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Stille Nacht, heilige Nacht.

»O du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren, Christ ward geboren,
Freue, freue dich, o Christenheit!«

So tönte heller Kindergesang wie die Jubelstimmen seliger Englein herauf in mein dunkles Stübchen. Ich trat ans Fenster und blickte hinunter. Wie flimmerte draußen unter dem frischgefallenen Schneeschaum das wogende Meer der Dächer und blitzte tausendfach im Lichterglanze ferner Welten! Und wie hell und festlich strahlten alle Fenster heute, hinter denen Millionen sehnsüchtige Kinderaugen der Liebeswunder der herniedersinkenden Weihnacht harrten! Auch die gotischen Kathedralfenster der alten Friedhofskirche waren festlich erleuchtet, und um Turm und Gemäuer schlang die Christnacht ihren sternenbesäten Mantel. Die stockhohen, schweren Flügel der kunstvollen Gittertüre in der Kirchhofsmauer standen in dieser Stunde offen, und ungezählte Scharen strömten herein und ergossen sich in das glanzerfüllte Gotteshaus.

Längst hatte die Christmette begonnen, als noch in den Garten ein etwa zwölfjähriges Mädchen und ein kleiner Knabe, der wahrscheinlich ihr Brüderchen war, Hand in Hand eintraten. Das Mädchen glaubte ich zu kennen. Als der Flammenschein der Torkandelaber auf ihr blasses Gesichtchen fiel, schien es mir wenigstens, als wärs das Lumpenlieschen, das mir noch heute morgen auf der Gasse begegnet war. Da hatte es mit seinen heimlichen Bittaugen den Vorbeigehenden die buntbemaltesten Lebkuchenmänner angeboten und die süßesten Pflaumenrüpel. Erst vor einem Jahre war sein Mütterchen gestorben, das Lumpenmalchen, das fast jedermann im ganzen Viertel kannte. Sie hatten es damals noch auf den alten Friedhof geschafft zu ihrem längst verstorbenen Manne. – Was wollten die Kinder, die an der Kirche vorüberschritten, hier allein um diese Stunde? Sie stapften furchtlos durch den tiefen Schnee der Gräberwege zwischen gesenkten Pyramiden und verschneiten Denkmalen vorbei nach dem entferntesten Winkel der wie weiß übertünchten Totenstadt. Unter dem Arm trug das Mädchen einen Gegenstand, den ich im nächtlichen Dämmerlicht nicht zu erkennen vermochte. Doch schien es mir ein Christbäumchen zu sein. Und bald konnt' ich mich überzeugen. An der Mauer, vor dem letzten Hügel blieben die Kinder stehen. Und es dauerte gar nicht lange, da flammte ein Lichtlein über dem Grabe auf, und dann gleich ein zweites und wieder welche und noch viele andere, und so brannte schließlich das ganze Christbäumchen über dem Hügel der Eltern. O, mußten die sich freuen, wenn sie als lichtverklärte Engel vom Himmel herniedersahen auf ihre lieben Kinder, wie diese ihrer nicht vergaßen in der heiligen Weihnacht! –

Wie ich noch so sann und dachte und wieder die Glocken draußen klangen, da war es mir plötzlich, als hörte ich hinter mir ein Flügelrauschen. Und als ich mich umwendete – wen erblickte ich? Meine längstersehnte, milde Freundin, die Liebe! Seit der Brandnacht, in der jene Mutter ihren kleinen lieben Walther in so wunderbarer Weise gerettet hatte, war sie nicht wieder zu mir gekommen.

Sie lächelte und faßte mich bei der Hand. »Komme, mein Freund,« sagte sie, »ich will dich heute gar nicht weit führen.« –

* * *

Es war noch ziemlich früh am Abend, als wir schon vor einem Hause der ersten, großen Seitenstraße standen. Das ganze Erdgeschoß war glänzend erleuchtet. Hier befand sich der Weihnachtsbazar eines großen, wohltätigen Frauenvereins. Alljährlich veranstaltete der nach alter Gewohnheit am Weihnachtsheiligenabend eine große Christverlosung für arme Kinder mit Liedergesang und lebenden Bildern aus der Heiligen Legende. Das war für die Kleinen immer eine große Freude, und auch den wohltätigen Damen gab namentlich die Verlosung mit ihren allerdümmsten Zufallstücken vielen Spaß. – Heute traten auch wir ein und mischten uns unbemerkt unter die Zuschauer. Es war schon gegen Ende des Festes, und ich hörte, daß viele Damen nach Hause wollten, wo ihre Kinder auch schon des Weihnachtsmannes harrten. Da mußten wir noch Zeuge eines häßlichen Vorfalles werden, der in die schöne Weinachtsstimmung wie ein Mißklang fiel. Ein alter, weißbärtiger Bettler, der im Hause angesprochen, hatte die Gelegenheit benutzt und war, uns auf dem Fuße folgend, als ungebetener Gast in den Saal gedrungen. Aber für den ausgezehrten alten Mann in seinen unfestlichen Lumpen war im Verein der Wohltätigen am Feste der Liebe kein Plätzchen gedeckt! Überall erhoben sich Stimmen des Unwillens, und der Alte wurde unter großer Entrüstung hinausgestoßen in den Frost der Nacht. – Das geschah unter den Liebreichen am Fest der Liebe. –

Da gingen auch wir und stiegen eine Treppe höher.

* * *

Wir traten in ein prunkvoll ausgestattetes Gemach. Am Bettlein eines Kindes kniete eine schwarzgekleidete Frau, über deren Wangen immer und immer heiße Tränen herabflossen. Auf einem gedeckten Kindertischchen am Bett brannte ein lichterreicher kleiner Christbaum, an dem viele bunte, schöne Sachen hingen. Ganz oben auf der Spitze aber, da schwebte über dem Lichterglanz ein schneeweißes Englein mit einer goldenen Palme in der Hand. Im Fieberglanz leuchteten die braunen Rehaugen des kleinen, kranken Mädchens, und so sehnsüchtig breiteten sich die mageren Ärmchen aus! Sie langten nach dem schönen, weißen Englein mit der goldenen Palme in der Hand!

Die Mutter sah es nicht. Und ich wagte nicht, der Liebe vorzugreifen und den kindlichen Wunsch zu erfüllen. – Ob wohl das Englein in der Nacht heimlich herabgekommen ist zu dem kleinen Mädchen? Ich weiß es nicht. –

* * *

Die Liebe führte mich eine Treppe höher in den zweiten Stock. Durch den dunklen Zwischengang kamen wir in ein freundlich erhelltes Wohnzimmer. Auch da brannte ein kleines Bäumchen auf dem Tisch – wie ganz für sich selbst. Im Lehnstuhl am Kamin aber lehnte ein ältlicher Herr und sah sinnend in die Flammen. Das war ein alter, guter Onkel. Seit vielen Jahren hatte er immer nur für andere gesorgt und mit offnen Händen immer und immerfort gegeben. Nun war es das erste Weihnachten, das er ganz allein verbrachte. Liesel, der längstverstorbenen Schwester Kind, die ihm bisher den Haushalt geführt hatte, war vor drei, vier Wochen ihrem Liebsten zum Altar gefolgt, und Fritz studierte seit einem Jahre, und Richard war über das Große Wasser gegangen – alle, alle waren sie fort ...

Und so stille ward es,
Und so ruhig ward es,
Und so einsam wards im alten Haus –
Fort die Kinder zogen,
Fort die Vögel flogen –
Alle, alle zogen sie hinaus! ...

Nun war der gute Onkel ganz allein, und er dachte wohl jetzt im stillen: ob sie dich auch wirklich ein wenig lieb haben? und ob heute eines deiner gedenken wird? ... Oder waren es längstversunkene Bilder der fernen Jugendzeit, die ihn heut umflossen? – Ich sah eine Träne schimmern, die über des einsamen Mannes Wange rollte ...

Leise, wie wir gekommen waren, gingen wir wieder hinaus, und mein letzter Blick grüßte heimlich dort im Lehnstuhle den alten, guten Onkel ...

* * *

... Aus dem dritten Stock scholl uns der Jubel heller Kinderstimmen entgegen. Geräuschlos traten wir in den Vorsaal ein und dann in das Wohnzimmer, wo die vielen Menschen darinnen uns gar nicht zu bemerken schienen. Ob die Liebe zuweilen so unsichtbar waltet, oder ob alle, die Großen und Kleinen, in ihrer Christfreude für uns kein Auge hatten, oder ob wir den Leuten als längstvertraute gute Bekannte erschienen: darüber konnt' ich nicht ganz einig mit mir werden. Aber ich hatte auch gar keine Zeit, mir meinen Kopf mit tiefsinnigen Betrachtungen zu zerbrechen, denn schon im nächsten Augenblick öffneten sich die weißen Flügeltüren zum Speisezimmer, und ein Lichtmeer flutete den geblendeten Sinnen entgegen ... O Traum der Kindheit! Du seliger, nie verblassender Weihnachtszauber, der uns umströmt im Tannenduft und Kerzenglanz! Wer möcht' und könnte sich entziehen deiner wunderbaren Lichtgewalt, die herzenbeglückend den Menschen zum Menschen führt, die Liebe in die Schwesterarme der Liebe, und die am herrlichsten wiederstrahlt in einem traumseligen Kinderauge!

Ja, das war das Fest der Liebe! Nie werd' ich den graubärtigen Alten vergessen, wie er einen Totgeglaubten, einen wiedergefundenen Sohn an die treue Vaterbrust zog, nie das Lächeln jener Mutter, wie sie unter dem Tannenbaum in die bräutlichen Arme ihres weinenden, glückzitternden Kindes endlich, endlich, nach so langen, schweren Kämpfen den Einziggeliebten führte! ...

So leid ward mirs hier zu gehen! Doch mahnte die Liebe, und ich mußte ihr folgen ...

* * *

Noch eine Treppe stiegen wir, die letzte im Hause. »Ich muß mich heute überzeugen,« sagte die Liebe, »was meine alte Freundin Mariechen macht; ich habe sie seit dreißig Jahren nicht wieder gesehen.«

»So lange nicht?« fragte ich erstaunt.

»Ja,« antwortete die Liebe, »ein treuloser Mensch, der Mariechens Bräutigam war, hat sie damals um ihr Lebensglück betrogen; und da hat das arme Mädchen einen ungerechten Groll auf mich geworfen und nie mehr von mir wissen mögen. Nun ist sie ein ärmstes, vereinsamtes Geschöpf geworden, sterbensmüde und verbittert. Und wenn ich auch weiß, daß ihr Herz in kummervollen Nächten wie oft nach mir heimlich gerungen hat, ja geschrieen hat nach Liebe unter heißen Schmerzenstränen – ich durfte ja doch nicht zu ihr kommen! Und sie hat niemanden mehr auf Erden!« –

Wir standen vor der schmalen Tür. Die Liebe pochte an und rief leise: »Mariechen?« Es blieb alles ruhig drinnen. – Sie rief noch einmal. »Liebes Mariechen –?« Keine Antwort. Da legte meine Begleiterin ihre weiße Hand auf das Schloß, und es schien mir, als spränge innen der Riegel zurück. Die Liebe ging voran, und ich folgte. Es war ein bescheidenes Stübchen, hinaus nach dem Hofe gelegen. Drinnen brannte kein Licht; aber durch die weißen Vorhänge am Fenster und zwischen den duftenden Rosmarinstöcken und Hyazinthen lugte der blasse Mond herein. Ein Vogel sang im Stübchen, als wir eintraten. Ich sah mich um und bemerkte einen Holzkäfig im Fenstervorsprung; aber das Gebauer war offen und leer. Den kleinen Sänger konnte ich nicht entdecken.

Ich zündete das Öllämpchen an, das auf dem weißgescheuerten Tische stand. Und da sahen wir Alles! In der Ecke stand ihr armselig Bett, und drinnen im Bette, da lag das alte Mariechen stumm und tot!

Und auf dem Kopfe der Toten, da saß ihr alter, treuer Freund, ein zahmes Rotkehlchen. Das reckte sein Köpfchen und hub wieder an zu singen, als es Licht wurde. Und sein Kehlchen zitterte so schmerzvoll dabei, als ob in dem Sang des kleinen Burschen ein liebes Seelchen mitklänge.

Und wie das Vöglein noch nicht geendet hatte, da klang es auch von unten herauf aus Kindermund wie ferne, selige Engelstimmen ...

»Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft; einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh!« ...

Die Liebe löschte das Licht auf dem Tische, aber ich fürchtete mich nicht. Am blauen Nachthimmel hatte der liebe Gott einen so wunderherrlichen Weihnachtsbaum angezündet, auf dem Millionen und Abermillionen goldne und silberne Lichter brannten. Das waren lauter selige Sterne, und ihr Weihnachtsglanz leuchtete herein in das stille Totenstübchen und floß sanft um das Haupt der einsamen Schläferin. – –

* * *

Wir standen schon unten auf der schneeverwehten Gasse, und hinter den hellen Fenstern der Häuser verlöschten die Lichter eines Christbaumes nach dem andern, als ich das erste Wort zu meiner Begleiterin fand. »Das arme, alte Mädchen,« sagte ich, »nichts hat sie von ihrem liebeleeren Leben gehabt als Arbeit, Not und Kummer! Ach, das sind Rätsel der Welt, die ich nicht verstehe!«

Die Liebe sah mich ernst an und sprach: »Weil dir ein ewiges Welträtsel versiegelt bleibt, muß es darum vor Gott unlösbar sein? – Ist Gott nicht Allvater? Und du könntest wirklich glauben, daß der Allweise, Allgütige seinen Kindern ein so harter und ungerechter Vater ist? – Nein, mein Freund! Heute ist Weihnachten, und schaue nur empor zum sternenbesäten Himmel – auch Gott hat droben einen Tisch gedeckt! Da weilet sie heute! Spricht nicht der Herr also: ›Lasset zu mir kommen, die da mühselig und beladen sind –?‹«

Meine Begleiterin reichte mir die Hand, und wir schieden. Als ich daheim in meinem Bett lag, mußte ich noch lange über die Worte der Liebe nachdenken. Und als ich in später Stunde einschlief, da war mirs mit einem Male, als neige sich über mein Haupt die allerseligste Jungfrau. Wie ich aber näher hinsah, da war es das arme, alte Mädchen, nur wunderbar verjüngt und in lichtverklärter Engelgestalt. Sie sah mich an und lächelte, und leise flüsterten ihre Lippen ...

»Ehre sei Gott in der Höhe,
Und Friede auf Erden,
Und den Menschen ein Wohlgefallen!«

Das Kummerschifflein.

Fließe, Faden, fließe;
Silberschifflein, schieße!
Fahre über, hin und her,
Meine Tränen sind dein Meer,
Meiner Seufzer Hauch dein Wind –
Fahr, mein Schifflein, fahr geschwind!

Spule, spule, fließe;
Kummerschifflein, schieße;
Schnell' dich hin und schnelle her –
Hab mein Kind, mein Kind nicht mehr!
Stich ins Herze, Stich und Schlag ...
Gott – wann wird es endlich Tag?!

Schalte, Rädchen, schalte;
Halte, Schifflein, halte! –
Muß das leere Bettchen sehn
Meiner kleinen Magdalen! ...
Warst mein Glanz, mein Sonnenschein –
Und mußt nun begraben sein!

Spiele, Schifflein, spiele,
Meilen sind noch viele!
Schnelle hin und schnelle her –
's ist ein Leben, ach so leer,
Wie die Nacht, so bitter kalt! –
Will es noch nicht tagen bald?!

Eile, Faden, eile,
Fließe ohne Weile:
Hier das Linnen muß noch sein,
Draußen für ein Kreuz aus Stein! –
Ach, wenn erst Maßliebchen blühn,
Primeln, Veilchen, Immergrün! ...

Schnurre, Rädchen, schnurre;
Surre, Faden, surre;
Jahr wie Jahre, Tag und Nacht,
Bis der Tod herangewacht. –
Fädlein, Rädlein, willst du gehn?
Ja nicht müde stillestehn!

Fließe, Faden, fließe;
Silberschifflein, schieße!
Wie schon trüb die Lampe brennt,
Leben auf den Gassen rennt –
Flink, mein Schifflein – Ruck und Schlag –
Gott – es ist schon wieder Tag!


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