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Auf der Menschensuche

(vom Verfasser in der Jugend geschrieben)

Der junge Mensch wusste erst nicht, was er mit so viel Glück anfangen sollte. Bisher glaubte er sich so eine helle Freude zwar annähernd vorstellen zu können, wie er sich aber benehmen würde, wenn sie ihm einmal ausnahmsweise zuteilwerden sollte, darüber war er nie im Klaren. Jetzt saß ihm der kaum mehr erwartete, wonnige Gast plötzlich im Herzen, und der gute Klothar schalt dasselbe ebenso ernsthaft zu klein, als er es vorher für zu groß hielt. Bei den bisherigen Ereignissen seines Lebens war ihm notgedrungen nichts so geläufig geworden als das Weinen. Deshalb vermochte Klothar auch dem neu erscheinenden, herrlichen Gefühl zunächst mit nichts Besserem als mit Tränen aufzuwarten. Endlich kam ihm seine stets ziemlich verlässliche Logik zu Hilfe und riet ihm zur Verschenkung des gar zu überflüssigen Herzensinhaltes.

»Ja, verschenken, teilen«, wiederholte sich Klothar in immer inniger werdendem Einverständnisse und warf auch einen Blick auf die fünf Hundertmarkscheine. Die letzteren bildeten nämlich das Honorar für den ersten »großen« Roman, den materiellen Teil des jungen Glückes. »Teilen!« tönte es voll Inbrunst und Übermacht in der Dichterseele. Dann wurde Klothar nachdenklich. »Mit wem teilen?« hieß die Frage. »Mit der ganzen Welt!« schrie das Herz, welches sich dazu übrigens nicht zum ersten Male reich genug fühlte.

Klothar hatte längst über dieses Herz lächeln gelernt, und er kannte die Welt, welche wohl ohne Weiteres die eine Honorarhälfte nahm, sich jedoch bei der Verschenkung der übrigen Reichtumshälfte voraussichtlich wieder viel zu sehr nötigen ließ.

Klothar sann, ob er keinen lieben Menschen kenne, zu dem er ungescheut mit seiner Seligkeit laufen durfte: Brauchst Du etwas, mein Freund? Ich bin so reich, so glücklich! Bist Du nicht arm? Kann ich Dir nicht helfen? Aber es gab keinen Menschen, zu dem er sich getraute. Die der arme, einsame Federheld kannte, hatten ihn bisher als einen, der nicht unter die Leute taugt, verhöhnt und verachtet.

Er wollte sich nicht noch einem größeren Hohne dieser Bekannten preisgeben, indem er ihnen seine neuesten Gefühle offenbarte. Der Arme hatte keinen Menschen, zu dem er gehen konnte. Selbst in der größten Not sehnte er sich niemals so unaussprechlich nach einem Freund wie jetzt im Glück. Darum war es gewiss kein Wunder, dass er nun wieder eine Weile stille vor sich hin weinte. Das Glück ließ sich damit nicht vertreiben, es drängte Klothar zu einem kühnen Entschlusse. Er war plötzlich bereit, so einen Menschen zu suchen, den er glücklich machen konnte. Auch erfüllte ihn die hierzu nötige Zuversicht, ohne dass er wusste, wo er dieselbe mit einem Male hergenommen habe.

»Vermutlich ist diese Zuversicht mit einer jener noch unenträtselten, untrüglichen Glücksahnungen eins, welche manchmal zartbesaitete Menschen zu Hellsehern machen«, beredete sich Klothar und verließ mit hochschwellender Brust sein armseliges Mansardenstübchen. Die fünf Hundertmarkscheine nahm er für alle Fälle mit, dafür vergaß er seines Überziehers, welcher ihm heute ohnedies zu warm gemacht hätte, so kalt es auch war. Als er zufällig einmal einen Blick an der schlanken Gestalt hinab gleiten ließ und des verschlissenen Röckleins gewahr wurde, befand er sich längst im Straßengetriebe der Stadt.

Obwohl es ihm weniger gleichgültig als nur jemals war, wofür man ihn ansah, schämte er sich doch nicht wie sonst seines Röckleins, denn daran mochte man ihn ja erkennen, dass er mit so glückstrahlendem Gesichte so dürftig gekleidet ging. Selbstverständlich meinte er auch den bewussten Freund zuvörderst unter der geringer angezogenen Klasse suchen zu müssen, und begab sich in ein von der ärmeren Bevölkerung bewohntes Stadtviertel. Aber es schien lange niemand den gewünschten Eindruck von ihm zu gewinnen. Hingegen geschah es, dass mancher, dem er, um beachtet zu werden, angelegentlich in das Gesicht sah, darüber anstatt in angenehme Verwunderung, in abschreckenden Ärger geriet.

Ein sehr intelligent und hungrig aussehender Bursche, dem er eine liebevoll entgegenkommende Miene zeigte, brummte ein beleidigendes Schimpfwort, und ein zweiter streckte neckisch die Zunge heraus. Klothar trat in ein Gotteshaus und spähte in dessen dunklen Ecken nach Unglücklichen. Hinter einem Pfeiler kniete betend und weinend ein hübscher, junger Mensch.

Klothar war es zu Mute, als ob die Zuversicht, mit welcher er ausging, nun gleich der Nadel des Kompasses mit aller Entschlossenheit auf den weinenden Jüngling zeigte: »Du gingst recht, Klothar! Der ist's!« Ohne sich noch anders helfen zu können, fiel Klothar unweit des jungen Menschen auf die Knie und betete unter heiß hervorquellenden Tränen:

»O Herr, lasse es doch wahr sein! Lasse mich heute einen Menschen finden!«

In der Angst, dass ihm der Jüngling entkommen könnte, stand er alsbald wieder auf, aber da legte ihm dieser auch schon die Hand auf die Schulter und sah ihm warm und lieblich wie der menschgewordene Maien ins Gesicht.

»Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit. Sie sind unglücklich, nicht wahr?«

Der gute Klothar wusste nun kaum, was er antwortete:

»Ja – nein – das heißt, ich war's. Aber jetzt, seit ich – ja, seit ich Sie sehe …«

Der andere schüttelte den Kopf, war aber auch von der freudigsten Überraschung überwältigt. Er nahm Klothar am Arme und führte ihn vor die Kirchentüre. Draußen sagte er:

»Ich betete eben zu Gott, er möchte mir doch einen Menschen weisen, der es verdiente, dass ich ihm etwas von der überflüssig großen Erbschaft, die mir kürzlich zufiel, mitteilte – und ich will auch gleich meinen Egoismus eingestehen – der mich auch liebte dann. Da sah ich plötzlich Sie und Ihre Tränen, fühlte mich mit eigentümlicher Gewalt angezogen, hörte Sie die ganz wundersamen Worte sagen – nicht wahr, Sie sind arm? Sie gehen mit mir. Ich heiße Edmund S., bin Studierender der Medizin und habe niemanden, seit mir nun auch die Tante starb, von der die Erbschaft kam. Bisher war ich etwas menschenscheu – das machte die Armut, aber jetzt brauche ich einen Freund und lasse nicht mehr von Ihnen.«

Klothar besaß nun nicht gleich das Herz, dem anderen, der so selig war, an ihm einen Armen zu finden, seinen eigenen Reichtum zu gestehen. Übrigens hatte er ja den Zweck seines Ausganges auch so im vollsten Maße erreicht. Voll Entzücken über ihre gegenseitige, ihnen höchst merkwürdig erscheinende Entdeckung, durchstreiften die beiden schwärmerischen Jünglinge unter überschwänglichen Gesprächen die Stadt und gingen endlich im Anschlusse an ein lebhaft behandeltes Thema über die Armut – in eine von Menschen überfüllte Wärmestube.

»Wie denken Sie, mein Freund«, sprach dort Edmund zu Klothar, »wäre es nicht unvernünftig, wenn ich jetzt das Bargeld, welches ich mit mir trage, einem Armen schenken würde, bloß weil mir sein Gesicht gefällt oder weil ich mich aus Gefallsucht so einem Menschen unvergesslich machen möchte?«

»Gewiss«, entgegnete Klothar ernsthaft. »Richtig genommen – würden Sie sich damit gegen die Armut versündigen.«

»Ganz richtig«, sagte Edmund von der edlen Anschauung Klothars gerührt. »Früher wäre ich gewiss oft ein derartiger zweifelhafter Wohltäter geworden, wenn es mir nämlich die Mittel erlaubt hätten, aber jetzt bin ich besser, oder sagen wir, gescheiter. Ach«, setzte er dann mit leuchtenden Augen hinzu, »wie glücklich bin ich, Sie gefunden zu haben. Es ist kein Zweifel – Sie hat mir Gotte geschickt!«

»Und Sie mir«, erwiderte Klothar voll der herzlichsten Überzeugung. Gleichzeitig fiel Klothar ein engelschönes, blondes Mädchen auf, welches unweit im Menschengedränge stehend, an einer harten Brotkrume nagte.

Der Hungerblick des zarten Wesens, welches noch dazu in einem defekten Seidenbrokatkleide und einem dereinst sehr wertvoll gewesenen Spitzentuche ganz wie ein herabgekommenes Herrenkind aussah, schnitt Klothar jäh in das Herz.

Er meinte unmöglich fortgehen zu können, ohne der Unglücklichen nicht wenigstens einen seiner fünf Hundertmarkscheine in die Hand gedrückt zu haben. Um ihres Gesichtes oder um ihrer Gefallsucht willen, wollte er es gewiss nicht tun. Sie erbarmte ihn recht ehrlich.

Ohne seinem gewaltigen Herzenstriebe Widerstand leisten zu können, nestelte er einen der Hundertmarkscheine von den anderen los. Dann sah er scheu nach Edmund, welcher von ihm zufällig durch das Menschengewühl entfernt worden war und interessiert nach einer anderen Richtung des Saales blickte.

»Hier! Nicht danken!« flüsterte Klothar angstvoll, hastig und drückte dem Mädchen den Hundertmarkschein in die Hand. Hätte ihm die Beschenkte gehorcht, so wäre ihm Edmund nicht hinter die Tat gekommen.

Aber das Mädchen ließ sich nicht abhalten, Klothar voll heißer Dankbarkeit die Hand zu küssen und ein über das andere Mal zu stammeln:

»Ach, so viel! Hundert Mark! So viel!«

Edmund sah und hörte dieses mit nicht geringem Befremden und einer furchtbar wachsenden Enttäuschung über seinen äußert verlegen dastehenden Freund. Überdies fing die Schöne mit einem seltsam glühenden Blick in das Gesicht ihres Beglückten noch einmal an: »Ach, das kann ich ja nicht so annehmen. Es ist zu viel, nicht wahr, sie wollen mich wiedersehen? Ach! Ihre Adresse!«

Der arme, gute Klothar war einer Ohnmacht nahe, es flirrte ihm grün und rot vor den Augen. Er fühlte sich noch niemals so furchtbar blamiert. Es entstand eine peinliche Pause, während welcher ihm Edmund die Bestätigung des hässlichen Verdachtes deutlich vom Gesichte lesen zu meinen glaubte. Und Klothar war unglücklicher Weise nicht fähig, sich irgendwie zu verteidigen.

»Es tut mir leid, Sie überrascht zu haben«, hörte er Edmund in ungemein bitterem, verächtlichem Tone sagen. »Einesteils muss ich freilich den Zufall preisen, der mich so früh zwingt, Sie aufzugeben. Ich hätte Sie sonst bald viel zu ernst genommen, Klothar. Leben Sie wohl!«

An allen Guten und Ehrlichen verzweifelnd, stürzte Edmund fort; Klothar wollte ihm nach. Aber das Mädchen hing sich an ihn und flüsterte ihm Schmeichelworte in das Ohr, die ihn erst nachträglich, als er ihren Sinn begriff, auf das Tiefste empörten. Er riss sich von ihr los und stürzte Edmund nach.

Aber er vermochte ihn nicht einzuholen und gab, mit sich und der Welt zerfallen, die Verfolgung auf. Den Rest des Tages saß Klothar in seinem Stübchen und weinte. Hernach suchte er lange seinen irrenden, misstrauischen Freund. Der schien jedoch aus Stadt und Land verschwunden. Jenes Mädchen sah er in kurzer Zeit nach dem Vorgefallenen wieder. Es hatte sich mit den hundert Mark aufgeholfen und fuhr mit einem Herrn in einem Zweispänner nach einem Vergnügungslokale. Im Vorüberfahren an Klothar legte sie schelmisch ihren Daumen an das Näschen.


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