Friedrich Gerstäcker
Der Wilddieb
Friedrich Gerstäcker

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VII.

Der Förster verzehrte sein Frühstück schweigend. Die Frau fragte nach Meier und der gehabten Jagd, aber er gab nur einsilbige Antworten. Die Krähen, die er dort oben beisammen gesehen, und die er im Vorbeireiten nicht sogleich beachtet hatte, gingen ihm im Kopf herum. Möglich, daß sie sich zufällig dort zusammengefunden, wie das im Winter ja manchmal geschieht – möglich aber auch – er schauderte, wenn er sich einen solchen Fall dachte – daß sie der Leichengeruch eines Unglücklichen angelockt. Jedenfalls wollte er sich Gewißheit verschaffen, und bald bestieg er sein Pferd wieder und ritt, so rasch es ihm das Terrain erlaubte, nach dem Schlag zurück.

Ein Teil des Weges sollte ihm aber erspart werden. Schon von weitem hörte er die Stimmen herabkommender Menschen, und bald erkannte er auf dem Schnee die dunkeln Gestalten einiger Männer, die etwas Schweres trugen.

Es war der Forstgehilfe Scholz von Herslingen mit einem seiner eigenen Kreiser und mit Schneider – demselben Mann, den Müller erst vorhin hinaufgeschickt hatte, um den anderen bei der Nachsuche zu helfen, – diese drei trugen den blutigen Leichnam des Forstgehilfen Meier, über dessen klägliches Ende nun kein Zweifel blieb.

Der angeschossene Gabler, dem sie vor der Hand natürlich gar nicht weiter nachgesucht, war nämlich wirklich in jenes Dickicht geflohen, in das sie aber des Schnees wegen anfangs nicht eher einbrechen wollten, bis sie auch gewiß wußten, daß ihr Hirsch noch darin stecke. Das zu erfahren, umschritten sie die Dickung. Führte keine Spur aus dem Gehölz, so sollte sich Scholz auf dem wahrscheinlichen Wechsel anstellen, während die beiden Kreiser der deutlichen Spur des Schweißes nachgegangen wären.

So kamen sie zu der Stelle, über welcher sich die Krähen noch immer hielten, und sie vermuteten aus diesem Zeichen nichts anderes, als daß der Hirsch dort verendet sei, und die Krähen, durch die Witterung des frischen Schweißes angelockt, sich hier gesammelt hätten. Sie waren nicht auf das Furchtbare vorbereitet, das sie dort erwartete: Meiers entseelter, mit klaffenden Wunden bedeckter Körper.

Es war klar, daß der Unglückliche, auf dessen Leiche sie stießen, durch einen Wilderer ermordet worden sei, – wer aber war der Täter? Dem Förster, als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, war es daher nicht recht, daß die Leiche sogleich aufgehoben worden war, ohne vorher die Gerichte herbeizurufen. Das ließ sich jedoch jetzt nicht mehr ändern; der Körper mußte weiter getragen und nach Hollendeik gebracht werden. Müller ritt rasch voraus, um seine Frau auf die Trauerbotschaft vorzubereiten.

Augenblicklich machte er auch die Meldung. Ein Arzt wurde von dem nächsten Ort herbeigeholt, und der Tatbestand aufgenommen. Zweifel über die Todesart konnten nicht obwalten. Der Gemordete hatte sieben Messerstiche erhalten, von denen jeder einzelne tödlich gewesen wäre, und am Nachmittage ging ein Gerichtsaktuar mit dem Schulzen und den beiden Gendarmen an den Fundort hinauf, um den Schauplatz der Tat genau zu untersuchen.

Hier aber fiel ihnen für jetzt, da der Schnee noch alles bedeckte, nur die Flinte des Getöteten in die Hände. Weitere Ermittelungen mußten auf das nächste Tauwetter verschoben werden, das ein seit heute eingetretener Südwestwind bald hoffen ließ.

Wer aber war der Täter? – Der Aktuar Bellert hielt mit dem Förster Müller und seinem Schreiber eine Konferenz bei verschlossenen Türen, und noch an dem nämlichen Abend spät wurden die beiden Gendarmen nach Herslingen hinübergeschickt, um den Kreiser Schöffel zu verhaften.

Wie ein Lauffeuer ging indessen das Gerücht durch das Dorf, der Forstgehilfe Meier sei vom Kreiser Schöffel im Walde ermordet worden. Woher es die Leute wußten? Niemand konnte es sagen; aber noch in der Nacht kamen die Gendarmen mit dem Gefangenen zurück, der eingesperrt und von den Dienern der Gerechtigkeit sicher bewacht wurde.

In der Nacht regnete es und so auch noch am nächsten Tage. Der Schnee schmolz unter dem warmen Winde, der Platz des Verbrechens ward der näheren Erforschung zugänglich. Man fand aber nichts weiter als das Messer, mit dem der Mord augenscheinlich verübt worden; denn die Klinge paßte, wie sich später ergab, in die Wunden; ob aber das Messer früher dem Schöffel gehört, wußte niemand. Es war ein gewöhnlicher, abgenutzter Genickfänger mit altem Bockhorngriff, wie fast alle Jäger und Kreiser dergleichen führen.

Daß der Kampf nicht in der Dickung selber stattgefunden, stellte sich übrigens auch heraus; die Zweige der Büsche wären sonst dort herum mehr eingebrochen und geknickt gewesen. Der mutmaßliche Platz war nahe beim Dickicht, wo der Boden zertreten schien. Der starke Regen hatte aber auch diese Spuren schon wieder ziemlich verwischt, und das Nähere mußte jetzt das Verhör ergeben.

Das fand am nächsten Morgen statt; Schöffel leugnete jedoch hartnäckig und schwur bei allem im Himmel und auf der Erde, daß er unschuldig sei. Er habe den Forstgehilfen allerdings nicht leiden können und hätte auch alle Ursache zum Haß gegen ihn gehabt, da er ihn immer noch des Wilderns beschuldigte, während er den höchsten Eid ablegen könne, daß er kein Wild mehr geschossen, seit er in herrschaftlichen Diensten stehe. Nie aber sei ihm auch nur ein Gedanke an so Entsetzliches gekommen. Er habe Frau und Kinder und würde nimmer etwas getan haben, was diese ins Elend stürzen müßte.

Auf die Frage, woher er an jenem Morgen so früh gekommen, gab er dieselbe Antwort, die er damals dem Förster gegeben. Auch das Blut an seiner Stirn sei von dem Fall hergekommen. Der leichte Ritz war jetzt schon wieder ziemlich zugeheilt.

Das Stück Wild war mit einer Kugel geschossen worden, und das Gewehr, das der Kreiser führte und das die Gendarmen ebenfalls mitgebracht, im linken Lauf mit einer ähnlich großen Kugel geladen. Schöffel behauptete aber, gerade nur gestern eine Kugel hinuntergeschoben zu haben, um vielleicht ein krankgeschossenes Stück damit völlig zu töten – sonst führe er im Winter immer nur groben Schrot in der Flinte, und zwar für Raubzeug und Krähen.

Die Kugel des Wilderers war durch das Stück Wild geschlagen und nicht mehr zu finden.

Zum nächsten Zeugen wurde der Kreiser Schneider aufgerufen, der allerdings bestätigte, daß Schöffel bittere Reden über den Ermordeten geführt und gedroht habe, es schon einmal wieder bei ihm wett zu machen – »wenn er ihn einmal allein träfe« – er glaube aber nicht, daß er das Schlimmste damit gemeint, sondern sich vielleicht nur eine Tracht Schläge darunter gedacht habe. Was das Messer anlangte, so hatte Schöffel allerdings ein ähnliches geführt wie andere auch. Das Bedenkliche war nur, daß Schöffel, gefragt, wo er sein Messer gegenwärtig habe, erklären mußte, daß er es schon vor vierzehn Tagen verloren und sich noch kein anderes gekauft habe, weil ihm das Geld gefehlt. Seine Frau könne ihm das bezeugen.

Auch der Wirt Kerdelmann wurde als Zeuge vorgeladen. Aus seinem Wirtshause rührte der Streit zwischen dem Kreiser und Forstgehilfen eigentlich her. Gern hätte man auch von ihm erfahren, ob ihm Schöffel schon früher heimlich Wild verkauft, und sicherte ihm daher, im Fall er das eingestände, völlige Straflosigkeit für seine Person zu.

Kerdelmann erschien vollkommen ruhig. Er hatte Zeit genug gehabt sich zu sammeln, und wußte auch jetzt, daß er gar nichts zu fürchten hatte, wenn er sich nur nicht selbst verriet. Der Verdacht war von ihm abgelenkt, und er brauchte sich nur ruhig zu verhalten.

Auf ein Zeugnis gegen den Kreiser ließ er sich jedoch nicht ein, weshalb eben seine Aussagen bei dem Aktuar den Verdacht verstärkten, daß der Wirt irgend eine frühere Verbindung mit dem Angeklagten verschwiege, als fürchte er bei einem Geständnis, sich selber zu kompromittieren. Das ihm vorgelegte Messer kannte er natürlich nicht. Schöffel, erzählte er, sei nur selten in seinem Hause gewesen, und wenn er dort gegessen, so habe er sich des Messers bedient, das ihm hingelegt worden, also auch keine Ursache gehabt, das eigene aus der Tasche zu ziehen. Obgleich sich Schöffel übrigens gegen ihn gerade nicht freundlich benommen, fügte der Wirt seinen Aussagen hinzu, so traue er ihm doch keinen Mord zu. Vielmehr meine er, daß irgend ein anderer Wilderer vom Nachbarrevier der Täter gewesen wäre.

Auf die Frage, ob er irgend einen Wilderer drüben anzugeben wisse oder nur wider einen dringenden Verdacht habe, gab Kerdelmann ausweichende Antworten. Es war nichts Bestimmtes aus ihm herauszubekommen, und so wurde er entlassen.

Gleich vom Verhör weg ging er zum Förster hinüber und bezahlte dort das Alttier, das bei Meiers Leiche gefunden worden und das ihm der Förster ins Haus geschickt hatte. Da es die Zeit über aufgebrochen im Walde gelegen hatte, war das Wildbret natürlich vollkommen frisch und gut geblieben. Der Förster wollte aber mit dem Stück weiter nichts zu tun haben und war froh, daß es der Wirt behielt. – Und doch hätte Kerdelmann mit Freuden wer weiß wieviel gezahlt, wenn er gerade dieses Stück Wild nicht hätte zu kaufen brauchen. Aber – er fürchtete Verdacht zu erregen, wenn er sich weigerte. Wie er jedoch zusammenschauderte, als es ihm in den Hof gebracht wurde! Es war ihm, als ob er das Blut seines Opfers noch daran erkennen solle. Er hätte von dem Stück keinen Bissen essen können.

Die Untersuchung ging indessen ihren Gang. Verschiedene Leute, auf die man Verdacht hatte, wurden eingezogen, mußten aber wieder entlassen werden, da sie ihre Anwesenheit an anderen Orten zu der Zeit der Tat beweisen konnten. Nur Schöffel war das nicht imstande. Er hatte sein Haus morgens etwa um vier Uhr verlassen, um die am vorigen Tag vergessene Botschaft auszurichten, und daß er behauptete, einen Schuß nach der Richtung hin, wo der Mord geschehen, gehört zu haben, als er schon unterwegs gewesen, konnte ihn nicht von dem Verdacht reinigen.

Mehrere Tage waren vergangen, und Kerdelmann hatte nicht das Herz gehabt, Margareten wieder aufzusuchen. Der Mord lastete noch zu neu auf seiner Seele, und keine Zeit wurde ihm gelassen, die furchtbare Tat zu vergessen. Im ganzen Ort sprach nämlich niemand von etwas anderem als von dem getöteten Forstgehilfen, und wenn auch die Leute alle darüber einig schienen, daß wirklich Schöffel und niemand anderes die Tat verübt, wurden doch die Einzelheiten des Verbrechens so oft bis in die kleinsten Details hinein erzählt, daß Kerdelmann jenen furchtbaren Morgen immer wieder aufs neue durchleben mußte.

Nach dem Begräbnis erst, wobei der Mörder der Leiche folgte, schien es, als ob die Leute das Geschehene etwas vergessen wollten. Zwei Abende nachher gab der Wirt Margareten das gewöhnliche Zeichen – ein über Tag in den Garten geworfener Zweig eines Kiefernbusches –, daß er sich zur gewöhnlichen Zeit einfinden würde, und heute war Margarete zuerst am Platze. Sie schien ihn mit Ungeduld erwartet zu haben.

Als er den kleinen Garten betrat, stand sie seiner harrend am Geländer, entzog sich aber seiner Liebkosung, ergriff seine Hand und sagte leise: »Komm – hier unten könnte uns jemand belauschen. Ich habe mit dir zu sprechen.«

»Aber wohin, mein Herz?« flüsterte der Mann erstaunt.

»In mein Zimmer,« sagte das Mädchen, »sie sind alle zu Bett und – ich fürchte mich hier im Dunkeln.«

»Fürchtest dich?« flüsterte Kerdelmann, den eine eigene Unruhe beschlich, denn es war das erste Mal, daß sie ihm gestattete, ihr Zimmer zu betreten – »fürchtest du dich, wenn ich bei dir bin? – Aber was hast du? – Du bist aufgeregt und deine Hand zittert.«

»Komm!« war das einzige Wort, das ihm das Mädchen darauf erwiderte, und rasch zog sie ihn in das Haus und die kleine Treppe hinauf, die in ihr Stübchen führte.

Das Fenster des kleinen reinlichen Gemachs war dicht verhängt, und Kerdelmann schlug das Herz fast hörbar in der Brust, als Margarete, sowie er das Zimmer betreten hatte, auch den Riegel der Tür von innen vorschob. Seine Hand ließ sie dabei nicht los, sondern führte ihn zu dem Tisch, auf dem eine kleine Lampe brannte, schraubte diese etwas in die Höhe, daß sie ein helleres Licht verbreite, und sagte dann mit leiser, vor innerer Aufregung fast erstickter Stimme:

»Joseph – ich habe eine schwere Frage an dich zu tun.«

»Was ist dir, Margaret?« bat dieser, dem es anfing unheimlich dabei zu werden. »So habe ich dich ja noch nie gesehen. – Was hast du nur um Gottes willen?«

»Nichts,« sagte das Mädchen, und es war augenscheinlich, daß sie nach Fassung rang, ehe sie weiter sprach – »nichts – gar nichts – nur – nur eine Frage sollst du mir beantworten, die mich die letzten Tage so gequält, die mir den Schlaf geraubt, ja mir das Leben vergällt hat.«

»Und die ist?« sagte Kerdelmann, jetzt vollkommen gefaßt, denn wie ein unbestimmter Verdacht hatte bis dahin die Gestalt vor seiner Seele gestanden, die er an jenem furchtbaren Morgen an Margaretens Fenster glaubte gesehen zu haben. Er wußte jetzt, daß er sich nicht geirrt, und war auf alles vorbereitet.

»Willst du mir ehrlich beantworten, um was ich dich frage?« flüsterte das Mädchen so leise, daß er die Worte kaum verstehen konnte.

»Gewiß, mein Herz! – warum denn nicht?«

»Gut – dann sieh mir ins Auge und sage mir – wo warst du an jenem Morgen, an dem – der Forstgehilfe Meier ums Leben kam?«

Kerdelmann hatte gewußt, daß sie diese Frage an ihn tun würde, aber auf die Erwähnung der Tat selber hatte er nicht gerechnet, und vor Schrecken verließ das Blut für einen Moment seine Wangen, wenn auch seine Züge vollkommen ruhig blieben. Im nächsten Augenblick hatte er seine ganze Besonnenheit wieder und sagte lächelnd:

»Wo sollte ich gewesen sein, Schatz? – in meinem Bette.«

Margarete schwieg – es war, als ob ihr das Herz zu Eis erkalten wollte. Sie hatte das plötzliche Erbleichen des Mannes bemerkt, und doch war die Gelassenheit seiner Antwort zu täuschend erheuchelt. Sie konnte sich nicht denken, daß ein Mensch mit einem Mord auf dem Gewissen ihr so ruhig ins Auge zu sehen vermöchte. Er hätte ja, mit dem Bewußtsein der Tat, bei der Äußerung ihres Verdachts zerknirscht, vernichtet zu Boden brechen müssen.

»Aber wie kommst du zu der Frage, Margaret?« sprach der Wirt, als sie schwieg und ihm nun starr in das jetzt freundlich auf ihr haftende Auge sah.

»Wer war dann der Mann,« sagte das Mädchen nach einer Pause – »der an jenem Morgen noch vor Tag durch unsern Garten, unter meinem Fenster vorüberschlich?«

»Welcher Mann, mein Herz? – und was tat er? – wohin wendete er sich?«

»Ich weiß es nicht,« stöhnte Margarete, immer unsicherer in ihrer Überzeugung. Sie hätte doch ihre Seligkeit verpfänden wollen, daß sie eben ihn, ihren Joseph, an jenem Morgen scheu und flüchtig unter ihrem Fenster vorüberschleichen sah. Eine unnennbare, seltsame Angst hatte sie damals geweckt. Es war ihr, als sie sich ermunterte, gewesen, als ob ihr irgend ein furchtbares Unglück drohe, als ob sie ans Fenster springen und um Hilfe schreien müsse. In dieser Bedrängnis stand sie auf, kleidete sich an und wollte Licht machen. Aber sie schalt sich selber wegen ihrer kindischen Furcht und legte sich wieder zur Ruhe, bis es sie zum zweitenmal aus dem Bett und ans Fenster trieb, nur um zu sehen, ob der Morgen noch nicht dämmere. Da gewahrte sie unten im Garten die Gestalt, in der sie den Geliebten zu erkennen glaubte. Freilich war es zu dunkel, um das mit Bestimmtheit zu behaupten. Daß er aber denselben Weg nahm, den Kerdelmann so gut kannte, bestärkte sie in ihrem Glauben. Auch sah er nach ihrem Fenster empor. Wenn nun aber wirklich – was konnte er in der Nacht draußen getrieben haben?

Den ganzen Tag wartete Gretchen, daß er ihr das bestimmte Zeichen geben würde. Sie sehnte sich danach, ihn zu sprechen, sich von ihrer bangen Erinnerung zu befreien. Aber er kam nicht, und als die furchtbare Kunde zu ihr drang, daß Meier, den Joseph als seinen Nebenbuhler kannte, im Wald ermordet gefunden sei, legte sich ein unbesiegbares Bangen, eine drückende Ahnung des Entsetzlichen auf ihre Seele.

Daß sich der Mann, welchem sie bis jetzt mit ganzer Seele zugetan war, mit keinem Blick vor ihr sehen ließ, daß er ihr vielmehr auszuweichen schien, bestärkte sie nur noch mehr in ihrem quälenden Verdacht. Ja, ihr Argwohn nahm durch die Länge der Versäumnis eine so feste Gestalt an, daß sie, als er ihr endlich auf die bekannte Weise meldete, daß er den Abend kommen würde, nicht wußte, ob sie sich darüber freuen, oder ob sie sich fürchten solle, ihm wieder zu begegnen.

Und war er nicht erbleicht, als sie die Frage an ihn richtete, die ihr das Herz fast abgedrückt in der ewig langen Zeit? Hatte sie nicht gesehen, wie das Blut seine Wangen verließ? Und doch stand er jetzt wieder so ruhig, so unbefangen vor ihr, daß er ja gar nicht schuldig sein konnte. Lieber Gott, sie wußte nicht, welche Gewalt der menschliche Geist über den Körper ausüben und ihn sich unterordnen, ihn zum Gehorchen zwingen kann.

»Joseph,« sagte sie endlich, »eine unsagbare Angst hat mir seit jenem Morgen, ich weiß selber nicht weshalb, das Herz fast abgedrückt. Ich habe meine Arbeit wie in einem schweren Traum getan, unbewußt, ohne Lust, ohne Trieb. Ich bin im Haus herumgegangen, als ob ich selber ein schweres Verbrechen verübt hätte – als ob ich es noch verübe,« setzte sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu – »und nicht wieder froh werden könne, bis ich dich gesprochen hätte. Wo bist du so lange gewesen, daß du nicht einen Abend eine Viertelstunde Zeit gewinnen konntest, die Last von meiner Seele zu nehmen?«

»Ich konnte nicht unbemerkt vom Haus abkommen, liebes Kind,« sagte Kerdelmann freundlich. »Alles schien gerade in diesen Tagen zusammenzukommen, mich zu verhindern.«

»Und du bist wirklich an jenem Morgen nicht hier im Garten gewesen? – nicht von da drüben her – aus dem Wald gekommen?«

»Aber, Margarete,« sprach der Mann, »was sollte ich so früh in eurem Garten tun? Hätt' ich da hoffen dürfen, dich zu finden? Und du weißt doch, daß ich euren Hof nur dann besuche, wenn das der Fall ist.«

»Aber im Wald?« drängte das Mädchen.

»Um Gottes willen, Margarete, was für tolle Ideen hast du da gefaßt!« versetzte der Wirt in einem Ton des Vorwurfs. – »Wie kommst du darauf, mich mit jener furchtbaren Tat zusammenzubringen? Nur ein Wort davon gegen irgend einen andern Menschen, und du könntest mich den größten Unannehmlichkeiten aussetzen. Denke nur, welchen Nachteil es allein für mich haben müßte, wenn mein Name damit zusammen genannt würde. Daß ich nicht wildern kann, weil ich ein erbärmlicher Schütze bin, wissen die Leute wohl, und ich habe noch nicht einmal einen Hasen, viel weniger ein Stück Wild erlegt; aber die Menschen sind nur zu gern bereit, gleich das Schlimmste von einem andern zu denken, und wie erwünscht den Jägern ein solcher Verdacht sein würde, weißt du besser, als ich es dir sagen kann.«

»Also du warst es nicht?« wiederholte das Mädchen, ohne bis jetzt den forschenden Blick von dem vor ihr Stehenden abzulenken. »Gib mir keine ausweichende Antwort, Joseph,« fügte sie hinzu, als sie sah, daß er eine abwehrende, wie ungeduldige Bewegung machte – »antworte mir einfach mit ja oder nein, und bedenke, daß ich über eine Woche lang eine Qual ausgestanden habe, wie sie der wirkliche Mörder des Unglücklichen kaum gefühlt haben kann. – Du warst es nicht?«

»Nein, mein Herz,« sagte der Wirt, also gedrängt, und wieder strafte ihn das verräterische Blut für einen Augenblick Lügen – »ich war an dem Morgen nicht in eurem Garten oder irgend wo anders, als in meinem Bett, und bin zur gewöhnlichen Zeit aufgestanden, wie dir meine Leute bezeugen könnten.«

»Es ist gut,« hauchte Margarete, »ich – muß dir glauben.«

»Nun laß aber auch den unglückseligen Gedanken fahren,« bat der junge Mann, froh, den bösen Fragen endlich enthoben zu sein, »und nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mich heute in dein freundliches Zimmer eingeführt. Wie hübsch es hier oben ist; da plaudert es sich viel besser als da drunten im kalten Garten.«

»Wir sind schon zu lange hier gewesen,« sagte das Mädchen mit mühsam erzwungener Freundlichkeit, »drum gehe jetzt. Mich schmerzt mein Kopf so furchtbar, daß ich kaum denken kann – ich fürchte, ich werde krank.«

»Das darfst du nicht, mein Herz,« mahnte der junge Mann und zog sie leise an sich; »du mußt dich tapfer halten, und jetzt haben wir auch die Hoffnung, daß dein Vater doch vielleicht seine Einwilligung zu unserer Verbindung gibt. Mir tut der Tod des armen jungen Burschen gewiß von Herzen leid, und – ich hoffe, daß der Täter seiner Strafe nicht entrinnen wird – aber für uns ist dadurch ein Hindernis weggefallen, und wenn ich ein ernstes Wort mit deinem Vater spräche – am Ende sagte er doch ja!«

Margarete duldete, daß er seinen Arm um sie legte, aber sie war leichenbleich dabei geworden und vermochte nicht ihm gleich zu antworten. »Geh jetzt, Joseph,« flüsterte sie endlich – »geh – mich befällt ein Schwindel und ich muß mich niederlegen.«

»Und darf ich morgen wiederkommen?«

»Nein – wir bekommen Besuch. – Meiner Mutter Schwester wird auf einige Zeit zu uns ziehen und mit mir in meinem Zimmer wohnen.«

»Und soll ich mit deinem Vater sprechen, Gretchen?«

»Laß mir Zeit zur Überlegung, Joseph,« bat das Mädchen und drängte ihn sanft der Tür zu.

»Dann gute Nacht für heute, mein Kind,« flüsterte der junge Mann, dem es selber merkwürdig unheimlich in dem Zimmer wurde – »gute Nacht; aber laß mich nicht zu lange warten, bis ich dich wiedersehen darf.«

Nur ihre Stirn konnte er küssen, weil sie den Kopf gegen ihn senkte, dann glitt er leise aus dem Zimmer und die dicht von der Tür niederführende Treppe hinab. Unten im Flur brauchte er einige Zeit, bis er den Ausweg fand; aber alles schlief, und er entfernte sich ungestört.

Jetzt war er im Freien und schlich, wie an jenem Morgen, über den kleinen offenen Raum der Hoftür zu. Unwillkürlich warf er den Blick nach Margaretens Fenster hinauf – das Licht dort war ausgelöscht, aber die helle Gestalt des Mädchens stand da oben und blickte auf ihn herab – wie an jenem Morgen. Es gab ihm einen Stich dabei durchs Herz, und fast wollte er sich wie damals an die Mauer drücken, um ihrem Auge auszuweichen; doch faßte er sich, biß die Zähne aufeinander und ging mit langsamem, scheuem Schritt dahin. Margarete aber am Fenster oben brach in die Knie, barg das Antlitz in den Händen und weinte – weinte, als ob sich ihre Seele in Tränen auflösen solle.

 


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