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Mutters Bett

Ehemals war der Lautdümmelhof von einem der ebensten und schönsten Ackerfelde des Wiener Beckens umgeben, und jetzt steht er auf dem Gipfel eines steillehnigen Hügels. Der alte Bau kam nicht etwa durch ein merkwürdiges Naturereignis in eine andere Lage. Er befindet sich wahrhaftig auf seinem alten Platze, aber seine Umgebung wurde von den Menschen gründlich verändert. Unter der wohlgedüngten Erde des Ackerfeldes war ein tiefes Lehmlager gewesen, und der Leopold Lautdümmel, den man zu seinen Lebzeiten für einen sehr gescheiten Mann hielt, glaubte vernunfthalber aus dem Lehm Mauerziegel machen zu müssen.

Er wurde aus einem Bauern ein Ziegelbrenner, und dann verwüstete er mit seinen Geschäftsunternehmungen seinen Grund und Boden auf eine heillose Art.

Der Hügel, welcher den Lautdümmelhof trägt, ist also in Wirklichkeit ein Bodenstück, das man inmitten einer ausgedehnten Lehmgrube auf seiner Stelle beließ. Dem Lautdümmel war um sein Feld nicht leid, denn er brachte es durch das Ziegelgeschäft tatsächlich zu dem Gelde, auf welches er gerechnet hatte. Er hinterließ das Geld seinen Kindern, und diese verbrauchten es. Jetzt besaß sein Enkel, der Georg Lautdümmel, den baufälligen Hof und die nasse Lehmgrube.

An Lehm war für den Georg nicht viel übrig geblieben, er betrieb die Ziegelschlägerei nur mit einem einzigen Gehilfen. Bei seinem großen Grundbesitze war er ein ziemlich armer Mann. Seit Jahren hatte er sich vergeblich geplagt, indem er einen Teil des Grubenbodens zu einer Wiese machen wollte. Das Grundwasser verdarb ihm die kleinen Erdanlagen immer wieder. Er hätte reich sein müssen, um seine Bodenfläche fruchtbar machen zu können. Es verging in seinen meisten Jahren kein Tag, an welchem er nicht deswegen geschimpft hätte, weil sein Großvater kein Bauer geblieben war.

Heute war er hauptsächlich außerhalb seiner Besitzung tätig. Einer seiner Bekannten, ein wohlhabender Zimmermeister, hatte ihm einen Haufen alten, schlechten Bauholzes geschenkt, das sich immerhin noch zum Ziegelbrennen eignete. Vier kleine Frachten zog der Lautdümmel mittelst eines Handwagens heute schon zu seiner Heimstelle, und jetzt fährt er zum fünften Male nach dem Wiener Vorort, in welchem noch ein kleiner Rest des großen Geschenkes neben einer Straße liegt. Ehe er vorhin die Lehmgrube verließ, zeichnete er es seinem jungen Werksgehilfen, den Anton Mislic, an, wie weit er bei seiner Wiederkehr einen der Lehmstaffeln des Haushügels abgegraben sehen wollte.

»Ja, ja«, hatte der Anton in einem etwas übertriebenen Tone der Dienstfertigkeit geantwortet, als ihm von seinem Meister die ziemlich große Arbeit anbefohlen worden war. Jetzt grub er aber nicht so, als ob er willens gewesen wäre, mit seiner Aufgabe zur anberaumten Frist fertig zu werden. Einen halb vollen Lehmkarren schob er zu der Ziegelhütte, welche neben dem tiefschrundigen Grubenwege stand, dann ging er langsam den Weg hinauf, um außerhalb seines Tätigkeitsfeldes müßige Umschau zu halten. Er war noch kaum 17 Jahre alt. Sein Körper hatte recht merkliche Anlagen zu einer mehr weichlich üppigen als kraftvollen Entwicklung und war nur mit einem weiß-rot gestreiften Rudererleibchen und einer ledernen Steierer Kniehose bekleidet. Auf seinem Hinterhaupte saß eine graue Sportskappe derart, dass sie ihm an seinen braunen Haarwellen nichts verdrückte. Das etwas derbzügige Gesicht des Burschen war dick befleischt und prächtig rot. Aus den dunklen, mattglänzenden Augen sprach nun einige Sehnsucht, und die vollen Lippen des großen Mundes schob er nach der Art eines Schmollenden vor. Einige Schritte weit ging er auf dem Wege über den Grubenrand hinaus, dann blieb er stehen und besah unter öfterem Ruhenlassen des Blickes den größten Teil der Runde. Es zeigte sich ihm jetzt ein großes Stück Landes.

Von der Morgenseite des ebenen Wiesenbodens, der die Lehmgrube breit umsäumte, zogen sanftlehnige, frühsommerlich gefärbte Weingartenstreifen bis zu den Rückseiten mehrerer Bauernhöfe. Jenseits der alten, niedrigen Gebäude war ein vielförmiges Durcheinander von Feldstücken, Lehmgruben, Teichen und Ziegelwerken. Die Farbentöne dieses Bereiches schlugen matt durch den Rauch der Ziegelöfen, den ein kräftiger Westwind niederdrückte. In weiterer Ferne verdichteten zahlreiche Fabriken den Qualm, der aber auch dort dem Boden so nahe blieb, dass zwei schönkuppige Höhen des Leithagebirges scheinbar wie mit einem zarten, reinen Blau bemalt, über ihn hinweg bis hierher sehen konnten. Im Südosten hatte die Rauchmasse über grünen Flurstellen und vereinzelten Bauten einen zartschwadigen Abschluss. Südlich von dem Wiesenrahmen der Lautdümmelschen Lehmgrube stand auf einer niedrigen Bodenwelle ein schütteres, altes Laubgehölz, das sich mit seinem Geäste gegen ein blaues Himmelsstück und mit seinen Stämmen gegen die nahe, schwarzgrüne Kegelreihe des Kaltenleutgebner Gebirges abhob. Der kleine Laubwald hatte einen großen, wirren Anhang von Stauden, welcher den Westrand der Wiese mannigfach krümmte. Das Dickicht bildete, von hier aus betrachtet, einen krausen Sockel zu einem Durcheinander von Villen und gut gepflegten Baumgruppen. Drei rundrückige Wienerwaldberge, die in ziemlich gleicher Richtung standen und von denen auch keiner den anderen um ein Augenfälliges überragte, bildeten den Hintergrund der Villenschar. Die nördlichste dieser drei Höhen streifte ein träg dahinziehender Strom von Rauch und Dunst. Unter diesem Qualme lag die Stadt, und er vereinigte sich im Osten mit demjenigen, der von den Ziegelwerken und von den Fabriken kam. Stellenweise tauchten die äußeren Teile einer Vorstadt aus der unnatürlichen Finsternis. Vor jener Häusermasse breiteten sich brache Baustellen aus, und weiter herwärts lagen große Gärtnereien. Eines der Gartenfelder grenzte an die Wiese, auf welcher der Anton stand.

Die Neugier des jungen Ziegelschlägers wurde jetzt merklich durch einen halbwüchsigen Knaben erregt, der auf dem Grenzraine des Gemüsefeldes kauerte und mit beiden Händen an einer dichten, grünen Pflanzung jätete. Anton machte durch das schöne Wiesengras etliche Schritte gegen das Feld hin, dann brach er Binsen ab und schleuderte sie, gleichsam als Wurfspeere, nach fliegenden Schmetterlingen. Einen dicken Zitronenfalter schoss er auch wirklich mit einem Halme aus der Luft. Bei diesem Spiele kam er anscheinend aus Zufall ganz nahe zu dem Unkrautjäter. Er hatte freilich öfters auf eine Art nach dem Grenzraine geschielt, die es erkennen ließ, dass er die Schmetterlingsjagd nur deshalb betrieb, weil er so wie von ungefähr zu dem Knaben gelangen wollte.

Nun blieb er stehen und sah mit einer Miene der Verwunderung und des Spottes auf den Knienden und auf dessen Werk. Zu dem spöttischen Teile seines Mienenspieles gab ihm nichts von dem, was jetzt er besah, eine rechtliche Veranlassung. Der Knabe hatte eine schönen, schlanken Leib und einen durchaus fein geformten, schmalwangigen Blondkopf. Ein grauwollenes Arbeiterhemd und weißleinene Kniehosen waren sein Anzug, und sein dunkelgrüner Filzhut lag ein Stück weit hinter ihm auf dem Raine. Seine neuvollendete Arbeit gab Zeugnis von seiner Tüchtigkeit. Während einer verhältnismäßig kurzen Zeit hatte er auf einem Blumenbeete, das zuvor durchaus arg vernachlässigt gewesen war, musterhafte Ordnung gemacht. Das Blumenbeet lag auf der diesseitigen Rainhälfte. Es war fast zehn Schritte lang, kaum vier Spannen breit und trug halberblühte Maiglöckchen und Reseden, grünende Nelkenstöcke und niedriges Rosengesträuch, an dem es schon dickgeschwollene Knospen gab.

Der Knabe hatte den Anton bemerkt, als dieser auf die Wiese getreten war. Jetzt lächelte er freundlich und doch mit einem Ausdrucke der Furcht zu dem jungen Menschen empor, und dabei ließen seine Finger, die einem wurzelschwachen Nelkenstocke Erde zuscharrten, von dieser Arbeit ab.

»So eine Krabbelarbeit tät' ich nicht«, sagte der Anton in einem Deutsch, das nicht ganz richtig klang.

»Ich tu's recht gern«, versicherte der Knabe sehr lebhaft und höflich. Der Anton schüttelte den Kopf. »So was wär' mir zu langweilig«, sagte er. »Deshalb möcht' ich auch kein Gärtnergehilf' sein.«

»Und ich wär' so viel gern einer!« gestand der Knabe treuherzig.

»Bist du denn was anderes?« fragte der Anton. Darauf antwortete der Blonde nicht gleich. In sein Gesicht kam eine zarte Schamröte. Er stand auf, putzte sich mit dem Sacktuche den staubigen Rand der Hose und sagte dabei, ohne den Blick zu erheben, in einer selbstverächtlichen Weise:

»Ein Kohlenausträger bin ich.« In den Mienen Antons verstärkte sich der Ausdruck der Verwunderung, aber derjenige des Spottes entschwand fast völlig daraus.

»In so einem Geschäft bist du zu schwach«, sagte er ernsthaft. »Wenn du einen Sack Kohlen trägst, so krachen dir doch alle Knochen.«

»Ach, die Plag' ist mir bei meinem Geschäft nicht das Zuwiderste«, gab der Knabe zur Antwort. »Von dem Greißler, bei dem ich bin, werden ja die Kohlen meistens nur halbzentnerweis' gekauft, und wenn ich manchmal doch einen ganzen Zentner zu einer Kundschaft trag', so ruf' ich nicht um Hilf' dabei.«

Der Anton sagte nun: »Dass dir bei deinem Geschäft' die Scham mehr wehtut als die Plag', das hab' ich dir schon angesehen. Du schämst dich beim Kohlenaustragen.«

Der Knabe errötete nun neuerdings und sagte: »Ich leugne es nicht, dass ich mich dafür schäm'. Ein Handwerk möchte' ich halt lernen. Die Buben, mit denen ich in die Volksschul' 'gangen bin, studieren jetzt entweder oder sind in der Handwerkslehr'. Ich bin von uns Schulkameraden der einzige, der ein Taglöhner geworden ist. Drum wird mir bei manchem Geschäftsgang, auf dem ich ehemaligen Schulkameraden oder anderen Bekannten begegne, mehr von der Scham als vom Kohlensack heiß.«

»Das begreif ich schon«, sagte der Anton. »Aber für vernünftig halt' ich dein Ehrgefühl nicht. In einer solchen Lag' wie in der deinen soll man kein solches Ehrg'fühl haben, sonst kommt man ja gar zu erbärmlich runter. Ich bin auch in einer ähnlichen Lag', aber mich schwer plagen und dabei auch noch so schämen wie du, das tät' ich nicht, das wär' mir zu viel auf einmal.«

Der Knabe sah den Anton forschend an und erwiderte: »Ganz sicher wirst du's wohl auch nicht wissen, ob es recht oder schlecht ist, dass ich mich für das Kohlenaustragen schämen tät'. Oft denk' ich mir, wenn ich mich weniger schämen tät', so wär' ich weniger wert und hätt' auch nimmer den rechten Antrieb zum Weiterstreben. Vielleicht will's unser Herrgott, dass ich in der Niedrigkeit bleib'. Will er das, so g'hört sich's, dass ich mich drein find' und nicht ein bissel für das Kohlenaustragen schäm'. Wenn ich's ergründen könnt', was in diesem Fall das Recht' ist, so tät' ich mich danach halten.«

Der Anton zeigte es mit einem Verziehen seines Mundes an, dass er nicht geneigt war, über die Worte des Knaben nachzudenken.

»Deinen Kopf möcht' ich auch nicht für den meinen«, sagte er. »Es ist ein großes Unglück, wenn man so ein Hirn hat, das alleweil grübelt und einem kein' Ruh' lasst.« Dann fügte er die Frage hinzu: »Wem gehörst du denn eigentlich? Und wie heißt du denn?«

Der junge Kohlenausträger antwortete müde lächelnd: »Pepi Wachlenker heiß' ich und g'hör einer Privatbeamtenwitwe.«

Der Anton schien nun etwas ungeduldig zu werden. »Gelt, du sagst mir nicht gern viel?« fragte er dann in einem Tone der Kränkung und des Vorwurfes.

Da gab nun der Kohlenausträger eine Freude und einen Schrecken, die sich auf seinem Gesichte spiegelten, teilweise mit den Worten kund: »Ich sag' dir ja alles gern', was ich von mir selber weiß, wenn dir etwas an mir liegt.«

»Ja, mir liegt etwas an dir«, gestand der Anton ernsthaft. »Du bist besser als die Buben, mit denen ich zusammenkomm', das seh' ich schon. Wenn ich mit anderen noch nicht halb so lang g'red't hab als wie jetzt mit dir, so ist dabei schon entweder durch ihre oder durch meine Schuld eine Grobheit herausgekommen. Unter meinen Bekannten ist gar keiner, von dem ich noch mehr wissen möchte', als ich schon weiß.«

Nun setzten sich die beiden nebeneinander auf den Rain, ohne dass es hierzu noch einer vorherigen Verständigung bedurft hätte.

»Ich hab' auch keinen eigentlichen Freund«, sagte Pepi Wachlenker. »Manchmal möcht' ich mit irgendeinem gut werden. Aber weil ich halt nur ein Kohlenausträger bin, so ist dann der Betreffende gewöhnlich so stolz gegen mich, dass er mir hernach auch gar nimmer gefällt.«

Der Anton nickte. »Das ist begreiflich«, sagte er. »Aber wie bist du denn als Beamtensohn zu so einem Geschäft gekommen?«

Pepi erzählte nun: »Wir sind unser fünf G'schwister. Ich bin davon der Ältest'. Meine Mutter hat 700 Kronen Jahrespension. Elf Kronen monatlich kriegt sie dafür, weil sie einer alten Frau die Wohnung rein hält. Sie ist so schwächlich, dass sie von Rechts wegen nicht einmal die Arbeit tun sollt', die ihr meine zwei kleinsten G'schwister geben. Sie plagt sich für uns, dass einem beim Zusehen angst und bang werden muss. Etliche Jahr' hat sie uns das Brot besonders schwer verschafft, dann hab' ich ihr ein klein's Bissel zu helfen angefangen, bei der Hausarbeit, beim Kinderwarten, und indem ich manchmal bei den Nachbarleuten mit leichten Verrichtungen etliche Heller verdient habe. der Hausgreißler hat mich von Anfang an am meisten gebraucht und hat mich auch immer für jeden Handgriff gut bezahlt. Es hat sich auf die einfachste Art so geschickt, dass ich, wenn just kein anderer Bot' bei der Hand war, mit einem Körbl Holz oder Kohlen vom Greißler zu einer Partei gelaufen bin. Dabei hab' ich nichts Arges gedacht; dass ich ein wirklicher Kohlenausträger werden könnt', das ist mir damals gar nicht eing'fallen. Wenn mich eine Partei für das Zutragen bezahlt hat, waren ich und die Mutter froh, wir brauchten ja die Heller so sehr. Je größer ich worden bin, desto schwerere Säck' hab' ich angepackt und desto mehr hab' ich auch verdient. Bis ich aus der Schul' komm', so hab' ich mir gedacht, dann wird's schon unser Herrgott derart gestalten, dass ich ein Handwerk lernen kann. Die Mutter hat dasselbe gehofft, und wir haben auch allweil gebet't darum. Mein' Schulzeit ist aus worden. An Meistern, die mich gern' in die Lehr' g'nommen hätten, war kein Mangel. Aber als Lehrbub' hätt' ich nichts verdient, und wir stehen auf mein Verdienen so viel an. Ich verdien' jetzt fast täglich zwei Kronen. Wenn das nicht wär', gäb's Elend über Elend bei uns. Meine Mutter könnt' jetzt von ihrem Einkommen unmöglich auch nur die vier Kleinen ernähren. Zweie davon brauchen doppelt so viel als früher zum Essen. Die anderen zwei sind kränklich und kosten deshalb mehr als die Gesunden. Im Grund genommen ist's also doch ein Glück, dass ich schon Geld verdien', das Leid, das ich hätt', wenn ich den Meinen nicht helfen könnt', wär' gewiss schwerer auszuhalten als die Scham, die ich jetzt beim Kohlenaustragen hab'. Meine Leut' wissen es nicht, dass ich mich für mein G'schäft schäm'. Die Mutter ist ohnehin so unglücklich darüber, dass ich kein Handwerk lern'; wenn sie auch noch alles wüsst', was ich bei meiner Arbeit empfind', tät' sie mir gar zu verzagt werden.«

Jetzt sah Pepi den Anton mit weit offenen Augen an. Er staunte über zwei Tränen, die dem Ziegelschläger über das Gesicht rannen.

»Weinen brauchst just noch nicht um mich«, sagte er dann.

»Ich wein' nicht um dich«, antwortete der Anton, indem er mit seinen beiden Handrücken hastig die Tränen verwischte. »Mir ist deshalb gar so weh geworden, weil du mich an meine Mutter erinnert hast. Ich denk' ja öfters an meine Mutter, aber immer nur kurz – dann bring' ich meine Gedanken schnell wieder auf etwas anderes, meistens auf was Lustiges. Aber jetzt hältst du meine Gedanken so stark auf. Du zeigst mir's, was du für deine Mutter machst, und da muss ich mir's viel mehr als sonst vorwerfen, dass ich für die Meine gar nichts tu'.«

Seine Augen wurden wieder schwer nass. Pepi lächelte wehmütig und dabei auch etwas bitter und sagte: »Jetzt passt dir halt doch mein Reden gar nicht. Wenn ich das geahnt hätt', dann wär' mir ja vielleicht was Lustigeres eingefallen.«

»Es schad't mir nichts, dass du mich auf so ein G'fühl gebracht hast«, erwiderte der Anton. »Obwohl ich für gewöhnlich nichts Ernstes denken mag', sehn' ich mich doch oft nach einem, mit dem ich mich über manche traurige Sache gehörig aussprechen könnt'. Jetzt hab' ich so einen gefunden. Wenn ich dir's ehrlich erzählen soll, wie ich und meine Mutter zueinander stehen, so muss ich freilich darauf gefasst sein, dass du mich dann verachten wirst.«

Der Pepi schüttelte den Kopf. »Wo nur ein bissel Grund zum Mitfühlen ist, dort veracht' ich nicht«, sagte er. »Und in dir erkenn' ich schon so viel Gut's, dass ich dich nicht so leicht z'wegen was Schlechtem verachten könnt'.«

Für die letzteren Worte sah der Anton den Pepi mit einem dankbaren Blick an, und hernach erzählte er: »Ich bin aus Slawonien. Vor fünf Jahren hat mich mein Vater aus unserer Heimat hierher nach Wien gebracht. Er war ein Ziegelschläger. Daheim, wo ja nicht viel mit Ziegeln gebaut wird, wär' er bei seinem G'schäft verhungert, so hat er alljährlich so lang in Wien gearbeitet, als hier der Lehm nicht g'froren war. In Winterszeiten waren wir daheim und haben sein'n Sommerverdienst miteinander verlebt, er, die Mutter, ich und meine zwei kleinen Schwestern. Es ist uns damals nicht schlecht gangen. Ein Bauer hat uns dafür ein Stübel lassen, weil ihm die Mutter bei der Feldarbeit g'holfen hat. Eine Geis und ein Schwein haben wir uns dort auch halten können. Und wir waren in der Meinung, dass wir's noch besser kriegen werden. ›Bis du mit mir in Wien arbeiten wirst, Anton‹, hat mein Vater immer zu mir gesagt, ›dann können wir uns bald etliche hundert Kronen ersparen und daheim ein Häusl bauen‹. Wir haben dann eine gar zu kurze Zeit hier miteinander gearbeitet. Nachdem wir kaum drei Wochen in Wien waren, ist er an einer Lungenentzündung gestorben. Wie er krank worden ist, wären wir gern' miteinander heimg'fahren, wenn wir das Geld dazu gehabt hätten. Ich musste ihn hier in Wien begraben lassen, so viel es auch sein Wunsch war, dass sein Grab in unserer Heimat sein möcht'. Meine Mutter und meine Schwestern konnten nicht zu seinem Begräbnis nach Wien kommen, dazu waren sie doch viel zu arm. Und ich konnt' dann auch nicht zu ihnen heim. Erst hab' ich mich sehr stark heimg'sehnt und hab' immer gedacht: Sobald du das Reis'geld hast, fährst du! Und ich bin doch nicht wieder heimg'fahren. So lang' meine Sehnsucht am größten war, bin ich dort, wo ich damals Lehm graben hab', so schlecht bezahlt worden, dass ich das Reis'geld nicht anders als bei vielem Hungerleiden zusammen'bracht hätt'. Und weil mir schon mein Lebtag nichts wo zuwider als das Fasten war, so hab' ich halt lieber Heimweh als Hunger gelitten. Wie dann mein Arbeitslohn gestiegen ist, hat mich das Heimweh nimmer so beständig, sondern nur zeitweis' geplagt. Und dabei waren mir schon verschiedene Zerstreuungen lieber als das Reis'geld sparen. So bin ich zuerst wegen meinem Elend und später wegen meiner Liederlichkeit nicht zu einer Heimreis' gekommen. Meine Mutter hat mir g'wiss tausend Bitten geschrieben, dass ich doch etliche Kronen zusammenlegen und dann zu ihr fahren soll. Ich hab' ihr's in meinen Briefen auch oft ernsthaft versprochen, was sie gewollt hat, und hab's doch nicht g'halten – mein Leichtsinn ist zu groß. Sie schreibt mir noch immer, aber selten was Freundliches, sondern meistens Vorwürfe. Es geht ihr und meinen Schwestern schon lang' sehr schlecht, sie verdienen bei aller Plag' nicht so viel, als sie nötig hätten. In vielen Briefen hat mir's die Mutter schon gesagt, dass ich ihr und den Mädeln wenigstens einige Kronen schicken soll, weil sie so etwas Warmes zum Anziehen kaufen möchten. Sie leiden in dem schlecht gebauten Stall, wo sie jetzt wohnen müssen, schrecklich durch die Nässe und Kälte. Versprechungen hab' ich ihnen genug geschrieben, aber geschickt hab' ich ihnen nur einmal drei Kronen. – Gelt, ich bin doch wirklich ein schlechter Mensch?«

»Sehr leichtsinnig bist du halt«, antwortete Pepi. »Aber ich glaub', dass dein Leichtsinn doch nur um ein Bissel größer als dein guter Wille ist. Und vielleicht könnt'st Du dieses Bissel überwinden!«

Der Anton schüttelte den Kopf. »Was mein Leichtsinn größer als mein Willen ist, das trägt kein Bissel, sondern viel aus, und das überwind' ich nicht«, sagte er in einem Tone der Verzweiflung. »Oft denk' ich mir: Wenn ich am nächsten Samstag meinen Wochenlohn, die 22 Kronen, ausbezahlt krieg', dann schick' ich aber gewiss ein Drittel davon meinen armen Leuten heim. Und dann krieg' ich mit dem Geld zugleich immer so eine Lust, die mich dazu verleit't, dass ich verschiedenes Unnötige genieß', und derweil ich mir so einen guten Tag auftu', schlag' ich mir dabei meistens alles Ernste aus dem Kopf und bin nur leichtsinnig.«

Der Pepi seufzte und rief nun wie ein Verzagender: »Wenn ich doch an solchen Samstagabenden bei dir sein könnt'! Ich tät' dann schon dahin arbeiten, dass du bei der rechten Gesinnung bleibst! Aber ich kann ja an Abenden von den Meinen nicht weg!«

»Könnt'st mich ja doch von nichts Schlechtem abbringen«, sagte Anton bitter lächelnd, »wärst viel zu schwach dazu. Komm' du lieber an meinen ernsten als an meinen lustigen Tagen zu mir. Wirst ja auch gewiss öfter da bei den Blumen zu tun haben.« Dann fügte er die Frage hinzu: »Wie kommst du denn überhaupt als Kohlenträger zu dieser Gärtnerarbeit?«

»Durch einen Glücksfall«, sagte Pepi. »Heuer an einem Aprilsonntag bin ich mit meinen Geschwistern da heraußen gewesen. Dort vorn' bei den Treibhäusern hat uns ein Herr ang'rufen: ›Wollt ihr euch ein Rosenstöckl mit heimtragen, so kommt zu mir!‹ Da sind wir gern zu ihm gangen. Neben ihm ist ein ganzer Haufen junger Rosenbäumerln g'legen. ›Die könnt ihr alle haben‹, hat er g'sagt; ›mir sind's zu viel, ich hab' in mein'm Garten kein'n Platz mehr für sie, und weil's lauter schwache und buckelige sind, könnt' ich s' auch nicht so gut verkaufen, dass es mir dafür stünd'. Blühen täten s' wohl alle ziemlich schön.‹ Ich hab' mir gedacht, wenn er mir die Stöckln schenkt, so nehm' ich sie auch. Etliche setz' ich daheim in Erdenkistln, etliche lässt mir vielleicht unser Hausherr irgendwo in sein'm Hof einsetzen, und wenn ich für alle übrigen nur 50 Heller krieg', so ist das für mich auch schon eine Freud'. Ich hab' zu dem Herrn auch so gered't, wie ich mir's gedacht hab'. Darauf hat er geantwortet: ›Ich wüsst' wohl, wie du die Stöckln am besten verwerten könnt'st. Nicht faul dürft'st halt sein, dann könnten sie dir mehrere Gulden eintrag'n.‹ Hernach hat er uns da heraus zu dem Rain g'führt. Das ist sein einzig's Stückl Grund, das er nicht pflegt. Er hat nämlich nie Zeit, dass er's umstechen tät. Und dann hat er mir's halt erlaubt, dass ich mir hier das Beet hab' anlegen dürfen. Die Maiblumen und Nelken hat er mir auch geschenkt, und Gießkannen und Gartenwerkzeug leiht er mir gern, sooft ich ihn drum ersuch'. Mein Dienstherr, der Greißler, gibt mir, wenn's halbwegs leicht sein kann, freie Stunden, damit ich die Blumen nicht vernachlässigen muss. Boshafterweis' hat mir noch niemand etwas an dem Beet beschädigt, was mich eigentlich wundert, weil ja doch verschiedene Leut' hierherkommen. Angst steh' ich mir g'nug um die Blumen aus. Es könnt' mir ja so leicht jemand einen Schaden dran machen. Und jetzt muss ich dir auch was eing'stehen: Wie du früher über die Wies' daher kommen bist, da hab' dich auch g'fürcht. Wenn's der Ziegelschläger sieht, was es da gibt, so geht er nächsten Sonntag g'wiss um ein'n Strauß daher, hab' ich mir gedacht. Jetzt weiß ich's aber schon, dass meine Blumen vor dir sicher sind.«

»Ich tu dir nichts Unrecht's daran«, sagte der Anton; »wenn du willst, begieß' ich sie dir manchmal an Abenden, weil ich ja doch näher zu ihnen hab' als du.« – »Es wär' mir recht, wenn du so gut wärst«, erwiderte Pepi. »Mir liegt so viel dran, dass sie mir recht schön aufblühen. Rat' einmal, was mir das Beet eintragen könnt', wenn ich nur halbwegs Glück damit hätt'.«

Der Anton zuckte die Achseln, und Pepi gab die Auskunft:

»Die Rosenstöck' haben mindestens vierhundert Knospen, die sich gut entwickeln. Für jede Rose gibt mir ein Blumenverkäufer, den ich kenn', vier Heller. So bekäm' ich für meine erste Rosenfechsung sechzehn Kronen. Für Nelken und Reseden dürft' ich ebenso viel einnehmen. Die Maiglöckchen und Reseden sind nicht besonders gut geraten, aber für fünf Kronen hab' ich doch schon verkauft davon, und für die, welche noch hier stehen, erhoff' ich mir auch einen kleinen Betrag. Dann kann ich auf eine Herbstrosenernte rechnen. Mir sind diese Aussichten schön genug.«

»Was wirst du denn mit dem Geld tun, bis du es hast?« fragte Anton.

Den Pepi schien diese Frage in einige Verlegenheit zu bringen, und er gab keine Antwort.

»Ah, das willst du mir nicht sagen!« rief Anton, »und jetzt besteh' ich drauf, dass du mir's sagst!«

Da machte der Pepi hastig das Geständnis: »Ich möcht' halt meiner Mutter was Notwendig's kaufen.«

Indem er dann nach einem weißen Wolkenkopfe wies, der weit hinter den Kaltenleutgebner Bergen in das Blau ragte, rief er aus: »Dort steht ein Gewitter! Das dürft' uns ein Blumengießen ersparen!«

Der Anton sah nur sehr flüchtig nach jener Wolke und dann lange in die Augen des Kohlenausträgers, dabei kam eine weiche, ernste Bewegung in seine Mienen. Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß 's schon, du red'st jetzt deshalb nicht gern von deiner Mutter und von dem, was du für sie tust, weil du mich nicht weiter erinnern und nicht zu Schand' stellen magst. Aber ich hab' mir's jetzt einmal in den Kopf gesetzt, dass ich es wissen muss, wie du bist. Je mehr ich mich hernach vor dir schämen muss, desto besser wird mir das tun.« Lächelnd fügte er hinzu: »Und wenn ich dir auf Schlechtigkeiten komm', so werd' ich mich damit über meine Schlechtigkeit trösten.«

Jetzt lächelte auch Pepi und entgegnete halb im Ernste und halb im Scherze: »Da werd' ich dir wohl zu deinem Besten meine Fehler verheimlichen müssen.« Hernach erzählte er wieder so ehrlich wie früher: »Also was meine Mutter eigentlich am allernötigsten braucht, das ist ein Bett. Früher einmal, da hat sie ja ganz schöne Federbetten gehabt, aber ein Teil davon ist mit der Zeit in unserer Hauswirtschaft draufgangen, und nachschaffen hat's keine können, dazu war's zu arm. Seit mein jüngster Bruder für unsere Wiege zu lang ist, fehlt bei uns daheim ein Bett. Die Mutter hat ihren Federnvorrat derart unter uns G'schwistern aufteilt, dass ihr selbst kein Polster und keine Tuchent blieben ist. Sie bett't ihren Kopf auf ein Wäschebinkerl und mit einem alten Mantel deckt sie sich zu. Ich tät so viel gern' mit ihr Liegstatt tauschen, aber sie will davon nichts hören. Sie nötigt mich dazu, dass ich in unserem größten und besten Bett liegen muss. Ich bin jung und g'sund und tät auf dem Fußboden grad so gut wie in ein'm Bett liegen oder noch besser, weil ich dann nicht so viel Angst um die Mutter hätt', die ja wirklich schon so z'sammg'rackert ist, dass sie nur in einem ganz guten Bett halbwegs gut rasten könnt'. Aus übertriebener Mutterlieb' liegt's auf dem Strohsack, der so viel drückt, dass sie drauf niemals recht schlafen kann. Wenn mir Gott hilft, so werd' ich mich über diese Sach' nicht mehr lang aufregen. Am 26. Juli ist Anna, meiner Mutter ihr Namenstag. Zu dieser Zeit kann ich schon meine meisten Blumen verkauft und so viel eingenommen haben, als ein ordentlich's Bettg'stell, eine Seegrasmatratze, zwei Tuchenten und drei Polster kosten. Während dann am Annatag meine Mutter in der Frühmess' sein wird, stell' ich daheim fein säuberlich ihr Namenstagsg'schenk auf. Ihren alten Strohsack verkauf' ich heimlich dem Hadernweib, und aus dem Stroh mach' ich Unterzündwascheln.«

So lange nun Pepi gesprochen hatte, schien der Anton immer mehr und mehr in ein tiefes Nachdenken zu verfallen. Jetzt blickte er den Kohlenausträger mit einer Miene der Entschlossenheit an und sagte: »Ich möchte jetzt auch ein anderer werden. Dass ich so schlecht bleib', das gibt's nicht. So groß darf der Unterschied zwischen dir und mir nicht sein. Meine Mutter muss auch ein Bett kriegen und noch viel anderes, was sie nötig braucht. Merk' dir's, Pepi, was ich da sag'.«

In dem Gesichte des Kohlenausträgers leuchtete jetzt eine reine Freude. Unter lebhaftem Nicken versicherte er dem Anton:

»Ja, ich merk' mir's. Und wenn's wahr wird, was du jetzt willst, dann bin ich wahrscheinlich auf deiner Mutter ihr Bett noch stolzer als auf meiner ihres.«

Er drückte dem Ziegelschläger die Hand, stand rasch auf und sagte dann:

»Jetzt heißt's rennen, damit ich die Zeit einbring', die ich da bei dir versäumt hab'. Aber leid ist mir nicht um diese Zeit!«

»Mir auch nicht«, sagte der Ziegelschläger.

Pepi hob seine Mütze auf, rief noch ein freundliches »B'hüt dich Gott!« und lief der Vorstadt zu. Anton hatte sich nun auch erhoben. Er sah dem Knaben nach, bis dieser hinter einer Baumgruppe verschwand. Dann ging er langsam zu der Lehmgrube zurück. Auf seinem Gesichte spiegelte sich jetzt ein feierliches Empfinden. Er hatte bei Reuegefühlen und Gewissensbissen schon manchmal kaum minder ernsthaft als jetzt gute Vorsätze gefasst, aber dabei war er doch niemals so schön zum Rechten angeeifert gewesen wie gegenwärtig. Bisher hatte ihm ja noch niemand so viel wie jetzt Pepi von dem Glücke anschaulich gemacht, das die Gütigen erfüllt, wenn sie sich für andere mühen und aufopfern. Anton war wohl nicht so verdorben, dass er von jenem Glücke keine richtige Vorstellung gehabt hätte, aber genossen hatte er es noch nicht. Und jetzt war er gierig danach, ähnlich wie der Pepi wirken und empfinden zu können. Durch die Neigung, welche er für den Pepi empfand, wurde es ihm insbesondere lieb, sich diesem ähnlich zu machen.

Sein neues Fühlen hielt tagsüber an. Er war bei seinem Schaufeln und Karrnen noch selten so unausgesetzt seelisch bewegt gewesen wie heute. Während seiner Arbeit entschloss er sich auf das Festeste dazu, dass er schon heute mit dem gehörigen Entbehren und Sparen beginnen würde. In seinem Hosensacke befanden sich drei Kronen, die er bei seiner bisherigen Genusssucht noch heute in einem Wirtshause verbraucht hätte. Es war heute Freitag, und für einen Samstag hatte er sich niemals auch nur einen mindesten Lohnrest aufbewahrt. Nun galt es ihm aber für gewiss, dass er heute nicht in einem Gasthause, sondern in seiner Wohnung nachtmahlen und dabei mindestens zwei Kronen ersparen würde. Seine jetzige Wohnung war eine alte, große Scheune des Lautdümmelhofes. Am Abend tat Anton zunächst wirklich so, wie er es sich vorgenommen hatte. Er bat die Frau seines Dienstgebers, dass sie ihm für ein angemessenes Geld eine größere Schüssel Milchsuppe und Grießnockerln kochen möge. Die gefällige Frau lieferte ihm das verlangte Gericht für sechzig Heller, ließ es ihn an dem Esstische des Lautdümmelhofes verzehren und belobte ihn, weil er an diesem Abende zu Hause bleiben wollte. Herrlich gesättigt und außergewöhnlich selbstzufrieden ging er in seine Scheune und bereitete dort sein Nachtlager, das aus einer Strohschütte und zwei Kotzen bestand, so sorgfältig wie noch niemals zuvor. Es war lange her, seitdem er so rechtzeitig wie heute zu Bette ging. Von seinem Lager sah er durch eine breite Mauerscharte auf einen schönen Sonnenuntergang hinaus, und dann hörte er eine tiefe, ferne Glockenstimme, die ihn sanft und innig daran erinnerte, dass er schon lange kein Abendgebet verrichtet hatte.

Er bekam ein heißes Andachtsgefühl und wollte beten. Aber da wurde der leise Glockenklang von einer Blechmusik übertönt. In einem nahen, großen Wirtshausgarten begann das Abendkonzert. Anton erschrak über die Störung und empfand sie trotz der Schönheit der Musik als etwas Rohes. Er grollte, und es war ihm leid um die Andachtsstimmung, zu welcher er sich nun nicht mehr sammeln konnte. Aber hernach schmeichelte ihm die Musik den Groll und das Leid förmlich hinweg, und da war bald auch in seiner Seele sonst nichts laut als das süße, schwermutsvolle Wienerlied, das ihn umtönte. Er konnte es bei dem Anhören und Empfinden dieses Liedes auf seinem Lager nicht aushalten, stand auf und horchte dann durch das Scheunentor gegen den Wirtshausgarten hin, welcher unmittelbar hinter dem Staudenrahmen der Wiese lag. Und dann wurde es ihm hier in der Einsamkeit bange, und er hatte den Wunsch, sich drüben in dem menschenbelebten Wirtshausgarten der Wirkung dieser Töne hingeben zu können. In seiner Musikschwelgeri bekam seine dunkle, gefühllose Umgebung etwas Unheimliches, Furchteinflößendes für ihn. Er dachte daran, wie lieb ihm noch eben zuvor bei seinen Andachtsgefühlen die Einsamkeit gewesen war, und da erschien ihm das reizvolle Empfinden, in welches er sich durch die Musik versetzt sah, beinahe als etwas Sündiges. Es tat ihm leid, dass er nicht die Macht in sich fühlte, dem widerstehen zu können, was ihn nun trieb und lockte.

So ging er denn mit vieler Lust und auch in einer traurigen Schicksalsergebenheit dem Wirtshause zu. Es geschah heute zum ersten Male, dass er von diesem Garten her Musik vernahm. Das Abendkonzert war sonst schon immer vorbei gewesen, wenn Anton aus der Vorstadt zurückkam, in welcher er seine Abende zu verbringen pflegte. – Aber dann verführte ihn die Musik auch noch zum Weitertrinken. Gegen Mitternacht hatte er das Geld verbraucht, auf welches er am Abend als auf ein heutiges Ersparnis stolz gewesen war. Er bekam einen kleinen Rausch und brachte es deshalb über seine widerstreitenden Stimmungen zu einer großen Gleichgültigkeit.

Am nächsten Morgen verzweifelte er daran, dass er sich noch jemals seinen gestrigen, schönen Vorsätzen gemäß beherrschen würde. »Weil es mir gestern, wo ich doch so außerordentlich gut gewillt war, nicht gelungen ist, so gelingt's mir gewiss nimmer«, sagte er sich.

Bei seiner heutigen, verachtungsvollen Selbstbeurteilung hielt er abermalige gute Vorsätze fast für lächerlich. Er trauerte den ganzen Tag lang über seinen gestrigen Fall, der ihm ein so sicherer Beweis seiner Unverbesserlichkeit war.

Nachdem er am Abend seinen Wochenlohn erhalten hatte, vertrank er jene Trauer. Am Sonntag war er so leichtsinnig und selbstvergessen wie ehedem, und am Montag ging er wie sonst stumpf und mit sich selbst abgefunden an seine Arbeit.

Wenn er unwillkürlich über den Lehmgrubenrand nach Pepis Blumenbeet sah, empfand er dann allerdings manchmal leise ein Weh und eine Scham … Er spürte es auch, dass er sich bei einem Zusammentreffen mit Pepi sehr stark und doch fruchtlos schämen und über sich selbst kränken müsste. Deshalb wollte er den Pepi nicht wiedersehen. Über die Sehnsucht, die ihn immer dann befiel, wenn er an den Kohlenausträger dachte, half er sich mit jenen Gedanken hinweg, die sein altes Mittel gegen ernste Erinnerungen waren. Bei all' dem Selbstvergessen blieb er sich doch wenigstens halbwegs richtig des Versprechens bewusst, dass er den Blumen zeitweise mit etlichen Kannen Wasser helfen würde.

»Dass ich dem Pepi das auch nicht halten tät', gar so schlecht bin ich ja doch nicht«, sage er sich.

Als der Lautdümmel am Nachmittage wieder in der Vorstadt war, nahm Anton wirklich aus dem Hofe eine alte Gießkanne und einen Feuereimer, füllte diese Gefäße an einem Tümpel der Lehmgrube und trug sie zu dem Raine hinüber.

Pepis Blumen hatten hängende Blätter und Blüten; Anton erkannte es, dass sie gestern nicht besprengt worden waren.

Bei dem Gedanken, dass sich Pepi auf ihn verlassen hatte, empfand er einige Rührung. Er bereute es auch ein wenig, dass er nicht schon gestern nach den Blumen gesehen hatte, und er begoss sie nun ganz gehörig.

»Da kann er's jetzt sehen, dass er sich nicht ganz und gar in mir getäuscht hat«, dachte er. »Ich sollt' ihm halt so, wie ich bin, recht sein. Weil er mich aber gewiss allweil anders haben möchte, drum mag ich nimmer mit ihm zusammenkommen. Wenn er nicht gar so auf das Beste erpicht wäre, dann möchte ich keinen anderen Kameraden als ihn. Es ist sehr schad' dass er so ist.«

Am nächsten Nachmittag sah er von der Lehmgrube aus den Pepi. Der junge Kohlenausträger winkte ihm eifrig zu, Anton tat, als ob er das nicht bemerkte, und lief in den Lautdümmelhof, als sich Pepi der Lehmgrube näherte. Ebenso offensichtlich flüchtete er auch ein zweites Mal vor dem jungen Burschen, der dann keinen Annäherungsversuch mehr machte.

Das Blumenbeet hätte Anton gerne öfters besorgt, er fand es nun aber nicht mehr trocken.

Zu etlichen Tagen hatte er sein Leid um den Pepi fast völlig überwunden. Er war nun leichtsinniger als je und konnte sich auch mehr als jemals überflüssige Genüsse verschaffen, weil unterdessen sein Lohn um ein Beträchtliches erhöht wurde.

In einer Samstagnacht vertat er in einer lustigen Gesellschaft seinen vollständigen Wochenlohn.

Es war sonst nicht seine Art, für jemanden eine Zeche zu bezahlen, aber jene Gesellschaft wusste es doch dahin zu bringen, dass er für sie den Rest seines Geldes verausgabte und dann noch dem Wirte einiges schuldig ward.

Am Sonntagmorgen verkaufte er seine sämtliche Feiertagskleidung und bezahlte den Wirt, der ihm sonst böse Anstände gemacht hätte. Dann kam er in eine Not, auf welche er nicht im Mindesten vorbereitet gewesen war. Er bat seinen Dienstgeber um einen Vorschuss. Der Lautdümmel konnte diese Bitte nicht erfüllen, weil er gerade auch an Geldmangel litt.

»Bis zum Samstag werd' ich ja mit Gottes Hilf' deinen Arbeitslohn wieder herschaffen«, sagte er. »Wenn du aber die Woche bei mir nicht aushalten kannst, so geh', wohin du willst.«

Dem Anton schien es zweifelhaft, dass er sich anderswo alsogleich besser als hier stehen würde, und deshalb war er am Montag wieder bei seiner Lehmarbeit.

Mittags sättigte er sich nur ungenügend bei einem Greißler, dem er dann eine Krone und fünfzig Heller schuldig war. Am Abend borgte ihm niemand etwas. Er ging hungrig in der Vorstadt herum und spähte vergebens nach hilfsbereiten Freunden und Bekannten.

Das Gehen machte ihn müde. Er setzte sich hie und da auf eine Gartenbank, aber der Hunger ließ ihn nicht rasten. Es war bald eine Gier in ihm, die ihn fast wütend machte. Vor manchen Esswarengeschäften begann er diejenigen, welche aus Hunger stehlen, gar zu wohl zu begreifen. Bisher hatte er sich noch niemals recht eindringlich danach gefragt, ob ihm gegebenenfalls das Betteln oder das Brotstehlen das Leichtere sein würde. Jetzt fühlte er es ganz genau, dass ihm die Demut zum Betteln fernerlag als die Bedenkenlosigkeit, welche dazu gehörte, um nach einem der vollen Verkaufskörbe, die hier vor den Kaufmannsläden standen, so einen Griff zu tun.

Er sah in dieser neuen Entdeckung, die er da machte, ziemlich klar den Beweis seiner Schlechtigkeit. Deswegen fand er aber doch keinen Willen zu einer rechtlichen Selbstbeherrschung. Seine Meinung, dass er es ja doch niemals vermögen würde, sich gegen sich selbst zu helfen, blieb in ihm ständig, und er ergab sich der Gier, die ihn erfüllte. Es hielt ihn bald nur lediglich die Furcht vor dem Ertapptwerden vom Brotstehlen ab. Eine Gelegenheit zum Stehlen, die ihm als sicher genug erschienen wäre, bot sich ihm nun nicht.

Weil er dann seinen Hunger nicht mehr aushalten zu können glaubte, entschloss er sich fast plötzlich zum Betteln. Er überwand mit harter Mühe einen trotzigen Stolz, als er auf einer dunklen Straßenseite einen alten Herrn ansprach: »Ich bitt', schenken's mir was. Ich hab einen fürchterlichen Hunger.«

Der Herr sah in sehr misstrauisch und strafend an und rief dann mit weit schallender Stimme: »Wachmann!«

Anton rannte nun so schnell, als es ihm möglich war, davon und fühlte sich vor einer Verfolgung, die in Wirklichkeit gar nicht stattfand, erst auf einer noch dicht belebten Straße sicher.

Das Betteln war ihm vorläufig verleidet. Und es war nun auch ein Hass, den er früher nicht gekannt hatte, in ihm. Er sah viele, die ihm begegneten und die ihm sonst ganz gleichgültig gewesen wären, sehr ingrimmig an und dachte: »Du bist gewiss auch so einer, der sich ein feines Aussehen gibt und dabei doch viel gröber und herzloser ist, als ich – so schlecht ich auch bin – es sein könnte!«

Durch die Fenster großer Restaurants blickte er voll Neid und Zorn auf die speisenden Gäste. In einem der Speisesäle ging ein junger, blasser Blumenverkäufer umher.

Dem Anton gab es bei dem Anblicke der Rosen, die der junge Mensch trug, einen merklichen Riss. Diese Rosen gehörten zu der Gattung derjenigen, welche nun draußen auf dem Blumenbeete des armen Kohlenausträgers auch schon fast zum Pflücken reif waren.

Anton hatte das Blumenbeet gestern gesehen und war überzeugt gewesen, dass Pepi schon in den nächsten Tagen die große Ernte beginnen würde. Und jetzt fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er am ehesten seinen Hunger stillen und am leichtesten über die Woche hinwegkommen könnte, wenn er dem Pepi die Blumen stahl.

»Das ist von allem, womit ich mir geschwind Brot verschaffen kann, das Ungefährlichste«, dachte er. »Der Pepi wird keinen Verdacht auf mich haben, für so schlecht kann er mich ja gar nicht halten. Und sollte er mich doch für den Dieb halten, so wird er mich nicht anzeigen, dazu ist er zu gut. Ein Schlag wird's ja für ihn sein, wenn er sein liebes Ackerl geplündert find't. Aber Hunger leiden wird er ja dann doch nicht müssen, so wie jetzt ich. Er wird sich von dem Unglück erholen.«

Es dauerte nun nicht lange, dann trat der junge Blumenverkäufer aus dem Saale auf die Straße. Anton sprach ihn an: »Ich hätt' schöne Rosen zu verkaufen, viel schönere als die Ihrigen da. Recht billig geb' ich sie.«

»Sind Sie ein Gärtnergesell?« forschte der Blumenverkäufer.

»Ein Bauernsohn bin ich«, log der Anton. »Und die Blumenzüchterei ist meine Lieblingsbeschäftigung. Mehr als zweihundert von meinen Rosen wären jetzt zum Nehmen. In längstens zwei Stunden könnt' ich sie Ihnen bringen. Bei Tag hab' ich wegen der vielen Feldarbeit zu solchen Nebengeschäften keine Zeit. Das werden Sie sich ja selbst denken können.«

Der Blumenverkäufer glaubte dem Anton. »Ich brauch' morgen viel Rosen«, sagte er. »Bringen Sie mir die Ihrigen in zwei Stunden in meine Wohnung, Krumpgasse 55. Ich geb' Ihnen für jedes Stück drei Heller.«

»Vier Heller«, feilschte Anton.

Der Blumenverkäufer zuckte die Achseln. »Holens' die Rosen. Sie werden's ja entweder mir oder auf dem Grünmarkt verkaufen, der nach Mitternacht anfängt.«

Anton tummelte sich fort.

Durch die sichere Überzeugung, dass er nun doch bald reichlich essen würde, kam er zu neuer Kraft und Ausdauer.

Während er durch die Straßen der Vorstadt lief, war ihm bei seinem Vorhaben fast gar nicht bange.

Als er dann zwischen den stillen, mondbeschienenen Gartenfeldern dahinging, begann er vor sich selbst zu erschaudern; aber der Hunger erhielt ihm den verzweiflungsvollen Mut, den er nun einmal zu diesem, seinem ersten Diebstahl besaß. Er wurde dann auf seinem Gange ganz sicher davon überzeugt, dass ihn nichts anderes als der Hunger zu einer solchen Schädigung des jungen Kohlenausträgers zu verleiten vermöchte.

»Es gibt gar kein anderes Gelüst, das mich zu so einem Verbrechen treiben könnte«, sagte er sich. »Aber der Hunger, das ist eben schon mein Lebtag dasjenige, was ich am schwersten aushalt'.«

Er ging zu dem Lautdümmelhofe, dort nahm er ein Sätuch, das an einer Wäschestange hing. Die Frau seines Dienstgebers brachte manchmal mittelst dieses alten Leinens große Grasbürden von der Wiese heim.

Anton wollte nun das Tuch zum Rosentragen verwenden. Er breitete es vor dem Blumenbeete aus, und dann machte er sich hastig an sein Diebeswerk.

Anfangs stach er sich, obwohl ihm der Mond nicht schlecht leuchtete, fast ebenso oft an einem Dorne, als er eine Rose abschnitt. Dann band er sich seine dicke Stoffkappe um die Hand.

Die Dornenstiche hätte er noch weiterhin leichter erduldet, als er die Schrecken aushielt, welche ihn von seiner Schandtat immerzu auffahren machten. Bei seinem ängstlichen Lauschen und Spähen erschreckten ihn Dinge und Geräusche, die er sonst gar nicht beachtet hätte. So schien ihm ein schwarzer Schatten, der sich zwischen zwei Möhrenbeeten dahinzog, ein liegender Mann zu sein, und ein Rascheln, das ein Wiesel im Grase verursachte, hielt er für einen schleichenden Menschentritt. Die Angst, dass er von jemandem beobachtet oder gar abgefangen werden könnte, peinigte ihn mitunter fast noch stärker als sein Hunger.

Er hatte sich in seinem bisherigen Leben wahrhaftig noch bei keiner Arbeit so stark aufgeregt wie jetzt bei diesem Blumenpflücken.

Einen richtigen Abscheu vor dem Stehlen, der etwa vom Rechtlichkeitssinn oder von einer christlichen Anschauung hergekommen wäre, empfand nun Anton neben jenen anderen Grundgefühlen seiner Aufregung nicht. Er hatte auch keine Angst, dass sich dieses Verbrechens wegen große Reuequalen bei ihm einstellen könnten.

»Wenn's nur nicht aufkommt!« dachte er. »Vergessen werd' ich's dann schon so weit wie manches andere.«

Bald hatte er alle Rosen abgeschnitten, die ihm dessen wert erschienen. Dann band er die vier Zipfel des Sätuches über dem Blumenhaufen zusammen, nahm die duftende Bürde auf den Rücken und lief der Stadt zu.

Der Händler gab ihm für die Rosen elf Kronen und etliche Heller. In einem jener Wirtshäuser, die der Marktlieferanten wegen die Nächte hindurch geöffnet sind, aß und trank er, bis es ihm widerstand, dann bezahlte er für die Übersättigung mehr als die Hälfte seines Beuteerlöses.

Als er dann nach dem Lautdümmelhof zurückging, unterschied sich die Gleichgültigkeit, zu welcher er es hauptsächlich durch den reichlichen Trunk gebracht hatte, kaum erheblich von derjenigen, welche er auf seinen sonstigen nächtlichen Heimwegen besaß.

Am nächsten Morgen wollte ihn die Reue anfallen, aber er bot seinen Leichtsinn gegen sie auf und machte sie stille. Dabei glaubte er schon ganz sicher daran, dass ihn sein gestriger Diebstahl als Sündenlast niemals besonders empfindlich würde bedrücken können. Es war dies sein erster Diebstahl. Vordem hatte er kaum jemals ernstlich darüber nachgedacht, was ihm nach der Verübung eines solchen Verbrechens das Gewissen zu schaffen geben dürfte. Jetzt, wo er es sah, wie er sich den Diebstahl vergessen machen konnte, wusste er es auch, dass er zum Diebe schlecht genug war. Er wurde wegen dieser erweiterten Erkenntnis seiner Schlechtigkeit um nichts unglücklicher.

Als Anton am Nachmittag noch kaum eine Stunde lang bei seiner Arbeit war, sah er Pepi, wie dieser eben von der Vorstadt her zu dem Blumenbeet kam. Da befiel ihn freilich ein Schrecken, und es geschah ihm aufs Neue um den Jungen leid. Eine angstvolle Neugierde wollt ihn zu einem weiteren Beobachten des jungen Kohlenausträgers zwingen. Er glaubte sich aber mit einem längeren Hinübersehen verdächtig machen zu können, deshalb lenkte er seine Augen gewaltsam von dem armen Burschen ab. Er sah es nicht, wie sich der Kohlenausträger angesichts der kleinen, abgeernteten Rosenpflanzung gebärdete.

Erst torkelte Pepi, als ob er einer Ohnmacht nahe wäre. Dann sah er ein Weilchen nach dem Anton hin und schien sich darüber uneinig zu sein, ob er rufen sollte oder nicht. Mit einer unverkennbaren Schmerzlichkeit verzichtete er auf dieses Rufen. Hernach fiel ihm der alte Gärtner auf, welcher ihm die Blumen geschenkt und den Rain angewiesen hatte. Der Alte schnitt auf dem Gemüsefeld junge Kohlrüben aus. Nach einem abermaligen merklichen Zaudern lief Pepi zu dem Mann. Mit dem scheuen Blicke, welchen dann Anton wieder nach dem Blumenbeete richtete, sah er den Gärtner neben Pepi vor den Rosensträuchern stehen.

Einigermaßen ängstigte es ihn aufs Neue, dass der Gärtner den Tatort besah. Und dann machte ihn ein Schrecken förmlich starr, weil der alte Mann auf eine Stelle des Wiesenbodens niederzeigte. Anton dachte daran, dass er gestern über die Wiese zu den Rosen geeilt war und dass er dort, wo jetzt der Gärtner hinwies, Fußspuren in dem Grase zurückgelassen haben könnte. Der Alte zeigte nun über den Wiesenboden nach der Lehmgrube hin. Da fühlte sich Anton beinahe schon als den Rosendieb erraten. Ein Weilchen war er kaum so weit einer Selbstbestimmung fähig, dass er seine Blick von den beiden Menschen abzuwenden vermocht hätte. Unterdessen machte sich der Alte auf den Weg nach dem Gärtnerhause und ließ den Pepi bei dem Blumenbeete zurück.

Zu seinem Schrecken fiel dem Anton als erstes eine Lüge ein, mit welcher er sich nun am besten helfen zu können glaubte. Ohne dass er dann noch viel überlegt hätte, lief er zu Pepi hinüber, um jene Lüge zu sagen. Als er sich eben erst in Bewegung gesetzt hatte, sah ihm Pepi auch schon merklich überrascht entgegen. Anton begann seine Lüge, ehe er noch vor dem Kohleausträger stehen blieb.

»Wie ich gestern nachts zu dem Hof kommen bin, hab' ich den Dieb gesehen!« rief er. »Es war g'rad ziemlich mondhell. Ganz deutlich hab' ich's gesehen, wie der Dieb da vor den Rosenstöcken einen großen Binkel aufgehoben hat und wie er dann gegen die Vorstadt hin davon ist. Ich wollt' ihm nach. Bis über die Lehmgruben und über die Wiese bin ich gelaufen. Aber dann hab' ich's gesehen, dass der eine nicht allein da war, sondern dass er einen Mithelfer gehabt hat. Selbstverständlich haben sich die zwei vor mir nicht gefürchtet. Es wäre mir schlecht gegangen, wenn ich sie angepackt hätt'. Hab' sie mit dem Raub abziehen lassen müssen. Es ist mir sehr leid um dich. Glaub' mir's.«

Er sah nun den Pepi mit einer Miene des innigsten Bedauerns an und drückte ihm die Hand.

Diese Gefühlsbezeugungen kosteten ihn weniger Heuchelanwendung als die vorherigen Lügen, weil ihm ja tatsächlich um den armen Jungen leid geschah. Dem Pepi war nun aber kaum noch ein Schmerz um seine Blumen anzusehen. Auf seinem feinen Gesicht lag ein glückliches Lächeln. Mit einem lustigen Blicke streifte er jene Stellen des Grasbodens, auf welche vorhin der Gärtner gedeutet hatte. Dann legte er einen Arm um den Nacken des Ziegelarbeiters.

Anton erriet es, weshalb nun Pepi glücklich war. »Er glaubt's wirklich, dass das die Fußspuren davon sind, weil ich den Dieben nachgerannt bin«, sagte er sich. »Und er ist deswegen so froh, weil er jetzt keinen Verdacht mehr auf mich hat. Er hat mich so gern, dass er leichter alle seine Blumen verschmerzt, als er mich für den Dieb halten tät'.«

Bei diesem Durchschauen des anderen empfand Anton eine starke Rührung. Er drückte den Jungen mit einer durchaus echten Zärtlichkeit an sich. Pepi sagte unterdessen leise:

»Es ist mir jetzt recht, dass die Dieb' dag'wesen sind, ich verdank's ihnen ja, dass du doch wieder einmal zu mir kommen bist. Bis vorhin war ich noch sehr wenig darüber getröst't, dass du mit mir gar so schnell abbrochen hast. Ich hab' wohl an alle Ursachen gedacht, aus denen du möglicherweis' so unfreundlich hätt'st sein können. Am ärgsten war ich dann außer mir, wenn ich manchmal an die Möglichkeit glaubt hab', dass du bei unserem damaligen Bekanntwerden spaßhalber alles gelogen haben könnt'st und dass ich dir von allem Anfang an gleichgültig und nur für das eine Mal zum Füreinnarrenhalten recht gewesen bin. Jetzt weiß ich's schon, Gott sei Dank, ganz gewiss, dass ich dir mit solchen Gedanken unrecht getan hab'.«

Anton gestand nun: »Ich hab' dich deswegen nimmer sehen wollen, weil ich mich vor dir dafür schäm', dass ich ein Lump bleiben muss. Jetzt bin ich freilich bei aller Scham froh, dass ich dich seh'.«

Pepi erwiderte in einem fast leidenschaftlichen Eifer:

»Ich muss dazu helfen, dass du anders wirst. Du brauchst mich, und drum lass ich nimmer von dir ab, und wenn's dir auch gar nicht recht ist, so wird's dir doch recht, bis du anders bist.«

»Gegen meine Liederlichkeit kannst du mir nicht helfen«, sagte Anton. »Wenn mich die zu Ziehen anfangt, so gibt's nichts, was mich z'ruck halten könnt'. Aber im Übrigen werd' ich nimmer von dir davonrennen.«

Anton sah nun, dass die Frau seines Dienstgebers vor einer Stalltür des Lautdümmelhofes stand.

»Die Alte hält nach mir Ausschau«, sagte er. »Ich muss zu meiner Arbeit.«

Mit der Art, wie er dem Pepi die Hand drückte und wie er ihn ansah, zeigte er es, dass er nicht wenig auf die Erneuerung ihrer Bekanntschaft hoffte. Dann ging er ziemlich beruhigt zu seinem Arbeitsplatze zurück. Fast vollständig außer Angst war er darüber, dass er noch jemals wegen dieses Rosendiebstahls verfolgt werden könnte. Er dachte: »Der Pepi ist so gut, dass er mich nicht strafen lassen tät', wenn er's wüsst', dass ich der Dieb bin. Und je mehr ich ihm lieb werd', desto sicherer bin ich, dass er mir nichts geschehen ließ', wenn der Diebstahl aufkäm'. Drum ist's gescheit, wenn ich ihm recht schön tu.«

Dann versuchte er es, sich etwas klar zu machen, wie sich Pepi wohl im Übrigen gegen ihn als gegen den Dieb stellen würde. »Das Beste von dem Gefühl, das er jetzt für mich hat, müsst' er dann jedenfalls für immer verlieren«, dachte er. Und dann begann es ihm leid zu tun, dass Pepi jenes Beste niemals anders als im Irrtum fühlen würde. Ein Weilchen sehnte er sich danach, der Neigung Pepis vollkommen wert sein zu können, und hernach gab er sich doch die leichtsinnige Weisung: »Weil du schon einmal ein Dieb bist, so nimm und genieß' halt auch unverdient diese Freundschaft. Viel besser ist dir ja dabei doch, als dir bei der verdienten Verachtung wär'!«

Pepi ging indessen nach Hause. Er plante und träumte verschiedenartig darüber, wie er diesen Menschen, der ihm der innigsten Mühen wert und bedürftig erschien, zu einer durchaus ordentlichen Lebensführung bewegen würde. Neben dem schönen Wirkungsdrange, der da in ihm war, empfand er weder eine Trauer um seine Blumen noch einen Groll gegen die Diebe, von denen Anton gesprochen hatte.

Ein tiefes Weh trug er freilich deshalb, weil er sich nun außerstande sah, seiner Mutter an ihrem Geburtstage das Bett zu schaffen. Durch sein Gottvertrauen fand er aber doch eine Hoffnung, dass die arme Frau irgendwie ein besseres Ruhelager erhalten würde.

Von dem Rosendiebstahle sprach er daheim nicht, aber den Entschluss, dass er dem Anton ein rettender Freund werden wollte, gab er seiner Mutter zu wissen. Die Mutter antwortete ihm:

»Ich will dir's nicht verwehren, was du so gern tust und was du für so recht hältst.«

Und wie wollte darum beten, dass er bei seinem Werke keinen Schaden nehmen und keine allzu großen Enttäuschungen erleben möge.

Am nächsten Tage ging er später als sonst zu dem Blumenbeete. Er wollte diesmal nur hauptsächlich die Nelken begießen und hernach mit dem Anton zusammentreffen, wenn dieser nach sechs Uhr die Lehmgrube verließ. Als Pepi in das Gärtnerhaus kam, um wie gewöhnlich zwei Gießkannen zu borgen, rief ihm der Gärtner entgegen:

»Ich weiß schon, wer dir die Rosen gestohlen hat! Gestern war ich noch in der Stadt, und da hab' ich's von einer Blumenhändlerin gehört, dass vorgestern ein Geschäftsfreund von ihr so einen außergewöhnlich billigen Rosenkauf gemacht hat. Da bin ich zu dem Betreffenden hin und hab' ihn nach demjenigen ausg'fragt, dem die Blumen so wohlfeil waren. Von der Personenbeschreibung, die ich dann gehört hab', war ich schon überzeugt, dass niemand anderer der Rosendieb ist als der Ziegelschlägergesell – der Anton.«

Der Pepi war von den Worten des Gärtners förmlich wie von groben Schlägen betäubt. Er stand gar jämmerlich entgeistert, zitternd und mit offenem Munde da. Der Gärtner redete weiter:

»Ich bin darauf bestanden, dass heut der Blumenhändler da herauskommen ist und dass er nachgeschaut hat, ob der Zieglergesell auch wirklich der Blumenlieferant war. Wie heut' der Anton bei seinem Mittagmahl war, ist er, ohne dass er's geahnt hat, von dem Blumenhändler gehörig beschaut und erkannt worden.«

Pepi war nun bereits wieder bei einiger Denkkraft. Nach den Darstellungen des Gärtners konnte er nicht mehr daran zweifeln, dass Anton der Dieb war. Wie er sich mit dieser Tatsache abfinden werde, das konnte er sich freilich noch nicht sagen, aber er wusste es doch gleich, dass es ihm nicht möglich sein würde, das, was da an ihm geschehen war, mit Hass und Rache zu vergelten. Nicht einmal eine wohlgerechtfertigte Straflust regte sich in ihm und auch keine zornige Kränkung darüber, dass ihn Anton mit den Freundschaftsversicherungen hohnvoll genarrt hatte.

Er trauerte über die Verdorbenheit Antons umso tiefer, weil er es zornlos tat. Aber dann begann er daran zu denken, dass Anton vielleicht doch nicht so schlecht und gegen ihn so gefühllos war, wie es schien. Er stellte sich es vor, wie Anton den Diebstahl in quälender Armut, bei schweren Seelenkämpfen begangen und wie er dabei mit Leid an ihn gedacht haben könnte. Sowie er wieder einen besseren Glauben an diesen Menschen zu suchen anfing, fand er auch einen. Der Gärtner sprach weiter:

»Ich hab' dann in dieser Sach' nichts weiter unternommen.« Pepi faltete plötzlich die Hände und bat in heiß fehlenden Tönen:

»Ich bitt' Sie recht schön, zeigen's ihn nicht an. Um Gottes willen bitt' ich Sie. Wenn Sie mich nur ein Bissel gern haben, so zeigen's ihn nicht an. Wenn er wegen mir eingesperrt würd', das könnt' ich gar nicht aushalten. Nicht essen und nicht schlafen und nicht arbeiten könnt' ich dann mehr aus lauter Jammer. Und was täten dann meine arme Mutter und meine Geschwister. Haben's halt ein Erbarmen! Der Anton ist übrigens nicht so schlecht, als Sie glauben.«

Und dann begann der Pepi sogar zu lügen, um den Anton vor Strafe zu schützen: »Ich kenn' den Anton! Wenn's der gemacht hat, so ist's kein Diebstahl. Der hat's aus Spaß getan …«

Der Gärtner hatte Neugierde halber den Pepi so lange reden lassen. Jetzt durchsah er ihn schon ziemlich gut und er sagte:

»Dir kennt man's gleich an, wenn du von der Wahrheit auf die Lüg' übergehst. Aber mich brauchst nicht anlügen. Einsperren will ich ja den Anton ohnehin nicht lassen. Ich halt's dafür, dass er doch noch besser anders als durch den Arrest zu ändern wär'. Ich glaub', wenn der dich kennen tät' und viel mit dir umging, dann wär' er ganz anders als jetzt.«

Pepi küsste den Gärtner in einem heißen Dankbarkeitsgefühl die Hand. »Vergelt Ihnen Gott tausendmal den guten Willen«, sagte er. »Und sobald ich den Anton anders gemacht hab', sag' ich Ihnen's, damit Sie auch eine Freud' haben.«

»So? Willst du ihn richtig anders machen?« fragte der Gärtner freudig staunend.

»Ja«, antwortete Pepi fest und zuversichtlich. »Ich werd's.«

»Wenn du dessen so sicher bist, so will ich dir nichts dreinpatzen«, sagte der alte Mann. »Gott soll dir dabei helfen.«

Dann ging Pepi zu dem Anton hinüber. Auf dem Wege betete er um die Hilfe, die ihm der Gärtner wünschte, und dann entschloss er sich, den Anton nichts davon ahnen zu lassen, dass er ihn nun für den Dieb hielt. Es erschien ihm allerdings als das Richtigste, dem Anton zu sagen: »Ich weiß es, dass du die Rosen genommen hast, aber ich verzeih' dir von Herzen gern'. Und wenn du den Diebstahl bereust und keinen mehr begehen willst, so will ich dich noch lieber haben als zuvor.« Aber seiner Güte widerstrebte es, dem Anton mit dem Eingeständnisse dessen zu erschrecken, was er nun als Neues von ihm wusste. Er war auch höchst neugierig darauf, ob Anton nicht völlig aus Eigenem ein rechtes Empfinden beweisen würde.

Auf dem Lehmgrubenwege trafen die beiden zusammen. Anton wollte eben in die Vorstadt, um zu nachtmahlen.

»Da kommt mein Sittenlehrer, g'rad wo ich wieder ins Wirtshaus gehen will!« rief er und dachte dazu: »Wenn du's wüsstest, du armer Kerl, mit welchem Geld ich ins Wirtshaus will, da tät'st mich wohl nicht so freundlich anschauen.«

Dann fügte er die herzliche Einladung hinzu: »Nachtmahl' mit mir! Ich zahl' heut'. Schlag' mir das nicht ab.« Und dabei dachte er: »Auf die Art könnt'st du dich wenigstens für deine Rosen einmal satt essen.«

Dann zog er den Pepi mit sich, indem er einen Arm um dessen Hüften legte. »In die Vorstadt geh' ich mit dir«, sagte Pepi. »Aber in ein Wirtshaus nicht. Du darfst heut' auch in keines geh'n.«

Den Anton berührte das Verbot zunächst ziemlich unangenehm.

»Ich bin das Nachtmahlen im Wirtshaus schon so gewöhnt«, sagte er. »Wenn ich auf das verzichten müsst', so hätt' ich dann fast gar nichts mehr von meinem Leben.«

Pepi antwortete: »Wenn du auf manches verzichtest, so wirst du mehr von deinem Leben haben als so.« Er legte nun seine Hände dem Anton auf die Schultern, sah ihm voll in die Augen und bat: »Fang' heut' zum Sparen an, Anton. Wenn du's schon nicht aus anderen Gründen tun willst, so tu's mir zulieb. Ich weiß da in der Näh' ein Geschäft, dort kriegst du so viel als du zum Sattessen brauchst, billiger als in einem Wirtshaus das kleinste Nachtmahl. Jetzt kaufst du halt einem in diesem Geschäft. Dann nachtmahlst du, weil heut der Abend so schön ist, irgendwo auf der Wiese in der besseren Luft und hernach gehst du heim und legst dich schlafen. Wenn du mir folgst, so machst du mir eine Freude, die ich dir gar nicht beschreiben kann. Gelt, du folgst mir?«

Die innige Eindringlichkeit Pepis stimmte den Anton sehr stark um.

Er hätte sich nun selbst Gewalt antun müssen, um gegen den Pepi unwillfährig sein zu können. Ihm wurde jetzt ein freundliches Gehorchen leicht und lieber, weil er sah, dass sein Freund damit mächtig zu beglücken war.

»Aus eigenem Antrieb tät' ich überhaupt gar nimmer sparen und entbehren«, erklärte er aufrichtig. »Aber ich folg' dir gern', weil ich seh', dass dir damit eine gar so große Freud' zu machen ist.«

In dem besagten Geschäft kaufte er vor den Augen seines Freundes für sechzig Heller Käsebrot.

Dann gingen die beiden weiter gegen die Lehmgrube hin.

Als sie zu einem Wiesenbrunnen kamen, sagte Pepi: »Da kannst du jetzt nachtmahlen, und ich geh' nach Haus.«

Sie nahmen herzlich Abschied.

Anton wurde von dem Käsebrot wahrhaftig satt und löschte seinen Durst recht wohl mit Brunnenwaser. Dann bekam er freilich wieder die Sehnsucht nach dem gewohnten Wirtshause. Aber er fühlte es deutlich, dass er diesmal der Versuchung widerstehen konnte, wenn er fortwährend an den Pepi dachte.

Er stellte sich das liebe Bubengesichtchen vor, wie es ihn heute liebevoll und flehend angesehen hatte.

Hernach brauchte er sich gar keine Mühe zu geben, damit ihm dieses Bild vor den Augen blieb, es schwebte ihm zu seiner Freude wie von selbst vor, und es bat ihn förmlich immerzu: »Folg' mir, wenn du mich glücklich sehen willst. Folg' mir.«

»Ja, ich folg' dir heut', mein lieber Pepi«, sagte Anton. »Es wär' doch gar zu schändlich von mir, wenn ich heut' mit dem, was ich doch dir abgestohlen hab', lumpen ginge, während du daran glauben tät'st, dass ich dir zulieb schlafen gangen bin. Gar so schlecht bin ich nicht, dass ich dich gar so niederträchtig täuschen möcht'. Aus Hunger und Not hab' ich dich bestohlen und betrogen, aber aus Übermut betrüg' ich dich wenigstens nicht.«

Er begab sich mit fast feierlicher Miene in seine Schlafscheune.

Es machte ihn stolz, dass er heute trotz der Lockungen des Lumpenlebens imstande war, rechtzeitig zu Bette zu gehen.

Er hatte eine ganz nette Freude an sich selbst. Als er etliche Minuten auf seinem Kotzen lag, schallte aus dem Wirtshausgarten Walzermusik zu ihm herüber.

»Spielt nur«, murmelte er. »Ich könnt heut bei den schönsten Tänzen nicht froh werden, wenn ich dem guten Buben nicht gefolgt hätt. Nicht leicht was könnt' mich so viel freuen, als dass ich ihm heut' so eine Freud gemacht hab.«

Dann musste er freilich daran denken, dass sich der Pepi kaum irgendwie über ihn zu freuen vermöchte, wenn über den Rosendiebstahl die gehörige Aufklärung vorläge. Diesen ihm unangenehmen Gedanken schlug er sich aus dem Kopfe, und dann schlief er ein.

Pepi hatte unterdessen gar nicht daran gezweifelt, dass sich Anton über den Rest dieses Tages brav verhalten würde. Er ahnte im Hauptsächlichsten, wie sich Anton von ihm bewegt fühlen würde.

Und er war durch dieses Ahnen fein beseligt und hoffte es sicher, dass er den Anton zu einem ganz guten Menschen machen würde.

Bei all seiner Bescheidenheit trug er das sichere Bewusstsein, dass er dem Ziegelschläger aus dessen seelischen Mängeln gar schön empor zu helfen vermochte. Seine Mutter war zuerst nicht recht damit einverstanden, dass er heute später als sonst nach Hause kam. Nachdem er ihr etwas von dem geglückten Besserungsanfange erzählt hatte, sprach sie: »Du kannst ihn nicht jeden Tag so wie heut' veranlassen, dass er auf der Wiese nachtmahlt. Aber er kann öfter mit seinem Nachtmahl zu uns kommen und kann's an unserem Tisch essen. Zu unserer Schüssel können wir ihn leider nicht einladen. Aber hie und da können wir ihn um einen billigen Preis mitessen lassen.«

Das leuchtete dem Pepi wohl ein.

Anton ging am nächsten Abend gerne mit Pepi zu dessen Lieben.

»Weil's dir ein Vergnügen macht, dass ich mitgeh', so macht's mir auch eins«, sagte er.

Dann wurde er bei den guten Leuten schon an diesem Abende so heimisch wie seit seinem Wiener Aufenthalt noch gar nirgends.

Bei den Eindrücken, welche er dann nach Hause trug, verzichtete er auch diesmal auf den Wirtshausbesuch.

Er hatte es dem Pepi fest versprechen müssen, dass er morgen wiederkommen würde.

Aber er hielt dieses Versprechen nicht.

Als er an diesem Abend die Lehmgrube verließ, war es ihm so, als ob er nicht erst seit zwei Tagen, sondern seit langen Wochen auf gewohnte Lebensgenüsse verzichtet hätte. Es hungerte und dürstete ihn auf eine Art, die ihm nicht anders als mit Braten und Bier stillbar erschien, und er fühlte sich von völlig neuen Reizen und Zaubern nach allerlei Orten gezogen, auf welchen er sich sonst zu vergnügen pflegte.

Er konnte diesmal der Versuchung nicht widerstehen, wenn er sich seinen guten Freund auch wie immer in das Gedächtnis rief.

»Wenn der Pepi allweil bei mir wär'«, sagte er sich, »dann könnt er mich auch allweil beherrschen. Aber sobald ich allein bin, kann ich mich doch unmöglich erwehren, wenn ein solches Gelüst über mich kommt wie jetzt. Er wird sich halt damit begnügen müssen, dass ich nur bei ihm ganz brav bin.«

In der nun folgenden Nacht vertat Anton das ganze Geld, welches ihm noch von dem Rosenverkaufe übrig geblieben war. Am anderen Tage war er zunächst wieder so stumpf und gedankenscheu wie nur je, aber dann regte ihn ein Brief, den er von seiner Mutter bekam, mächtig auf.

Die arme, alte Frau verfluchte ihn, weil er ihr trotz all der vorherigen Bitten und Beschwörungen die Armut nicht linderte.

Er war von diesem Schreiben wirklich tief erschüttert und verzweifelte daran, dass er sich mit seinen bewährten Trostmitteln alsbald beruhigen können werde.

Mit guten Vorsätzen vermochte er sich jetzt auch nicht mehr zu trösten, weil er sich ja ihrer Ausführung nicht mehr fähig hielt.

Sein Mitleid für die arme Mutter und sein Schuldbewusstsein wurden noch niemals so nachhaltig als durch diesen Brief erweckt.

Er glaubte auch kaum daran, dass es ihm heute Abend bei dem Pepi leichter werden könnte.

Zu Mittag bat er seinen Brotherren um zwei Kronen, die er auch erhielt.

Ein Mittagessen kaufte er sich aber diesmal nicht. Er fastete aber nicht vielleicht aus Bußfertigkeit.

Sein Magen, den er gestern zu sehr überladen hatte, nahm nun nichts an.

Nachmittags bekam er Durst, und da fasste er den Vorsatz, sich am Abend mit Bier zu betäuben. Als er aber aus der Grube ging, kam ihm Pepi entgegen. Bei dem Anblick des guten Jungen empfand Anton nun doch eine Freude.

»Du bleibst mir über alles, was ich dir antu' getreu«, sagte er gerührt. »Und so ist's auch ganz recht, du musst mir immer und immer wieder verzeihen können.«

Dann fing er zu weinen an.

»Was ist's denn?« rief Pepi erschreckt.

»Meine Mutter …«, schluchzte Anton. »Es geht ihr gar so schlecht. Sie ist krank und hat kaum ein gutes Hemd und eine warme Zudecke. Und ich – ich kann ihr nicht helfen, werd' ihr niemals helfen können – bin zu schlecht dazu – kann nimmer anders werden, da wär' schon jeder Vorsatz umsonst.«

Pepi las den Brief und dann sagte er:

»Es ist ein Glück, dass jetzt alle meine Nelken und Reseden aufgeblüht sind. Ich hab' mir gedacht: Morgen schneid' ich sie. Aber wir pflücken s' heut. Und dann verkaufen wir s' schnell. Ich weiß schon einen Kaufmann. Der Gärtner selber kauft mir s' ab und zahlt mir s' besser als jeder andere. Wir schicken das Geld, das ich krieg', noch heut' an deine Mutter. Aus der allerärgsten Not ist ihr dann geholfen. Drum wein' jetzt nimmer. Komm! Du musst mir Blumen schneiden helfen! Wir müssen uns tummeln. Vor 8 Uhr müssen wir drüben auf der Westbahnpost das Geld aufgeben, sonst geht es heut nimmer ab.«

Er wollte den Anton fortziehen, aber dieser schien nun nicht gehen zu können. Er stand blass und zitternd da, es schwindelte ihm vor Überraschung und Staunen. »Ist denn so was menschenmöglich?« stammelte er. »So was wärst du imstande? Wo du doch selber so arm bist …«

»Ich begreif's nicht, dass du dich da so groß wunderst«, sagte Pepi. »Es ist doch selbstverständlich, dass ich jetzt deiner Mutter mit Freuden ein Bissel helf'.«

»Selbstverständlich?« wiederholte Anton. »So was Großmächtig's selbstverständlich?«

Und während er dann mit einer innigen Bewunderung auf Pepi und mit einer zerknirschungsvollen Abscheu in sich selbst sah, rief er:

»Wenn das so selbstverständlich ist, dass Menschen so handeln wie du – dann bin ja ich in meiner Erbärmlichkeit überhaupt kein Mensch mehr.«

Dann fügte er heiß leidenschaftlich hinzu: »Aber jetzt will ich einer werden! Ich schwör' dir's, Pepi, dass ich jetzt auch ein Mensch werd'! Schon allein aus Grausen vor mir selber könnt' ich nimmer länger der Alte bleiben, wo ich's jetzt seh', wie du bist, und wie ein Mensch sein soll.« Sie liefen Hand in Hand zu dem Blumenbeete.

Obwohl Anton darüber glücklich war, dass seine Mutter einer Unterstützung teilhaftig werden sollte, schnitt er doch die Blumen mit einem gewissen Schmerze ab. Es tat ihm jetzt unendlich leid, dass er an diesem Menschen, der ihn wie noch keiner von Schmerzen befreit und zum Rechten entflammt hatte, zum Diebe geworden war. Sie hatten noch kaum die Hälfte der Nelken abgeschnitten, als der Gärtner zu ihnen kam. In einer Weise, die den Anton nicht verletzte, ließ Pepi den Alten wissen, wozu sie heute noch Geld brauchten. Da überzählte der Gärtner die Blumen. Er gab dem Pepi fünfzig Kronen, und dann drängte er:

»Lauft nur zur Post, damit das Geld noch heut' abgeht. Ich schaff' mir die Blumen selber ins Haus.«

Eine Stunde nachher hatten sie die fünfzig Kronen der Post übergeben und gingen im Abendgrauen durch die Vorstadt. Anton war auf dem Wege ziemlich schweigsam. Seine freudige Stimmung dauerte wohl fort, aber er fühlte sich dennoch der Güte seines Freundes um desto mehr unwert, je länger er nachdachte. »Wenn er's gewusst hätt', dass der Dieb ich bin, so hätt' er ja die Wohltat an mir und meiner Mutter auf keinen Fall vollbracht«, dachte er. »Und drum hab' ich ihn jetzt auch aufs Neue groß betrogen, weil ich die Wohltat angenommen habe. Wenn ich den Diebstahl nicht begangen hätte, dann könnte mir alles vollständig recht sein, was er für mich getan hat, und dann könnte mit mir alles schön und gut ausgehen, denn meine guten Vorsätze führ' ich ja jetzt auch aus, wo er mir eine so große Lust dazu gemacht hat und ein'n solchen Grausen vor meiner Schlechtigkeit. Aber dass ich ihn bestohlen und betrogen hab', das ist nimmer gut zu machen. Eingestehen kann ich ihm's nicht, weil er mich ja dann doch bei all' seiner Güt' nimmer gern haben könnt'. Ich könnt' ihn aber gar nimmer verschmerzen, so gern hab' ich ihn jetzt schon und so viel brauch' ich ihn mit meiner ganzen Seel'. So werd' ich mich halt vor ihm immerzu so stellen müssen, als ob ich mein Lebtag zu so einem Diebstahl tausendmal zu brav gewesen wär'. Mit dieser immerwährenden Lug und Heuchelei muss ich mir ihn gut erhalten. Drum kann zwischen uns nimmer das ganz Rechte werden. Das ist gar schad. Wie schön wär's, wenn ich die Rosen nicht gestohlen hätt'! Ganz glücklich wär' ich, wenn ich zu dem guten Buben, der ja gar keine Falschheit verdient, ganz offen und aufrichtig sein könnt'.«

Er hätte nun wahrhaftig über seinen Diebstahl weinen mögen. Die Augen wurden ihm tatsächlich nass, soviel er dagegen ankämpfte.

»Dir passt was nicht«, sagte Pepi. »Red' dich doch aus.«

Der Ziegelschläger antwortete:

»Mir passt nur das nicht, dass ich das gar so wenig verdien', was du für mich tust. Ich bin ja so schlecht …«

Im Anschlusse an diese Worte glaubte er die Tränen, welche er so schwer zurückhielt, fließen lassen zu dürfen.

Sie waren nun gerade in einem kleinen, dunklen Park angekommen. Anton setzte sich auf eine Bank, zog den Pepi zu sich nieder, lehnte sich an dessen Schulter und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Pepi erriet es wohl, dass seinen Freund hauptsächlich die Reue quälte. Zunächst freute er sich über den wohlgebührlichen Schmerz Antons. Aber dann erbarmte ihm der Weinende alsbald so sehr, dass er ihm gerne alsogleich über die Reuepein hinweggeholfen hätte. Ein Weilchen glaubte er, dass Anton den Diebstahl gestehen würde. Er machte sich dazu bereit, diesem Geständnis so viel als möglich das Peinliche zu nehmen. Dann sah er, dass sich Anton nicht auszusprechen wagte. Kurzhin dachte Pepi nach, wie er diesem Leiden des Ziegelschlägers ein Ende machen könnte, und dann sagte er:

»Du dürf'st noch viel schlecher sein, als du bist, und stünd'st mir dann doch noch für weit mehr, als ich für dich getan hab'. Du weißt nicht, was ich dir alles verzeihen könnt'.«

Anton stutzte und sah den Pepi von der Seite forschend an. Pepi wendete ihm voll das Gesicht zu, legte die Arme um seinen Hals und sagt mit einem lieben, begütigenden Lächeln:

»Frag' doch einmal, was ich dir alles verzeihen könnt'!«

Da erzitterte Anton bei der Ahnung, welche ihn durchfuhr, so stark, dass es der Pepi deutlich fühlte.

»Erschreck doch nicht!« bat der Kohlenausträger in einem milden Tone, »ich will dir doch nicht ein Bissel weh tun, Anton. Halt' mich doch wirklich für gut. Irr' dich nicht an mir, sonst tust du mir weh. Ich möcht' dich nur von dieser Reu' erlösen, die doch nicht mehr nötig ist, weil du ja schon ein anderer Mensch bist …«

Anton wusste nicht, ob er das alles richtig verstand, was ihm aus den Worten und Blicken Pepis klar werden wollte. Die ängstliche und hoffnungsvolle Erwartung verlegte ihm den Atem, so dass er nur mit Mühe fragen konnte:

»Weißt du – wie ich dich versteh'?«

»Ja, ja«, beruhigte Pepi. »Glaub's mir nur, dass ich über das, was durch meine Rosen zustand' gekommen ist, noch glücklicher bin, als ich's wär', wenn ich meiner Mutter ein Bett schaffen könnt'. Ein Bett wird sie ja gewiss noch auf irgendeine Weis' kriegen. Ob sich aber dein Sinn so schön verkehrt hätt', wenn die Rosen nicht gewesen wären – das weiß man nicht. – Ja, glaub's nur, dass du mich recht verstehst, Anton, und dass ich dich jetzt erst recht gern hab'!«

Anton konnte nicht gleich etwas antworten. Er staunte so groß und freudig wie noch nie in seinem Leben. Es ging ein Menschenglauben in ihm auf, dessen Möglichkeit er kaum jemals geahnt hatte.

Dann fühlte er sich auch gleich so beglückt und befreit und erhoben, wie das Pepi haben wollte. Dabei wurde es ihm gewiss, dass er wahrhaftig besser werden müsste, nachdem an ihm so viel Gutes geschehen war.

Eine Weile drückte er sein Gesicht an die Schulter des Freundes. Dann sagte er:

»Was ich jetzt g'spür, das vergess' ich nimmer, weil's viel zu schön ist, als dass ich's noch vergessen möcht'. Wer einmal so was g'spürt hat, dem bleibt dann g'wiss so viel G'schmack an einem besseren Glück, dass er seine Zerstreuungen nimmer dort suchen mag, wo ich's g'sucht hab. Und Stehlen werd' ich auch g'rad deswegen mein Lebtag nimmer – weil sich mein erster Diebstahl so schön ausgangen hat.«

*

Anton hatte mit diesen Worten nicht zu viel gesagt. Es waren von diesem Tage an eine neue, feinere Lebenslust und ein neues, besseres Wollen in ihm. Er wurde durch die Güte des armen Kohlenausträgers zum Fähnlein der Guten und Rechtwilligen angeworben. Ehe auf dem kleinen Blumenbeete wieder Rosen blühten, vollbrachte Anton als ein Angehöriger jenes Fähnleins seine erste, große Tat: er kaufte von den Ersparnissen seiner Arbeit der Mutter des Kohlenausträgers ein wunderschönes Federbett.


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