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Die Hilfsbereiten

Auf einem erhöhten Bodenstreif zwischen Strom und Au steht eine Reihe alter, armseliger Bauernhütten. In den kleinen Fenstern der Vorderseite spiegelt sich der gelbe, purpurn bemalte Abendhimmel, gegen den sich die fernen, schönen Berge jenseits des Stromes tiefschwarz abheben. Über die dunklen, leise rauschenden Wasser zaubert der Schein, von oben kommend, eine rotgoldene, kleingerippte, zitternde Lichtstraße. Die führt kerzengerade zu dem mittleren der Gehöfte, vor welchem auf einem niedrigen Bretterstoße sechs Weiber versammelt sitzen. Tagsüber hatten sie nicht Zeit, sich auszureden. Da arbeiteten sie auf den in der waldigen Au verstreut liegenden Wiesen und Feldern. Jedoch am Abend opferten sie einander ein Stündchen vom Schlafe. Sie taten dies nicht immer aus gegenseitiger Liebe. Aber wenn eine ausblieb, machte sie sich zur schlechtesten von allen. Die Anwesenden waren stetes die besten, verträglichsten Nachbarinnen. Heute fehlte keine von ihnen. Und dennoch hatten sie keinen üblen Gesprächsstoff. Es ging um einen Mann her. Um den einzigen im Dorfe, der keine Verteidigerin hier sitzen hatte. Er führte in der untersten der sieben Hütten ein freudloses, einsames Leben. Sein noch junges, schönes Weib hauste mit Knecht und Magd in dem Gebäude, vor welchem jetzt die Zusammenkunft stattfand. Das Ehepaar lebte schon seit Jahren getrennt. Er hatte sie notgezwungen geheiratet. Seine Eltern bestanden darauf, dass er den tief in Schulden steckenden Besitz übernehme. Er mit seiner Kraft und seinen Fähigkeiten hätte, wie er ging und stand, wohlgemut davonlaufen können, um überall leichter sein Brot zu finden als daheim. Aber den Eltern und der Heimat zuliebe verkaufte er sich für ein paar hundert Gulden einem ungeliebten Weibe. Die Eltern genossen von seinem Opfer nicht, was sie davon gehofft hatten. Sie starben voll Reue und Gram in dem einen bösen Jahre, welches Sepp mit seiner Justi verlebte. Der junge Mann hatte erst den besten Willen, das Weib zu ehren und gut zu behandeln. Aber sie raste in wilder Leidenschaft für ihn, und als sie sah, dass er diese nicht erwidern konnte, schienen gleich alle Teufel in sie zu fahren. Noch vor Jahresfrist ließ sie ihn mit Schande und Spott allein und nahm, um sich für die verausgabte Mitgift schadlos zu halten, aus dem Hause mit, was da nur zu nehmen war. Seither wirtschaftete sie in dem mittlerweile von den Ihren ererbten Gehöfte mit viel merklicherem Erfolge als Sepp in seiner Verlassenheit. Er hatte sie nur allzu gerne ziehen lassen und verzichtete willig auf alles, was sie mitnahm. Als sie später auf offener Straße von ihm ihr Geld zurückverlangte, versprach er, ihr es zu geben. Und er gab es ihr auch wirklich. Aber dann lastete auf seinem Anwesen eine noch höhere Hypothek als zuvor. Obgleich er sich hernach bei seinem Bauernwerke wie ein Narr plagte, war das doch für nichts weiter gut, als dass er dabei einigermaßen seines Unglückes vergaß. Einen Dienstboten konnte er nicht mehr zahlen, die Zinsen der Schuld fraßen die Frucht seiner Arbeit auf, sodass er dabei nur recht armselig das Leben fortfristen konnte. Mit der Zeit gelang es ihm, den nagenden Wurm in seinem Innern zu töten. Den Selbstvorwürfen, die er sich erst machte, gab es doch so manchen Trostesgrund entgegenzusetzen. Mit sich wurde er fertig, aber mit den Nachbarn niemals. Die hatten zu mächtig Partei für Justi ergriffen, und es fiel ihnen nicht ein, ihm zu verzeihen, was er gefehlt. Die größtenteils erheuchelte sittliche Entrüstung über ihn nahm so wenig ein Ende als die Schmähsucht und Schadenfreude der Dorfbewohner, von denen er einmal der weitaus stolzeste, schönste und begehrteste Mensch gewesen war. Obwohl ihn Justi freiwillig verlassen hatte, galt sie doch im Dörfchen für die schmählich Verstoßene und Hintergangene. Selbst in dem mildesten Urteile über ihn hieß es, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Weib um jeden Preis zu halten oder ihm nachzugehen, bis es wieder zurückgekehrt wäre. Justi verstand es immer wieder auf das Neue, die Gemüter gegen sich zu erregen. So sehr er auch allen Leuten auswich, sie fanden doch so lange Gelegenheit, ihn zu kränken und zu verfolgen, bis er sich in einen vollkommenen Menschenfeind verwandelt hatte. Heute wurde es im Dorfe herumgesprochen, dass Sepp seit drei Tagen krank darniederliege. Und jetzt am Abend redeten wieder die Weiber davon. Justi beteiligte sich an dem Gespräche, als ob es ihr kaum näher als den anderen ginge. Von einem Mitleid für den Mann wurde dabei lange nichts erhört. Aber man wünschte ihm doch wenigstens den Tod.

»Er soll sterben«, sagte eine. »Was tut er hier? Er ist ein Baum ohne Frucht. Er hat keine Freude und macht anderen keine.«

»Anderen geht so ein Mensch nur zum Ärgernis herum«, behauptete eine für besonders weise angesehene Alte.

»Jawohl«, stimmt eine dritte bei. »Schad' nur um ein Rechtschaffenes, das wegen eines Nichtsnutzigen sein Leben vertrauern muss! Heut könnt die Justi noch was von ihrem Leben genießen, wenn er stürbe.«

»Ah, meinetwegen mag er leben«, sagte Justi scheinbar gleichgültig.

»Geh, so denkst du nicht!« rief es da. »Du weißt ganz gut, dass du noch einen Mann glücklich machen könntest und dass so mancher genug an dich denkt. Mit dir darf's noch heute getrost ein jeder wagen, du bist die Person danach, dass es nicht fehl gehen könnte. Für dein erstes Unglück kannst du nicht, und das tätest du auch in einem regelrechten Ehestand bald vergessen. Der Sepp war halt eben kein Mann. Er muss ja sogar kein Empfinden für ein Weib haben – es kann nicht anders sein. Und so einer heiratet! Es ist mehr als gewissenlos. Närrisch ist's!«

»Wer weiß, was ihm jetzt fehlt?« fragte eine in das Stimmengewirre hinein.

»Es muss eine hitzige Krankheit sein«, wurde entgegnet. »Wie ich gestern Abend mit dem Gras an seinem offenen Stubenfenster vorbei bin, habe ich ihn fantasieren gehört. Ich war aber nicht neugierig. Na, aber unser Hütbub, der alles wissen muss, hat erzählt, mit Händen und Füßen haut der Sepp im Bett herum wie einer, der ersaufen tut.«

»Da sollt man aber doch zu ihm schauen«, ließ sich zögernd eine Stimme vernehmen. Und da fuhren auch schon alle Köpfe nach der Letzen herum. Es war die Älteste von allen, ein weißhaariges, gebeugtes Weiblein. Und zugleich ging auch der Sturm los: So? Zu dem? Der hat's wohl um uns Weiber verdient, dass man ihn pflegt und betreut! Weil er unsern Stand und unser Geschlecht so in Ehren gehalten hat! Macht sich eine jede schlecht, die zu dem geht! Soll sich die Gemeinde bekümmern. Der steht das zu. Uns Weiber zu allerletzt! Und unseren Männern schon gar nicht. Denen könnte er höchstens mit so einer gottvergessenen, weiberfeindlichen Rede einen Floh in das Ohr setzen. Und es gibt ohnedem so damische Kerle unter unseren Männern, die uns lieber schänden als preisen hören. Ich lasse meinen Mann nicht zu dem! Ich auch nicht!«

»Ja«, meinte das alte Weiblein, »da sollte es aber jemand der Gemeinde anzeigen, dass er krank liegt. Wäre ja nicht so weit zum Richter in das Kirchdorf!«

»Kannst du hingehen!« höhnte man.

»Ich ging auch, wenn es meine Füße erlitten«, sagte sie.

»Schau, das ist verdächtig«, ließ sich da eine ganz ernsthaft vernehmen. Und die anderen stimmten ihr sofort bei.

»Ja, Pleigerin«, sagten sie zu der Alten, »das schaut mehr einer anderen als der Nächstenliebe gleich. In deinem Alter soll man sich so ein Gefühl nimmer anmerken lassen.« Und in unmittelbarem Anschlusse an diese Reden kehrte sich Justi ganz gekränkt und entrüstet an die Greisin. »Ich habe euch alleweil für meine gute Freundin gehalten.«

»Das bin ich auch, das bin ich«, bestätigte die Greisin eifrig.

»Nein. Sein Freund kann nicht der Meine sein.«

»Ich bin ihm ja nicht Freund, Justi. Bei Gott. Aber ich habe nur gemeint, dass man nach der christlichen Lehre auch dem ärgsten Sünder verzeihen soll.«

»Will er denn Verzeihung? Kommt er denn bitten?« rief Justi. »Nein. Er will und braucht keine Verzeihung, und so mag er ohne ihr sterben.«

»Vielleicht möchte er jetzt um Verzeihung bitten und kann gar nimmer her zu dir«, fuhr die alte Pleigerin fort. »Da sollte man ihn doch aushören nach seiner jetzigen Meinung, ehe man ihn verschmachten lässt.«

»Na, so geh', horch ihn für dich aus!« rief Justi mit grellem Auflachen.

Die Alte schüttelte den Kopf. »Wenn ich geh, so geh ich für uns alle. Wir könnten es ja bereuen, dass wir ihn ohne Pflege liegen ließen.«

Aber das wollten die Weiber erst nicht zugeben. Sie standen in dieser Sache zu fest auf Justis Seite. Dem Weiberverächter, der sich nicht demütigte, wollte man kein Erbarmen entgegenbringen. Die Greisin aber, welche infolge ihres ausgeklärten, wunschlosen Alters längst über viele jener Grundsätze hinaus war, durch welche ihre Geschlechtsgenossinnen die Welt beherrschen, wollte ihrer Christenpflicht nicht vergessen. Das Unrecht, den vielleicht in ärgster Not befindlichen Mann, der ihr sonst sicherlich gleichgültiger als allen anderen war, alle Hilfe zu versagen, schien ihr zu groß. Die von den Nachbarinnen erfahrenen sinnlosen Beleidigungen reizten sie auch nicht wenig zu Trotz und Streit auf. Und an Unerschrockenheit fehlte es ihr wahrlich nicht, es in dieser Sache mit allen aufzunehmen.

»Gut. So geh ich halt für mich zu ihm«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Könnt mich seine Geliebte heißen, wenn's euch nicht zu dumm ist. Wart! Meinen Mann nehme ich mit, dass er es nicht von euch erfahren muss, was ich bei dem Sepp getan habe. Alles hat sein Ziel, aber das vom Hass, der Bosheit und der Grausamkeit liegt dem schlechtesten Kerl nicht weiter als euch Weibern da. Verklagt mich! Wenn's der Richter erfährt, weswegen ich euch das gesagt habe, werdet ihr sehen, wer eingeht, ich oder ihr. Gute Nacht!« Es blieb eine Weile still hinter ihr, dann wurde es allmählich laut, aber ganz anders als man meinen sollte.

»Wisst ihr, was die Alte will?« hob eine an. »Uns vor der Welt zuschanden stellen. Es wäre ihr nichts lieber, als wenn wir sie klagen täten. Ich kenne den alten Streitteufel. Mit der müssten wir alle elendiglich verspielen.«

»Na freilich, einesteils ist sie im Rechte«, sagte eine zweite. »Denn wenn er stürbe und die Geschichte vor den Pfarrer käme oder zu Gericht oder in die Zeitung, sind wir diejenigen, die einen Menschen haben vorsätzlicher Weise verschmachten lassen.«

»Ja, so wär's?!« rief eine dritte höchlich verwundert. In Wirklichkeit wunderte sie sich aber gar nicht. Und die, welche vor ihr gesprochen hatten, nahmen ihre Reden nicht ernst. Aber es war plötzlich die Sucht in ihnen allen, die ganze Sache neu, womöglich viel unterhaltender zu gestalten. Nur Justi fühlte unverändert. Der Mut, mit welchem die Pleigerin sprach, hatte in einer Beziehung entflammend gewirkt. Er reizte die anderen zur Nachfolge, ohne dass sie aber zu der besseren, edleren Überzeugung der Greisin bekehrt waren. Einesteils hatten sie auch eine begründete Angst, sich dem Vorhaben der Pleigerin in offener Feindschaft gegenüberzustellen.

»Jetzt steht's anders«, fuhr eines der Weiber fort. »Und es gibt für uns nur einen Rat.«

»Lass ihn hören!«

»Nun, wir müssen der Alten zuvorkommen. Ob wir's auch wider Willen tun. Eh sie ihren Mann weckt, müssen wir bei dem Seppl sein. Dann sind wir eher barmherzig gewesen als sie. Und sie zerspringt vor Gall.« Man war mit diesem Rate gleich über alle Maßen wohl einverstanden. »Wo ist denn jetzt eure Empörung über meinen Mann!« rief Justi hohnlachend. »O, die besteht weiter, Justi, die besteht! Aber wenn es so kommt, muss man was wider Willen tun. Sei deswegen nicht bös, Justi, wir bleiben die Alten.«

»Nein?« schrie sie. »Ihr erspart ihm den Bittgang zu mir!«

»Fürcht dich nicht«, beruhigte sie eine. »Vielleicht überreden wir ihn sogar zu dem Gang.«

»Ich steh nicht um eure Überredung! Er soll von selber kommen! O ihr brennt vor Neugier, ihn jetzt zu sehen und zu hören. Und wenn einer von euch Mitleid oder ein anderes Gefühl hat, so hat er's auch schon. Ich kenn euch durch und durch.«

»Lasst sie toben«, sagte eines der Weiber. »Wir müssen uns zu ihm tummeln, sonst wird es zu spät. Unserer Barmherzigkeit darf niemand vorgreifen!« Dann ließen sie Justi allein, welche nun alle ganz schauderhaft verfluchte und des schnödesten Verrates sowie der schändlichsten Gesinnungslosigkeit zieh. Sie kamen nun der Pleigerin tatsächlich zuvor. Aber kurz vor ihnen war schon ein anderer Helfer zu dem armen Kranken in die alte, verlotterte Hütte gekommen. Jener Helfer, dessen Hauche kein noch so hartes Menschenschicksal zu trotzen vermag – der Tod.


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