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IV

Um halb drei erwachte er, zu einer Stunde also, die, wie er aus langer Erfahrung wußte, jeden peinlichen Gedanken zu schrecklicher Intensität steigerte. Die Erfahrung hatte ihn auch gelehrt, daß sich, wenn er danach zur richtigen Stunde, um acht Uhr erwachte, seine heftige Angst als töricht erweisen würde. Der Gedanke, der an diesem besonderen Morgen rasch an Bedeutung zunahm, war der: Wenn er nun krank würde, was bei seinem Alter ja nicht unwahrscheinlich war, dann könnte er sie nicht mehr sehen. Und unmittelbar darauf ward es ihm klar, daß er ja auch schon von ihr abgeschnitten würde, sobald sein Sohn und June von Spanien zurückkämen. Wie konnte er den Wunsch nach der Gesellschaft einer Frau rechtfertigen, die June – den Bräutigam gestohlen hatte? – am frühen Morgen nimmt man's mit den Worten nicht so genau. Dieser Bräutigam war allerdings tot; aber June war ein halsstarriges, kleines Ding; warmherzig, aber zäh wie ein Stück Leder und – das stimmte ganz gewiß – eine, die nicht vergessen konnte! Um die Mitte des nächsten Monats würden sie wieder zurück sein. Es blieben ihm kaum fünf Wochen übrig, um sich des neuen Interesses zu erfreuen, das in sein Leben, eigentlich vielmehr in das, was ihm vom Leben noch geblieben, getreten war. Die Dunkelheit ließ ihn die Natur seines Gefühls geradezu lächerlich klar erkennen. Bewunderung der Schönheit – eine Sehnsucht, die Freude seiner Augen zu schauen. Widersinnig, bei seinem Alter! Und dennoch – welchen andern Grund hatte er, von June zu verlangen, daß sie so schmerzliche Erinnerungen wieder aufrühren sollte, und wie sollte er es verhindern, daß sein Sohn und dessen Frau ihn sehr sonderbar finden würden? Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als hie und da heimlich nach London zu fahren, was ihn ermüdete; und das geringste Unwohlsein würde ihm auch dies unmöglich machen. Er lag mit offenen Augen, wehrte sich gegen diese Zukunftsbilder und nannte sich einen alten Narren, während sein Herz laut schlug und dann wieder ganz stillzustehen schien. Er sah noch die Dämmerung durch die Ritzen der Jalousien schimmern, hörte die Vögel piepsen und zwitschern und die Hähne krähen, ehe er wieder einschlief; danach erwachte er müde, aber gesund. Noch fünf Wochen, ehe er sich den Kopf zu zerbrechen brauchte, bei seinem Alter eine Ewigkeit! Aber die heftige Angst jener frühen Morgenstunde hatte ihre Spuren zurückgelassen, er, der immer seinen Kopf durchgesetzt hatte, fühlte sich wie von einem leichten Fieber getrieben. Er würde sie so oft treffen, als es ihm gefiel! Warum sollte er nicht in die Stadt fahren und das Kodizill bei seinem Anwalt selbst beifügen, statt ihm zu schreiben? Vielleicht würde sie gerne in die Oper gehen! Diesmal aber würde er die Bahn benützen, dieser dicke Kerl, der Beacon, sollte nicht hinter seinem Rücken grinsen! Diener waren ja solche Dummköpfe und höchstwahrscheinlich kannten sie alle die alte Geschichte von Irene und dem jungen Bosinney – Dienstleute wußten alles und was sie nicht wußten, vermuteten sie. An jenem Morgen schrieb er ihr:

›Meine liebe Irene!

Ich muß morgen in die Stadt fahren. Wenn Du gerne auf einen Akt in die Oper gehen möchtest, diniere mit mir in einem ruhigen Restaurant ...‹

Aber wo? Es war schon eine Ewigkeit her, seit er in London irgendwo anders diniert hatte als in seinem Klub oder in einem Privathaus. Ah! Da war dieses neumodische Hotel in der Nähe von Covent Garden ...

›Sende mir morgen früh eine Zeile in das Piedmont Hotel, ob ich Dich dort um sieben Uhr erwarten darf.

Dein Dich liebender
Jolyon Forsyte.‹

Sie würde begreifen, daß er ihr nur gerade eine kleine Freude bereiten wolle; denn der Gedanke, daß sie erraten könnte, wie sehr er sich nach ihrem Anblick sehnte, war ihm instinktiv unangenehm; es ziemte sich nicht, in seinem Alter vom gewöhnlichen Wege abzuweichen, um Schönheit zu bewundern, noch dazu die Schönheit einer Frau.

Die Fahrt am nächsten Tage, obgleich sie sehr kurz war, und der Besuch bei seinem Anwalt ermüdeten ihn sehr. Überdies war es heiß, und nachdem er sich zum Dinner umgekleidet hatte, mußte er sich auf dem Sofa in seinem Schlafzimmer ein wenig ausruhen. Er mußte einen leichten Ohnmachtsanfall gehabt haben, denn als er wieder zu sich kam, fühlte er sich recht sonderbar; mit einiger Mühe erhob er sich und klingelte. Oho, es war schon sieben vorbei! Und er war noch immer hier oben und sie würde warten. Plötzlich aber erfaßte ihn von neuem ein Schwindel, und er war genötigt, sich wieder auf das Sofa sinken zu lassen. Er hörte die Stimme des Stubenmädchens:

»Haben Sie geklingelt, gnädiger Herr?«

»Jawohl, treten Sie näher!« Er konnte sie nicht deutlich sehen, vor seinen Augen wogte ein Nebel. »Ich fühle mich nicht wohl, ich brauche etwas Riechsalz.«

»Ja, gnädiger Herr.« Ihre Stimme klang erschreckt.

Der alte Jolyon machte eine Anstrengung.

»Warten Sie noch einen Augenblick! Sie müssen meiner Nichte eine Botschaft ausrichten – einer Dame, die in der Halle wartet – einer Dame in Grau. Sagen Sie, Mr. Forsyte ist nicht ganz wohl – die Hitze. Er bedauert sehr; wenn er nicht bald hinunterkommt, soll sie nicht mit dem Dinner warten.«

Als das Mädchen gegangen war, fühlte er sich schwach und dachte: ›Warum habe ich gesagt: eine Dame in Grau? Sie kann ja irgend eine andere Farbe tragen! Riechsalz!‹ Obgleich er nicht mehr ohnmächtig wurde, bemerkte er doch nicht, wie Irene hereinkam und auf ihn zutrat, Riechsalz unter seine Nase hielt und ein Kissen unter seinen Kopf schob. Er hörte sie ängstlich fragen: »Lieber Onkel Jolyon, was fehlt dir?« fühlte undeutlich den sanften Druck ihrer Lippen auf seiner Hand, atmete dann tief das Riechsalz ein, spürte plötzlich seine Wirkung und mußte niesen.

»Ha!« sagte er, »es ist gar nichts. Wie bist du heraufgekommen? Geh doch dinieren – die Karten liegen auf dem Ankleidetisch. In einer Minute werde ich wieder ganz munter sein.«

Er fühlte ihre kühle Hand auf seiner Stirn, roch Veilchen und schwankte zwischen einem Gefühl des angenehmen Sichgehenlassens und dem Willen, wieder gesund zu sein.

»Na also! Du bist doch in Grau!« sagte er. »Hilf mir auf!« Als er wieder auf den Füßen stand, gab er sich einen Ruck.

»Was ist mir nur eingefallen, ohnmächtig zu werden!« Und er ging langsam auf den Spiegel zu. Wahrhaftig, das Gesicht einer Leiche. Er vernahm ihre Stimme nur leise hinter sich:

»Du darfst nicht hinuntergehn, Onkel. Du mußt ausruhn.«

»Unsinn! Ein Glas Champagner wird mir schon wieder auf die Beine helfen. Du darfst meinetwegen die Oper nicht versäumen.«

Aber schon der Weg durch den Gang war mühselig. Was in diesen neumodischen Hotels nur für Teppiche lagen, so dick, daß man bei jedem Schritt darüber strauchelte! Im Fahrstuhl bemerkte er ihren besorgten Blick und sagte mit einem schwachen Versuch zu zwinkern:

»Na, ich bin ein netter Gastgeber!«

Als der Fahrstuhl hielt, mußte er sich an der Bank festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; doch nach der Suppe und einem Glas Champagner fühlte er sich schon wohler und begann sich des kleinen Schwächeanfalls zu freuen, dessentwegen so viel Sorge für ihn in ihrem Benehmen lag.

»Ich hätte dich gern zur Tochter gehabt,« sagte er plötzlich; und da er das Lächeln in ihren Augen sah, fuhr er fort:

»In deinem Alter solltest du nicht nur in der Erinnerung an die Vergangenheit leben; davon kannst du später noch mehr als genug zehren. Das ist ein hübsches Kleid – der Schnitt gefällt mir.«

»Ich habe es selbst gemacht.«

Ah! Eine Frau, die sich ein hübsches Kleid nähen konnte, hatte noch nicht das Interesse am Leben verloren.

»Man muß ernten, solange die Sonne scheint,« sagte er; trink doch aus. Ich möchte etwas Farbe in deinen Wangen sehen. Wir dürfen unser Leben nicht versäumen; das taugt nicht. Heute abend wird eine neue Margarethe auftreten; hoffen wir, daß sie nicht zu dick ist. Und Mephisto – etwas Schrecklicheres als einen dicken Teufel kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

Aber schließlich gingen sie doch nicht in die Oper, denn als er sich vom Tisch erhob, befiel ihn wieder der Schwindel, und sie bestand darauf, daß er sich ruhig verhalte und früh zu Bett gehe. Als er sich am Eingang des Hotels von ihr verabschiedet hatte, nachdem er dem Kutscher ihre Fahrt nach Chelsea bezahlt, setzte er sich noch für einen Augenblick nieder, um in der Erinnerung an ihre Worte zu schwelgen: ›Du bist so lieb und gut zu mir, Onkel Jolyon!‹ Gewiß! Wer würde das nicht sein! Er wäre gern noch einen Tag hier geblieben, um mit ihr in den Zoologischen Garten zu gehen, aber zwei Tage in seiner Gesellschaft würden sie wohl zu Tode langweilen! Nein, er mußte warten bis zum nächsten Sonntag; sie hatte versprochen, an diesem Tage zu kommen. Sie würden die Stunden für Holly festsetzen, wenn auch nur für einen Monat. Das würde wenigstens etwas sein. Der kleinen Mamselle Beauce würde es nicht passen, aber sie mußte es eben hinunterschlucken. Er drückte seinen alten Claque gegen die Brust zusammen und suchte den Fahrstuhl.

Am nächsten Morgen fuhr er zum Waterloo-Bahnhof, wobei er fortwährend gegen den Wunsch ankämpfte, dem Kutscher zuzurufen: ›Fahren Sie mich nach Chelsea!‹ Aber sein Gefühl für Maß und Ziel in allem war doch stärker. Außerdem fühlte er sich noch schwach und wollte nicht wieder, fern von zu Hause, einen Anfall wie den vom vergangenen Abend riskieren. Auch würde Holly ihn erwarten – ihn und das, was er ihr mitbringen würde. Gewiß hatte ihn sein kleiner Liebling nicht nur wegen der Geschenke so gern – ihr Herzchen floß über von zärtlicher Zuneigung. Danach fragte er sich eine Sekunde lang mit dem recht bittern Zynismus des Alters, ob nicht vielleicht auch Irene aus einer berechnenden Liebe heraus sich mit ihm abgebe. Nein, auch sie gehörte nicht zu dieser Sorte. Im Gegenteil, sie hatte so gut wie keinen Begriff davon, wie man sich sein Brot mit Butter bestreichen kann; sie hatte keinen Sinn für Besitz, das arme Ding! Außerdem hatte er ihr gegenüber kein Wort von dem Kodizill erwähnt und würde auch nichts sagen – jeder Tag hat seine eigene Freude.

In dem Wagen, der ihn auf der Station erwartete, mußte Holly den Hund Balthasar zurückhalten, und die Liebkosungen der beiden machten seine Heimfahrt zu einem Triumphzug. Den ganzen Rest dieses schönen, heißen Tages und den größten Teil des nächsten fühlte er sich ruhig und zufrieden, ruhte im Schatten aus, während die lange verweilenden Sonnenstrahlen Rasen und Blumen mit Gold überrieselten. Am Donnerstag abend jedoch während seines einsamen Dinner begann er die Stunden zu zählen: noch sechsundfünfzig, bis er wieder hinuntergehen und sie in dem kleinen Wäldchen würde treffen können, um an ihrer Seite den Weg durch die Felder wieder heraufzusteigen. Er hatte wegen seiner Ohnmacht den Arzt fragen wollen, aber ganz gewiß würde der Kerl auf vollkommene Ruhe, Vermeiden jeder Aufregung und dergleichen bestehen; er aber wollte sich jetzt nicht anbinden lassen; er wollte nichts von Krankheit hören, selbst wenn er wirklich krank sein sollte, darauf zu hören, konnte er sich bei seinem Alter nicht mehr leisten, jetzt, da dieses neue Interesse in sein Leben getreten war. Und er vermied es sorgfältig, in einem Briefe an seinen Sohn sein Befinden auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Da würden sie ja sofort zurückkommen! Wie weit bei diesem Schweigen die Rücksicht auf ihr Vergnügen maßgebend war, wie weit die Besorgnis für sein eigenes, das herauszufinden bemühte er sich nicht erst. Als er an jenem Abend in seinem Arbeitszimmer gerade seine Zigarre zu Ende geraucht hatte und am Einschlummern war, hörte er das Rascheln eines Kleides und spürte den Duft von Veilchen. Wie er die Augen öffnete, sah er sie in ihrem grauen Kleid, mit ausgestreckten Armen, am Kamin stehen. Das Merkwürdige dabei war, daß es, obgleich diese Arme nichts zu halten schienen, doch so aussah, als ob sie um jemandes Nacken lägen, und ihr Kopf war zurückgebogen, die Lippen geöffnet und die Augen geschlossen. Sie verschwand sofort wieder, und nur mehr das Kaminsims und seine Bronzefiguren waren da. Aber diese Bronzen und das Sims waren doch vorher gar nicht dagewesen, nur der Kamin und die Wand! Zitternd und verwirrt erhob er sich. ›Ich muß doch eine Medizin nehmen,‹ dachte er, ›ich muß krank sein.‹ Sein Herz schlug zu rasch, und er hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust; er trat ans Fenster und öffnete es, um etwas frische Luft hereinzulassen. In der Ferne bellte ein Hund, wahrscheinlich einer der Hunde von Drages Farm, auf der andern Seite des Wäldchens. Eine wunderbar stille Nacht, aber dunkel. ›Ich war eingeschlafen,‹ dachte er, ›das ist alles! Und doch könnte ich schwören, daß meine Augen offen waren!‹ Ein Laut wie ein Seufzer schien ihm zu antworten.

»Was ist das?« fragte er laut, »wer ist da?«

Die Hand auf die Seite drückend, um das Hämmern seines Herzens zu beruhigen, schritt er auf die Terrasse hinaus. Etwas Weiches huschte im Dunkel vorüber. ›Scht!‹ Das war die große graue Katze. ›Der junge Bosinney war wie eine große Katze!‹ dachte er. ›Und er war es da drinnen, den sie – den sie um – – –. Sie gehört ihm noch immer!‹ Er trat an den Rand der Terrasse und blickte in die Dunkelheit hinaus; er konnte gerade noch den Schimmer der weißen Gänseblümchen auf dem ungemähten Rasen sehen. Heute noch hier und morgen tot! Und da kam auch der Mond hervor, der alle sah, Junge und Alte, Lebende und Tote, und sich um gar nichts kümmerte! Ja, bald würde an ihn die Reihe kommen. Für einen einzigen Tag der Jugend würde er gern den Rest seines Lebens hingeben! Und er wandte sich wieder dem Hause zu. Er konnte die Fenster des Kinderzimmers dort oben sehen. Sein kleiner Liebling schlief wahrscheinlich. Hoffentlich weckt sie der Hund nicht auf!‹ dachte er. Was ist es, das uns erst zu lieben zwingt und dann sterben läßt? Ich muß zu Bett gehn.‹

Und über den Steinboden der Terrasse, den das Mondlicht grau färbte, ging er ins Haus zurück.


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