Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Die leisen Geisterstimmen der Vergangenheit, die einen Menschen in seinen alten Tagen unablässig bedrängen, hatten ihn nie so wenig behelligt wie in den siebzig Stunden bis zum Sonntag. Ein anderer Geist, der Geist der Zukunft umgaukelte seinen Sinn mit dem Reiz des Unbekannten. Jetzt war der alte Jolyon nicht mehr ruhelos und machte auch dem Baumstamm keine Besuche mehr, denn sie hatte ja versprochen, zum Lunch zu kommen. Im Feststehen der regelmäßigen Mahlzeiten liegt eine wundervolle Endgültigkeit; eine Welt von Zweifeln wird dadurch weggefegt, denn niemand versäumt eine Mahlzeit, so lange er nicht durch höhere Gewalt dazu gezwungen ist. Er spielte mit Holly viele Rasenspiele, spielte so, daß sie sich im Parieren üben konnte, weil sie später in den Ferien mit Jolly Kricket spielen wollte. Denn sie war keine Forsyte, Jolly aber war einer, und die Forsytes parieren immer alle Schläge, bis sie vierundachtzig Jahre alt sind und abgedankt haben. Der Hund Balthasar war auch dabei und legte sich, so oft er konnte, auf den Ball, und der Balljunge, der ein Gesicht wie der Vollmond zur Erntezeit hatte, fing den Ball auf und warf ihn zurück. Und weil die Wartezeit immer kürzer wurde, kam ihm jeder neue Tag länger und herrlicher als der vergangene vor. Am Freitag abend tat ihm die linke Seite ziemlich weh, er nahm eine ›Leberpille‹ – darüber ging nichts, mochte der Schmerz auch in der andern Seite sitzen. Wenn ihm jemand gesagt hätte, daß er seit kurzem in ständiger Aufregung lebe und daß Aufregung schädlich für ihn sei, so hätte er ihn wohl mit einem festen, herausfordernden Blick aus seinen stahlgrauen, tiefliegenden Augen angeschaut, die stets zu sagen schienen: ›Ich weiß am besten, was gut für mich ist!‹ Er hatte es tatsächlich immer gewußt und würde es immer wissen.

Am Sonntag vormittag, als Holly mit ihrer Gouvernante in die Kirche gegangen war, stattete er den Erdbeerbeeten einen Besuch ab. Von dem Hunde Balthasar begleitet, inspizierte er sie aufs genaueste und fand schließlich zwei Dutzend wirklich reifer Beeren. Das Niederbücken war nicht gut für ihn, er wurde schwindlig und das Blut stieg ihm zu Kopf. Nachdem er die Erdbeeren in einer Schüssel auf den Speisetisch gestellt hatte, wusch er sich die Hände und befeuchtete die Stirn mit Eau de Cologne. Wie er so vor dem Spiegel stand, bemerkte er, daß er abgemagert war – wie spindeldürr war er doch als junger Mensch gewesen! Es war hübsch, schlank zu sein – fette Kerle konnte er nicht vertragen; aber seine Wangen waren doch vielleicht gar zu mager geworden! Sie wollte mit dem Zug um halb eins ankommen, bei Drages Farm die Straße verlassen und am andern Ende des Wäldchens vorbei zu Fuß heraufkommen. Und nachdem er sich vergewissert hatte, daß in Junes Zimmer warmes Wasser bereit stand, ging er Irenen langsam entgegen, recht langsam, denn sein Herz schlug heftig. Ein süßer Duft erfüllte die Luft, die Lerchen sangen, und man konnte die große Tribüne in Epsom sehen. Ein herrlicher Tag! Zweifellos war es genau so ein Tag gewesen, als Soames vor fünf Jahren den jungen Bosinney hergebracht hatte, um die Lage des Grundstücks zu besichtigen, ehe der Bau begann. Bosinney hatte die Stelle des Hauses ganz genau bestimmt, das hatte ihm June oft erzählt. In diesen Tagen mußte er manchmal an den jungen Menschen denken, als ginge sein Geist wirklich am Orte seines letzten Wirkens um, auf der Suche nach – ihr. Bosinney, der einzige Mensch, der ihr Herz besessen, dem sie ihr ganzes Wesen voll Freude gegeben hatte. In seinem Alter konnte man sich natürlich solche Dinge nicht mehr vorstellen, und dennoch spürte er einen sonderbaren, unbestimmten Schmerz wie eine ganz leise, unpersönliche Eifersucht; und auch ein großherzigeres Gefühl des Mitleids mit jener Liebe, die so früh zerstört worden war. Nach ein paar armseligen Monaten war alles vorüber gewesen. Ja, ja! Er sah auf die Uhr, ehe er das Wäldchen betrat – erst ein viertel eins, noch fünfundzwanzig Minuten zu warten! Doch als er um die Ecke bog, sah er sie auf dem Baumstamm sitzen, genau an der Stelle, wo er sie das erste Mal getroffen hatte; sie mußte mit dem vorhergehenden Zug gefahren sein, um dort wenigstens zwei Stunden allein sitzen zu können. Zwei Stunden ihrer Gesellschaft – versäumt! Welche Erinnerung machte ihr diesen Ort so teuer? Seine Gedanken mußten auf seinem Gesicht zu lesen stehen, denn sie sagte sofort:

»Sei mir nicht böse, Onkel Jolyon; hier ist es mir zum ersten Mal zum Bewußtsein gekommen.«

»Freilich, freilich; komm nur her, so oft du willst. Du hast ein bißchen Stadtfarbe; du gibst zu viele Stunden.«

Daß sie Stunden geben mußte, beunruhigte ihn. Einer Schar junger Mädchen Stunden geben, die mit plumpen Fingern Tonleitern übten!

»Wo gibst du denn Stunden?« fragte er.

»Zumeist in jüdischen Familien, glücklicherweise.«

Der alte Jolyon starrte sie an; für jeden Forsyte ist ein Jude ein zweifelhaftes und sonderbares Geschöpf.

»Sie lieben Musik und sie sind sehr freundlich.«

»Das möchte ich ihnen aber auch raten, wahrhaftig!« Er nahm ihren Arm – die Seite tat ihm beim Bergaufgehen immer ein wenig weh – und sagte:

»Hast du schon einmal etwas so Hübsches wie diese Butterblumen gesehen? In einer Nacht sind sie so aufgeblüht.«

Ihre Blicke schienen über das Feld zu schweben wie die Bienen nach Blüten und Honig.

»Ich habe nicht erlaubt, daß die Kühe auf die Weide getrieben werden, damit du die Butterblumen noch vorher sehen könntest.« Doch da erinnerte er sich, daß sie ja gekommen war, um über Bosinney zu sprechen und zeigte auf den Uhrturm über den Ställen:

»Ich glaube, er hätte mich keine Uhr da anbringen lassen; er hatte doch überhaupt keinen Begriff von Zeit, wenn ich mich recht erinnere.«

Statt jedoch etwas zu erwidern, plauderte sie weiter über Blumen, indem sie seinen Arm an den ihren preßte, und er war überzeugt, daß sie das nur tat, um ihn nicht fühlen zu lassen, daß sie um ihres toten Geliebten willen hergekommen war.

»Die schönste Blume, die ich dir zeigen kann,« sagte er mit einer Art Triumph, »ist mein kleiner Liebling. Sie wird gleich von der Kirche zurückkommen. Sie hat etwas an sich, das mich ein wenig an dich erinnert,« und es schien ihm gar nicht merkwürdig, daß er sich so ausgedrückt hatte, anstatt zu sagen:›Es ist etwas an dir, das mich ein wenig an Holly erinnert.‹ Ah! Und da war sie schon!

Holly kam vom Eichenbaum her auf sie zugelaufen, auf dem Fuße gefolgt von ihrer ältlichen französischen Gouvernante, die sich vor zweiundzwanzig Jahren, während der Belagerung von Straßburg, eine chronische Magenverstimmung geholt hatte. Knapp vor ihnen blieb Holly stehen, um Balthasar zu streicheln, als hätte sie gar nichts anderes im Sinn gehabt. Der alte Jolyon, der sie besser kannte, sagte:

»Schau her, mein Liebling, hier ist die Dame in Grau, die ich dir versprochen habe.«

Holly richtete sich auf und sah sie an. Mit einem Zwinkern beobachtete er die beiden; Irene lächelte, Hollys ernsthaft forschender Blick ging gleichfalls in ein schüchternes Lächeln über und dann in irgend ein tieferes Empfinden. Sie hatte ein Gefühl für Schönheit, die Kleine, wußte, wen sie vor sich hatte! Er freute sich zu sehen, wie die beiden einander küßten.

»Mrs. Heron – Mamselle Beauce. Na, Mamselle, war die Predigt gut?«

Denn nun, da er nicht mehr lange zu leben hatte, absorbierte einzig der Teil des Gottesdienstes, der von dieser Welt handelt, das geringe Interesse, das ihm für die Kirche geblieben war. Mamselle Beauce streckte eine dürre Hand aus, die in schwarzem Glacéhandschuh steckte – sie war nur in vornehmen Häusern angestellt gewesen – und die ziemlich traurigen Augen in dem magern, gelblichen Gesicht schienen zu fragen:›Bist du gut errzogen?‹ Wenn Holly oder Jolly irgend etwas taten, was ihr nicht gefiel – und das kam nicht gar so selten vor – sagte sie ihnen gewöhnlich: ›Die kleinen Tayleurs haben das nie getan – sie waren solch wohlerrzogene kleine Kinder.‹ Jolly haßte die kleinen Tayleurs; Holly wunderte sich schrecklich, wie sie nur solche Musterkinder sein konnten.›Ein vertrocknetes, wunderliches kleines Geschöpf,‹ pflegte der alte Jolyon von Mamselle Beauce zu denken.

Die Mahlzeit war in jeder Hinsicht ein Erfolg; die Pilze, die er selbst im Pilzhaus gepflückt hatte, die von ihm ausgewählten Erdbeeren und eine zweite Flasche Steinberg Cabinet gaben ihm sozusagen aromatisch-geistige Anregung, allerdings auch die Überzeugung, daß er morgen einen kleinen gastrischen Ausschlag bekommen würde. Nach dem Lunch tranken sie unter dem Eichenbaum türkischen Kaffee. Er bedauerte es durchaus nicht, als Mademoiselle Beauce sich zurückzog, um ihren Sonntagsbrief an ihre Schwester zu schreiben, deren ganze Zukunft einmal in ihrer Jugend auf dem Spiel gestanden hatte, als sie eine Nadel verschluckte, eine Geschichte, die den Kindern täglich als warnendes Beispiel vorgehalten wurde, damit sie langsam essen und das Gegessene gut verdauen sollten. Am Fuß des Rasenabhangs, auf einer Wagendecke, spielten Holly und der Hund Balthasar, neckten einander und tauschten Zärtlichkeiten, und der alte Jolyon saß mit übereinander geschlagenen Beinen im Schatten, genoß mit Wohlbehagen seine Zigarre und blickte Irene an, die auf der Schaukel saß. Eine lichte, gleichsam schwebende graue Gestalt, hie und da ein Flecken Sonnenlicht darauf, mit halbgeöffneten Lippen, dunklen, sanften Augen unter ein wenig gesenkten Lidern. Sie sah zufrieden aus; gewiß tat es ihr wohl, ihn hier draußen zu besuchen! Die Selbstsucht des Alters hatte ihn noch nicht ganz in der Gewalt, denn die Freude eines andern konnte ihn noch immer froh stimmen; obgleich er sich darüber im klaren war, daß ihm sehr viel an der Erfüllung seiner Wünsche lag, so sah er doch ein, daß auch noch anderes von Bedeutung sei.

»Es ist ruhig hier,« sagte er, »du solltest nicht herkommen, wenn du dich hier langweilst. Aber es ist eine Freude, dich zu sehen. Das Gesicht meines kleinen Lieblings ist das einzige, das mich freut, außer dem deinen.«

An ihrem Lächeln erkannte er, daß sie noch nicht darüber hinaus war, an einer Huldigung Gefallen zu finden, und das machte ihn sicher.

»Das ist keine leere Redensart,« erklärte er, »ich habe niemals einer Frau gesagt, daß ich sie bewundere, wenn ich es nicht wirklich tat. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, daß ich einer Frau meine Bewunderung gestanden hätte, ausgenommen meiner eigenen, aber das ist schon lange her; und Ehefrauen sind so komisch.« Er schwieg, fing aber plötzlich wieder an:

»Sie erwartete von mir, daß ich es öfter sagen sollte, als ich es fühlte, und da war nichts zu machen.« Ihr Gesicht sah auf einmal merkwürdig verstört aus, so daß er fürchtete, schmerzliche Erinnerungen in ihr wachgerufen zu haben, und rasch fortfuhr:

»Wenn mein kleiner Liebling einmal heiratet, so wird sie hoffentlich jemand finden, der versteht, was Frauen fühlen. Ich werd' es ja nicht mehr erleben, aber es ist zu viel Verkehrtes in der Ehe; ich will nicht, daß sie sich damit abquälen muß.« Und da er merkte, daß diese Worte die Situation noch verschlimmert hatten, fügte er hinzu: »Der Hund wird dich bestimmt noch kratzen.«

Ein Schweigen folgte. Woran mochte sie wohl denken, dieses hübsche Geschöpf, dessen Leben so verdorben war? Das mit der Liebe abgeschlossen hatte und dennoch für die Liebe geschaffen war? Eines Tages, wenn er nicht mehr lebte, würde sie vielleicht einen andern Gefährten finden, der nicht so ein Querkopf war wie der junge Mensch, der sich hatte überfahren lassen. Ah! aber ihr Gatte?

»Belästigt dich Soames niemals?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht zeigte plötzlich einen verschlossenen Ausdruck. Bei aller Sanftheit war oft etwas Unversöhnliches an ihr. Und einen Augenblick lang wurde er sich der unerbittlichen Natur geschlechtlicher Antipathie bewußt, er, der der frühviktorianischen Kultur angehörte, die so viel älter war als die jetzige, und dem solch primitive Dinge niemals in den Sinn gekommen waren.

»Das ist eine Beruhigung für mich,« sagte er. »Man kann heute die große Tribüne sehen. Sollen wir einen Spaziergang machen?«

Er führte sie durch den Blumen- und den Obstgarten, an dessen hohen Außenmauern Pfirsiche und Nektarinpfirsiche an der Sonne gezogen wurden, durch die Ställe, den Weingarten, das Pilzhaus und an den Spargelbeeten vorbei durch den Rosengarten nach der Laube, sogar in den Küchengarten führte er sie, um ihr die zarten grünen Erbsen zu zeigen, die Holly so gern mit den Fingern aus den Schoten klaubte und von ihrer kleinen, braunen Hand ableckte. So viele köstliche Dinge zeigte er ihr, während Holly und der Hund Balthasar vor ihnen hertanzten oder hie und da zu ihnen gelaufen kamen, um auch ein wenig beachtet zu werden. Es war einer der glücklichsten Nachmittage, die er je erlebt hatte; aber er wurde müde und war froh, im Musikzimmer sich niedersetzen zu können und sich von ihr den Tee servieren zu lassen. Eine intime kleine Freundin Hollys war zu Besuch gekommen – ein blondes Kind mit kurzgeschnittenem Haar wie ein Junge. Und die beiden haschten einander in einiger Entfernung über die Treppe und unter der Treppe durch und auf der Galerie. Der alte Jolyon erbat sich wieder etwas von Chopin. Sie spielte Etüden, Mazurkas, Walzer, bis die beiden Kinder, die sich immer näher geschlichen hatten, am Ende des Klavieres standen und lauschten, den blonden und den dunkeln Kopf vorgeneigt. Der alte Jolyon beobachtete sie.

»Ich möcht' euch beide tanzen sehn!«

Schüchtern, mit einem falschen Schritt, fingen sie an. Hüpfend und herumwirbelnd, ernsthaft und ein wenig unbeholfen, tanzten sie ein- um das anderemal an seinem Stuhl vorbei zu den Melodien jenes Walzers. Er sah ihnen zu und blickte Irene an, die spielte und sich dabei lächelnd den kleinen Tänzerinnen zuwandte. ›Das hübscheste Bild, das ich je gesehen,‹ dachte er. Eine Stimme sagte:

»Holii! Mais enfin – qu'est-ce que tu fais la – danser, le dimanche! Viens, donc!«

Aber die Kinder drängten sich an den alten Jolyon, wohl wissend, daß er sie schützen würde, und sie sahen ihn derart an, daß er nicht widerstehen konnte.

»Je besser der Tag, umso besser die Tat, Mamselle. Ich bin an allem schuld. Tummelt euch, ihr Küken, und geht Tee trinken.«

Nachdem sie gegangen waren, von dem Hund Balthasar gefolgt, der keine Mahlzeit versäumte, blickte er zwinkernd zu Irene hinüber und sagte:

»Ja, so ist es nun einmal! Sind sie nicht reizend? Hast du auch kleine Schülerinnen?«

»Ja, drei – zwei davon sind ganz allerliebst.«

»Hübsch?«

»Reizend!«

Der alte Jolyon seufzte; er hatte ein unstillbares Verlangen nach der zarten Jugend. »Mein kleiner Liebling hat Musik besonders gern,« sagte er, »sie wird eines Tages eine Künstlerin werden. Möchtest du mir nicht sagen, was du von ihrem Spiel hältst?«

»Gewiß, gerne.«

»Du möchtest wohl nicht – –« er unterdrückte jedoch die Worte: ›– – ihr Stunden geben.‹ Der Gedanke, daß sie Stunden geben sollte, war ihm unangenehm; und dennoch, das würde bedeuten, daß er sie regelmäßig zu sehen bekäme. Sie stand auf und kam zu ihm herüber.

»Ich möchte es sehr gern tun; aber was ist mit – June? Wann kommen sie zurück?«

Der alte Jolyon runzelte die Stirn. »Erst um die Mitte des nächsten Monats. Was tut das?«

»Du hast gesagt, daß June mir verziehen habe; aber sie kann es nicht vergessen haben, Onkel Jolyon.«

Vergessen! Sie mußte es vergessen, wenn er es wünschte.

Doch wie als Antwort schüttelte Irene den Kopf. »Du weißt, daß sie es nicht kann; man kann nicht vergessen.«

Immer diese abscheuliche Vergangenheit! Und als ob er die Sache ein- für allemal abtun wollte, sagte er fast ärgerlich:

»Na, wir werden ja sehn.«

Über eine Stunde erzählte er ihr von den Kindern und von hundert Kleinigkeiten, bis der Wagen vorfuhr und sie nach Hause brachte. Und als sie fort war, setzte er sich wieder in seinen Stuhl, strich sich mit der Hand über Gesicht und Kinn und träumte vom verflossenen Tage.

An jenem Abend ging er nach dem Dinner in sein Arbeitszimmer und nahm ein Blatt Papier. Er verweilte einige Minuten, ohne zu schreiben, erhob sich dann und stellte sich vor das Meisterwerk ›Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang‹. Er dachte nicht an das Bild, sondern an sein Leben. Er wollte ihr etwas in seinem Testament vermachen; nichts hätte so sehr die verschlossenen Tiefen seiner Gedanken und Erinnerungen aufrühren können. Er wollte ihr einen Teil seines Reichtums hinterlassen, seines Ehrgeizes, seiner Taten, seiner Fähigkeiten, seiner Arbeit, einen Teil alles dessen, was diesen Reichtum geschaffen hatte; er wollte ihr auch einen Teil alles dessen hinterlassen, was er im Leben versäumt hatte, trotz seines tüchtigen und ununterbrochenen Ausnützens aller seiner Möglichkeiten. Ah! Was hatte er versäumt? Die ›Holländischen Fischerboote‹ gaben keine Antwort; er ging zur Glastür hinüber, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete die Tür. Ein Wind hatte sich erhoben und ein dürres Eichenblatt vom vergangenen Jahr, das irgendwie dem Besen des Gärtners entgangen war, wirbelte im Zwielicht mit einem leise-raschelnden Laut auf der Steinterrasse hin und her. Sonst war es sehr ruhig da draußen, und er konnte den Heliotrop riechen, den man gerade erst begossen hatte. Eine Fledermaus flog vorbei. Ein Vogel stieß ein letztes Zwitschern aus. Und gerade über dem Eichenbaum leuchtete der erste Stern. Faust, in der Oper, hatte seine Seele dem Teufel verschrieben, um noch ein paar Jahre wieder jung sein zu können. Welch eine krankhafte Idee! So eine Abmachung war unmöglich, das war die eigentliche Tragödie. Man konnte nicht wieder jung werden, nicht um des Lebens oder der Liebe willen und auch aus keinem andern Grunde. Es blieb einem nichts anderes übrig, als die Schönheit von weitem zu genießen, so lang es einem möglich war, und ihr im Testament etwas zu vermachen. Aber wieviel? Und als ob er das unmöglich hätte ausrechnen können, während er in die ländliche, eine sanfte Freiheit atmende Nacht hinausschaute, wandte er sich zum Kamin zurück. Dort standen seine Lieblingsbronzen – eine Kleopatra mit der Natter am Busen; ein Sokrates; eine Windhündin, die mit ihren Jungen spielte; ein starker Mann, der einige Pferde an den Zügeln hielt. › Sie bleiben!‹ dachte er, und es gab ihm einen Stich durchs Herz. Sie hatten noch tausend Jahre Leben vor sich!

›Wieviel?‹ Nun, auf jeden Fall genug, daß sie nicht vor der Zeit würde altern müssen, genug, um die scharfen Linien ihrem Gesicht so lang wie möglich fernzuhalten und ihr leuchtendes Haar vor dem Ergrauen zu bewahren. Er hatte vielleicht noch fünf Jahre zu leben. Sie würde dann weit über dreißig sein. ›Wieviel?‹ In ihr war nichts von seinem Blut! Ganz im Sinne seiner Lebensrichtung, an der er seit vierzig Jahren unverbrüchlich festhielt, seitdem er geheiratet und jene rätselvolle Institution, Familie genannt, begründet hatte, kam ihm auch jetzt wieder der warnende Gedanke: Nichts von seinem Blut in ihr. Sie hatte keinerlei begründetes Anrecht! Es war also ein Luxus von ihm, dieses Legat. Eine Extravaganz, die Hätschellaune eines alten Mannes, eine von jenen Dummheiten, die kindische Greise begehen. Seine wirkliche Zukunft lag in den Menschen, die sein Blut in den Adern hatten, in denen er nach seinem Tode weiterleben würde. Er wandte sich von den Bronzefiguren weg und blickte auf den alten, grünen Lederstuhl, in dem er so oft gesessen und so viele hundert Zigarren geraucht hatte. Und plötzlich kam es ihm vor, als säße sie dort in ihrem grauen Kleide, duftend, milde, anmutig, und sähe mit ihren dunklen Augen zu ihm auf. Warum denn nur! Es lag ihr ja gar nichts an ihm; in Wirklichkeit lag ihr ja nur etwas an ihrem verlorenen Geliebten. Aber sie lebte doch, und ob sie es nun wollte oder nicht, sie erfreute ihn mit ihrer Schönheit und ihrer Anmut. Ein alter Mann hatte kein Recht, seine Gesellschaft aufzudrängen, kein Recht, sie einzuladen, damit sie ihm vorspiele und sich bewundern lasse – für nichts und wieder nichts! Für alles muß man zahlen in der Welt, auch für die Freude. ›Wieviel?‹ Schließlich besaß er ja genug; seinem Sohn und seinen drei Enkelkindern würde die kleine Summe nicht abgehen. Er hatte das Geld doch selber verdient, fast jeden Penny; er konnte es hinterlassen, wem er wollte, er durfte sich dies kleine Vergnügen schon gönnen. Er ging zum Schreibtisch zurück. ›Ja, ich tu' es!‹ dachte er, ›sie mögen denken, was sie wollen, ich tu' es!‹ Und er setzte sich an den Schreibtisch.

›Wieviel?‹ Zehntausend, zwanzigtausend – wieviel? Wenn er mit diesem Gelde nur noch ein einziges Jahr, noch einen Monat Jugend sich erkaufen könnte! Und von diesem Gedanken erschreckt, schrieb er rasch:

›Lieber Herring!

Entwerfen Sie für mich folgendes Kodizill: ›Ich hinterlasse meiner Nichte Irene Forsyte, geborene Heron, unter welchem Namen sie jetzt lebt, fünfzehntausend Pfund frei von Gebühren.‹

Ihr ergebener
Jolyon Forsyte.‹

Nachdem er das Kuvert gesiegelt und frankiert hatte, ging er zum Fenster zurück und atmete tief auf. Es war dunkel, doch viele Sterne schienen jetzt.


 << zurück weiter >>