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Buchschmuck

Fünftes Kapitel.
Unterwegs.

Der sternenklaren Nacht war ein sonnenheller, frischer Morgen gefolgt. Aber wie die strahlende Jugend des Menschen in ihrem zu frühen Glanze oft ein heiteres Alter verspricht und ihr Versprechen so wenig hält, so täuscht oft ein zu glühendes Morgenrot die Hoffnung der Beteiligten, und der Tag und Abend hält selten in seiner begonnenen Schönheit aus.

Franz Marssen war durch dieses glühende Morgenrot früh aus festem Schlafe geweckt worden, und rasch kleidete er sich an, um den goldenen Strahl zu benutzen und die frischen Sonnenlichter in den Eisspalten des Rhonegletschers spielen und flimmern zu sehen. So sah man ihn schon lange vor dem Frühstück, ein kleines Skizzenbuch an einem Riemen um die Schultern gehängt und auf seinen Alpstock gestützt, der glitzernden Höhe zueilen, und fast zwei Stunden lang weidete er sein Auge an den wunderbaren Gestaltungen und Farbentönen der Eismassen oder ließ seinen Bleistift rasch über das glatte Papier fahren, um einige Punkte zu fixieren, von denen er gerne eine sichtbare Erinnerung behalten wollte.

Als er etwa gegen acht Uhr in das Gastzimmer des Wirtshauses zurückkehrte, fand er den fremden Herrn am Tische mit Briefschreiben beschäftigt, und zwar so eifrig, daß er kaum den Eintritt des jungen Mannes bemerkte und, ohne sich stören zu lassen, nur flüchtig und ohne ein Wort zu sprechen, seinen Gruß erwiderte.

Franz Marssen ließ sich in möglichster Entfernung von ihm an einem Seitentische nieder und nahm mit dem besten Appetit sein erstes Frühstück ein. Auch dem fleißigen Briefschreiber wurde ein ähnliches gebracht, aber er rührte sich nicht von der Stelle, und wohl eine Stunde lang arbeitete er emsig fort, so daß der aufmerksame Wirt ihm unterdeß den Kaffee auf ein heißes Kohlenbecken stellen ließ.

Endlich jedoch war er fertig. Er faltete seinen Brief, siegelte und adressierte ihn, worauf er ihn sorgfältig in einer Brieftasche verwahrte. Dann erst erhob er sich von seinem Platze, grüßte den jungen Mann, den er jetzt erst zu bemerken schien, kühl aus der Ferne und nahm endlich den Stuhl vor dem Frühstück ein, dem er nun langsam und wie ein Mensch zusprach, dem seine Gedanken weit über den leiblichen Genuß und die Befriedigung seines Appetits gehen.

Er würde wahrscheinlich sobald noch kein Wort mit dem im Zimmer Anwesenden gesprochen haben, wäre nicht während seines Essens und Trinkens der Wirt mit lächelnder Miene hereingetreten, um die angenehme Meldung zu bringen, daß soeben ein Mann von Hospenthal her mit drei Pferden gekommen sei, die schon vor mehreren Tagen bestellt worden, um eine Gesellschaft von der Grimsel nach dem Urseren-Tal zu tragen. »Da haben Sie nun, was Sie wünschen,« sagte er freundlich zu den Fremden. »Es sind gute Pferde, und auch ihr Führer, der mir bekannt ist, ist ein Mann, dem Sie besseres Vertrauen als dem alten Jakob schenken können.«

Der Fremde erhob sich von seinem Stuhle, dehnte seine breite Brust tiefatmend aus, als sei ihm ein Stein von derselben gewälzt, und sagte, indem er jetzt erst dem aus der Ferne ihn beobachtenden Maler zunickte: »Das ist gut. Wird er uns auch mitnehmen wollen?«

»Wenn Ihre Frau Gemahlin in anderthalb Stunden zu der Reise fertig ist, so wird er Sie sehr gern mitnehmen.«

»Das ist noch besser, ja, gewiß. Sagen Sie ihm, daß wir in anderthalb Stunden gerüstet sein werden und daß ich bereit bin, ihm seine Gefälligkeit zu vergüten.« Als der Wirt darauf sogleich hinausging, um die Bestellung auszurichten, wandte sich der Reisende zu Franz Marssen und sagte: »Was meinen Sie, mein Herr, wird uns das Wetter eben so begünstigen, wie dieser Zufall es tut?«

Franz Marssen wandte den Blick nach dem Fenster und schaute über den funkelnden Gletscher hin, über den eben die höher gestiegene Morgensonne ihre goldenen Strahlen überreichlich ausstreute, und versetzte: »Es ist mir nicht angenehm, Ihnen Ihre Frage nicht vollkommen bejahend beantworten zu können; aber wenn die Sonne am frühen Morgen so blitzend hell in die Eisgrotten scheint, ermüdet sie leicht in ihrer Tätigkeit, und nur zu bald tauchen Nebel aus den Gründen auf, die ihr Angesicht verschleiern. Es liegt zu viel Feuchtigkeit auf dem Boden, als daß die Wärme nicht bald verflüchtend darauf wirken sollte.«

»Oho! Ändert sich das Wetter in den Bergen so schnell!«

»Man kann nie mit Sicherheit vorhersagen, wie es eine Stunde später sich gestalten wird.«

»Das ist freilich schlimm. Aber wir haben ja nur, wie ich höre, zwei Stunden von hier bis zur Grimsel?«

»In diesen zwei Stunden aber muß ein für Ihre Damen beschwerlicher Weg zurückgelegt werden, und wir übersteigen einen beinahe siebentausend Fuß hoch gelegenen Paß, der Deutschland und Italien verbindet und von dem man behauptet, daß er, wie er die Wasserscheide des Rheins und der Rhone bildet, auch oft eine Wetterscheide ist, der man nie auf die Länge trauen darf und die sich stets mehr zum Schlimmen als zum Guten neigt.«

»Was Sie da sagen, erfreut mich nicht; aber Sie sehen vielleicht zu schwarz. Ich kann mir nicht denken, daß mich diese Sonne da oben heute betrügen wird.«

»Darin stimme ich Ihnen bei: die Sonne betrügt Sie nicht, aber die Nebel, die sie verdüstern, sind die Störenfriede. Indessen kann ich mich irren, und Ihretwegen will ich wünschen, daß es so ist.«

Der Herr bewegte stolz seinen Kopf, als wünsche er das auch und begab sich hinaus, um seine Familie anzutreiben, daß sie sich zu dem Ritt fertig mache. Als er nach einer Viertelstunde wieder hereinkam, sagte er zu dem seine Skizzen durchsehenden Maler, wobei er tat, als bemerke er dessen Beschäftigung gar nicht: »In einer Stunde werden meine Damen fertig sein, und mit dem neuen Pferdeführer habe ich gesprochen. Wir sind einig. Aber wie, treten Sie diesmal Ihre Reise mit uns zugleich an?«

»Wenn Sie es erlauben, ja; wo nicht, so werde ich mich beeilen, Sie auf der Grimsel zur rechten Zeit zu treffen, um Ihnen die Pferde zu überweisen, die ich Ihnen zu stellen versprochen habe.«

»Das können Sie halten, wie Sie wollen, ich lege niemand einen Zwang auf.«

Nach diesen Worten senkte er seinen Kopf auf die Brust, schlug die Arme davor zusammen und schritt nachdenklich im Zimmer hin und her, ohne sich im geringsten mehr um die Anwesenheit des jungen Mannes zu kümmern.

Dieser, dem es peinlich wurde, in der Gesellschaft eines so einsilbigen und unheimlichen Mannes länger zu weilen, als durchaus nötig war, verließ das Zimmer, ging auf den hölzernen Steg, der über die Rhone führt, und sah hier lang dem Spiele der schäumenden, große Eisstücke treibenden Wellen zu. Erst nach einer Stunde etwa kam er zurück, und als er in das Gastzimmer trat, fand er die Damen am Frühstückstisch, die sämtlich mit Appetit aßen und sich wohl zu befinden schienen. Franz Marssen verbeugte sich höflich, da aber niemand seinen Blick mit der Miene zu ihm erhob, als erwarte man eine Frage von ihm, so verhielt er sich still und machte sich reisefertig, indem er seinen wasserdichten Mantelkragen fest zusammenschnürte und auf sein Ränzel band, in das er schon vorher sein Skizzenbuch gesteckt hatte. Nach einiger Zeit aber kam der Wirt mit den Rechnungen herein, empfing seine Zahlung von beiden Parteien und fügte dann mit einer dankenden Verneigung hinzu, daß die Pferde bereitständen, und daß man die Reise antreten könne.

»Und wie macht sich das Wetter?« fragte der fremde Herr mit einer griesgrämigen Miene.

Der Wirt zuckte die Achseln, und dazu hatte er allerdings Grund, denn die Sonne war bereits nicht mehr sichtbar, die vorher so glänzenden Spitzen des Rhonegletschers hatten sich in eine dichte Nebelkappe gehüllt, und von der grünen Wiese an der Rhone stieg ein weichlicher Dunst in zerrissenen Flocken auf, die offenbar ein drohendes Ansehen boten.

Sobald Franz Marssen auch die Damen sich fertig machen sah, verließ er das Zimmer und setzte sich, vollkommen zum Marsch gerüstet, vor der Tür auf eine Bank, um den Abritt aus nächster Nähe zu beobachten und sich dann gemächlich dem langsam vorrückenden Zuge anzuschließen.

Dieser setzte sich nun folgendermaßen in Bewegung: Voran ging der so glücklich zur rechten Zeit eingetroffene Führer mit einem stämmigen Pferde, welches die kränkliche Dame sicher trug. Hinter ihr ritt ihr Mann auf dem besten Pferde des Wirts. Ihm folgte die Gesellschafterin seiner Frau, dann die junge Dame, die, ihr großes Plaid über den Sattelknopf gelegt, in ihrem schönen Kostüm herrlich zu Pferde saß, und hinter ihr, auf dem zweiten Pferde des Wirts, der Diener der Herrschaft. Der Junge, der die hierher gehörigen Pferde begleiten und zurückführen sollte, wenn sie nicht mehr gebraucht würden, trottete oder sprang lustig bald vor, bald hinter dem Zuge her, wie der schmale Weg es ihm erlaubte, und zwanzig Schritt hinter dem Diener endlich ging Franz Marssen, nachdem er dem lächelnden Herrn Seiler herzlich die Hand geschüttelt hatte.

Vom Hofe des Wirtshauses am Rhonegletscher zieht sich bekanntlich der Weg nach der Grimsel gleich eine steile Höhe hinauf, die allmählich zur Maienwand führt, welche zunächst überwunden werden muß. Es ist immer ein saures Stück Arbeit, diese fünfzehnhundert Fuß hohe Wand auf dem schmalen, ausgetretenen Zickzackpfade zu erklettern, selbst wenn das Wetter günstig und der Weg trocken ist. Da mag der Reisende wohl sein Vergnügen haben, wenn er um sich her die glühenden Alpenrosenbüsche und die anderen reizenden Blumen betrachtet, welche durch ihre Fülle und Mannigfaltigkeit diesem steilen Bergabhange seinen lieblichen Namen gegeben haben; und wenn er höher hinaufrückt, belohnt ihn bei klarem Horizont gewiß der Blick auf das felsenreiche Wallis, auf die funkelnden Gletscher der Rhone und der Gries, und andere hervorragende Punkte, die sich malerisch im nächsten Umkreise gruppieren. Allein wenn finsterer Nebel die Höhen und Tiefen verschleiert, wenn gar Regen oder Schnee, wie so oft selbst mitten im Juli, die düstere Atmosphäre erfüllt und dann die keuchenden Pferde, denen oft das Blut vor Anstrengung aus der Nase tropft, mühsam sich den steilen Berg mit ihrer Last hinaufschleppen, dann ist der Weg nicht angenehm, und man dankt Gott, wenn man auf die Höhe gelangt ist und sich in der ebeneren, wenngleich wilden Steinöde befindet, die den Paß bildet, welcher die Gotthardtstraße mit dem Berner Oberlande verbindet.

Ob dieser Tag nun ein angenehmer oder unangenehmer werden sollte, war den fremden Reisenden noch nicht ganz klar, nur der Führer und Franz Marssen wußten es bereits bestimmt, daß sich ihnen keine Fernsicht auf dem ganzen Wege bieten, und daß es oben auf der Höhe sogar schlechtes Wetter geben würde. Allein die Grimsel mußte erreicht werden, und so fügte sich unser Freund in das Unheil und schritt, um sich nicht übermäßig zu erhitzen, langsam und ruhig den Voranreitenden nach. Aber bald zeigte sich schon das allmählich heranziehende Unwetter. Dichte, seltsam geformte und schwer hängende Wolken trieb ein eiskalter Wind vom Wallis herauf, und, wie grollende Gespenster über den Abgründen schwebend, verdunkelten sie jede Fernsicht. Allmählich rückten sie näher und näher, verschleierten schon in der Ferne den Weg, und zuletzt blieb nichts mehr von ihm zu sehen übrig, als die rauhen, moosbewachsenen Steine, zwischen denen man sich mühsam hindurchwinden mußte.

Als man den ersten Halteplatz erreicht, war der Nebel jedoch noch nicht so dicht, und man konnte noch ziemlich bequem seinen Nachbar auf fünfzig Schritte erkennen. Gleichsam um ihr Auge zu prüfen, wandte die letzte Reiterin ihren schönen Kopf zurück und sah nach dem Fußgänger, der ruhend sich auf einen langen Stock gestützt hatte und in stilles Anschauen der aus der Tiefe aufsteigenden Nebelgestalten versunken war.

»Reite voran, wenn es weiter geht!« sagte sie leise zu dem ihr unmittelbar folgenden Diener, und dieser befolgte den Befehl, sobald der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Als aber ihr eigenes Pferd dem eben vorangegangenen folgen wollte, hielt sie es noch zurück, bis der zu Fuß Gehende an sie herangekommen war, und dann sagte sie mit ernstem Gesichtsausdruck zu ihm: »Mein Herr, strengt es Sie an, wenn Sie mit mir auf dem Wege sprechen?«

Franz Marssen hob erstaunt sein Auge empor und schaute die Fragende eine Weile an, ehe er antwortete, denn er hatte in der Tat von ihr am wenigsten eine Anrede erwartet. Als er aber ihr ungeduldig funkelndes Auge gewahrte, das mit einer gewissen Schärfe auf ihm haftete, sagte er: »Beim Bergsteigen strengt das Sprechen immer an, daher erwarten Sie keine langen Reden von mir zu hören.«

»Oho,« lautete die schnell gegebene Antwort, »die erwarte ich gewiß nicht. Also schweigen Sie, wenn es Ihnen Mühe macht, zu reden. Dafür werde ich reden, ich sitze behaglich zu Pferde und brauche nicht auf den Weg zu achten, da das kluge Tier ihn besser kennt als ich. Und nun, mein Herr, nehme ich die Gelegenheit wahr, Ihnen meinen Dank auszusprechen, den ich noch schuldig bin. Sie –«

»Sie sind mir keinen Dank schuldig!« warf Franz Marssen, leicht den Hut lüftend, ein.

»Bitte – reden Sie nicht – das Reden ist allein an mir – Sie haben mir einen Dienst geleistet, wollte ich sagen, den ich zu würdigen weiß, aber verlangen Sie nicht viele Worte darüber von mir. Es ist etwas Peinvolles, eine lange Dankrede zu sprechen, wenn man sich wirklich verpflichtet fühlt.«

»So sparen Sie sie sich doch!« unterbrach sie der Fußgänger noch einmal, und dabei dachte er ohne Zweifel: »Sie ist die Tochter ihres Vaters, und er hat mich nicht mit Artigkeit verwöhnt!«

»Erlauben Sie mir,« fuhr die junge Dame etwas erregter fort, »daß ich ausspreche, was ich aussprechen will. Ob Sie mich anhören wollen, ist freilich Ihre Sache. So habe ich mich also hiermit meiner Pflicht gegen Sie entledigt.«

Sie sprach die letzten Worte mit einer Art trotziger Schelmerei, die den Maler veranlaßte, auf den Gegenstand ihres Gespräches näher einzugehen, und so sagte er nach kurzem Besinnen: »Es war gestern eigentlich recht leichtsinnig von Ihnen gehandelt, allein und ohne ortskundigen Führer auf jenen Gletscher zu steigen. Ich hoffe, Sie haben eine lehrreiche Warnung für alle künftigen Zeiten erhalten.«

Sie hielt einen Augenblick ihr Pferd wie vor Verwunderung an, und ihr dunkles Auge blickte vorwurfsvoll über den dreisten Tadler hin. Mit herber Stimme fuhr sie auch gleich darauf fort, sobald ihr Pferd weiterging und Franz Marssen dicht hinter demselben herstieg, wobei sie den Kopf jedoch kaum nach ihm umwandte: »Sie irren sich, mein Herr. In den Büchern, die ich gelesen, steht, daß man auf dem Rhonegletscher keinen Führer gebraucht.«

»Ja, kein Tourist, und wenn das Wetter günstig und der Gletscher ruhig ist, da haben Sie recht. Aber eine Dame sollte keinen Fuß auf den trügerischen Boden setzen, noch dazu wenn es regnet oder schneit.«

»Eine Dame? Wie meinen Sie das?« lautete es fast heftig zurück. »Ich will nicht hoffen, daß Sie mich für schwach oder feige halten?«

»O nein, aber gewiß nicht, aber auch die Stärke und der Mut haben ihre Grenzen, namentlich was das Reisen in der Schweiz betrifft.«

»Sie brauchen mir keine guten Lehren mehr zu geben; ich bin in meinem Leben genug geschulmeistert worden und habe dies Vergnügen satt. Wenn Sie aber glauben, daß ich nach der Schweiz gekommen bin, um mich bequem in einen Sessel zu setzen und nur dann und wann mein Auge aufzumachen, dann irren Sie abermals. Ruhen und träumen konnte ich zu Hause auch, hier aber will ich handeln und sehen – ja handeln und sehen, und zwar alles sehen, was zu sehen ist.«

»Alles?« fragte Franz Marssen lächelnd. »Das ist viel gesagt und zeigt mehr von gutem Willen als von Weisheit. Denn alles, was hier zu sehen ist, wird nie ein Mensch sehen und wenn er die Schärfe von Adleraugen hätte und jahrelang auf den Bergen und in den Tälern herumkletterte. Das ist eben der Fehler so vieler die Schweiz Bereisenden, daß sie zu viel sehen wollen und darüber das beste vergessen; den Genuß des Gesehenen. Nein, ein verständiger Reisender beschränkt sich; er sucht sich das beste aus, wenn er Zeit und Mittel genug besitzt, und sieht lieber einzelnes ordentlich, als alles – wie Sie sagen – oberflächlich. Nur so ist der Genuß und der Vorteil auf seiner Seite.«

»Sie scheinen sehr didaktisch, mein Herr, und dabei sehr absprechend zu sein,« erwiderte die Dame fast schnippisch. »Aber dennoch überzeugen Sie mich nicht von Ihrer Ansicht der Dinge und ich werde also so lange auf der meinigen beharren, wie es geht. Und gerade, was die Gletscher betrifft, so habe ich ihnen meine besondere Gunst geschenkt. Ich will sie alle sehen und betreten, selbst die der Jungfrau und des Montblanc sollen mich nicht abschrecken, obgleich sie die gefährlichsten sind. Denn Sie müssen wissen, daß ich nicht, wie so manche andere, nur die Schweiz durchfliegen, sondern sie wirklich kennen lernen und genießen will. Wir bleiben nicht Wochen, sondern Monate innerhalb derselben.«

Der steiler und unwegsamer werdende Weg nötigte die Redende, das Gespräch momentan abzubrechen, welches wider Erwarten unseres Freundes einen etwas herben Beigeschmack angenommen hatte. Daß die junge Dame ein kleines eigensinniges, vielleicht verwöhntes Geschöpf sei, hatte er schon aus ihren ersten Worten entnommen und so schien ihr Wesen und Charakter vollkommen den Zügen zu entsprechen, die auf ihrem Gesicht lagen, so schön und anziehend dasselbe auch war. Seinen Gedanken darüber freien Lauf lassend, schwieg er, bis man wiederum an einen Halteplatz gelangte, wo man etwas länger verweilte, da das Wetter die Damen zu gewissen Vorkehrungen dagegen veranlaßte.

Der vorher schon so kalte Luftzug steigerte sich allmählich zum Winde und fegte von Zeit zu Zeit fast stürmisch aus dem gänzlich verhüllten Grunde herauf. Die Wolken senkten sich tiefer und dichter, und erst fielen einzelne Schneeflocken, dann in so starken Massen herab, daß man sich wie durch einen Zauberschlag mitten in den nordischen Winter versetzt glauben konnte.

Kopfschüttelnd stieg der fremde Herr vom Pferde und hüllte seine stöhnende Gemahlin in ihr dichtes Plaid ein; der Diener tat ein gleiches zuerst mit der jungen Dame, dann mit der Gesellschafterin, und auch Franz Marssen holte den Regenmantel wieder hervor, wobei ihm der Junge vom Rhonegletscher das Ränzel hielt, welches er vom Rücken genommen hatte. Als sich der Zug darauf wieder in Bewegung setzte und die Pferde wegen der starken Steigung langsamer als vorher schritten, wandte sich die junge Dame, deren Gesicht frisch aus dem Plaid hervorsah, nach dem Fußgänger um, als habe sie nicht übel Lust, das unterbrochene Gespräch mit ihm fortzusetzen.

»Wünschen Sie etwas?« fragte Franz Marssen, indem er mit einigen raschen Schritten sich ihrem Pferde näherte.

»Nein, aber ich hoffe, wir werden bald die Höhe der Maienwand erreicht haben. Der Weg muß anstrengend für Sie sein.«

»Mich strengt so leicht nichts an; aber in zehn Minuten etwa haben wir die Höhe des Passes erstiegen und einige Augenblicke später werden wir im Berner Oberlande sein.«

»Sie sind mit den Örtlichkeiten hier genau bekannt, wie es scheint?«

»O ja, so leidlich; und ich bemühe mich, es täglich mehr zu werden, da es mir Pflicht erscheint, mich mit meiner Heimat vertraut zu machen.«

»Ah, also sind Sie ein Schweizer?« rief die Dame verwundert aus. »Das dachte ich nicht. Aber warum antworten Sie mir nicht?«

Franz Marssen hatte geschwiegen, weil er es nicht nötig zu haben glaubte, jemanden von seinen Heimatsverhältnissen Rechenschaft abzulegen, der sich selbst in ein so tiefes Inkognito hüllte. Auf die dringliche Frage aber erwiderte er ein einfaches »Ja!«, das seine Gefährtin sich deuten mochte, wie sie wollte.

»Sie sprechen aber nicht, wie die Leute hier?« fuhr sie mit sichtbarem Eifer, die Wahrheit zu ergründen, fort.

»Das ist sehr natürlich. Ich habe lange an anderen Orten gelebt und bin im Auslande erzogen worden.«

»Wo, wenn man fragen darf?«

»In Düsseldorf.«

»Düsseldorf? Davon habe ich viel reden gehört. Daselbst ist ja wohl die berühmte Malerakademie?«

»Jawohl, und wenn es Ihnen Vergnügen macht, einen Zögling derselben kennen zu lernen, so stelle ich mich Ihnen als einen solchen vor.«

»Wie?« rief die Dame lebhaft zurück, »Sie sind ein Maler? O, das freut mich!«

»Warum denn?«

»Weil ich Ihre Kunst liebe und sie selbst ein wenig mit Passion treibe. Welchem Genre haben Sie sich gewidmet?«

»Ein guter Maler muß in allen Genres etwas leisten können, und das hoffe auch ich in Zukunft zu können. Wenn Sie mich aber nach meiner Liebhaberei in meiner Kunst fragen, so muß ich die Landschaftsmalerei als solche bezeichnen, obwohl ich auch die menschliche Gestalt darzustellen verstehe.«

Die junge Dame schien im Nachdenken versunken. Plötzlich fuhr sie aus ihrem Sinnen empor und rief: »Und jetzt sind Sie hier in der Schweiz ansässig? Wo wohnen Sie?«

»Ich lebe etwa seit einem Jahre bei meinem Vater in Interlaken, um bald auf längere Zeit nach Italien zu gehen und bei den älteren Meistern der italienischen Schule mir die möglichste Vollendung anzueignen.«

Die junge Dame ließ einen längeren Blick auf dem sicher und doch bescheiden Redenden ruhen, als wolle sie an ihm prüfen, welchen Grad der Vollendung er schon jetzt erreicht habe. Bald aber mußte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Weg lenken, der bei dem anhaltend fallenden Schnee nicht ohne Schwierigkeit war.

Man war nämlich auf der Höhe der Maienwand angelangt und schon ein Stück darüber hinausgerückt, ohne es eigentlich zu wissen. Ein kleiner See, Totensee genannt, tauchte plötzlich geheimnisvoll aus dem Schneegestöber auf, und die Pferde schritten ungemein vorsichtig um einen gewaltigen Granitblock herum, um welchen der Pfad sich wandte, und dieser wurde so schmal, daß kaum ein Pferd darauf gehen konnte, wobei zur rechten Seite ein schauerlicher Abgrund sich auftat, in dessen düsteren Tiefen, so wenig man davon sehen konnte, eine neue chaotische Welt zu liegen schien. –

Franz Marssen machte die Dame darauf aufmerksam, daß man sich jetzt im Kanton Bern befinde. Der morastige Weg hatte sich in einen mit Granitplatten bedeckten verwandelt, die von hier aus bis zur Grimsel und weit darüber hinaus sich erstreckten, und so bequem der Weg dadurch bei gutem Wetter geworden wäre, so gefährlich und glatt erwies er sich bei der Nässe und dem jetzigen Schneefall. Oft glitten die Pferde bei aller Vorsicht mit den Hinterfüßen aus und rutschten einige Schritte auf den Hacken hinab, und, die Gefahr kennend, die ihnen beim Ausgleiten der Vorderfüße drohte, traten sie, gleichsam jeden Stein prüfend, so behutsam damit auf, daß man nur höchst langsam vorrücken konnte.

Sobald man sich dem großen Felsblock genähert hatte und bevor noch eigentlich der Saumpfad bergab führte, war Franz Marssen an den Kopf des Pferdes der jungen Dame getreten und hatte, wie der Führer vorn, die Zügel desselben ergriffen, um das keuchende Tier bei den gefährlichen Tritten zu unterstützen. Die Reiterin, obwohl sie keine Furcht hegte, ließ ihn gewähren, da sie aber an der Unterhaltung mit ihm größeren Gefallen zu finden schien, als an der Betrachtung der düsteren Wolken und der steinigen Wüste um sich her, so fragte sie nach kurzer Pause wieder:

»Sie leben in einem republikanischen Lande, wie ich weiß. Sagen Sie mir, sind die Leute hier wirklich in dem Maße, als sie eine freiere Staatsverfassung haben, glücklicher denn anderswo?«

Franz Marssen, der ganz unvermutet einen so wißbegierigen Geist in dem schönen Mädchen fand, sann einen Augenblick nach, dann, einen tiefen Seufzer ausstoßend, sagte er: »Ach, wo in der Welt werden Sie, selbst bei der besten Staatsverfassung, ganz glückliche Menschen finden, mein Fräulein? Auch über die Schweiz kann ich Ihnen in Bezug auf die Politik nicht viel Gutes sagen. Leider nein. Wie überall sind auch hier die Leute uneinig; Kanton gegen Kanton, Städte gegen Städte, Landgemeinden gegen Landgemeinden verhetzt, verbittert; Zwiespalt und Hader herrscht überall, im großen und kleinen, kurz, der allgemeine Weltjammer ist hier ebenso wie sonstwo vertreten. Ach ja, wo in der Welt ist noch Frieden und Eintracht zu finden? Wo Menschen wohnen, da ziehen beide aus, und nur in der Natur, in diesen Bergen, in den reinen Lüften möchte man sie suchen, wenn man allein und mit sich und seinem Gott zufrieden ist, und gerade darum wandere ich so gern allein, um in Gottes großer Schöpfung mein Herz zu erquicken und meine Seele reinzubaden von den Schlacken, die die große Welt darin allmählich absetzt. – Jedoch,« fuhr er nach einer Weile fort, »diese Mitteilung wird Sie nicht interessieren; junge Damen pflegen sich nicht gern mit politischen Dingen und Ansichten zu beschäftigen.«

Die Reiterin erhob sich stolz in ihrem Sattel und sah ihn groß an, als begreife sie seine Zweifel nicht. »Sie irren sich nochmals in mir und meinen Neigungen,« sagte sie, »denn im Gegensatz zu anderen Frauen interessiere ich mich sehr für Politik und alles, was damit zusammenhängt. – Das darf Sie nicht Wunder nehmen,« fuhr sie lebhaft fort, als er nun auch seinerseits einen verwunderungsvollen Blick auf sie heftete, »denn ich bin inmitten politischer Bewegungen groß geworden, und in meinem väterlichen Hause hat die Politik stets eine große Rolle gespielt.«

Sie hielt einen Augenblick inne, als besinne sie sich, ob sie weiterreden solle oder nicht, endlich aber, als sie die Offenheit und Ehrlichkeit in des Malers Zügen gewahrte, mit der er ihre Eröffnung aufnahm, fuhr sie fort: »Nun, warum soll ich es verschweigen: mein Vater hat, so lange ich wenigstens denken kann, sich auf der diplomatischen Laufbahn bewegt, und obwohl er selbst keine große Freude daran erlebt, hat er auch uns oft genug in das Triebwerk blicken lassen, welches die politischen Räder in Bewegung setzt. Doch halt, hier fange ich an, nicht gerade diplomatisch zu handeln, indem ich einem vollkommen Fremden einen Einblick in unsere Familienverhältnisse gewähre. Ich bitte Sie daher, behalten Sie für sich, was ich Ihnen eben sagte, und am wenigsten lassen Sie meinen Vater merken, daß Sie seinen Stand erraten haben, da er es nicht liebt, daß man sich um seine Person und seine Verhältnisse in der großen Welt bekümmert. Ueberhaupt tut man am besten, wenn man sich so wenig wie möglich mit ihm beschäftigt. Er liebt es einmal, unbeachtet seine eigenen Wege zu gehen.«

Es entstand eine Pause, während man sich überaus vorsichtig und langsam auf den schlüpfrigen Platten fortbewegte, wobei Franz Marssen noch immer die Zügel des Pferdes fest in der Hand behielt. Plötzlich aber erhob er den Kopf, und als wollte er sich wenigstens über einen zweifelhaften Punkt inbetreff der Persönlichkeit der jungen Dame Auskunft verschaffen, fragte er mit einer Energie, die er bisher im Gespräch nicht an den Tag gelegt: »Sie verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß Sie in England geboren sind?«

Die junge Dame schien über diese unerwartete Frage etwas erstaunt, doch faßte sie sich schnell und entgegnete mit fast gleichgültigem Tone: »Wie kommen Sie zu dieser Meinung?«

»Mein gutes Ohr hat mich darauf gebracht, denn ich hörte auf der Furca sowohl, wie im, Gasthaus am Rhonegletscher, daß Sie die Sprache der Dame, die da vorn reitet und jedenfalls eine Engländerin ist, vortrefflich zu gebrauchen verstanden.«

Die Dame rümpfte die Nase, warf den Kopf etwas hochmütig zurück und, ohne auf die Frage einzugehen, sagte sie kurz: »Ich spreche drei Sprachen gut und eine schlecht. Meine Heimat aber haben Sie nicht erraten, wenn ich auch Ihrem Ohre zugestehen muß, daß es seine natürliche Schuldigkeit tut.«

Nach einer kurzen Pause, während welcher sich Franz Marssen ein wenig ironisch verneigte, fragte er unbefangen weiter: »Welche Sprachen sprechen sie schlecht?«

»Die französische.«

»Und welche am besten?« fuhr er lächelnd fort, da er nun ziemlich gewiß war, auf so indirekte Weise hinter das offenbar absichtlich bewahrte Geheimnis der Dame zu kommen. Aber er hatte sich in der jungen Reisenden geirrt; wenn sie etwas verhehlen wollte, hatte sie den Geist dazu, und so sagte sie mit gemessener Würde:

»Sie gehen schlau zu Werke, wo Ihnen die Ehrlichkeit nichts hilft, und so muß ich Ihnen antworten, daß ich meine Muttersprache am besten spreche.«

»Und welche ist das?« fragte Franz Marssen halb leise und mit lauerndem Auge.

Sie blieb ihm die Antwort eine Weile schuldig, dann sagte sie rasch und abermals ausweichend: »Meine Mutter ist eine Schottin!«

Franz Marssen lächelte und blickte still vor sich hin, denn er erkannte jetzt den festen Willen, ihm keine bestimmte Auskunft zu geben; aber noch gab er sich nicht zufrieden, vielmehr schlug er einen neuen Weg ein, um zu seinem Ziele zu gelangen. »Ich verstehe Sie noch immer nicht ganz,« sagte er. »Wenn Schottland Ihr Vaterland ist, wie ich gleich anfangs vermutete. –«

»Das habe ich nicht gesagt,« unterbrach sie ihn etwas scharf, »ich sagte nur, daß meine Mutter eine Schottin ist, und weiter nichts. Aber Sie hatten noch einen Nachsatz auf den Lippen?«

»Ja, ich wollte mir nur zu bemerken erlauben, daß Sie für die Tochter einer Schottin sehr gut deutsch sprechen.«

Hier traf ein vorwurfsvoller Blick den so hartnäckig auf seiner Absicht Beharrenden, der, wie er glaubte, jetzt seinem Ziele um einen Schritt näher gekommen war. Dann sagte sie mit einem heftigen Zucken der Oberlippe: »Deutsch muß bei uns jeder sprechen, der zur guten Gesellschaft gerechnet werden will. Jedoch damit habe ich Ihnen alles gesagt, was ich Ihnen sagen will. Lassen wir das Gespräch über persönliche Verhältnisse, ich liebe das ebensowenig wie mein Vater. Begnügen Sie sich vielmehr mit Ihrer Erfahrung, daß ich vier Sprachen spreche, wie ich mich damit begnüge, zu wissen, daß Sie Landschaften und Figuren malen können.«

Sie wandte dabei hastig den Kopf zur Seite, und das Gespräch über den beregten Gegenstand hatte jetzt wirklich sein Ende erreicht. Das fühlte Franz Marssen sehr wohl, aber wenn er auch Lust dazu verspürt, es noch eine Weile fortzusetzen, so sollte er doch fürs erste keine Gelegenheit dazu haben.

Man hatte nämlich auf der heutigen Wanderung die Höhe erreicht, von welcher aus man, wie in einen ungeheuren, rings von kahlen Steinmassen eingeschlossenen Kessel, tief nach der Talsohle hinunterblickt, in welcher das Grimselhospiz immer noch 6000 Fuß hoch über dem Meeresspiegel liegt. In der ganzen Schweiz gibt es wenige so großartige Punkte, und vielleicht trägt gerade die Öde und Verlassenheit dieses Tales, welches die Verbindung zwischen Italien und Deutschland vermittelt, dazu bei, es dem Auge des Wanderers so erhaben und bedeutungsvoll erscheinen zu lassen, zumal er stets, mag er von Norden oder Süden kommen und von Hitze oder Kälte gelitten haben, froh ist, ein schirmendes Dach vor sich zu sehen und auf eine gastliche Aufnahme rechnen zu können.

Als man den höchsten Punkt des Gebirgssattels erreicht hatte, hielt der vordere Führer das Pferd der kranken Dame an und deutete in den tiefen Schlund hinab. Anfangs nahmen die mit der Örtlichkeit nicht vertrauten Fremden das Haus nicht wahr, denn sein Dach war mit Schnee bedeckt, wie die nächste Umgebung desselben und viele aufragende und umhergestreute Felsblöcke. Glücklicherweise hatte sich das Unwetter etwas gelegt, der Wind sauste nicht mehr so kalt über die Höhen, die schweren schwarzen Wolken hatten sich gesenkt, und kein Schnee rieselte mehr auf die halb erstarrten Reisenden herab. Als der Führer nun den Fremden das Hospiz gezeigt hatte, blickte die ältere Dame freudig ihren Mann an, gleich darauf aber faßte sie eine neue Angst, als sie daran dachte, daß sie den glatten Pfad auf den halb mit Schnee bedeckten Granitplatten hinuntersteigen und der Geschicklichkeit und Kraft ihres Pferdes sich vollständig überlassen müsse.

»Aber wird denn das Hinabreiten hier möglich sein?« rief sie in englischer Sprache aus, die ihr Führer hinreichend verstand, wie die meisten guten Führer in der Schweiz.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Mylady,« erwiderte er. »Allerdings tut man besser, zu gehen, aber Sie sind zu schwach, den steilen Berg auf dem nassen Wege hinabzuklimmen. Ich werde Sie sicher hinunterbringen, wenn der Herr hier das Pferd am Zügel weiterführen will.«

Der aufmerksame Gemahl zeigte sich sogleich dazu bereit, und nun wickelte sich der Führer den langen Schweif des Pferdes um die linke Hand, während er sich mit der Rechten fest auf seinen Stock stützte, um so den Gang des Tieres noch sicherer zu machen und ein etwaiges Ausgleiten nicht gefährlich werden zu lassen. In diesem seltsamen Aufzuge trat das erste Pferd seinen Gang an, und da der Junge vom Rhonegletscher es mit dem Pferde der zweiten Dame ebenso machte, waren beide bald in Bewegung, während der abgestiegene Diener noch immer zögerte, die halsbrechende Reise zu beginnen.

Die junge Dame dagegen hielt noch immer still und sah mit etwas unbehaglicher Miene ihre Mutter und deren Gefährtin den Abhang hinabreiten. »Soll ich Ihr Pferd nicht auch wieder führen?« fragte da eine Stimme neben ihr, und Franz Marssen stand abermals dicht an ihrer Seite.

Sie warf nur einen raschen Blick auf ihn, dann schüttelte sie den Kopf und rief: »Nein, lassen Sie es, ich will gehen, der Weg scheint mir zu schlüpfrig, und auch Sie könnten ausgleiten. Ich vertraue meinen eigenen Füßen in jedem Falle mehr, als denen anderer.«

Als sie dies sagte, näherte er sich ihr, um ihr aus dem Sattel zu helfen. Aber da zeigte sie ein unwilliges Gesicht, und mit beiden Händen seine schon ausgestreckten Arme abwehrend, rief sie ungestüm: »Bitte, fassen Sie mich nicht an – ich liebe das nicht. Geben Sie mir nur Ihren Stock, und dann gehen Sie, wo und wie Sie wollen.«

Sie war noch nicht mit ihren Worten zu Ende, so hatte sie sich, ohne daß jemand sah, wie es geschah, mit alleiniger Hilfe des langen Alpstocks geschickt aus der Gabel des Sattels geschnellt, und im Nu stand sie auf dem nassen Boden. Gleich darauf wanderte sie, ihr Plaid rasch hoch aufschürzend, mit stolzen, kühnen Schritten den steilen Abhang hinab. So hatte sie, von Franz Marssen in einem gewissen Abstande gefolgt, die viel langsamer vor ihr Reitenden bald eingeholt, und als sie dicht hinter ihnen war, gab sie ihre Anwesenheit durch einen lauten Zuruf zu erkennen, wie sie ihn wohl schon oft von den fröhlichen Eingeborenen des Landes gehört haben mochte.

Als die Mutter diesen Ruf vernahm, sah sie sich ängstlich um und rief in englischer Sprache zurück: »Du bist abgestiegen? Warum?«

»Mein Pferd ist nicht so zuverlässig wie meine Beine,« lautete die in gleicher Sprache zurückgegebene Antwort.

»Ach, mein Herr,« wandte sich die ältere Dame nun in gebrochenem Deutsch an den Maler, als sie ihn auch in der Nähe sah, »also das ist das Grimselhospiz? Werden wir ein behagliches Unterkommen finden?«

»Gewiß,« antwortete der Maler, »so behaglich, wie man es in dieser Öde nur erwarten kann. Sie werden dort unten bis übermorgen früh Ruhe und Erholung finden, dann sind unsere guten Pferde da, und hoffentlich treten wir bei besserem Wetter die angenehme Reise durch das schöne Haslital nach Meiringen an. Von da fahren Sie bequem nach Brienz und zuletzt mit dem Dampfboot nach Interlaken. Dort finden Sie alles, was Sie wünschen können.«

»O, ich danke Ihnen für Ihren Trost,« sagte die wiederholt vor Kälte zusammenschauernde Dame und wandte sich nun wieder dem Hospiz zu, dem die ganze Karawane langsam näherrückte.


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