tagebuch berichtet uns verhältnismäßig nicht viel darüber. Da es mit der Stunde der Landung auf der Insel abbricht, sind wir jetzt wieder auf die Glaubwürdigkeit unseres Gewährsmanns und Erzählers angewiesen. Er hat uns Rusts und seiner Insel merkwürdige Geschichte aufbewahrt.

Siniam gehört zu einer Elfinselgruppe, von der die vier größeren bergerfüllte hohe Vulkaninseln sind, während die anderen sieben als ein Kranz umgelagerter flacher Koralleneilande sich kaum über das Meer erheben. Die bis in die höchsten Gipfel und Kuppen hinauf von reichen Wäldern übergrünten Berginseln, »die vier Brüder«, wie sie heißen, ragen inmitten einer blauen, leuchtenden Lagune auf. Ferne, gegen das Meer hinaus, sind sie rundherum von einem unterseeischen Wallriff umgürtet, auf dessen wasserschaumbedecktem Rücken sich die schlanken, jüngeren »Siebenschwesterinseln« die Hände reichen. Nach Nord und Ost und West gelagert, als wollten sie ihre grünbeschatteten weißsandenen Schimmerglieder in sehnsüchtiger Dehnung um die vier dunkleren Brüder in der Lagune schlingen. Der vom Riff umspannte leuchtende Wasserring zwischen den Innen- und Außeninseln beträgt in seiner gleichmäßigen Breite nach allen Seiten hin ungefähr fünfviertel Seemeilen und liegt für gewöhnlich, im Gegensatze zu dem anstürmenden Ozean, von dem ihn jenes runde weiße Schaumband scheidet, im ewigen Lächeln einer sanft bewegten Bläue da. In seiner geschützten Lage und Tiefe, die zwischen den Inseln bis zum äußersten Wall am Meere überall etwa zwölf Faden beträgt, bietet er dem Schiffer einen vortrefflichen Ankergrund und Hafen.

Zu dieser mittenozeanischen Meeresburg des Friedens, dieser ummauerten und umbrandeten, wasserumblauten und von den lebendigen Palisaden rauschender Wälder geschützten Festung der Einsamkeit, liegt der einzige Zugang und Schlüssel nach Osten. Dort, an einer Stelle der Ringklippe zu finden, wo die beiden Morgeninseln schwesterlich zusammentreten, wo die ewige Brandung von außen heran, die Süßwasserströmung der Berggewässer von innen her, in den Korallenwall zwischen Meer und Lagune eine willkommene Bresche gerissen haben. Genügend tief und breit gerade, um einem vollgetakelten Schiffe zur Hochwasserzeit einen gefahrlosen Durchgang zu gewähren. Ein Tor der Sicherheit, das regelmäßig zu seiner Schließestunde, das heißt mit dem Eintritt der Ebbe, von dem zurückweichenden Meere abgeriegelt wird. So hat es die Natur selber eingerichtet, diese glücklichen Inseln alle sechs Stunden einmal, um die Zeit des Niedrigwasserstandes, von der stürmevollen Außenwelt vollkommen abzuschließen.

Wie durch Lotungen festgestellt ist, stehen alle diese elf Eilande auf einem und demselben vulkanischen Sockel. Einem basaltischen Felsenstocke, dessen Mächtigkeit bis zum Riff- und Inselring der Lagune anfänglich nur wenig absinkt, dann aber, kaum eine Schiffsmeile weiter hinaus in die See, plötzlich schroff nach allen Seiten in unfaßbare Meerestiefen hinunterfällt. 9400 Meter gen Osten, wie im Jahre 1876 die Tuscarora maß! So ward ein Reich des Lichtes hier vom unterirdischen Feuer gebaut, dem alten Urfeuer der Erde!

Die Osterwoche, in der in der Frühe des Gründonnerstages Rust gelandet war, fällt in Ozeanien in die Zeit des südlichen Herbstes. In den Kokoswäldern, die den Fuß der Inseln umrauschen, bogen sich schon die schlanken Stämme unter der Fruchtlast ihrer lichtgrünen gefiederten Wipfel: die rötlichen Kätzchen des Brotfruchtbaums schimmerten in den ernteschweren, reichen Laubkronen; die Kerzen der Sagopalme brannten unter den Wedeln; Zitronen leuchteten; und die Goldfrucht des Orangebaumes glühte im Laub. So fand Rust seine eingeborenen Freunde, jung und alt, bei der Ernte wieder.

Da der Sperber mit der Flutstunde des frühen Morgens eintraf, so war die Ankunft des Schiffes von vielen Langschläfern nicht bemerkt worden. Immerhin verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer über die Inseln, und aus allen Tälern strömten die Menschen herbei und besetzten in kurzem alle Kanus am Strande, dem Schiff entgegenzufahren. Die Frauen, die Mädchen, Blütenkränze und Blumen im Haar; während Männer, Jünglinge, ja kleine Knaben selbst, als ein Geschenk ihrer Freude grüne Zweige und Früchte trugen. Denn Rust war nicht vergessen bei ihnen. So sah sich die Hamburger Bark, die die Eingeborenen als das Schiff ihres Freundes sofort wiedererkannten, bald von einer kleinen Flotte von allerhand menschengefüllten Fahrzeugen umschwärmt, deren jedes das erste sein wollte, die deutschen Kauffahrer zu begrüßen.

Am innersten Gestade der gleich einem Herzen eingeschnittenen Ostbucht der Mittelinsel, die die beherrschende ist auch als die größte und höchste der Gruppe, betraten Rust und seine Gefährten das Land. Empfangen von den Tayorufen des Volkes und dem Willkomm der am Ufer versammelten zwölf Vornehmsten des Landes. Einer unter diesen, die alle Zwölf mit dem Kopfschmuck der Häuptlinge, der Tuinga, ausgezeichnet waren, ein Mann in den mittleren Jahren von gebieterischer Haltung und Ansehen, trat sofort auf Rust zu und umarmte ihn wie einen alten, vertrauten Freund. Tutuma, der König von Siniam, dessen Gast Rust vor vier Sommern gewesen, hatte die hohe, kräftige Gestalt wie die Südseeinsulaner des polynesischen Stammes fast alle, und der stolze Ausdruck seines wohlgebildeten, italisch braunen Gesichtes, dem die wie ein Adlerschnabel vorspringende Nase einen kühnen, entschlossenen Charakter gab, ließ auf den ersten Blick den Herrscher erkennen. Außer der Lavalava, einer aus Pflanzenbast gearbeiteten orangefarbenen Lendenumhüllung, die ein goldgewirkter Gürtel hielt, war er nur mit Sandalen noch bekleidet und einem malerisch über die Schulter geschlagenen kostbaren Mantel aus Papageienfedern. Dieser, wie der Prachtfederschmuck des Hauptes, das königliche Zeichen seiner Würde, wurde nur bei festlichen Gelegenheiten angetan.

Im ersten Augenblick schien sich Rust etwas befremdet zu fühlen, daß in dem umdrängenden Volke nicht ein einziger Landsmann zu finden war; die Erklärung für diesen auffälligen Umstand war aber sehr natürlich, da die deutsche Ansiedlung auf der Südseite liegt, von der aus das Schiff nicht gesehen werden konnte.

Während nun die gesamte Mannschaft einer Einladung der Unterhäuptlinge in das Dorf folgte, schlossen sich Rust, der Kapitän und Erste Steuermann, der Schiffsarzt, der Proviantmeister, Tim Rafter und Sylvester vorerst Tutuma an und gingen mit ihm nach seinem Hofe.

Tutumas Haus lag an einem Flüßchen im Hintergrunde des anmutigen Tales, das sich nach der Bucht hinaus am Dorfe Siniam öffnet. Unweit der Landungsstelle, wo jenes Gewässer aus seinem grünen Gewölbe von verschlungenen Palmen- und Farrenwedeln heraustritt, um seine Klarheit in die flimmernde Lagune zu ergießen, biegt der Weg ab und führt nun zwischen mehr und mehr herantretenden Berghängen und Felsenwänden im Grunde an dem Waldwasser hin. Zuletzt erweitert sich das Tal wieder und öffnet sich einer frischen Graswiese, an deren Ende damals, unter den kühlenden Fächern wehender Kokospalmen, dem Frieden schattenbreitender Pandanen, die hellen Mattendächer des Hofes zur Rast luden. Nach Abend und Mitternacht von hohen, moosüberkletterten Felsen, nach Süden vom Silberband des Flusses und bergaufsteigenden Waldketten beschützt, lag die Siedlung nur nach Osten auf die Wiese offen, hier wieder durch einen Graben gesichert und eine hochgeschossene, undurchdringliche Hecke des Dornenbambus.

Eine Königsburg, die freilich, näher besehen, nur aus einer Anzahl versteckter Hütten bestand. Immerhin verdiente die größte unter ihnen, im Vergleich zu den anderen und landesüblichen, schon ganz stattlich genannt zu werden. Von einem stillen, schattenreichen Garten umrahmt, worin schöne, seltsame Blumen ihre scharlachroten und goldopalenen Feuerkelche schaukelten und den herrlichsten Duft der Erde verbreiteten, erhob sich das bescheidene Häuschen auf einer Steinlage von weißen Korallblöcken. Zu dem offenen, nur des Nachts über verhangenen Eingang führten zwei Basaltstufen in das Hauptgemach, wohinter, von durchgespannten Matten abgeteilt, vier Kammern lagen. In der letzten Kammer schlief des Königs Tochter, in der voraufliegenden die kleinen Söhne des Königs und in der mittleren Tutuma selber; hieran die Vorkammer nahm des Nachts über die Wache auf, während die erste und größte Abteilung als der eigentliche Wohnraum diente. Boden und Wände waren ganz und gar mit jungem, feinem Bambusrohr verkleidet und der Rohrboden mit geflochtenen Kokosmatten sauber ausgelegt. Licht und Luft kamen unterhalb des Daches durch ein einziges langlaufendes, die Wände umspringendes Fenster herein. Es war, wenn es nicht Matten verschlossen, ganz offen und nur durch die schmalen Holzpfeiler geteilt, die das überhängende bastgeflochtene Dach stützten. Die übrigen Räume waren inmitten einer grünen Bananenwildnis in den umliegenden Rindenhütten verborgen.

Als Tutuma seinen Gästen alles gezeigt hatte, führte er sie in das blumengeschmückte Wohngemach und lud sie ein, auf den ausgerollten Sitzmatten in der landgebräuchlichen Weise niederzuhocken. Das auf dem flachen, mit frischen Pisangblättern gedeckten Bambustische angerichtete Mahl war vortrefflich und konnte auch einem verwöhnteren Europäergaumen genügen. Was Land und Meer an Fischen und Geflügel bot, Krebsen, eßbaren Muscheln und Schildkröten, besonders aber an den köstlichen Beeren und Früchten: das wurde zu dem tagsüblichen Yamsbrot oder gerösteten Brotfruchtschnitten in einer schmackhaften und auch dem Auge wohlgefälligen Zurichtung von den schönsten Töchtern des Landes aufgetragen. Nur Maya, des Königs Tochter selber, blieb unsichtbar.

Nach dem Mahle, als der süße, feurige Palmwein Tutumas Zunge etwas gelockert hatte, schaffte er seinem Herzen Luft. Erzählte dem Freunde von den großen Mißhelligkeiten, die gleich nach Rusts Abreise vor drei Jahren zwischen Weißen und Eingeborenen ausgebrochen waren und allmählich Zustände heraufgeführt hatten, die immer unerträglicher wurden. Rust, durch gefärbte Berichte seines Stellvertreters in den Glauben gesetzt, daß alles auf der Insel im besten Einklange sei, mußte nun das Gegenteil erfahren. Dieser noch ziemlich junge Herr, des Hauses Vertreter, der heute auf Siniam schaltete und waltete, beinahe ein Großmogul, schien sich schon ganz als Gebieter der Inseln zu fühlen. Rust war außer sich über das, was er hörte. Unbegreifliche Fehler waren geschehen. Nicht nur, daß man eingeborene Leute zu schwerer Bergarbeit unten in der Diamantengrube genötigt hatte: viel schlimmer und so leicht nicht wieder gut zu machen war ein anderes Unrecht. Dieser junge Herr, Selbecker war sein Name, hatte geglaubt, nach Maßgabe der persönlichen Verdienste um die Insel (vermutlich an den seinen gemessen), eine »gerechtere Verteilung« ihres Grund und Bodens herbeiführen zu müssen, wobei er denn auch selber und nach ihm seine Freunde und Gesinnungsvettern am besten wegkam. Leider nur auf Kosten des Schwächeren, der in nicht wenigen Fällen von der Scholle seiner Väter vertrieben wurde. Rust erkannte, wie schwer es halten würde, den vorigen Zustand wiederherzustellen oder gar einen besseren Ausgleich herbeizuführen, der bereits in seiner Absicht lag.

Nach dem Frühtisch verabschiedeten sich die Herren von Tutuma und brachen nach Rusthafen auf, der deutschen Niederlassung an der Südküste. Von einem Mann des Königs auf einem Pfad geleitet, der mitten durch den Wald führte, erreichten sie ihr Ziel noch vor Mittag. Da die Ankunft des Sperbers infolge der erwähnten Spaltungen nach Rusthafen nicht gemeldet worden war, so rief hier das unvermutete Erscheinen Rusts und seiner Begleiter eine unbeschreibliche Überraschung hervor. Mit Ausnahme derer, die Rust zu fürchten hatten, empfing ihn ein Jubel, der fast noch größer war als in Siniam, und nur guter Freunde Tür und Riegel konnte zuletzt verhüten, daß man ihm nicht vor Freuden die Sachen vom Leibe riß. Dieser Mann, dessen Leben auf Arbeit gestellt war, zögerte nicht, die erste Stunde seiner Ankunft mit Tätigkeit zu erfüllen. Eine seiner ersten Handlungen aber war, Selbecker, den seinerzeit die Not der Stunde auf den verantwortungsvollen Posten vorgeschoben hatte, jetzt auf einen Platz zu stellen, wo er sich nützlich machen konnte, ohne zugleich Schaden anzurichten.

Erst in den späten Nachmittagsstunden gelangten Rust und seine Freunde, die sich inzwischen noch um viele vermehrt hatten, wieder zurück zum Schiffe, wo ihnen ein ungeheueres Freudengeschrei entgegenbrauste und ganz Siniams ausgelassenes Völklein den Getreuen vom Sperber ein rauschendes Fest gab. Auf dem Dorfplatze hatte sich um eine Gruppe tanzender Mädchen ein Kreis der Jugend geschlungen, der zum Takte eines großen Trommelbaums den Rhythmus des Tanzes mit einem wohlklingenden Gesang begleitete. Eine unter den Mädchen, die Lieblichste von allen, lenkte aller Blicke auf sich. Sie machte den Eindruck von vierzehn oder fünfzehn Jahren, war aber erst zwölf Jahre alt. Erst vor wenigen Tagen hatte sie zum erstenmal das Zeichen der Jungfräulichkeit, die weiße Lavalava, angelegt. Von einem meerblauen Gürtel gehalten, lag sie wie ein Schneestreif auf dem Mädchen und ließ den matten, zarten Schimmer der herrlichen Bräunung ihrer Hautfarbe zu bester Wirkung gelangen. Drei weiße Bengalrosen, in die weichgelockte Seide ihres reichen, schwarzen Haupthaares geordnet, leuchteten darin und schwebten über ihr wie ein schönes sanftes Gestirn unberührter Reinheit. Es war Maya. Das Königskind, Tutumas Tochter. Und sie lachte ... lachte ... daß es kochte in manchem jungen Herzen.

Und die Jugend lachte mit ihr und wußte keines warum, die Alten aber klatschten und sprangen und waren wie närrisch vor eitel Lust und Übermut.

»Glückliches Volk,« dachte Rust bei sich, »wie bist du jung noch, wie bist du Kind noch! ...«

*

Am andern Morgen, in der Karfreitagsfrühe, stieg aus dem Schlot des abgetakelten Sperbers ein leichtes Rauchwölkchen auf. Bald darauf setzte sich das Schiff in Bewegung und warf nach einer einstündigen Lagunenfahrt auf der Südseite der Insel vor Rusthafen Anker aus. Während sich die Mannschaft in die Häuser und Gärten verteilte, um in Fortsetzung des gestrigen Festes ihre Verbrüderung mit den deutschen Landsleuten zu feiern, begab sich Rust mit seinen Freunden und einigen Männern aus dem Orte auf den Strandweg gen Siniamsdorf. Nach einer halbstündigen Wanderung kamen sie zu einer Stelle, wo der fast ununterbrochen die ganze Insel umziehende unterste Waldgürtel des Kokospalmenreiches an die Grenze der Berge und Pandanenwälder zurücktritt, einer von Gräsern schwellenden Ebene Raum zu geben, die für eine menschliche Ansiedelung wie geschaffen erschien. Dieser Platz, dessen Umgrenzung im Westen und Osten vom Walde herab zwei Quellen bewässern, wurde von Rust für ein Zelt- und Barackenlager ausersehen. Bis genügend Häuser gebaut sein würden, sollte es einstweilen bestimmt sein, der Schiffsmannschaft eine bequemere Landunterkunft und zugleich Arbeitsgelegenheit in mehreren Werkstätten zu geben. Rust hatte diesmal die Vorsicht beobachtet, nur solche Matrosen anzuheuern, die noch irgendein Handwerk erlernt und sich ihm außerdem auf drei Jahre verpflichtet hatten. Nach Ablauf dieser Frist, in der sie doppelte Löhnung erhielten, stand es einem jeden frei, auf Kosten des Hauses Wullenweber nach Hamburg zurückbefördert zu werden. Wem es jedoch auf der Insel gefiel, der sollte nach Ablauf dieser Zeit ein gutes Stück Land zu eigen erhalten, damit er in der neuen Heimat Wurzel schlagen könne. Auch war Rust die Verpflichtung eingegangen, die Familien dieser Leute, sobald sie es wünschen sollten, bei freier Fahrt und Verpflegung nachzuholen.

Durch die Ankunft des Sperbers erhielt die weiße Bevölkerung Rusthafens, die bereits 105 Seelen zählte, darunter 34 Frauen und 26 Kinder, nun gleich einen Zuwachs von 102 männlichen Personen.

Am Sonnabend, noch ehe sich der Tag erhob, hallte schon der Schlag der Axt auf der großen Waldwiese zwischen dem Dorfe Siniam und Rusthafen.

Drei Stunden früher noch, als auf dem Sperber die Mitternachtswache ging und die Schiffsglocke Zwölfeinhalb glaste, war von der Bark eine Jolle abgestoßen, in der zwei Männer saßen. Da der Mond erst später aufging, entschwanden sie bald im Dämmer der gestirnten Nacht dem Auge des wachthabenden Matrosen, und nur der taktmäßig in die Stille der Lagune einfallende Ruderschlag verriet noch eine Zeitlang die Richtung ihrer Fahrt. Am Ufer angelangt, wickelten sie die Kette ihres Bootes um den Fuß einer Palme und wendeten sich mit rüstigen Schritten in die Wälder und Berge hinein.

»Wenn ich mir das einmal hätte träumen lassen!« sagte in einem fremdklingenden Tonfall und mit einem Lächeln, worin sich ein geheimer Schmerz mit kindlicher Freude mischte, der Jüngere zu seinem Begleiter. Dabei sah er bald auf diesen, bald auf sich herab, als glaube er noch gar nicht, daß ers sein könne. So ungewohnt schien er sich in seiner Tracht zu fühlen, einem Bergmannskittel, wie des anderen auch war.

»Ja, mein Sohn,« antwortete Rust, »es war notwendig, daß wir es so machten, denn nur die Überraschung wird uns von den Zuständen in der Grube ein wahrheitsgetreues Bild geben.«

Ein sacht aufsteigender Pfad, der Rust noch von früher her bekannt war, führte sie bald in die schweigende Irrnis des Urwaldes hinein. Allmählich fing der Weg an steiler zu werden und bog über Hügel und Berge hinaus. So waren sie zwei Stunden etwa geschritten, und es mochte bald an drei Uhr morgens sein, als über den Hochdomen der Farnenwälder unter ihnen die volle Scheibe des Mondes langsam heraufkam. Silbergüsse flossen in die Täler hinab und scheuchten aus ihren Verstecken das schwärmende Gesindel der Tagschläfer. Zwischen den Seilgehängen der Luftwurzeln von schmarotzenden Kletterpflanzen und labyrinthisch verschlungenen Lianen huschten Dämmerungsfalter, und der Kalong, die unheimliche Hundsfledermaus, zog in Reihen seine Geisterkette durch das Mondrevier.

»Kommt, kommt, Sylvester,« mahnte Rust, »wir müssen eilen, daß wir die Sonne erreichen!«

Noch ließ der Nachtschattenvogel in Dickichtsschauern seinen leisen Lockruf Ha–it ... Ha–it vernehmen, die schreckhafte Stimme eines unbekannten Tieres ächzte von ferne, und nur der Gurruf friedlicher Waldtauben kündet sanft erst das Herannahen des Tages.

Nachdem sie wieder eine Zeit gewandert und durch die oberste Region des Waldes emporgedrungen waren, standen sie plötzlich vor einem gewaltig steilen, wild zerklüfteten Basaltkegel, dessen Wandungen jählings herabfielen. Die letzte und höchste Zinne der Insel.

»Hier müssen wir hinauf«, sagte Rust.

»Ist das der Berg der Meere?« fragte Sylvester.

»Die Eingeborenen sagen so,« antwortete Rust, »weil er wie ein Herrscher über die Meere heraufsteigt. Wir aber haben ihn anders genannt, wir heißen ihn die ›Bismarcksbraue‹, weil er wie ein getreuer Eckart hinausschauend seine Insel hütet und bisweilen, dräuenden Brauen gleich, Wetterwolken um seine Felsenstirn sammelt, die im fruchtbaren Regen den Blitz verbergen.«

Nach einer nochmaligen, gefahrvollen Kletterung über Zacken und Abgründe hinweg, erreichten sie den Kamm und gelangten auf eine weite Felsenterrasse, von der herab ein unvergleichlicher Ausblick ihre Mühe lohnte. Eine ganze kleine Welt war es, die im Schimmer der ersten Morgenröte hier zu ihren Füßen schwamm. Die Bruderinseln in der Lagune noch schlafbefangen und dampfend aus allen Tälern. Draußen im Reigen die sieben Schwestern aber, die erfrischten Gestade in den Umbrandungen schon des aufglühenden Meeres. Eine immer schöner als die andere und jede unter ihnen wie eine Braut geschmückt, die des Geliebten harret, hoben sie ihren Fuß aus den weißen Dünsten der entwallenden Nacht. Siebenmal lächelnd der Sonne bereit, daß sie die letzten ihrer sinkenden Schleier zu lösen käme.

»Siehe, Sylvester, diese beiden, die ihre Berg- und Waldkulissen dort vor uns herausschieben: das ist die Insel der klingenden Wasser; jene die Regenbogeninsel. Dazwischen, dahinter die zwei tieferen aber, die sich fast wie Zwillinge zusammenschließen, weit hinaus durch die graue Wasserbrücke mit uns verbunden, – erkennst du sie? Die Insel der letzten Rätsel! Die Insel der singenden Winde!«

Sie traten zurück.

Der erste Strahl der Sonne, ein Bündel feuriger Pfeile, schoß, wie von einem noch unsichtbaren Schützen entflammt, aus dem Ostmeere hervor, bis sie selber nun, eine goldene Insel, auf den Purpurwassern schwimmend herauftauchte.

Funkensprühend stieg sie höher und höher, über Terrassen und Wälder heran und ließ nun schon ihre Glanzstreifen in einen Talkessel gleiten, der an der Abendwand jenes Felsens auf dem Grunde eines alten, verschütteten Kraters lag. Wie man nicht anders wußte, war der aber schon vor langen Zeiten erloschen. Mitten in der Tiefe dieses Kessels, auf dessen höchstem Rande Rust und Sylvester standen, sah man von Holz ein seltsam turmartiges Gebäude errichtet, um das noch ein paar kleinere Häuschen und etwa ein Dutzend Hütten zwanglos im Kreise herumlagen – die Zeche Kaiser-Wilhelm-Weißbart.

Sylvester, noch ganz im Anblick der leuchtenden Meereswelt versunken, wurde plötzlich durch einen unvermuteten Heimatklang aus seinen Träumen geweckt: es war die Silberstimme eines Glöckchens, das die braunen Leute in jenen Hütten unten zur Arbeit rief. Unter der Führung ihrer weißen Aufseher zu jener schweren, lichtlosen Maulwurfsarbeit in den alten Kratergängen und Eingeweiden der Erde.

Der großen Entfernung wegen bis unten zu den Dörfern bestand eine Einrichtung, die Rust von allem Anfang an getroffen hatte. Alle Sonnabende wurden die drei Tag- und Nachtschichten zu Tal entlassen und gegen eine neue Belegschaft für sieben Tage ausgewechselt.

»Unsre Schicht ruft, Sylvester, so wollen wir dem Glöckner folgen!« Mit diesen Worten wendete sich Rust dem Abstieg nach dem Zechengrunde zu.

Schon sah er unten die Hüttengänger wallen, fast alle, die wenigen Steiger ausgenommen, braune Söhne dieser Insel, und schon längst waren die letzten von ihnen in der schwarzen Torbreite des Förderhauses verschwunden, als auch Rust und sein Begleiter den Eingang in die Unterwelt betraten. –

Es war Mittag geworden, als das Glöckchen abermals klang und das gähnende Maul des Schachthauses zurückgab, was es vor sechs Stunden verschlungen hatte. Unter ihnen Rust und Sylvester auch.

»Geht, liebe Leute,« sagte Rust in ihrer Sprache zu ihnen: »drei Tage, von heute gerechnet, sind Freudentage, unser Oster-, euer Erntefest! Wer dann wiederkommen will, hier anzufahren, der ist mir willkommen und soll um einen Dritteil besseren Lohn erhalten; wer aber nicht will, dem bin ich kein Feind darum. Nun laßt uns gehen, meine Freunde!«

Ein Stück Weges begleitete er sie noch, zusammen mit den Steigern, dann trennte er sich von ihnen und wendete sich mit Sylvester durch den Urwald östlicher hinab.

Dort, in einer Gegend, wo die Insel hohe Steilküsten zeigt und nahezu senkrecht in die Lagune abfällt, erinnerte er sich, vor drei Jahren einen Platz gesehen zu haben, den er seiner schönen Lage wegen für den Bau seines einstigen Hauses schon damals ins Auge gefaßt hatte. Seinem guten Ortssinn vertrauend, wollte er die Stunde wahrnehmen, um auf dem kürzesten Wege hinüberzudringen. Zur Vorsorge gegen die hindernden Schlingpflanzen hatte er sich aus dem Zechenhause, ebenso wie Sylvester, eine scharfe, langgestielte Axt mitgeben lassen, die ihnen jetzt vortreffliche Dienste leistete.

Zwischen den Baumriesen üppiger Waldgeschlechter wie ein gefährlich lüsternes Netzwerk ausgespannt, hielten diese Lianengehänge in ihren grünen Irrgewinden und Verschlingungen die brennenden Farben, die berauschenden Wohlgerüche, die tödlichen Säfte rätselhafter Blumen gefangen. Rust und Sylvester mußten achtgeben, daß ihnen unterm Blitz ihres Beiles die verblutende Milch der Pflanze, die wie ein ätzendes Gift war, nicht auf die Glieder träufelte. Trotzdem durch das wuchernde Schattendach dieses Labyrinthes kaum ein Sonnenpfeil drang und alles Licht des Tages in einem grünkristallenen Dunkel verschlungen ward, strahlte von der brütenden Erde, die von Tausenden von Gräsern, Moosen und Farnen zu ersticken schien, ein Brodem feuchter, unerträglicher Wärme auf.

Schon drei Stunden hatten sie sich auf diese Weise durch den dichtesten Urwald hindurchgearbeitet, immerzu von wütendem Papageiengeschrei verfolgt und umgaukelt hin und wieder von den schwebenden Edelsteinen farbenfunkelnder Schmetterlinge, als sie endlich in eine lichtere Bergregion gelangten, die ihnen die Nähe ihres Zieles zu verheißen schien. Wie groß nach dieser Anstrengung war nun ihre Überraschung, als sie hinter einer kleinen, sonnendurchglühten Grasblöße, auf die sie jetzt hinaustraten, aus dem jenseitigen Walde einen blauen Rauch steigen sahen. Unterm Laubgewölbe streichend, suchten sich die zarten, langsam verflatternden Wölkchen einen Ausweg nach der Lichtung heraus, wo sie oben der Ost empfing und zerteilend über die Wälder weiter trieb. Nach der Höhe ihres Abzuges zu urteilen, schien die Feuerstelle etwa vierzig Schritt vom Waldrande zurückzuliegen.

»Sollten wir von der Richtung abgekommen sein, wieder nach dem Dorfe zu?« flüsterte Sylvester zu seinem schweigenden Begleiter. Rust schüttelte mit dem Kopfe: »Sonderbar ... sonderbar!« ...

Ohne Besinnen gingen sie hinein in den Wald und ruhigen Schrittes dem Rauche nach. Da sahen sie zwischen Felsen hinter einem rankenden Gebüsch wilder Kletterfeigen plötzlich in den Schwaden Funken springen. Im nächsten Augenblick geschah etwas, das ihnen das Blut stocken machte. Ein Schrei zerriß auf Meilen im Kreise die brütende Stille. Ein Schrei, so furchtbar und markerschütternd, daß sein von Bergen zu Bergen rollendes Echo alle Wälder und ihre Kreatur erschauern ließ. Teuflisch, tierisch, wie der Urlaut eines bösen Geistes oder eines Wesens aber, das von allen Dämonen der Vernichtung besessen war. Gleichzeitig näherte sich etwas, dessen Gestalt der Nebel des Feuers noch schrecklicher erscheinen ließ, in wilden Sätzen und Sprüngen. Ein Zischen ging durch die Luft. Ein brennender Gegenstand, der wie eine Keule aussah, schwang ein flammendes Rad um einen nackten, braunen, menschlichen Arm herum, sauste dicht an Rusts Kopfe vorbei und fiel krachend hinter ihm, ein junges Gummibäumchen zerschmetternd.

» Orangbrani!« hallte das Echo ... » Orangbrani

Erst jetzt, auf seinem Rücklauf durch die Schallhöhlen der Berge hindurch, nahm Rusts Ohr den erschreckenden Klang des geheimnisvollen Wortes, das er sich nicht entsinnen konnte, jemals unter den Menschen dieser Inseln gehört zu haben, deutlich wahr. »Orangbrani?« fragte er sich. »Was mag das bedeuten?« Sein immer in die Tiefe gehender Ergründungsdrang war dermaßen seines Geistes mächtig, daß er sich unter der Einwirkung dieses bloßen unverständlichen Wortes eine Sekunde lang fast mehr beunruhigt fühlte als durch die Gefahr selber.

Diese, kam die aus dem Rauch gesprungen oder aus der Erde? Kaum ein Dutzend Schritte noch entfernt, hielt sie plötzlich vor ihm, unschlüssig, unbeweglich, in einer Menschengestalt, wie sie Rust sein Lebtag noch nicht geschaut hatte, noch weniger aber Sylvester. Ein riesenhafter Körper von einer schmutzig gelben Farbe, aber dem herrlichsten Wuchse und Spiel der Muskeln, hatte einen Kopf auf dem Nacken sitzen, den ihm die Hölle gegeben. Alle Laster und Leidenschaften schienen sich darin vereinigt zu haben, seinem Angesichte den Stempel des Entsetzens aufzudrücken. Zu ungeheuerlich, um einem Menschen, zu schrecklich, um einem Tiere anzugehören, sah es fast wie eine Zwitterlaune der Natur aus. Ein satanischer Haß, gepaart mit Grausamkeit; Tücke mit teuflischem Hohn gemischt; Sinnengier; tierische Wut: all das Zerstörende, was hinter diesen Zügen lüstete, es genügte doch nicht, den ganzen Eindruck der Furchtbarkeit des Gesichtes zu erklären. Das ganz Schreckliche, ja Dämonische war, daß alle Brände dieser Eigenschaften in einer einzigen, unheimlichen Flamme gesammelt schienen: daß sie glühten in dem tödlichen Blicke eines Einäugigen!

Gänzlich nackend, trug der Geblendete nur um die Hüfte einen kostbar gestickten, rotseidenen Schal geschlungen, worin in einer Scheide von erlesener Arbeit indischer Goldschmiedekunst ein mit Edelgestein ausgelegtes Dolchmesser hing, das ziemlich lang war und nach türkischer Art gebogen. Ließ die Pracht der Waffe auf einen ehemals weit besseren Stand seines Lebens schließen, so deutete das in wirren, schwarzen Strähnen bis zu den Schultern herabfallende Haar auf eine völlige Verwilderung hin. Ein Eindruck, der durch die Schwarzfärbung seiner vorstehenden Zähne noch verstärkt wurde. Zwischen aufgeworfene rote Lippen gestellt, wirkten sie unter den breiten Backenknochen wie ein grimmiger Kohlenstrich.

Das war Orangbrani, um ihn bei dem Namen seines mörderischen Rufes zu nennen. So stand er im Augenblick vor den beiden, das Einauge wie ein glühendes Brennglas auf Rust gerichtet.

Die gesenkte Axt in der Hand, war dieser stehengeblieben und erwartete den zweiten Angriff. Sylvester jedoch, mehr um den Freund als um sich selbst besorgt, hielt schon das Beil zum Wurfe bereit, als Rust ihm zuredete: »Ruhig, Sylvester. Zum Wurf des Messers kommt es nicht mehr. Behalt ihn im Auge!« Er selbst wendete während dieser Worte keinen Blick von dem gelben Teufel.

Orangbrani mußte es einsehen, daß er diesen beiden Wurfeisen gegenüber mit dem Dolche im Nachteil war. So ließ er nur in seinem schiefen Kakerlakenauge die rote Wut rollen und begnügte sich, die drohende Faust gegen Sylvester zu recken, wobei er abermals jenes brüllende Wort hervorstieß – Orangbrani! ...

Im nächsten Augenblick war er mit drei, vier Sätzen, so wie er gekommen war, im Urwald verschwunden. –

Dieser Zwischenfall hatte sich in einer solchen Geschwindigkeit abgespielt, daß die Überfallenen noch nicht die Zeit gewonnen hatten, ihres Erstaunens Herr zu werden, und die ganze Gefahr ihrer Lage erst jetzt ihnen zum vollen Bewußtsein kam. Rust war der erste, der das Schweigen brach. »Weißt du auch, Sylvester, wen du gesehen hast? Der Malaie war es!«

Jetzt erst erinnerte sich der Jüngling, daß man gestern in Rusthafen von einer malaiischen Prau erzählt hatte, einem Seeräuberschiffe, das vor etwa drei Wochen vor Siniam gescheitert war. Eingeborene wollten damals beobachtet haben, daß ein Einziger der Besatzung, nachdem er zuvor alle seine Kleider vom Leibe gerissen, durch Schwimmen auf eine der nördlichen Riffinseln sich gerettet habe. Allein die Durchsuchung der Insel am folgenden Morgen war vergeblich gewesen, so daß man vermutete, der Malaie müsse in der Nacht auch noch die Lagune durchschwommen und sich in die Urwälder der großen Hauptinsel verborgen haben. Eine Annahme, die durch das soeben erlebte Abenteuer ihre Bestätigung zu finden schien.

»Ach, wollen wir nicht lieber umkehren?« wendete sich jetzt Sylvester bittend zu seinem väterlichen Freunde. »Dieser Entsetzliche, den ich nicht Mensch nennen möchte, er wird uns noch aus einem Hinterhalte heimtückisch überfallen; ist es mir doch fast wie eine Ahnung, die ich habe! Und dann fürchte ich auch, daß wir ganz von unsrer Richtung abgekommen sind!« Er zitterte bei diesen Worten, als ob sich seiner Seele der Schrecken erst jetzt bemächtige; denn im Augenblick der Gefahr selber hatte er eine Geistesgegenwart und Fassung bewahrt, daß es seinem Beschützer nicht entgangen war und er sich im stillen über den wackern Jungen freute.

»Du hast recht, mein Sohn«, beruhigte ihn Rust, »wir haben uns in der Tat verirrt: ich glaube, wir sind zu weit nördlich gegangen. Lasse uns nur noch der Ursache des Feuers nachsehen und versuche, nicht mehr an ihn zu denken. Der Blick des Gelben ist es, der dich so erschüttert hat!«

Nach diesen Worten wandte sich Rust, mit erhobener Axt voranschreitend, der Felsenkluft und dem wilden Feigenbusche zu, wohinter die Funken gesprungen waren. Sie hatten noch keine zehn Schritte getan, als Sylvester stehenblieb und zu ihren Ohren ein leises Rauschen drang. Es kam von einem fließenden Wasser, das hinten die Schlucht durchzog. Und da, am Rande des Baches, hatte auch schon Sylvester den Brandherd entdeckt! Einen vom Blitz gestürzten wilden Brotbaum, den der Malaie, um ein Boot daraus zu fertigen, mit Feuer gehöhlt hatte. Ein zugespitzter und gerundeter Span, der, wie ein eingeschnittenes Gewinde am verkohlten Ende zeigte, als Feuerbohrer gedient hatte, lag noch daneben.

»Da haben wir des Rätsels Lösung!« Rust bückte sich nieder und versuchte den Stamm zu heben. »Ein Einbaum, der ihm wahrscheinlich zur Flucht verhelfen soll! Diese Malaien, sagt man, sind nicht nur gefürchtete Seeräuber, sie sollen auch sonst als Seefahrende eine hervorragende Kühnheit entwickeln und mit Nußschalen, wie diese, wenn es sein muß, den Ozean durchqueren. Sollen wir ihm den Baum durch den Bach entführen lassen? Nein, Sylvester, gönnen wir seinem Elend und Schicksal diesen Trost; es ist ohnehin sein letzter und wird die Insel, ohne daß ein Blut vergossen wird, von ihm befreien. Nun komm, mein Sohn. Ich denke, wenn wir uns immer abwärts mit dem Bächlein halten, so werden wir wohl bald die unteren Wälder erreichen, wo leichter hindurchzufinden ist.«

So waren sie eine gute Weile weitergewandert, und ihre Taschenuhren zeigten schon auf Sechs, als sich der Bach vor einer Klippe in zwei Arme teilte, die nach verschiedenen Tälern flossen. Beide noch wasserreich genug, um ein Kanu wie das des Malaien auf ihren Wellen zu tragen.

»Noch gar nicht müde, Sylvester?« fragte jetzt Rust. »Hier, unter diesem schönen Lichtnußbaume, könnten wir ein wenig rasten und unser Abendbrot verzehren.« Sie teilten genügsam eine Handvoll gerösteter Yamswurzeln und Bananen, die ihnen nach dem heißen Marsche wie die köstlichsten Leckerbissen Europas mundeten. Nahmen danach aus einer nahen Quelle einen frischenden Trank ein und setzten bald ihre Tagesreise fort. Zuvor aber mußten sie erst die beiden Wasserläufe durchwaten, was sie noch mehr erlabte.

Nachdem sie nun wiederum eine Zeit fürbaß geschritten waren, fing die Gegend an romantischer zu werden, und sie gelangten zuletzt in eine enge, hohe Felsengasse hinein, auf deren Grund das Wasser rauschte. Als sie den schmalen Saumpfad, der gerade noch zum Gehen blieb, eine Viertelstunde verfolgt hatten, machte die Klamm einen Winkel herum, und sie sahen sich plötzlich am Rande eines Talkessels stehen, in dessen Tiefe wie ein Smaragd im Abendscheine ein kleiner See gebettet lag. Vom tropischen Wald umschlossen und stillen Felsenwänden, empfing er seine Nahrung durch mehrere Wasserfälle, deren mächtigster, jener Bergbach, sich tönend über den Abgrund stürzte.

Wenige Schritte vor dem Falle öffneten sich nach linkshin die Felsen in eine Schlucht hinunter, die, obwohl sie ziemlich abschüssig ist, durch eingehauene Stufen dem Wanderer zugänglich gemacht war. Wie das üppig wuchernde Moos und Farnenkraut zeigte, vor vielen Jahren schon. Die Treppe leitete zu einer Quelle hinab, köstlichen, klaren Wassers voll, und ganz versteckt dabei in Blumen und Laubgebüsch. Auch die Stelle etwas weiterhin, wo das Wässerlein in den See abfließt, war jedem Auge verborgen.

Als jetzt Rust und Sylvester diesen gewundenen Felsenweg herunterkamen, klang ihnen schon von weitem eine Musik feiner Stimmchen entgegen. Ein Gezwitscher und Jubilieren ohne Ende, unverkennbar von kleinen Menschenwesen herrührend, die noch nicht flügge waren. Neugierig geworden, teilten sie, beide nähertretend, die Büsche auseinander, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ein liebliches Wunder bot sich ihrem Auge dar: Drei winzige Bürschchen strampelten und schrien vor Vergnügen, wenn das Wasser über sie lief. Splitternackt waren die Kerlchen, braun und sonnenhaft, als kämen sie eben frisch aus dem Backofen heraus, ein wenig zur Abendkühlung. Mayo, Rayo und Sayo! Ein Dreiklang lebendiger Orgelpfeiflein, der sich freilich im Augenblicke nicht gerade überirdisch machte. Das lachende, schöne Mädchen aber, das neben ihnen mit den Füßen im Wasser stand und Eimer um Eimer schöpfte, die Brüderchen zu übergießen, hatte eine Herrlichkeit an sich wie das Königskind im Märchen. Die liebliche Maya hatte zuvor gebadet und war schon wieder mit der weißen Matte der Mädchen angetan. Nur der Gürtel, der sie umschlang, war ein anderer als gestern. Ein schmaler, zarter Reif, aus mattem Gold gesponnen, stand er zur weißen Milch ihres fließenden Gewandes nicht weniger im Einklang als zu der bauschenden Seide ihres schwarzen Haupthaares, das heute nur ein einziger weißer Stern einer Eugenienblume schmückte.

Sie hatte sich eben wieder zum Schöpfen gebückt, als Rust und Sylvester herantraten. Erschrocken fuhr sie auf; allein wie sie die Freunde ihres Vaters erblickte, kam ihr schon das Lachen zurück und zeigte den weißen Schimmer zwischen ihren Lippen, süß wie Schnee des Zuckerrohrs.

»Ist das nicht ... Vir–gi–ni–e von gestern im Tale?« stammelte Sylvester, betroffen von ihrer Schönheit, die ihm hier so fühlbar nahe war. Und man merkte es seinem Stocken an, wie er, da er ihren Namen nicht kannte, nun beklommen nach irgendeinem Namen, einem Schall, einem Klange tastete, der schon einen Wert für ihn hatte und der sie seiner Empfindung näher brächte. In diesem Augenblicke erkannte Rust, daß dem jungen Freunde das Mädchen nicht gleichgültig war, und er fand seine Vermutung bestätigt durch das plötzliche Verstummen Sylvesters.

Auch Rust hatte mit Wohlgefallen die liebliche Gestalt betrachtet. »Du bist groß und stattlich geworden, meine Tochter!« redete er jetzt in der Sprache ihres Landes das Mädchen an. »Kennst du mich noch?«

Eine dunkle Glut brach durch den zarten Samt ihrer Wange hervor. »Ja, ich kenne dich noch gut; bist du nicht meines Vaters Freund?« Dabei blickte sie ihn mit ihren großen, strahlenden Augen an und reichte ihm die Hand, wie es auch in diesen fernen Gegenden Sitte ist.

»Du siehst hier«, fuhr Rust fort, »meinen jungen Freund Sylvester, der mit mir das Schicksal hat, sich verirrt zu haben.«

»Ach,« sagte Maya und lachte wieder, »wir sind ja gar nicht weit hier von meines Vaters Hause. Willst du mir folgen mit deinem Freunde?«

Nachdem sie ein paar Schritte oberhalb der Badestelle einen bereitstehenden Krug flinkerhand mit frischem Quellwasser gespült und aufgefüllt hatte, nahm sie das Gefäß auf die Schulter hoch und ging mit ihren kleinen Brüdern voran. Zwischen Mayo, Rayo und Sayo, die inzwischen die Sonne getrocknet hatte, mußte der leere Eimer wandern, immer um eine Zeit aus dem einen in das andere Händchen. Das kleinste und jüngste aber hatte sie an der Linken.

Ihr Weg führte sie am Seeufer bis zu einer kleinen Bucht entlang, die sich einwärts im Walde immer mehr verengte und schließlich als der Abfluß des Weihers offenbar ward. Sie gelangten zu einem zweiten Wasserfalle, der aber nur aus mäßiger Höhe von einer nicht viel tieferen Bergterrasse empfangen wird, um dann nochmals in einem Sturze von nahezu hundert Klaftern in eine brausende Schlucht zu fallen. Aus dieser untersten Talkluft sah man das grünklare, geruhigte Wasser als jenes Flüßchen, das wir kennen, auf Tutumas Wiese heraustreten.

» Hier möchte ich bauen!« rief ergriffen Rust, als sein Blick von der letzten Terrasse herab in den waldumflüsterten Frieden dieses Tales zu seinen Füßen sank und sich dann wieder aufhob über die leisbewegten Wipfelmeere hinaus, bis zu der äußersten Thule des dunkelwogenden Ozeans. Schon begann die Dämmerung ihre abendlich grauen Schatten auf das Meer zu senken und mahnte zum Aufbruch. Fast mit einem schmerzlichen Entschlusse trennte er sich von dem erhaben schönen Anblick und folgte schnell den mit Sylvester vorausgeeilten Kindern. Er hatte sie eben wieder eingeholt, als sie auf dem halben Wege zum Tale in einem entgegenkommenden Manne Tutuma erkannten, der ausgegangen war, seine Kinder zu suchen. Rust erzählte dem König von seiner Wanderung mit Sylvester, und sie nahmen nun beide erfreut Tutumas Einladung an, seine Gäste zu sein und für die Nacht in einer leeren Schlafhütte im Garten mit einfachen Mattenlagern vorlieb zu nehmen.

Maya badet die Brüderchen in der Quelle des Siebenstaubbachsees

Am andern Morgen beim Aufgang der Ostersonne waren sie schon auf dem Wege nach Rusthafen. Wie erstaunten sie aber, als sie an jener Stelle, wo sie gestern in der Frühe noch einen leeren Wiesengrund gesehen hatten, jetzt, wie von Heinzelmännchen aufgebaut, ein schmuckes Dörfchen fanden! Wie war dies Wunder geschehen? Nun, ganz Siniam hatte geholfen, jung und alt, was nur überhaupt Bein und Arme hatte! Das war der Dank dieses gutmütigen Völkchens für Rusts Eingreifen, so unter wie über der Grube. Für die Befreiung der Mißvergnügten, für Aufbesserung der Willigen, für die Verheißung geordneter Zustände und die Wiedereinsetzung der Verkürzten, Entrechteten, Vertriebenen auf die Scholle der Väter! Der Dank der Undankbaren, wie man sie Rust verschrien hatte!

»Siehst du, Sylvester,« brach er in tiefer Bewegung aus, »der Charakter eines Menschen, einer Klasse, einer Rasse, ja eines ganzen Volkes wird so verschiedenfach beurteilt, wie ihre Beurteiler verschieden sind. Was hat man mir nicht gestern alles vom Undank dieses freundwilligen Völkchens einreden wollen! Undankbarkeit! Man spricht soviel davon in der Welt; kaum ein Mensch, der ihr nicht sein Klagelied seufzte. Allein, was will das sagen! Ich glaube, es giebt eine doppelte Dankbarkeit. Eine des Anstandes und Gewissens und eine andere des Herzens und der Freude. Die Dankbarkeit des Gewissens hat ein jeder vornehme und anständige Mensch; die Dankbarkeit des Herzens aber, die läßt sich nicht erzwingen, ebensowenig wie die Liebe. Sie ist ein freier Trieb der Seele und nur denen zugewendet, die nicht tasten nach ihr und drängen. Und so ist wahre Dankbarkeit nur darum so selten in der Welt, weil so selten die Wohltäter sind, die auf Dank nicht rechnen.«

*

Nach den Ostertagen ging nun Rust daran, vor allem einen Leuchtturm zu errichten. Der Untergang des Malaienschiffes vor drei Wochen, der natürlich, weil es eine Räuberprau gewesen, den Insulanern sehr gelegen kam, hatte doch aber die Notwendigkeit dargetan, die Laguneneinfahrt draußen auf dem Riffe nächtlich kenntlich zu machen. So wurde denn eines Morgens am Ostkap des simsinischen Reiches, das ist auf der äußersten Spitze der Insel der singenden Winde, zu einem Feuerturme der Grundstein gelegt.

Rusts nächste Sorge war dann der Hausbau. Tutuma hatte ihm als Baugrund hierzu die Felsenflucht über seinem Hofe geschenkt: die ganze Terrassenbreite unter dem zweiten Wasserfalle, von wo herab das Auge jenen entzückenden Blick auf Tutumas Tal genießt, bis hinüber zu dem fernbrausenden Meere. Mit der Wahl dieses Platzes war die zuerst ausersehene Stelle, auf der Kliffküste weiter nördlich hinauf natürlich fallengelassen. Bei den Ausschachtungsarbeiten für die Mauerlage zeigte es sich, daß der basaltische Tuffgrund über sechs Schuh hinab zu jener schwarzen Wacke verwittert war, auf welcher nicht zum wenigsten mit die außerordentliche Fruchtbarkeit der vier simsinischen Hochinseln beruht. So war also auch für den künftigen Garten des Hauses der Boden schon von der Natur bereitet. Als Bausteine nahm man fürs Haus sowohl wie für den Turm am Meere aus den Bergen gebrochene Basaltblöcke, die dann mit Riffkalk gebunden wurden.

Herbst und Südwinter vergingen unter diesen Arbeiten, und der windstille Frühling brachte schon das Ende der Trockenzeit, als zunächst der Hausbau mit der Aufdeckung eines schmucken Mattendaches aus Pandanenblättern seinen Abschluß fand. Kurz zuvor war auch schon aus Hamburg die vollständige Einrichtung für das Haus eingetroffen. Der Aldebaran hatte sie mitgebracht, der den Sperber ablösen sollte. Das Beste aber, was das Schiff für Rust an Bord hatte, war ein Brief aus der Heimat. Und wenn er auch leider eine Enttäuschung enthielt, so kam er doch von Rasmus und Martha! Rust hatte gehofft, und es war auch schon so bestimmt gewesen, daß der Aldebaran die so sehnsüchtig Erwarteten bereits diesmal mitbringen würde. Statt dessen schrieben sie nun, daß der Vater erkrankt sei, der alte Rasmus, und wenn er überhaupt wieder genesen sollte, so sei er doch nach Aussage des Doktors auf lange hin nicht reisefähig. Unter diesen Verhältnissen aber allein zu fahren und den alten Mann unter Fremden hilflos zurückzulassen, das würden sie natürlich nicht tun, und so müßten sie erst den Ausgang der Krankheit abwarten.

So blieb denn Rust nichts weiter übrig, als sich mit Freund Tim zusammen, der jetzt in allem sein Stellvertreter war, in dem geräumigen steinernen Gehäuse oben auf der Bergrampe einen Junggesellenbau einzurichten und sichs innen so bequem wie möglich zu machen. Sie bezogen, jeder für sich, eine hübsche Kajüte im Erdgeschoß, und die Küche hatten sie gemeinsam. Das ganze obere Stockwerk aber, Martha und Rasmus vorbehalten, blieb unbewohnt. Ein reizendes Gartenhäuschen, ein wenig abseits und ganz im Grünen verborgen, wurde für ein einheimisches altes Ehepaar eingerichtet, dem die Sorge für die Wirtschaft oblag. Gern hätte Rust die Giebelstube dieser hübschen Karthause Sylvester eingeräumt. Der jedoch hatte es vorgezogen, in Rusthafen zu wohnen, weil er dort durch Erteilen von Unterricht in allerhand Wissenschaften und Musik Gelegenheit fand, sich nützlich zu machen und seine Zeit auszufüllen.

*

So war der Dezember herangekommen und mit ihm die südsommerliche Regenzeit. An einem der letzten Tage im Jahre, da der anbrechende Morgen Rust bereits auf dem Wege nach der Zeche fand, zog mit Blitz und Donner ein furchtbares Gewitter herauf und entlud sich in einem jener tropischen Platzregen, wie sie um diese Zeit in jenen Breiten nicht selten sind. Rust, der sich aus Wind und Wetter nicht viel machte, wartete das Schlimmste unter einer großen, schützenden Staude ab und zog dann unbekümmert seine Waldstraße weiter. Er weilte gerade in Gedanken in der deutschen Heimat bei seinen Lieben, als plötzlich in seiner unmittelbaren Nähe ein zackender Schlag herabfuhr und einen riesenhaften wilden Brotbaum krachend über den Weg warf, so daß er um ein Haar wäre erschlagen worden. Aber das war es noch nicht allein, was ihm dabei ins Mark fuhr. Im Augenblicke der Lichterscheinung hatte Rust eine merkwürdige Einbildung gehabt. Es war ihm gewesen, als sähe er hinter dem fahlblauen Blitzscheine einen roten Punkt glühen, der wie das Auge des Malaien aussah; es zeigte sich dann bei näherer Betrachtung, daß der Baum genau an jener Stelle gefallen war, wo der Weg abbog, der seinerzeit ihn und Sylvester zu der verhängnisvollen Begegnung mit dem Einäugigen geführt hatte. Scheinbar war jenes Vorkommnis in seinem Gedächtnisse schon ganz zurückgedrängt gewesen, und er hatte in der langen Zeit auch nichts wieder gehört, was aus dem Malaien geworden war. Sein Abenteuer mit ihm hatte sich damals schnell herumgesprochen, und es war kurz darauf eine Rotte eingeborener Männer aufgebrochen, um die Wälder nach Orangbrani abzustreifen. Aber gefunden hatten sie ihn nicht. Das einzige, was ihnen geglückt war – leider, wie Rust sagte – war die Auffindung der Feuer- und Wasserstelle, wo der Einbaum lag. Rust bedauerte dies, weil sie ihm das Boot, sein einziges Fluchtmittel, zerstört und ihn auf diese Weise gezwungen hatten, seine unheilvolle Gegenwart auf der Insel zu verlängern.

Erst am Abend traf Rust zu Hause wieder ein. Tim Rafter war nicht zu finden. Das alte Paar, seine braunen Pfleger im Gartenhäuschen, ebensowenig. In der Annahme, er möchte sie vielleicht auf dem Wege nach Tutumas Hofe treffen, machte er sich dahin auf. Mittlerweile war es dunkel geworden; kein Stern am Himmel leuchtete, nur der Wind heulte durch die Schlucht. Bald zu Tale, hörte er ein Hundsgebell. Ein Trupp Menschen begegnete ihm mit Fackeln in der Hand.

»Wo wollt ihr hin, Leute?«

»Es soll oben ein Erschlagener liegen.«

»Wer ist es denn?« fragte Rust erschrocken. Keiner konnte es sagen. Aber man sah es den Leuten an, daß auf ihnen eine Furcht lag, der sie sich scheuten den Atem der Sprache zu geben.

»Ich komme nach,« sagte Rust, »sofort komme ich«, und ließ sich die Stelle beschreiben. Ungefähr nur, denn Genaueres wußte man noch nicht.

In wenigen Augenblicken hatte er schon unten den Graben übersprungen und stand nun hinter Tutumas Garten, vor der undurchdringlichen Hecke. Da war ein schmales Bambustürchen, fast versteckt zwischen Verhauen. Durch das Rohrwerk sehend, bemerkte er einen steinalten Mann, der just vorüberhinkte.

»Ist einer meiner Freunde hier?«

»Nein, Herr«, hüstelte der Alte. »Ich bin allein auf dem Hofe; niemand ist sonst hier.«

»War Guam nicht da oder seine Frau?«

»Nein, Herr. Sie beide sind gegangen, deinem Freunde Sylvester den Weg zu zeigen. Das war aber vor langer Zeit schon.«

»Wann ist er hier gewesen? In welcher Richtung ging er? Was wollte er?«

»Seit der Mittagsschwüle suchte er Maya, die Tochter meines Herrn.«

»Seit der Mittagsschwüle –? ... Und wo ist Tutuma? Wo sind die Knaben?« fragte nochmals Rust, mit einer Stimme, die vor Erregung heiser glühte.

»Tutuma ging mit seiner Tochter am Morgen und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. – Die Knaben, ja, Herr, die sind da, sie schlafen in ihrer Kammer.«

Rust stürzte davon. Schon nach einer Viertelstunde sah er oben auf dem Wege, der nach der Nordküste führt, die Fackeln leuchten, und bald hatte er den Schwarm erreicht, Männer und Frauen. Schon auf einige Entfernung hin hörte er aus dem Stimmengewirr die erregte Sprache seiner Freunde heraus, die inzwischen, noch mit anderen, hinzugestoßen waren. »Gott seis gedankt, Tim und Sylvester sind es nicht!« Ein schwerer Stein fiel ihm vom Herzen. »Aber wer nun?!« Das fragte er sich bange.

Plötzlich schlug ein Hund an. Die Fackeln senkten sich und fielen auf einen Toten. Die linke Hälfte des Gesichtes hatte eine menschenfreundliche Hand mit einem Tuche verhüllt, jedenfalls um eine entstellende Verletzung zu verbergen. Aber was das Tuch offenbar ließ, war so schrecklich noch zu sehen, daß einer nach dem andern, die herantraten, zurückprallte. In das rechte Auge des Getöteten war ein Dorn getrieben, so groß wie ein Dolchmesser, und es schien, als starre damit die Leiche weit nach ihrem Mörder aus ... »Deckt zu! Deckt zu!« schauderte Rust zurück und brachte weiter kein Wort hervor. Tim Rafter aber beugte sich nieder zu dem Erschlagenen und sagte dann: »Ich glaube, es ist – Tutuma!« ...

Armer König, das mußte dir geschehen! –

Einige der Männer nahmen ihren toten Häuptling schweigend auf die Schulter und trugen ihn zu Tale. Die meisten aber blieben noch und teilten sich jetzt in verschiedene Haufen ein, um nach Tutumas Tochter zu suchen. Mit ihnen gingen Rust, Tim und auch Sylvester. Der arme Junge, feucht und blaß wie ein bebendes Stück Leinwand von der Bleichwiese.

Die halbe Nacht war unter Suchen und Rufen vergangen, als abermals der Hund laut wurde und vor einem wilden Dickicht mit freudigem Wedeln haltmachte. Sylvester und Rust waren die ersten, die in den Busch hineindrangen. Siehe – da lag sie ... scheinbar schlafend!

»Maya! Was ist mit dir?« sprach sie Rust an mit seiner freundlichen Stimme, die fast zitterte. Er erhielt keine Antwort. Ihre Hand war kalt, ihr Körper aber schien noch Wärme zu haben.

»Fackeln her! Fackeln her!« schrie Sylvester. Rust leuchtete in ihr Gesicht und behorchte ihren Atem. Jetzt sah er, ihre Brust hob sich ruhig, wie die einer Schlafenden.

Er nahm sie behutsam auf seine Arme hoch und trug sie aus dem Gebüsch ins Lichtere hinaus, wo er sie sanft niederlegte. »Sie hat eine Ohnmacht, wir müssen für sie eine Tragbahre bereiten!« In wenigen Augenblicken waren zwei junge Bäumchen durch ein biegsames Gezweig verbunden und mit einem weichen Pfühl von Blättern, Gräsern und zartem Moose hinreichend bedeckt. Rust und Sylvester betteten sie, wobei sie jetzt erst bemerkten, daß die Füße des Mädchens von Wurzeln und Dornen zerrissen waren. Sie wuschen ihre Wunden an einer Quelle und tupften sie mit Moos aus: dann banden sie ihr mit Bast kühlende Blätter einer heilkräftigen Staude darum.

Noch unterwegs schlug Maya die Augen auf.

»Wo bin ich?«

»Bei Menschen, deinen Freunden, mein Kind!«

»Ist das Tier nicht mehr da? Das brüllende Tier mit dem schrecklichen Auge?! Ach – es hat meinen Vater getötet!« Ein Tränenstrom erstickte ihre Stimme.

»Hat es dir ein Leids getan, Maya?«

»Es hat mich fangen wollen. Aber, ach, ich war schneller als das Tier, und ich habe mich versteckt vor ihm, wo es mich nicht gefunden hat.« – Mit leis weinender Stimme hatte sie das gesagt, und nun sank sie wieder still zurück.

Als sich der betrübte Zug Rusts Garten näherte, trieb ihnen der Nachtwind einen beizenden Brandgeruch entgegen. Was hatte das zu bedeuten?! ... »Vorwärts, vorwärts!« drängten die Männer und peitschten gegenseitig ihre Spannkraft. Immer dicker wurde der Rauch, hier und da stoben brennende Flocken, die verlöschend niedergingen. Zwischen den Pfeilern und Stämmen des feierlich schweigenden Waldes stand ein großer rötlicher Schein, und als sie vor das Haus kamen, ihre schmerzensschöne junge Last niederzulassen, bot sich ihnen ein Anblick dar, schauervoll.

Das ganze Tal zu ihren Füßen war von einem einzigen Flammenmeere erfüllt, das lodernd zum Himmel schlug. Tutumas Hof, auf dessen friedlichen Dächern noch vor wenigen Stunden die letzten Strahlen der Abendsonne freundlich geruht hatten, mußte schon ein Raub des Elements sein, denn er war nicht mehr zu sehen. Kaum, daß noch ein rennender Feuerstreifen den Ring erkennen ließ, wo sonst die Hecke gelaufen war. Nur, was reichen Lebenssaft in sich hatte, kämpfte noch den Verzweiflungskampf: ein glühender Säulenwald von sterbenden Palmen, und dazwischen vereinzelte, wie Garben brennende Grasbäume. Krachende, gleichsam mit Wehgeschrei zerreißende Bambusen.

»Orangbranis Werk!« dachte schaudernd Rust bei sich. Dachte im Augenblick Sylvester auch und starrte wie ein Verlorener in die Waberlohe.

Maya, die von neuem eine wohltätige Ohnmacht umfing, wurde jetzt schnell hinauf in Marthas schon bereitete Schlafkammer gebracht und dort der treuen Obhut der alten Guam übergeben.

»Uns bleibt noch ein Schwereres zu tun«, sagte Rust bewegten Herzens. »Ihr wißt, Tutumas kleine Söhne waren der Aufsicht eines Greises anvertraut. Vielleicht ist es seiner Wachsamkeit geglückt, sie und sich aus den Flammen zu retten. Wir dürfen es von einem Himmel hoffen, der die Kinder lieb hat. Aber wie leicht könnten sie noch auf der Flucht von der gefräßigen Rache des Malaien erfaßt werden! Wie leicht die schönen Wälder eurer Heimat auch! Kommt, meine Freunde, laßt uns den Kampf aufnehmen!«

Daraus zogen sie hinunter in das feurige Tal. Keiner blieb zurück.


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