Friedrich Gerstäcker
Der Wilddieb
Friedrich Gerstäcker

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VI.

Solange der Mörder voller Hast beschäftigt gewesen war, die Spuren seiner Tat soviel als möglich zu verbergen, solange hatte ihn die gewaltige Aufregung, in der er sich befand, auch nicht zu einem recht klaren Besinnen kommen lassen. Er tat eben, was er für nötig hielt, sein Verbrechen zu verdecken, und suchte vor allen Dingen jetzt noch so viel Zeit zu gewinnen, um an sich selber jede Spur zu vertilgen. Wie er nun aber den Hang hinunter floh, seine Wohnung so rasch als möglich zu erreichen, überkam ihn zum erstenmal das volle Gefühl dessen, was er getan – was er verschuldet, und der kalte Angstschweiß trat ihm vor die Stirn. Scheu warf er den Kopf nach rechts und links hinüber, wenn ein hinter ihm drein kollernder, von seinem Fuß gelöster Stein ihn schon die Verfolger auf seinen Fersen ahnen ließ, und fast stieß er einen lauten Schrei aus, als dicht neben ihm ein aufgescheuchter Auerhahn von einer niederen Kiefer mit lautem Flügelschlag abstrich und das Weite suchte.

Gewaltsam mußte er sich endlich zusammennehmen, die Todesfurcht, die ihn beschlich, zu bezwingen. Er setzte sich auf einen am Wege liegenden Stein, um sich nur ein wenig zu sammeln und das Nächste zu überdenken.

Hier schraubte er zuvörderst seine schon zu solchem Dienst eingerichtete Büchse auseinander und verbarg sie mit Hilfe eines breiten Riemens, den er unter der weiten grauen, das Gewehr vollständig verdeckenden Joppe trug. Dann stieg er hinunter zum nächsten Bach und wusch sich die blutigen Hände – aber von den Kleidern konnte er die Blutflecken in der Dunkelheit nicht entfernen; damit mußte er warten, bis er zu Hause angekommen war.

Es schneite stärker und stärker, und die großen Flocken, die ihm entgegenschlugen, schmolzen im Nu auf seiner fieberheißen Stirn. Im Wege blieb der Schnee schon liegen, daher sprang der Wirt aus demselben zur Seite und eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, aus dem Wald hinaus, dem nicht mehr fernen Dorfe zu. – Der Schnee konnte ihn aber auch retten. Schneite es nur noch eine Stunde so fort, so waren alle Spuren vertilgt und er brauchte in den nächsten Tagen eine Entdeckung kaum zu fürchten.

Jetzt hatte er den äußeren Rand von Hollendeik und damit den ihm so wohlbekannten Garten der Krone erreicht. Der Platz lag wärmer und geschützter als der höhere Wald, und der Schnee blieb hier noch nicht ordentlich liegen. Bis es ordentlich Tag wurde, verging überdies noch eine volle Stunde, und er eilte durch den Garten, um so die Straße abzuschneiden und nicht etwa dem Wächter zu begegnen.

Dicht unter Margaretens Schlafzimmer mußte er hier vorbei, und er warf den scheuen Blick dort hinauf, drückte sich aber im nächsten Augenblick fest an die Wand, denn es war ihm fast, als ob er oben am Fenster eine helle Gestalt gesehen hätte. In dem dunkeln Hof der Krone konnte ihn niemand erkennen – der Kettenhund war auf der andern Seite des Hauses angebunden, und wenige Minuten später glitt er über die leere, dunkle Straße hinweg seinem eigenen Gehöfte zu.

Einmal dort, war er vor Entdeckung sicher. Selbst von seinen Leuten wußte niemand, daß er nachts sein Schlafzimmer manchmal verließ. Das niedere Fenster führte auf den Hof hinaus und war von außen durch eine kleine, heimlich angebrachte Schnur zu öffnen. Jetzt war er in dem Gemach, riß die Schnur ab, schloß das Fenster fest von innen und sank dann erschöpft, zerbrochen auf einen Stuhl.

Aber auch hier durfte er nicht länger säumen, wenn er vor Tag noch alle Spuren vertilgen wollte. Rasch zog er deshalb seine Kleider aus und schnürte sie in ein festes Bündel zusammen, reinigte sich vollkommen und erwartete dann mit entsetzlicher Ungeduld den Tag, damit er sich nicht zu früh sehen ließ und dadurch Verdacht erregte.

Jeden Morgen war es sein erstes Geschäft, in den Keller hinunterzugehen und dort frisches Bier herauszugeben. Den Keller betrat nur er; den Schlüssel hatte er stets bei sich, und dort konnte er deshalb auch seine Kleider am sichersten verbergen.

Es schneite endlich, was nur vom Himmel herunter wollte, und Kerdelmann begrüßte mit Jubel jede neue Schneelage, half sie doch seine hinterlassene Spur verdecken. Als es hell wurde, war die Gegend rings in ein weißes Kleid gehüllt, und immer mehr noch kam von oben nieder. Wer hätte ihn jetzt aufspüren sollen? Er war gerettet.

Nichtsdestoweniger ging er mit aller Vorsicht daran, jeden nur irgend möglichen Verdacht abzuwehren. Als er, genau zur gewöhnlichen Zeit, in den Keller hinunterstieg, gelang es ihm, das Paket Kleider und sein Gewehr unbemerkt mit hinab zu nehmen. In dem feuchten Boden des Kellers hatte er dann bald ein ziemlich tiefes Loch eingegraben, in das er die fest zusammengerollten blutigen Kleider steckte, die Erde darauf wieder fest trat und die vorher zurückgeschobenen Balken, auf denen das Bier lag, wieder darüberzog. Das Gewehr verbarg er an einer andern Stelle – in den Wald hinaus durfte er doch nicht wieder – und das alles in Sicherheit gebracht, fühlte er sich jetzt etwas ruhiger. Ja, als er hinaufstieg und das starke Schneegestöber wieder sah, ward es ihm ordentlich leicht ums Herz. Er pfiff so vergnügt durch das Haus und bei seiner Arbeit, als ob er die Nacht sanft und süß im warmen Bett geschlafen hätte. Wer ihn so sah, konnte wahrlich nicht ahnen, daß der Mann vor wenigen Stunden einen Mord verübt und mit vor Angst gesträubten Haaren aus dem Wald herabgeflohen sei.

Im Forsthaus hatte die Frau Försterin den Herrn Meier indessen vergebens zum Kaffee erwartet, zu dem er fast jedesmal ins Dorf herunterkam. Aber er blieb auch manchmal länger aus, und es fiel deshalb nicht besonders auf.

Mit Sonnenaufgang kam indes der Kreiser Schöffel vom Nachbarrevier und brachte eine Einladung für den Förster Müller und seinen Gehilfen zur morgenden Jagd.

»Dank, Schöffel,« sagte Müller – »eine Empfehlung an den Herrn Förster und wir würden kommen. Meier ist zwar jetzt nicht zu Haus, aber ich denke, er wird ebenfalls abkommen können. – Was habt Ihr denn aber an der Stirn gemacht, Schöffel? Ihr blutet ja!«

»Oh, es ist nichts, Herr Förster,« antwortete der Mann und wurde etwas verlegen. »Ich bin selber dran schuld. Der Herr Förster Wentzel hatte mir nämlich den Brief schon gestern gegeben, daß ich ihn hierher tragen und dann gleich mit nach Weißenborn gehen sollte. Es kam mir aber 'was dazwischen und ich habe den Auftrag schmählich vergessen, bis es gestern abend zu spät war. Da bin ich denn heute morgen schon um vier Uhr von zu Haus aufgebrochen, und als es zu schneien anfing, auf einem von den verwünscht glatten Steinen den Hang hinunter ausgerutscht. Die Haut ist nur ein bißchen an der Stirn und hier an der Hand geritzt.«

»Welchen Weg seid Ihr denn gekommen?« fragte der Förster.

»Dicht an der Grenze herunter,« antwortete der Kreiser.

»Nun gut – Ihr geht also jetzt nach Weißenborn hinüber, wie?«

»Jawohl, Herr Förster – wenn Sie etwas zu besorgen haben.«

»Nein, ich danke – nur eins wollt' ich Euch noch sagen, Schöffel – und es ist mir lieb, daß wir gerade allein sind. – Haltet mir mit dem Meier Frieden, daß nicht wieder etwas Derartiges vorfällt wie neulich –«

»Aber, Herr Förster –«

»Ich weiß schon. Der Meier hat Euch unbillig zugesetzt; ich habe ihn auch deshalb ins Gebet genommen. Ich verlange aber, daß Ihr, wenn Ihr zu uns hier herüberkommt, alles vermeidet, was Unfrieden stiften oder den alten Streit wieder auffrischen könnte.«

Schöffel biß sich auf die Lippen und hätte gern eine trotzige Antwort gegeben. Aber er besann sich wieder. Hier half es ihm doch nichts. Nach Weißenborn hinüber hatte er aber keine Zeit mehr zu verlieren, denn zu spät durfte er die Jagdeinladung nicht bestellen. Er schwieg also auf die Ermahnung, grüßte den Förster und verließ rasch das Haus.

So kam der Mittag heran und Meier war noch immer nicht zurück. Es hatte indessen fortgewettert; im Wald droben lag schon über sechs Zoll Schnee und ein tüchtiger Anhang in den Dickichten. Zum Mittagessen kamen die beiden Kreiser zurück, die draußen im Revier gewesen waren, und der Förster befragte sie nach dem Forstgehilfen. Keiner von diesen wollte ihn aber gesehen haben.

»Ein Mann muß ganz früh heute morgen vom Buchenschlag oder irgend da woher heruntergekommen sein,« meinte Becker, der eine Kreiser. »Die Spur konnt' ich aber nicht ordentlich mehr erkennen, denn es lag schon Schnee drinnen – auch kam mir der Fuß größer vor als dem Forstgehilfen seiner.«

»Das war Schöffel,« sagte der Förster. »Der ist von der Grenze herabgekommen. Er war heute morgen bei mir.«

Meiers Essen wurde ihm warm gestellt, aber er kam nicht. Der Abend rückte heran und brach ein, und keine Spur zeigte sich von ihm.

Als der Forstgehilfe auch am nächsten Morgen fehlte, schickte Müller frühzeitig beide Kreiser und alle seine Holzmacher aus, um zu sehen, ob sie etwas von ihm finden könnten. Er selber aber ritt zur Jagd ins Nachbarrevier hinüber, dort ebenfalls Erkundigungen einzuziehen. Die Leute kehrten am Abend unverrichteter Sache zurück. Auch drüben hatte ihn niemand gesehen oder von ihm gehört.

Der eine Forstgehilfe sagte allerdings aus, es sei ihm gewesen, als ob er am vorigen Morgen lange vor Tag einen Schuß höre. Gewiß wollte er aber nicht behaupten, daß es ein Schuß gewesen sei, wie er ebensowenig die Richtung genau bestimmen könne.

Die Jagd fiel nicht besonders aus. In den Dickichten lag zu viel Anhang auf den Zweigen, und bei solchen Gelegenheiten gehen die Treiber außerordentlich schlecht. Sie weichen dem Schnee aus, soviel sie können, und drücken sich gewöhnlich einer hinter dem andern die Schneisen oder offenen Blößen entlang, während das Wild außerordentlich fest sitzt und den Lärm oft ganz dicht vorüberläßt, ohne aufzustehen. Es waren denn auch nur fünf Stück Wild und ein Spießer, vier Füchse, ein Baummarder und drei Hasen geschossen worden.

Außerdem hatte im letzten Treiben der Assessor von Solfig, einer der Schützen aus Grafenhoff, der nächsten Stadt, einen Gabler angeschossen. Er schweißte allerdings, war aber noch flüchtig fort- und nach der Grenze zu gegangen. Förster Müller gab deshalb gern seine Erlaubnis, drüben bei ihm am nächsten Morgen – denn für heute war es zu spät geworden – nachzusehen, bat aber den Förster, nicht etwa Schöffel, sondern seinen Forstgehilfen hinüber zu schicken, damit jener nicht mit Meier zusammenträfe.

Den Abend waren die Schützen noch lange und fröhlich beisammen, und es wurde so viel erzählt, geplaudert und getrunken, bis an den Heimweg nicht mehr gedacht werden konnte. Förster Müller blieb also im Forsthause über Nacht, ließ sich aber am nächsten Morgen nicht abhalten, mit Tagesanbruch den Heimweg anzutreten. Daß er noch immer keine Nachricht von Meier hatte, beunruhigte ihn ernsthaft.

In früherer Zeit war sein Forstgehilfe wohl manchmal zu Bier gegangen und hatte dann nicht selten einen guten Rausch mit nach Haus gebracht; zwei- oder dreimal war er auch über Nacht ausgeblieben. Auf die Vorstellungen des Försters hin hatte er das aber in der letzten Zeit unterlassen und sich ordentlich und mäßig gehalten. Die einzige Möglichkeit blieb jetzt, daß er doch einen Rückfall bekommen und über die Stränge geschlagen. War das der Fall, so wollte ihm der Förster seine Meinung kräftig sagen.

Geschneit hatte es den vorigen Tag nicht mehr, und der Förster verließ, als er vom Herslinger Forsthaus wegritt, sehr bald den breiten Weg, um quer über sein Revier hinweg zu traben. So kam er denn bald über denselben Hügelkamm herüber, über den an jenem Abend das Wildbret geflohen war, und ritt den Buchenschlag hinab. Nahe zu dem Dickicht saß eine starke Anzahl von Krähen auf einem einzelnen Baum, aber er achtete nicht weiter darauf und ritt vorüber.

Gleich unten vor Hollendeik begegnete ihm einer seiner Kreiser, und seine erste Frage war nach dem vermißten Forstgehilfen. Niemand wußte etwas von ihm, aber der Kreiser meinte, es müsse ihm ein Unglück begegnet sein, und er habe sich entweder selber geschossen oder sei mit einem Wilderer zusammengeraten.

Der Kreiser hatte übrigens aus eigenem Antrieb die sämtlichen Holzmacher heute noch einmal nach einem andern Teil des Reviers abgeschickt, und war eben nur so lange im Dorf geblieben, um den Förster und dessen weitere Befehle zu erwarten.

»Das habt Ihr gescheit gemacht, Schneider,« sagte der Förster, »wir dürfen nichts versäumen, denn die Sache sieht bedenklich genug aus. Da Ihr übrigens doch dort hinauf geht, so haltet Euch jetzt einmal der Grenze zu. Gestern abend ist drüben am Wolfsstein ein Gabler angeschossen worden. Dem wird der Forstgehilfe Scholz heute morgen mit einem seiner Leute nachgehen. Bis an unsere Grenze sind sie ihm gestern gefolgt, und wenn er wirklich krank geschossen ist, so denk' ich, hat er sich in der Dickung über dem Buchenschlag gesetzt. Es ist aber einer von den Stadtherren, der auf ihn geschossen, und da ist es möglich, daß er ihm nicht besonders viel getan; ich habe den Schweiß freilich nicht selber gesehen. Wenn Ihr die beiden trefft oder im Schnee spürt, so helft ihnen den Hirsch suchen.«

Damit wandte er sein Pferd und ritt zum Forsthaus zurück. Als er vor seiner Tür hielt, kam Kerdelmann aus dem Dorf herauf.

»Guten Morgen, Herr Förster,« redete der Wirt den Jäger an. »Es ist mir lieb, daß ich Sie treffe; ich wollte mich eben bei Ihnen erkundigen, ob gestern im Herslinger Forst etwas geschossen ist und ob ich wohl nach Wild hinaufschicken könnte. Ich bin vollständig abgebrannt und muß wieder etwas haben.«

»Guten Morgen, Kerdelmann,« sagte der Förster. »Ja, ich denke, Ihr könnt hinschicken; wir haben sechs oder sieben Stück bekommen. Sie suchen jetzt eben auch noch nach einem Gabler, der auf unser Revier herübergegangen ist.«

»Weit nach uns zu?« frug der Wirt.

»Das weiß ich nicht,« lautete die Antwort; »ich bin nicht mit auf der Nachsuche gewesen. Bis Mittag aber denk' ich, werdet Ihr wohl hören, was aus dem angeschossenen Stück geworden ist. – Apropos – habt Ihr nichts von Meier gesehen?«

»Von dem Forstgehilfen? – nein,« sagte der Wirt gelassen – »war er denn nicht mit auf der gestrigen Jagd?«

»Nein – er ist seit vorgestern verschwunden und kein Mensch weiß, wo er steckt.«

»Seit vorgestern!« rief Kerdelmann erstaunt – »da wird ihm doch kein Unglück zugestoßen sein?«

»Gott weiß es!« seufzte der Förster, indem er abstieg und sein Pferd am Zügel nahm. »Meine Holzmacher sind alle nach ihm aus im Walde draußen, haben aber bis jetzt nichts von ihm finden können. Bei dem neugefallenen Schnee ist auch schlecht suchen, wenn nicht –« hier unterbrach er sich plötzlich und blieb wie nachdenkend stehen.

»Was, Herr Förster?« – frug der Wirt.

»Ah, nichts,« – sagte jener – »es fiel mir nur etwas ein.« Er dachte in dem Augenblick an die Krähen, die er am Rand jener Dickung beisammen gesehen hatte, und ein eigenes unheimliches Gefühl beschlich ihn.

Dem Wirt wäre es allerdings lieb gewesen, wenn sich der Förster ausgesprochen hätte; dieser aber brach das Gespräch kurz ab, nickte ihm zu und führte das Pferd gegen das Haus, von woher ihm sein ältester Knabe behilflich entgegensprang.

»Sattle es aber nicht ab, Hans,« sagte der Vater, »ich reite gleich wieder fort. Ich – ich will noch einmal in den Wald hinauf. Hänge es nur dort an den Zaun, bis ich ein wenig gefrühstückt habe.« Damit trat der Förster in das Haus, während der Wirt langsam nach seiner Wohnung zurückschritt.

 


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