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Buchschmuck

Viertes Kapitel.
Am Rhonegletscher.

Als die beiden Reisenden auf die Kuppe des Gebirgssaales traten, auf welcher das Wirtshaus der Furca liegt, schauten sie sich zunächst nach dem Aussehen des Himmels um und fanden denselben nicht mehr so drohend und unheilvoll wie am Morgen dieses Tages. Die Wolken, schwarzgrau von Farbe und von runder, zusammengeballter Gestalt, hatten sich zwar tief auf den Gebirgsrücken herabgesenkt, aber sie entsendeten nur von Zeit zu Zeit noch kleine Schneeflocken, deren leichtes Geriesel sich ertragen ließ, nachdem man so lange im strömenden Regen vorwärts geschritten war. Wenn es aber oben auf der Höhe noch trübe und nächtig genug aussah, so leuchtete doch schon unter ihnen eine viel durchsichtigere Helle, und ein gutes Auge konnte ganz unten in der Tiefe einige Reiter langsam ihres Weges ziehen sehen, welche ohne Zweifel zu der Gesellschaft gehörten, die vor kurzer Zeit noch in der Furca lustig geschmaust und gezecht hatte. Dagegen war die Temperatur ungewöhnlich kalt, ein regenloser Wind kam von Nordwesten herüber und blies dann und wann in so mächtigen Stößen, daß die beiden Reisenden ihre Hüte festbinden mußten, um sie auf dem Kopfe zu behalten.

Endlich waren sie mit allen Vorbereitungen fertig, um das Bergabsteigen zu beginnen. Es ging zuerst sehr steil hinab, und das Klettern erwies sich um so mühsamer, je mehr die Oberfläche des Bergrückens in zahllose Blöcke und Stücke verschiedener Größe zerrissen war, zwischen denen halb Schnee und Eis lag, halb sumpfiges Wasser stand, auf diese Weise Lachen und Löcher bildend, über die man hinwegschreiten oder springen mußte, da es nirgends einen festen oder sichtbaren Weg gab.

Gleich bei den ersten Schritten übrigens überzeugte sich Baron Tekeli, daß er keinen unerfahrenen Bergsteiger zum Gefährten habe, der überdies mit der Örtlichkeit dieser Gegend sehr genau vertraut schien. So gern der erstere schnell vorgeschritten wäre, der Maler übereilte sich nicht und hielt den anfangs heftig vorwärts drängenden Ungar mit belehrenden Worten zurück. Seinen biegsamen und gewandten Körper lehnte er beim jähen Bergabsteigen in der Regel auf den als Fühler vorausgesteckten Alpstock, wie auch der Ungar jetzt einen führte, aber wenig zu brauchen verstand; zuweilen schwang er sich mit weitem Sprunge leicht und behend auf einen aufragenden Stein, zuweilen auch schritt er langsam und vorsichtig von Geröll zu Geröll, aber niemals ließ er den Stock eher los, als bis er festen Fuß gefaßt, wo es auch sein mochte.

Eine Viertelstunde dieses beschwerlichen Kletterns schien dem ungeübten Fußwanderer schon eine Ewigkeit zu dauern; seine feinen Stiefel waren bereits durchnäßt, und an einer Stelle sogar auseinandergeborsten. Wiederholt blickte er sich verlangend nach seinem Pferde um, das seitwärts einen bequemeren, aber viel nasseren Pfad mit dem Führer herabkam und ihnen allmählich näherrückte.

Franz Marssen, der die Augen überall hatte, bemerkte diese Blicke sehr wohl und deutete sie ganz richtig; daher gab er dem nicht allzufernen Pferdeführer einen Wink mit der Hand. Dieser verstand ihn, und in wenigen Minuten war man an eine Stelle des Abhangs gekommen, wo das Reiten wieder möglich wurde, und so stieg der Ungar infolge der Aufforderung seines Gefährten in den Sattel, um nun die Reise unter günstigeren Verhältnissen fortzusetzen.

Langsam schritt nun Franz Marssen voran. Der bisher so schlüpfrige Weg war besser, auch weniger jäh geworden; das leichte Schneegestöber dagegen hatte in der schon geringeren Höhe nachgelassen, dafür aber rieselte wieder ein feiner, kalter Staubregen herab, der das Marschieren nicht behaglicher und die an sich schon nassen Wege nicht trockener machte. Nachdem sie aber noch einige Minuten schweigend abwärts gezogen waren, blieb der Maler stehen und ließ den ungeduldigen Reiter voran, wobei er eine lächelnde Miene zeigte und einen forschenden Blick auf das Gesicht desselben warf, der stolz und sicher auf einem starkknochigen Gaul saß.

In diesem Augenblick wandte sich der eingeschlagene Weg um einen Felsenvorsprung westwärts, und wie es der Maler vermutet, erfolgte sogleich ein verwunderungsvoller Ausruf seines Gefährten, und zur selben Zeit hielt er sein schnaubendes Pferd an, das willig dem Zügelzug gehorchte, als habe es den Haltepunkt vorausgesehen.

»Was ist das?« rief der Fremde erstaunt, mit der Hand vor sich in die Ferne deutend. »Das sieht ja seltsam und fast wie ein gefrorner, vom Himmel herabkommender Fluß aus!«

»Ja,« erwiderte der Maler ernst und trat an seine Seite, »Sie haben recht, es ist auch ein gefrorener Fluß, der seine Quellen wenigstens in den Wolken des Himmels hat. Hier sehen Sie aber nur seinen unteren, flachen Teil, wenige Minuten später werden Sie seinen oberen vor sich haben und dann erst das Naturwunder in seiner ganzen Ausdehnung überschauen. Sie haben sich ja schon lange auf den Rhonegletscher gefreut, wohlan denn, da liegt er vor Ihnen.«

»Wie?« rief der Ungar freudig erstaunt, »ist das der Rhonegletscher?«

»Ja, mein Herr, und nun kommen Sie rasch weiter, damit Sie bald Gelegenheit haben, das wunderbare Gebilde aus der Nähe zu betrachten.«

Der Maler hatte recht; in kurzer Zeit standen sie am Fuße des Gletschers, der sein grauweißes Eisgeschiebe bis dicht an die glühenden Alpenrosen senkte, die hier, an die kalte Umgebung gewöhnt, ihre lieblichste Pracht entfalteten. Wie ein gewaltiger, stundenlanger und unabsehbar breiter gefrorener Wasserfall stürzte er sich, nur von den höchsten zerrissenen Felsspitzen des Galenstocks überragt, in terrassenförmigen Abstufungen hernieder, zu beiden Seiten von starren Felspyramiden eingefaßt, welche die ungeheure Wucht des herabstürzenden Riesen auseinander gebrochen zu haben schien. Wenn aber die höchsten silbernen Spitzen im Nebel des sprühenden Regens fast verschwanden, unten, in der Nähe der Reisenden, öffnete dieser erhabene Eisbau alle seine magischen Geheimnisse und Wunder und wie geblendet schauten die beiden Wanderer in die oft klafterweit auseinandergerissenen Eisspalten hinein, die, je tiefer sie sich in den starren Schoß senkten, eine um so reinere Azurfarbe zeigten, die selbst das sprudelnde Eiswasser, welches sie alle füllte, zu teilen schien.

»Nun,« sagte der Maler mit vor Freude und Bewunderung gedämpftem Stimmlaut, »was sagen Sie nun, Herr Baron? Lohnt dieser Anblick die Mühe des Bergsteigens und kann man sich seinetwegen nicht ein wenig naß regnen lassen?«

Der Ungar schaute mit noch immer halb starrem Blick auf das noch nie gesehene Eisgebilde. »Ich sage nichts,« flüsterte er endlich, »denn ich kann nichts sagen. Hier hören Worte auf, das auszudrücken, was der Mensch in seiner Seele empfindet.«

Der Maler nickte beistimmend und beide sättigten ihre Augen an dem wunderbaren, großartigen Schauspiel, welches der Mensch nie wieder vergißt, wenn er es einmal gesehen.

Plötzlich aber hob der Ungar seinen Arm und deutete auf die hügelartig geschwungene Höhe der untersten Eisterrasse. »Was ist das?« rief er. »Klettern da nicht Menschen herum?«

Das gute Auge des Malers folgte dem deutenden Finger des Fragenden, und in der Tat schienen auch ihm die kleinen Punkte, die er da oben auf dem schneeigen Grunde sich hin und herbewegen sah, Menschen zu sein. »Ja,« sagte er kopfschüttelnd, »es sind freilich Menschen, was sollte es anders sein? Aber wer kann so töricht sein, bei diesem Nebel und Regen, der bei der Kälte oben augenblicklich zu spiegelblankem Eise gerinnt, über die gefährlichen Spalten des Gletschers hinaufzuklettern? Ja, wahrhaftig, jetzt sehe ich sie deutlicher, es sind Menschen und sie scheinen sich den großen Wasserfall zum Ziel genommen zu haben, der da oben über hundert Fuß hoch von Eisklippe zu Eisklippe herabstürzt. Nun, ich wünsche Ihnen Geschick und Ausdauer. Hinauf zu kommen, hat am Ende keine Not, aber wie sie wieder herabkommen wollen, das sehe ich noch nicht ein. – Nun aber vorwärts, Herr Baron! Da, heben Sie Ihr Auge auf – da unten links kommt die junge Rhone aus dem eisigen Gewölbe hervorgerauscht, brüllend und tobend, um zuerst dort unter der kleinen Holzbrücke fortzusprudeln, die Schweiz und Frankreich flüchtigen Fußes zu durcheilen und endlich in das mittelländische Meer sich zu ergießen, wo ihr leidenschaftlicher Strom, wie alle Leidenschaften, wenn sie kopfüber in die Tiefe stürzen, seinen spurlosen Untergang findet. Und da – sehen Sie es – dicht am Gletscher und am Eisgewölbe der Rhone steht das gastliche Haus des Herrn Seiler, zu dem wir jetzt gehen, um uns an einer Tasse heißen Kaffees zu erwärmen und wahrscheinlich die schottische Vision von der Furca wiederzufinden.«

Die letzten Worte des Redenden schienen den Ungar aus seinem brütenden Hinstarren zu wecken. Er stieß einen vaterländischen Freudenschrei aus, der wild genug über die Eistreppen klang, und trieb sein Pferd zu rascherem Schritte an, zumal der Weg jetzt ebener und leichter zu passieren war.

Sie brauchten nicht mehr weit zu gehen, um ihr nächstes Ziel zu erreichen. Sich vom Gletscher wieder westwärts wendend, gelangten sie bald an eine grüne Wiese und nachdem sie diese überschritten, hatten sie die jungfräuliche Rhone vor sich, die, noch grau und bleich von unaufgelöstem Schnee und fortgerissenen Eisstücken, von einem einfachen Lattenwerk überbrückt wurde, welches unmittelbar vor das an die Felsen sich lehnende neue Gasthaus führte.

Schon das Äußere dieses zwar nicht stattlichen, doch ansehnlichen Baues kündigte sich gastlich und einladend an, und noch mehr wurden die Gäste durch die innere Einrichtung befriedigt, denn wenn auch nirgends Glanz und Luxus, sogar nicht einmal in dem großen Speisesaal zu bemerken war, so sah doch alles frisch und blank, bequem und zweckentsprechend aus, wodurch es um ein Bedeutendes von der verräucherten und dumpfen Gaststube auf dem Furcasattel abwich.

Als die beiden Reisenden vor dem Hause anlangten, war nirgends ein Führer der Herrschaften zu sehen, die vor kurzer Zeit erst angekommen sein konnten. Diese Männer, unwillig, auf so ungebahnten Wegen allen Einflüssen des schlechten Wetters widerstandslos preisgegeben zu sein, hatten sich in ein Hintergemach zurückgezogen, wo sie entweder schliefen oder bei einem Schoppen Wein schwatzten. Mehrere Pferde aber standen mit tiefgebeugten Köpfen zitternd und bebend ohne allen Schutz und Schirm in dein strömenden Regen, und vergeblich war des Malers Versuch, die herzlosen Treiber derselben zu veranlassen, besser für ihre Tiere zu sorgen.

»Sie sind es gewohnt,« lautete die brutale Antwort eines häßlichen Mannes mit einem wahren Banditengesicht, »und haben es kaum schlimmer wie wir, die wir doch Menschen sind.«

Während der mitleidige Künstler sich auf diese Weise im Freien beschäftigte, war der Ungar bereits in das große Gastzimmer getreten und mit raschem Überblick hatte er, wie auch bald der nach ihm eintretende Maler, die darin anwesenden Personen erfaßt, die sämtlich der schon früher geschilderten Gesellschaft angehörten. Jedoch saßen sie hier in nicht so enger Gemeinschaft wie an der übervollen Furcatafel, vielmehr hatten sie sich in einzelne Gruppen aufgelöst, da sie in dem langen und weiten Gemach Raum genug für sich und ihre Reiseeffekten fanden.

Das erste, was dem achtsamen Maler auffiel, war die komfortable Bequemlichkeit, die Mr. Raphael Flail sich und seiner Lady zu verschaffen gewußt und deren Mitgenuß er gleichwohl, kraft seiner privilegierten Selbstsucht als Engländer, den übrigen Anwesenden vorzuenthalten verstanden hatte. Mr. Raphael Flail hatte sich nämlich das einzige Sofa im Saale vor den Kamin gerückt, in welchem ein helles Holzfeuer brannte, und nun saß er mit der langlockigen Lady gemächlich wie ein Pascha auf weichem Sitz, hatte sein feuchtes Schuhwerk gegen das Kamingitter gestützt, und sog, die Arme lässig weit über die Lehne hinten auseinander gespreizt, mit vollem Behagen die warme Luft ein, die ihm vom knisternden Feuer entgegenströmte. Damit aber auch ja niemand den okkupierten Sitz mit ihm zu teilen suche, hatte er sein und seiner Frau Plaid über die Seitenlehnen desselben ausgebreitet. Neben sich endlich, um alles zu genießen, was der Augenblick bot, hatte er einen kleinen Tisch mit Teegeschirr gerückt, und so schlürften beide, Mann und Frau, von Zeit zu Zeit den belebenden Trank ein, ohne dessen Genuß ein Engländer nun einmal kein wahrer Engländer ist.

Alle übrigen Gäste, sogar sein Nachbar von der Furca her, der sich ihm dort zuerst genähert, hatten sich jetzt von dem egoistischen Insulaner so weit wie möglich zurückgezogen. Am heißen Ofen in der hinteren Ecke, über den man haufenweise die durchnäßten Tücher gehängt, saßen zunächst die Franzosen in eifrigem Gespräch mit dem finster blickenden Herrn begriffen, der ohne Zweifel der Vater der jungen Schottin war. Diese selbst, ebensowenig wie die drei Studenten, waren im Zimmer zu sehen. Nicht weit vom Ofen aber, auf einem einfachen Stuhl, der ihr nicht die geringste Bequemlichkeit bot, saß mit niedergebeugtem Kopfe die leidende Gattin jenes Herrn und vergeblich hatte die vor ihr stehende Gesellschafterin sie mit Decken eingehüllt, denn die im Innern der Dame sich fühlbar machende Kälte vermochte sie ihr damit nicht zu vertreiben.

Mitten im Zimmer hin und herschreitend und bisweilen einen Schluck von ihrem auf dem Tische stehenden Kaffee schlürfend, bewegten sich die beiden Mecklenburger, um ihren erstarrten Gliedern wieder einige Geschmeidigkeit zu verschaffen. Die heitere Laune, die sie zuletzt auf der Furca an den Tag gelegt, war augenscheinlich schon lange wieder verdampft. Ihre bärtigen Gesichter zeigten einen grollenden Ausdruck, und mit ungestümer Heftigkeit bliesen sie den Dampf von sich, den sie mit gewaltiger Lungenkraft ihren Zigarren entzogen. Dabei unterhielten sie sich laut über das grenzenlose Mißgeschick, welches sie unablässig bei ihrem ersten Bergritt verfolgte, und konnten nicht begreifen, warum sie so unklug gewesen waren, ihr behagliches Gut und alle Bequemlichkeiten zu verlassen, die ihnen daselbst zu Gebote standen.

»Das soll also wirklich ein Vergnügen sein,« sagte der eine zum andern, »ein Vergnügen? Hast du schon je solchen Unsinn erlebt, Vetter? Nein, toll und verrückt ist jeder, der nach der Schweiz reist und nicht gleich umkehrt, wenn der Himmel sich wie eine Rauchkammer färbt. Bei meiner Seele, ich werde unsern lieben Freunden zu Hause eine gute Beschreibung liefern. Was gilts, Vetter, machen wir kehrt und rühmen uns nachher, daß wir weise gewesen sind und wenigstens unsere Haut salviert haben?«

Der griesgrämige Vetter blickte aus dem Fenster, gegen das eben wieder der Regen schlug, und schüttelte unwillig den Kopf. »Verteufelt unangenehm ist es und den Tod kann man davon haben, allerdings,« entgegnete er, »aber was hilft es, wenn wir jetzt Chamade schlügen und wie die Krebse rückwärts kröchen. Zum Teufel, wir müßten ja immer durch den Regen und über die verzauberten Berge fort, und wenn wir hinaus sind, scheint die Sonne und lacht uns aus, dann kommt der blaugrüne Ärger hinterher. Nein, Vetter, laß uns bleiben, wo wir sind, und die Leidensschule durchmachen, wie die andern. Sind wir einmal Narren gewesen, daß wir in unserm gesetzten Alter uns zu einer solchen Reise beschwatzen ließen, so wollen wir uns wenigstens zu Hause nicht auslachen lassen, daß wir vor einem republikanischen Regen davongelaufen sind. Nein, nein, lügen wir ihnen lieber vor, daß wir alles im Sonnenschein gesehen haben –«

»Ja, was denn, wir haben ja noch gar nichts gesehen?« unterbrach ihn der Vetter polternd.

»O doch, die krumme Eisbahn da, die man Gletscher nennt, und die Furca, die wie eine Gabel aussieht. Haha! Komm, ärgere dich nicht, Vetter, und trinke noch eine Tasse Mokka. Das Zeug ist gut und – da – da brenne dir noch eine Zigarre an, bis wir die alten Braunen wieder besteigen müssen!«

Der Vetter befolgte den gutgemeinten Rat und beide setzten ihre Wanderung im Zimmer fort, alle Augenblicke an die Fenster tretend und das Wetter prüfend, das zu eigensinnig war, um sich nur ein klein wenig nach ihren Wünschen zu bequemen.

Der Ungar hatte sich bis jetzt vergeblich nach der noch immer abwesenden Vision umgeschaut und war dabei in die Nähe des Ofens getreten, wo die Franzosen sich mit dem alten Herrn unterhielten. Man sprach davon, ob es nicht geraten sei, bei dem anhaltenden Unwetter lieber an Ort und Stelle zu bleiben und eine Besserung abzuwarten, und dazu schien sich auch einer der Führer zu neigen, der einmal hereinkam und über den Stand des Wetters berichtete.

Unterdessen hatte Franz Marssen von der Lage der Dinge im Gastzimmer Kenntnis genommen und ihn dauerte eben so innig die arme kranke Frau, die vor Frost fast verging, wie ihn das lieblose Betragen des Engländers verdroß. Als er einmal in der Nähe des Stuhles vorüberging, auf dem die Leidende saß, glaubte er ihr schönes Auge klagend auf sich gerichtet zu sehen, und, von einem raschen Impulse getrieben, trat er an sie heran, begrüßte sie als seine Tischnachbarin auf der Furca und fragte, ob sie sich jetzt wohler befinde, als es vorher den Anschein gehabt.

Anfangs richtete die Dame verwundert ihr großes braunes Auge auf den Fragenden, als könne sie nicht recht begreifen, daß ein völlig Fremder sie anzureden wage. Als sie aber das wirkliche Mitgefühl in seinem Antlitz las, welches ihn zu den freundlichen Worten bewogen, blickte sie etwas sanfter auf ihn hin und erwiderte mit matter Stimme und in einem schwer verständlichen Deutsch, daß sie sich immer, also auch jetzt, unwohl fühle, daß sie entsetzlich friere und unter allen Umständen ein warmes Bett jedem andern Labemittel vorziehen würde.

Als Franz Marssen diese mit einem Ausdruck tiefen Leidens gesprochenen Worte vernahm, regte sich plötzlich ein seltsames Gefühl in seiner Brust, und schon war in der Stille beschlossen, was sogleich ausgeführt werden sollte. »Würden Sie gern dort auf jenem Sofa am Feuer liegen?« fragte er mit fast vertraulich klingender Herzlichkeit.

Die kranke Dame schlug ihr Auge von neuem verwundert zu dem teilnehmenden Fremden auf, aber sie sagte kein Wort, obgleich ein leises »O ja!« wie ein Hauch auf ihren Lippen schwebte, nur sah sie dabei mit still anklagendem Blick nach dem lodernden Kaminfeuer hin, vor dem der kräftige Engländer noch immer seine feuchten Stiefel trocknete.

Da war der Entschluß des jungen Mannes zur Reife gediehen. Festen Schrittes und mit stolzer Haltung bewegte er sich dem Kamine zu, stellte sich unmittelbar an die Seite des laut gähnenden Engländers, und da dieser ihn nicht zu bemerken schien, sagte er laut und in verständlichem Englisch: »Mein Herr, ich bin der Meinung, daß Sie für Ihre Person sich hinlänglich an diesem Feuer gewärmt haben. Dort drüben sitzt eine kranke Lady, die vor Frost zittert und der Wärme mehr bedarf als Sie. Darf ich Sie also bitten, ihr für jetzt Ihren Platz hier abzutreten?«

Der Engländer schaute verdutzt auf und sah den Sprechenden an, als habe er nicht recht gehört. Aber da wirkte das Auge desselben mächtiger als seine Worte, und Mr. Raphael Flail verstand plötzlich, was er gern überhört hätte. Mit dem einfachen stereotypen Ausruf der Briten: » Yes, Sir!« erhob er sich, mit ihm zugleich seine vom Feuer völlig getrocknete Frau, und Franz Marssen ging sogleich zu der Kranken zurück, bot ihr den Arm, und zwei Minuten später war ihr ein behaglicher Platz auf dem warmen Sofa bereitet, den die Sorgfalt ihrer Gesellschafterin mittels einer übergeschlagenen Decke noch angenehmer gestaltete.

Der Gemahl der nun wohlgebetteten Dame hatte von dem Vorgange nichts bemerkt: er stand, den Franzosen am Ofen das Gesicht zugekehrt, mit dem Rücken nach dem Zimmer hin, und als er sich später zufällig umdrehte und den Wechsel des Platzes seiner Gemahlin gewahrte, glaubte er, daß der Engländer aus freien Stücken das so lange behauptete Feld geräumt habe.

*

Während nun der Ungar am Tische saß und seinen Kaffee trank, den Franz Marssen bereits stehend und gehend eingenommen, trat dieser von Zeit zu Zeit den am Ofen Plaudernden näher und hörte ihrer Unterhaltung zu, deren Gegenstand das böse Wetter und die Reise hierher war. Der unbekannte Herr, der ziemlich fliehend Französisch sprach, ergoß sich in fast heftig vorgebrachten Klagen über seine jämmerlichen und unsicheren Pferde, die erst in der Nacht vor seinem Aufbruch von einer beschwerlichen Reise nach Hospenthal zurückgekehrt wären. Vor allem aber sei er mit dem Führer derselben übel angekommen. Der Mensch sei grob, unhöflich und habe sich schließlich beim Absteigen vor diesem Hause geweigert, noch weiter zu gehen, obgleich er bis zur Grimsel für diesen Tag, und für den nächsten bis Meiringen gedungen sei. Ebenso habe er es in unfreundlichster Weise abgelehnt, seine Tochter, die nun einmal den berühmten Wasserfall auf dem Gletscher habe sehen wollen, dahin zu begleiten, und so sei diese mit seinem Diener, dem sich die Studenten angeschlossen, allein dahin aufgebrochen.

Als Franz Marssen diese Worte vernahm, überlief ihn ein kalter Schauer, und nun war ihm mit einem Male die Erscheinung der Menschen auf dem Gletscher erklärt, die er mit dem Ungar vorher darauf wahrgenommen. Ohne ein Wort zu sagen und niemandem sein Vorhaben enthüllend, beschloß er zunächst den Führer der Pferde aufzusuchen und mit ihm über sein Widerstreben, die Fremden weiter zu geleiten, zu reden.

Warum er das tun wollte, wußte er eigentlich selbst nicht. Auch war er in diesem Augenblick nicht in der gleichmütigen Stimmung, sich eine vollkommen klare Rechenschaft von seiner Handlungsweise abzulegen. Ein dunkles, unbewußtes, instinktives Gefühl trieb ihn vielleicht zumeist dazu an, – das Mitleid oder eine gewisse Teilnahme an der armen Kranken mochte hinzukommen, und wo eine solche Triebfeder im Menschenherzen einmal aufgezogen ist, da schnellt sie sich von selbst zur Handlung und Wirkung ab, wenn nicht ein stärkeres Gegengewicht ihr die Wage hält. Dieses Gegengewicht war allerdings hier vorhanden, allein es wirkte auf den jugendlichen kräftigen Geist des unternehmenden Künstlers nicht mächtig genug ein, um seinen Willen zu lähmen. Es war dies das finstere trotzige Gesicht des Vaters jener jungen Dame selbst, allein es schreckte ihn, so unangenehm es ihm war, nicht von seinem Handeln zurück, ja, je herber, kälter und gemessener sich jener nach allen Richtungen erwies, umsomehr stachelte ihn seine Empfindung an, für die Mitglieder seiner Familie einen Schritt zu tun, der unter den obwaltenden Verhältnissen im Grunde nichts Außerordentliches war.

So ging er rasch in den Hof und in der offenen Stalltür sah er zufällig einen Mann in brauner Jacke mit Kalabreserhut sich an den Türpfosten lehnen, den er sogleich für einen Pferdeknecht hielt. Bei genauerer Betrachtung dieses Mannes jedoch faßte er kein großes Vertrauen zu ihm, da er sein verschmitztes Banditengesicht sehen konnte, denn es war derselbe, mit dem er vorher einige Worte gesprochen hatte und der so mitleidslos gegen die ihm anvertrauten Pferde gewesen war.

»Ihr da, Landsmann,« redete er ihn ernst aber freundlich an, »könnt Ihr mir nicht sagen, wo der Führer der Pferde ist, die den Herrn mit der kranken Dame und seine Familie hierher gebracht haben?«

»Der bin ich selber, Herr!« erwiderte der Mann finster, ohne sich aus seiner bequemen Stellung aufzurichten.

»Wo seid Ihr her und wie heißt Ihr?«

»Ich heiße Jakob und bin vom Meyerhof in Hospenthal.«

»Warum habt Ihr die junge Dame nicht auf den Gletscher begleiten wollen?«

»Fällt mir nicht ein, Herr,« fuhr der Mensch auf und gestikulierte heftig mit den Händen dabei, während sein braunes Gesicht einen Ausdruck höhnischer Widersetzlichkeit annahm, »fällt mir gar nicht ein, und dazu bin ich nicht gedungen. Ich bin müde und kein junger Mann mehr, wie Sie sehen. Überdies ist der Herr ein Geizhals, wie alle Deutschen. Er hätte sich einen Führer außer mir annehmen sollen, denn ich gehöre nur zu den Pferden. Übrigens bin ich ein freier Schweizer und kein Knecht, das heißt, ich kann nach meinem Gefallen tun, was ich will.«

»So. Nun, Ihr drückt Euch verständlich aus. Ich dachte, meine jetzigen Landsleute, die Schweizer, hätten Ursache, freundlicher gegen die Fremden zu sein. Doch wißt Ihr vielleicht, wer der Herr ist, den Ihr begleitet und den Ihr soeben einen Deutschen nanntet?«

»Nein, ist mir auch ganz einerlei, wer er ist. Ich habe von Anfang an nicht aus ihm klug werden können. Er spricht alle Sprachen, mit Engländern englisch, mit Franzosen französisch, mit Deutschen deutsch, und wenn er mit seiner Tochter oder dem Bedienten allein ist, redet er ein Kauderwelsch, das ich noch nie gehört. Im ganzen ist mir ein so hochmütiger Zaunkönig noch nie im Leben vorgekommen, denn er behandelt mich, als ob ich sein Diener wäre.«

»Es ist gut, mich geht Euer Betragen für jetzt nichts an, aber Ihr solltet vorsichtig sein, es gibt auch für die freien Schweizer Gesetze in der Schweiz.«

»Wie? Sie wollen mir auch noch den Text lesen, Sie Grünschnabel?« schrie der Mann mit geballter Faust und sprühenden Zornesaugen. »Nu, das fehlte mir noch! Und nun ist es abgemacht, ich gehe keinen Schritt weiter als bis hierher, die Maienwand können meine Pferde bei diesem schlechten Wetter nicht mehr erklettern, und ich auch nicht. Sagen Sie das Ihrem Herrn, und ich werde mich bald einstellen und meinen Lohn fordern.« Wir nehmen die Gelegenheit wahr, den deutschen Reisenden vor diesem Pferdeführer ernstlich zu warnen. Er heißt in der Tat Jakob und ist Knecht beim Wirt auf dem Meyerhof in Hospenthal. Er ist ein trotziger Mensch, hat ein böses Maul und erzählt dem Reisenden, der ihm in die Hände fällt, mehr von seinen Abenteuern in der französischen Fremdenlegion in Afrika und seinen Wanderzügen in Amerika, als von der Schweiz, was man doch eher von ihm erwartet. Schreiber dieser Zeilen kam schließlich auf eine sehr unangenehme Weise mit ihm auseinander. Auf den vorher eingeholten Rat seines Brotherrn, ihm für seine Begleitung auf zwei Tage (die zwei Pferde kosteten achtzig Francs) vier Francs Trinkgeld zu geben, ging ich deshalb nicht ein, weil ich dem Manne, der beständig seine Not klagte, ein freundliches Gesicht abgewinnen wollte, und gab ihm das doppelte, also acht Francs. Aber damit war er noch nicht zufrieden. Er warf das Geld wütend auf den Tisch, daß es auf die Erde rollte, und schrie so laut, daß die Menschen auf dem Flure draußen zusammenliefen: daß die Deutschen erbärmliche Knicker wären, und die Schweizer, die sie führten, könnten stets gewiß sein, von ihnen wie die Hunde behandelt zu werden. Ich gab ihm indessen nicht mehr. Den ganzen Nachmittag aber, so lange er unserer noch bei den Reichenbachfällen ansichtig wurde, schimpfte er hinter uns her und um endlich von ihm befreit zu werden, mußten wir uns ins Haus zurückziehen, da man leider nie auf den Beistand eines Wirtes rechnen kann, die auch zum großen Teil weit mehr für die groben Engländer als die bescheidenen Deutschen schwärmen. Für die Wahrheit dieser Mitteilung bürgt mein Name.
Der Verfasser.

Franz Marssen hatte genug gehört und gesprochen. Er winkte beschwichtigend mit der Hand und entfernte sich, um den Wirt aufzusuchen, den er kannte und dem er das eben Gehörte mitteilte.

»Oho,« sagte der Wirt, »ich kenne den alten Jakob aus Hospenthal sehr gut. Das ist ein infamer Kerl und sein Gesicht schon könnte es einem verleiden, mit ihm eine Nacht in den Bergen zuzubringen. Aber ich darf ihm nicht entgegentreten, um ihn mir nicht zum Feinde zu machen. Allerdings ist er von dem Herrn bis Meiringen gedungen, aber wenn er erklärt, daß seine Pferde nicht weiter können, so ist er im Recht. In diesem Falle mögen die Herrschaften hier bleiben, sie sollen es gut bei mir haben. Ich rate selbst nicht, die steile Wand bei der jetzigen Glätte hinaufzusteigen. Und Ihnen, Herr Marssen, brauche ich das ja kaum zu sagen.«

Der Maler nickte beistimmend und ging dann vor die Tür, um nach – dem Gletscher hinaufzublicken. Der Regen hatte wieder etwas nachgelassen, so daß soeben die Mecklenburger ihre Pferde herbeizuführen befahlen. Auf dem Gletscher war nichts zu sehen, die obere Hälfte lag halb im Nebel verborgen, nur die untere glänzte hell und frisch vom eben gefallenen Schnee. Kopfschüttelnd und im stillen den leichtsinnigen Übermut verurteilend, der die jungen Leute ohne jeden ortskundigen Begleiter bei diesem Wetter hinaufgetrieben, wandte er sich endlich nach dem Gastzimmer zurück, wo er die Kranke eingeschlummert fand, während ihre Gesellschafterin still neben ihr saß, ihr Gemahl aber ununterbrochen mit dem Franzosen, wie es schien, über wichtige Dinge sprach, mitunter aber nach der Uhr sah, als berechne er die Zeit, in welcher seine Tochter wiederzukommen versprochen hatte.

Die Mecklenburger waren abgeritten, ohne an ihr Versprechen zu denken, mit den lustigen Studenten und Franzosen die Reise bis Interlaken gemeinschaftlich zu machen. Die brummigen Herren aber schienen alles vergessen zu haben, was sie jemals in ihrem Leben versprochen; grollend und mißmutig bestiegen sie ihre starken Pferde und munter ging ihnen der Führer voran, um sie noch die Maienwand hinauf und dann wieder hinab nach der gastlichen Grimsel zu bringen.

Im Gastzimmer war durch die Abreise der beiden Herren tiefe Ruhe eingetreten. Die Kranke schlief noch immer fest; der Ungar, seinen Grübeleien nachhängend und eine Zigarre rauchend, saß still am Tisch; die Engländer hatten sich gähnend an einem anderen niedergelassen und die Gruppe am Ofen setzte immer noch, wiewohl etwas leiser, ihr ernstes Gespräch fort.

Franz Marssen dagegen stand an einem Fenster und blickte durch ein kleines Fernglas nach dem Gletscher hinauf, so weit er ihn von hier aus bestreichen konnte. Da, als er sein Auge, ohne etwas bemerkt zu haben, nach dem Vorplatze des Hauses zurückwandte, sah er plötzlich, daß einige Leute, wahrscheinlich die Pferdeführer, von der Rhonebrücke her vor dem Hause zusammenliefen und nach derselben Höhe spähten, auf die noch kurz zuvor seine Aufmerksamkeit vergebens gerichtet gewesen war. Er wollte eben hinausgehen und fragen, was es da oben neues zu schauen gebe, als der Führer des Engländers hastig eintrat und laut meldete, daß ein Mann auf dem Abhang des Gletschers stehe, der mit einem Tuche angstvoll herniederwinke. Die auf dem Gletscher befindliche Gesellschaft, fügte er hinzu, hätte sich wahrscheinlich irgendwo fest gelaufen und könne den Weg herunter nicht wieder finden.

Die Kranke war durch diese allen unerwartet kommende Mitteilung nicht gestört worden, wohl aber hatten sie die übrigen im Zimmer Anwesenden vernommen. Alles sprang an die Fenster. Die Engländer mit lächelndem Gesicht und schadenfroher Miene; die Franzosen weniger erschrocken als aufgeregt; der alte Herr mit an der Wahrheit der Aussage zweifelndem Gesicht, und der Ungar, der die Worte nicht genau verstanden, aus Neugier und weil er die andern dasselbe tun sah.

Nicht so Franz Marssen. Die bloße Andeutung der Wahrheit dessen, was ihm im ahnenden Geiste schon längst als möglich erschienen, hätte genügt, ihn auf der Stelle zu einem diesmal ernstlicheren Handeln zu treiben. Er sah sich nur mit einem raschen, bittenden Blick im Zimmer um und sein Auge fiel sogleich auf die stattliche Gestalt des Führers Mr. Raphael Flails. Rasch entschlossen, wie er immer war, sagte er zu letzterem:

»Mein Herr, erlauben Sie, daß Ihr Führer mich nach dem Gletscher begleitet? Er ist ein geübter Bergsteiger, ich weiß es, und hier kann Gefahr im Verzuge sein.«

Der Führer nickte dem jungen Mann schon beifällig zu, aber der Engländer zog phlegmatisch seine Uhr hervor, sah nach der Zeit und sagte dann kalt:

» Yes, Sir, er kann Sie begleiten, wenn er in zehn Minuten wieder hier ist. Um diese Zeit habe ich meine Abreise festgesetzt.«

Franz Marssen blickte dem so gefälligen Mann wider Wissen verächtlich ins Gesicht. »Ich danke Ihnen für Ihren guten Willen, Sir,« erwiderte er ruhig, »aber in zehn Minuten ersteigt man keinen Gletscher wie diesen da und noch weniger wieder herab. Adieu denn, es werden sich draußen schon andere hilfreiche Männer finden.«

Er sollte sich in diesem Glauben auch nicht getäuscht sehen. Kaum war er vor die Haustür geeilt, so kamen auf seinen Ruf sogleich drei Männer herbei, unter denen sich der Wirt und einer seiner Hausknechte befand, die alle entschlossen waren, mit ihm zugleich den Verirrten Hilfe zu bringen. Mit größter Hast wurde nun alles Nötige herbeigeholt, vor allen Dingen einige Seile, zwei Handäxte und eine Leiter, und damit beladen liefen die vier Männer hastig dem Gletscher zu, den sie, ohne unter sich ein Wort zu wechseln, zu besteigen begannen. Außer diesen vier Männern aber zeigte sich noch der Ungar überaus eifrig, und mit edlem Anstande bot er dem Maler seine Hilfe an.

Einen Augenblick blieb dieser am Fuße des Gletschers stehen, bis wohin der Ungar ihm gefolgt war, und sprach freundlich die Worte zu ihm: »Ihre Hilfe nutzt hier nichts, Herr Baron, haben Sie Dank. Sie verstehen mit einem solchen Eisberge nicht umzugehen und mit Ihren glatten Stiefeln kommen Sie keine zehn Schritte weit. Fallen Sie aber in eine Spalte, so sind Sie verloren. Wir sind der Helfenden genug, vier mit der Gefahr vertraute Männer reichen aus. Auf Wiedersehen, leben Sie wohl!«

Das war der letzte Aufenthalt, der ihn zurückhielt und seine Worte hatten so viel bewirkt, daß der Ungar in höchster Aufregung am Fuß des Gletschers stehen blieb und den hastig hinaufklimmenden Männern mit glühendem Auge nachsah.

Das Ersteigen des Eisberges geschah nun von den rüstigen Männern in ebenso tiefem Schweigen wie mit großer Gewandtheit und Eilfertigkeit. Alle wußten, was und wohin sie wollten, und so war weiter keine Mitteilung nötig. Die ihnen entgegenstehenden Schwierigkeiten kannten sie ebenfalls, darauf waren sie vorbereitet, aber, ihr Ziel fest im Auge und im Herzen, bebten sie auch vor den größten nicht zurück.

Indessen zeigte sich vor der Hand noch nichts davon. Auf dem Gletscher lag ein leichter Schnee, der die Glätte des darunter liegenden Eises abstumpfte. Die kleinen Spalten waren davon weder erfüllt noch die großen trügerisch überbrückt, und so schritten sie, mit ihren nägelbeschlagenen Stiefeln immer fest und sicher auftretend und mit Bedacht die Spalten überspringend, allmählich behutsam vor, ohne eine Gefahr zu fürchten, aber auch ohne Bangen zu empfinden. Den mit einem Tuche winkenden Mann behielten sie dabei stets im Auge, obgleich er sich jetzt, da er die Hilfe nahen sah, wahrscheinlich vor Ermüdung auf einen Eisblock niedergelassen hatte.

Endlich aber hatten sie ihn jenseits einer breiten Spalte, die sie mittels ihrer Leiter überkletterten, erreicht, und bei ihm beschlossen sie einige Minuten zu rasten, um, während sie ihre keuchende Brust zu Atem kommen ließen, nähere Erkundigungen über das Verbleiben der übrigen einzuziehen. Der arme Mann war von Kälte, ungewohnter Anstrengung und Todesangst so erschöpft, daß er anfangs kaum reden und auf die hastig ihm gestellten Fragen keine befriedigende Antwort geben konnte. Allein ein Becher kräftigen Weines, den der in solchen Unfällen erfahrene Wirt in einer Korbflasche mitgenommen, gab ihm bald Kraft und Fähigkeit wieder, seinem gepreßten Herzen Luft zu machen. In gebrochener deutscher Sprache erzählte er ihnen das kühne Unternehmen von Anfang an. Erst sei man ganz munter und guter Dinge auf das Eis gestiegen, und da man fast gar keine Schwierigkeiten gefunden und die kleinen Spalten leicht übersprungen, das Eis auch, dank der leichten Schneedecke, nicht glatt und schlüpfrig gefunden hatte, sei man rasch in die Höhe geklettert, ohne viel auf den Weg und die Richtung zu achten, da man geglaubt, daß der Eisberg an allen Stellen gleichmäßig geschaffen sei. Sein gnädiges Fräulein sei ganz guten Mutes gewesen und habe mit den Herren Studenten stets gleichen Schritt gehalten. Allein endlich sei doch eine Stockung in ihrem Vordringen eingetreten. Eine tiefe und breite Spalte habe sich plötzlich aufgetan, und erst, nachdem man sie weit umgangen, habe man höher hinaufsteigen können.

Nun aber sei der Weg mit jeder Minute bedenklicher geworden. Allein die wunderbare Gestaltung der Eismassen, das köstliche blaue Farbenspiel derselben und das von der Höhe dann und wann sichtbar herabrauschende Wasser habe sie weiter und weiter verlockt, bis sie an den Wasserfall gekommen, der turmhoch von einem Felsen von Eis herabstürze und sich unten ein tiefes blaues Loch wühle, wie da unten, wo die Rhone aus dem Gewölbe von Eis hervorbraust. Schon lange vor dieser Stelle habe er selbst eigentlich nicht weitergekonnt, denn die Füße seien ihm ganz starr gewesen, und die Zunge habe ihm am Gaumen geklebt. Auch die Studenten hätten umkehren wollen; da aber sei das gnädige Fräulein lachend vorausgegangen, bis sie den Wasserfall zuerst erreicht, den er, der Erzähler, nur von ferne gesehen. Um diese Zeit etwa habe es hier oben stark zu schneien begonnen, und man habe dadurch eigentlich alle Aussicht in die Ferne und auch den Weg verloren, auf dem man heraufgekommen. Da er zu dieser Zeit schon weit hinter den übrigen zurückgeblieben sei, habe man ihm zugerufen, umzukehren und womöglich Hilfe herbeizuholen. Er habe sich auch nach Kräften bemüht, nach dem Hause zu gelangen, allein die Spalte, über die man zu ihm herübergeklettert, habe ihn nicht weiter kommen lassen, und so habe er nun mit dem Tuche aus Leibeskräften gewinkt.

»In welcher Richtung sind die vier Personen zuletzt sichtbar gewesen?« fragte Franz Marssen, der das Ende der Erzählung des langsam Sprechenden nicht schnell genug erwarten konnte.

»In dieser da!« erwiderte der Mann und deutete mit dem Finger nach Nordosten.

»So beeilt Euch, daß Ihr auf der Leiter über die Spalte kommt, und dann geht ruhig nach Hause, immer geradeaus, Ihr werdet auf diesem Wege keine Schwierigkeit finden.«

Während er noch sprach, leitete er fürsorglich den vor Frost zitternden und unsicher schreitenden Mann über die halsbrecherisch genug den Spalt überbrückende Leiter, dann aber, während dieser, so schnell er konnte, den Gletscher hinabstieg, verlor man keinen Augenblick, um in der angedeuteten Richtung, wo wirklich der Wasserfall lag, weiter vorzudringen.

Ruhig und fest, willig und rüstig, wie bisher, setzten die vier Männer nun das begonnene Werk fort, und nach manchem kühnen Sprung, nach manchem unbehaglichen Klettern, kamen sie an die Stelle, wo man das donnernde und die menschliche Stimme weit übertönende Rauschen des fallenden Eiswassers zuerst aus der Ferne hörte.

Franz Marssen, der ein Jahr früher schon einmal am Fuß desselben gewesen, war mit allen Erscheinungen des blinkenden Eismeers vertraut, und da er heute einen ganz anderen Zweck vor Augen hatte, als nur die Schönheiten der Natur zu studieren, so achtete er kaum auf die seltsamen Phänomene, die sich in ganz anderer Gestalt als damals bei jedem Schritt von neuem seinem Auge darstellten. Allein man sollte diesmal nicht ganz bis zu dem brausenden Falle zu gehen brauchen. Vielleicht nach zehn Minuten schon wurde man auf einer sechzehn Fuß hohen Eiswand, die ihr Herabsteigen gehemmt, der vier kühnen jungen Leute zuerst ansichtig, die ihre Retter schon längst wahrgenommen hatten, deren Rufen aber durch das Getöse des fallenden Wassers in der Nähe verschlungen ward. Auf der Kante der hochaufragenden Wand saß, halb unter ihrem eisgepanzerten Plaid verborgen und wie vor Frost und Angst zusammengekauert, die junge Dame. Einige Schritte von ihr entfernt hockten die drei Studenten eng beisammen, wie drei Vögel, die sich nur durch Fliegen von der Höhe retten können und denen die Kälte die Kraft der Schwingen gelähmt hat.

Während die vier Männer unten überlegten, wie man am besten und ohne großen Umweg zu ihnen emporgelangen könne, da die Leiter bei weitem nicht hinaufreichte, fixierte Franz Marssen scharf die bleichen Gesichtszüge der Studenten. Das Gesicht der jungen Dame konnte er nicht sehen, sie hielt den Kopf niedergebeugt, als schlummere sie. In den Zügen jener aber sah er Scham und Angst um den Vorrang streiten – Scham, daß sie so töricht gewesen, ohne Führer, ihrer unzulänglichen Kraft vertrauend, so hoch zu steigen, und Angst, daß es nicht gelingen werde, sie so bald wieder in wirtlichere Regionen des festen Landes zurückzubringen.

Aber da nahte ihnen schon die Erlösung. Mit mächtigen Hieben, daß rings die Funken sprühten, schlug man vermittels der Äxte Löcher in die steile, blauglitzernde Eiswand, und indem man auf diese Weise Stufen bildete, gelangten zwei von den Helfern, Franz Marssen und der Wirt, endlich zu den erschöpften Bergsteigern, die vor unaussprechlicher Rührung kaum imstande waren, ihren herzlichsten Dank zu stammeln. Während aber der Wirt den Studenten einen Becher Wein reichte, hatte sich Franz Marssen zu der jungen Dame begeben und, da sie noch immer den Kopf gesenkt hielt, sagte er, sie fest am Arme fassend, mit fast atemloser und eigentümlich bewegter Stimme:

»Mein Fräulein, schlafen Sie, oder können Sie sich nicht erheben?«

Der erste seltsame Blick, der jetzt sein Auge traf, nachdem das kühne Mädchen langsam den Kopf erhoben hatte, sollte ihm lange nicht aus dem Gedächtnis kommen. Ihr brennendes Feuerauge bewahrte zwar noch immer seinen warmen Strahl, aber derselbe war, vielleicht infolge des erbleichten Gesichts, viel milder geworden. Dennoch lag eine Art Vorwurf darin, als ob es ihr schwer werde, ihre Schwäche einzugestehen oder die Hilfsleistung, die man ihr bot, anzunehmen, und erst allmählich nahm es einen mehr verschämten und forschenden Ausdruck an, als wolle es prüfen, ob auch kein Triumph über ihre Niederlage in dem Antlitz dessen liege, der ihr in diesem peinlichen Augenblick die erste Hilfe brachte. Als sie sich aber vergewissert zu haben schien, daß Franz Marssens Gesicht keine Spur dieses Triumphes enthalte, beantwortete sie seine Frage mit leiser und vor Frost bebender Stimme, indem sie sagte:

»Ich werde aufstehen, sogleich, aber geben Sie mir auch Wein, denn ich fühle mich im Innern wie erstarrt.«

Nachdem nun auch sie hastig einen vollen Becher Wein geleert, begann man ohne Zeitverlust und ohne weitere Erklärung den Rückweg dadurch einzuleiten, daß man zuerst einen Studenten an ein Seil band und ihn von der Eiswand hinabließ. Halb von oben gehalten und kletternd, halb von den unten stehenden Männern getragen, gelangte er sicher auf den Boden, auf dem diese selbst standen. Ohne einen Menschen anzusehen, ohne ein einziges Wort zu äußern, ließ nun auch die junge Dame sich auf ähnliche Weise behandeln, und als sie erst sicher geborgen, folgten ihr die beiden andern Studenten und zuletzt die Hilfeleistenden selbst nach.

Jetzt begann das Herabsteigen, das in Anbetracht der halb erfrorenen Gliedmaßen der Verirrten rasch genug ging, und von den kräftigen Armen ihrer Retter geleitet, kamen sie bald tiefer hinab, kletterten, nachdem sie die natürliche Wärme in ihren Gelenken wiederhergestellt, leidlich geschickt über die Eisspalten auf der Leiter fort und gelangten endlich auf festen Boden, wo sie sämtliche Reisende, die noch in dem Hotel weilten, außer der Kranken und deren Gesellschafterin, versammelt fanden, welche sie als dem Leben Wiedergegebene mehr oder minder herzlich zu begrüßen herbeigeeilt waren. Ehe aber die von allen Seiten hervorsprudelnden Fragen beantwortet werden konnten, hatte sich Franz Marssen, nur von dem Ungar begleitet, der ihm tausend Dankesworte sagte, als sei er persönlich dabei beteiligt, beiseite begeben, und niemand war unter den Geretteten und ihren Verwandten, der sich im ersten Augenblick des jungen Mannes erinnerte, dem man zumeist die schnellen Maßregeln zur Herabholung der in die Irre geratenen Bergsteiger verdankte.

*

Während die drei Studenten von ihren glücklich überstandenen Strapazen sich bei einem warmen Glase Punsch bald erholten und dann, um dem Ort ihrer moralischen Niederlage so schnell wie möglich den Rücken zu kehren, sich still entfernten und mühsam die morastige Maienwand hinaufkeuchten, ging unter den im Gastzimmer Zurückbleibenden eine ziemlich lebhafte Szene vor. Im Kreise um die junge Dame her, die sich auf dem Sofa am Feuer neben ihrer Mutter niedergelassen, wo man ihr von allen Seiten wärmende Stärkungsmittel bot, hatten sich sowohl ihr Vater wie die Franzosen, der Ungar und der Wirt gruppiert, und es wurde das eben überstandene Abenteuer von allen Seiten besprochen, obwohl die Hauptperson desselben am wenigsten zu einer zusammenhängenden Mitteilung geneigt schien. Die Mutter, die sonst an Außendingen so wenig teilnahm, war dadurch ganz aus ihrer Apathie aufgerüttelt und in einen endlosen Tränenstrom ausgebrochen, der sich zuletzt in wehmütige Klagen über ihre augenblicklich so traurige Lage auflöste. Sie fühle sich so übermäßig angegriffen, sagte sie ihrem Manne, daß sie unmöglich noch an diesem Tage die Reise fortsetzen könne, und wenn man ihr nicht das Leben nehmen wolle, müsse man ihr vor allen Dingen ein warmes Bett und die zum Schlaf nötige Ruhe gönnen.

Die Tochter verhielt sich während dieser Äußerungen still und blickte, wie in düstere Träume versunken, in das hell aufflackernde Feuer. Vielleicht war sie angegriffener und müder, als ihr stolzer Geist eingestehen wollte, vielleicht auch mochte sie der klagenden Mutter nicht widerstreben und überließ sich geduldig dem Ausspruch ihres Vaters, der seine Willensmeinung noch immer nicht kund getan hatte und überhaupt noch einen festen Entschluß gefaßt zu haben schien. Nach seiner Miene und sichtbaren Teilnahme zu urteilen, ging ihm das überstandene Leid der blühenden Tochter bei weitem nicht so nahe, wie das fast leidenschaftliche Gewimmer seiner Frau, und eben wollte er an den Wirt eine Frage über die Weite und Schwierigkeit des Weges nach der Grimsel richten, als die Tür aufging und Jakob, sein bisheriger Führer, hereintrat und in seinem unheimlichen Gesicht die Spuren einer großen Aufregung wahrnehmen ließ, die man zum Teil dem reichlichen Genuß spirituöser Getränke zuschreiben konnte.

Ohne sich mit einer sein Betragen mildernden Einleitung zu befassen, erklärte er dem Fremden kurz und bündig, daß er entschlossen sei, bei dem wieder ausgebrochenen Regen mit seinen Pferden keinen Schritt weiter zu ziehen, und daß er seinen Kontrakt für gelöst betrachte, wenn der Herr ihm nicht eine Nacht Ruhe gönne.

Die ungestüm vorgebrachte Rede war nicht dazu angetan, die von Natur schon heftige Gemütsart des Fremden zu besänftigen, und ohne in der ersten, schnell auflodernden Zornesglut zu bedenken, wie er am nächsten Tage seine Reise fortsetzen solle, wandte er sich mit herrischen Worten an den brutalen Pferdetreiber und sagte in strengem Tone:

»Höre, mein Freund, was ich dir sagen will. Erspare dir jedes weitere Gewäsch und befreie mich so bald wie möglich von deiner lästigen Gegenwart. Hier hast du deinen Lohn für diesen Tag und damit sind wir abgefunden. Jetzt schnüre dein Bündel und laß dich nicht wieder vor mir blicken.«

Jakob nahm die ihm dargebotenen Goldstücke, besah sie mit verächtlichem Blicke und überschlug die Summe, die für seine Person davon abfiel. Obwohl er nicht ganz damit zufrieden war, hielt er es doch für das Beste, den unangenehmen Handel kurz abzubrechen, und mit einer grinsenden Grimasse gegen den Fremden warf er seinen Hut auf den Kopf und verließ, ohne ein Wort des Abschieds zu sprechen, mit dröhnenden Schritten das Zimmer. Gleich nach ihm begaben sich die Damen in ihre Schlafgemächer, die der Wirt, ihnen schnell anwies, und nachdem auch die Franzosen und der Ungar sich reisefertig gemacht, Abschied genommen und dabei die Hoffnung ausgesprochen hatte, sich bald auf der Grimsel oder in Interlaken wiederzusehen, ging der allein zurückgebliebene Fremde hastig im Zimmer auf und nieder, und auf seinen sprechenden Gesichtszügen konnte man deutlich genug den Gedanken lesen, den die Mecklenburger so oft ausgesprochen: daß das Reisen unter Umständen wahrhaftig kein großes Vergnügen sei.

Unterdessen war es in wie außer dem Hause still geworden. Alle Reisenden, die an diesem Tage noch weiter wollten, hatten es verlassen. Im Gastzimmer war der fremde Herr allein zurückgeblieben und ging noch immer mit zornigem Gesichtsausdruck darin auf und nieder. Endlich jedoch wurde sein heftiger Gang gehemmt, denn abermals trat der Wirt und mit ihm Franz Marssen ein, der das Zimmer vermieden, so lange die Damen und die anderen Fremden sich darin aufgehalten hatten.

Sobald der Fremde des jungen hochherzigen Mannes ansichtig wurde, blieb er stehen; ohne ihm indes einen Schritt entgegenzutun, wartete er ruhig das Näherkommen desselben ab. Als der Maler ihm aber so nahe getreten war, daß er ihn nicht länger unbemerkt lassen konnte, richtete er sein funkelndes Auge auf ihn und sagte mit einer Stimme, die unter den obwaltenden Umständen Wohl etwas weicher und freundlicher hätte sein können:

»Mein Herr, es ist mir lieb, daß ich Sie endlich sehe. Wie ich höre, haben Sie meiner Tochter einen Dienst erwiesen, den ich lobend und dankend anerkennen muß. Aber Sie sind an den unrechten Mann gekommen, wenn Sie glauben, daß ich diesen Dank mit hochtrabenden Worten und quellenden Augen aussprechen werde. Nein, das verstehe ich nicht, und wenn ich Ihnen sage, ich danke Ihnen, so ist damit alles gesagt. – Nun aber geben Sie beide mir einen Rat,« fuhr er fort, indem er sich dabei halb an den in der Nähe stehenden Wirt wandte, »was ich ferner beginnen, und wie ich morgen früh, so lange will und kann ich nur bleiben, von hier fortkommen soll.«

Der Maler war durch diesen, mindestens gesagt, eigentümlichen Dank, der nicht einmal mit einem Händedruck verbunden, vielmehr mit der Miene eines Königs gesprochen war, der ihm eine Gnade erwies, keineswegs verwundert, noch viel weniger gedemütigt. Er war zu stolz und hochherzig, um einen wärmeren Dank von dem schroffen Manne zu begehren, der vom ersten Augenblick an keine hohen Erwartungen bezüglich seiner Umgänglichkeit in ihm angeregt hatte. Nur blitzschnell flog ein stilles Lächeln um seine Lippen, als er mit leichter Verbeugung ruhig antwortete:

»Natürlich, mein Herr, müssen Sie Pferde haben, um mit Ihren Damen über die Berge nach Meiringen zu kommen. – Haben Sie keine im Hause, Herr Seiler?« wandte er sich an den still dabeistehenden Wirt.

»O ja, Herr,« erwiderte dieser, »ich habe sie wohl, aber es sind nur zwei, die ich in einem Notfall, wie der vorliegende ist, verleihen darf. Beide stehen dem Herrn da zu Diensten, und er wird auf der Grimsel leicht Gelegenheit finden, sich mehrere zu verschaffen, um in die Ebene zu gelangen.«

»Zwei Pferde!« sagte der Fremde nachsinnend. »Das ist wenig für uns fünf Personen, allein im Notfalle könnte eine oder die andere meiner Damen zu Fuße gehen. Ich entschließe mich gern dazu. Die Sache will jedoch überlegt sein.«

»Es gibt hier keine Überlegung, mein Herr,« entgegnete der Wirt höflich, »ich glaube vielmehr, Sie werden in Ihrem Fall diesmal aus der Not eine Tugend machen müssen.«

Während dieses Gespräch stattfand, hatte Marssen halb beiseite gestanden und im stillen einen Gedanken verarbeitet, der ihm plötzlich aufgestiegen war. Wie es ihm selbst vorkam, war er einmal an diesem Tage zu Handlungen und Unternehmungen verurteilt, die er nicht im geringsten vorausgesehen, und, sich aus irgend einem ihm unklaren Beweggrunde schnell entschließend, sagte er freundlich, indem er dem Fremden wieder näher trat:

»Mein Herr, vielleicht bin ich in der Lage, Sie aus der Verlegenheit zu ziehen, in der Sie sich in der Tat befinden. Wenn Sie mein Anerbieten annehmen, sollen Sie außer den beiden Pferden des Wirtes hier drei andere auf der Grimsel finden, die ich Ihnen zu stellen imstande bin, indessen geht das so rasch nicht, und Sie werden sich mindestens zwei Tage in den Bergen zu gedulden haben.«

»Auf der Grimsel?« fragte der Fremde zurück, der auch für dieses freundliche Anerbieten kein Wort des Dankes zu finden schien. »Zwei Tage? Kann man es zwei Tage dort aushalten?«

»Wenn man muß, ganz gewiß; überdies glaube ich, daß Ihrer Frau Gemahlin eine so lange Ruhe höchst dienlich sein wird.«

»Ach ja, Sie haben recht. Daran habe ich eben nicht gedacht. Gut, ich nehme Ihr Anerbieten an. Verschaffen Sie mir drei Pferde aus der Grimsel, und das übrige wird sich finden. Übrigens danke ich Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, mir zu dienen, noch einmal.«

Er grüßte etwas gezwungen und entfernte sich, um zu seiner Gemahlin zu gehen und ihr das neue Abkommen mitzuteilen. Als er fort war, sagte der Wirt lächelnd zu dem Maler:

»Das ist ein seltsamer Kauz, Herr Marssen, meinen Sie nicht auch? Wo mag der wohl seine guten Manieren gelernt haben! Na ja, in Petersburg oder Moskau mag das freilich eine feine Sitte sein!«

»In Petersburg oder Moskau? Wie meinen Sie das? Halten Sie ihn für einen Russen?«

»Für nichts Anderes; für einen Russen, der eine Engländerin oder Schottin geheiratet hat, und dergleichen Leute habe ich schon öfters kennen gelernt.«

Franz Marssen stand nachsinnend und mit einer Miene da, als bezweifle er noch des Wirtes Ansicht. Dieser aber unterbrach ihn wieder und fragte: »Aber wo wollen Sie die Pferde auf der Grimsel hernehmen? Es wäre ein reiner Zufall, wenn Sie drei Pferde drüben fänden.«

Franz Marssen lächelte fast heiter. »Das ist meine Sache, lieber Seiler,« sagte er. »Geben Sie mir nur einen Briefbogen, Feder und Tinte, und dann haben Sie vielleicht die Güte, mir einen Boten zu leihen, den ich zu meinem Vater nach Interlaken schicken kann.«

Herrn Seiler ging sozusagen ein Licht auf. »Ah,« rief er, »jetzt begreife ich Sie. Nun, das ist kein kleiner und leichter Dienst, den Sie dem Russen erweisen, aber ich glaube kaum, daß er Ihnen so danken wird, wie Sie es sich vielleicht vorstellen.«

»Ich begehre seinen Dank nicht, mein lieber Seiler, och nein. An der freundlichen Miene dieses Mannes ist mir sehr wenig gelegen. Aber wie, kann ich den Boten erhalten?«

»Gern; mein zweiter Hausknecht wird den Gang unternehmen, sobald Ihr Brief geschrieben ist.«

»Ist der Mann sicher, so daß ich ihm auch meine großen Skizzenblätter, die mich bei der Fußwanderung in dem schlechten Wetter genieren, anvertrauen kann?«

»So sicher wie ich selbst.«

»So lassen Sie ihn sich fertig machen – und nun geben Sie mir Papier, Feder und Tinte.«

*

Der Brief, den Franz Marssen jetzt schrieb, ist uns bekannt. Eine halbe Stunde später war auch der Bote zur Reise gerüstet und versprach, sowohl sich möglichst zu beeilen, um zeitig wieder mit den Pferden auf der Grimsel zu sein, als auch für die ihm wohlverpackt übergebene Skizzenmappe Sorge zu tragen.

Unterdessen war der Abend allmählich herangekommen, und wenn sich auch noch lange nicht nächtliche Dunkelheit niedersenkte, so verdüsterten doch die drohenden Wolken, die noch immer den Himmel bedeckten und einen feinen Regen herabsandten, das scheidende Tageslicht, und in dem Gastzimmer wurde es so dunkel, daß der Wirt die Läden schließen und Licht hereinbringen ließ.

Franz Marssen saß allein am Tisch und las eine am Morgen angekommene Zeitung. Ab und zu trat der Wirt ein und richtete einige Fragen an den jungen Mann. Sonst herrschte ringsum die tiefste Stille, und nur das ununterbrochene wilde Rauschen der Rhone, die gleichsam froh schien, ihrer engen Haft auf dem kalten Gletscher entronnen zu sein und mit übereiltem Jugendmut den wärmeren Regionen im Tale zuströmen zu können, ließ sich vernehmen, wenn man sein Ohr nach außen hinwandte.

Doch es wurde später, und die Stunde des Nachtessens war gekommen. Franz Marssen glaubte schon, sein Mahl allein einnehmen zu müssen, als die Tür aufging und der unbekannte Fremde hereintrat. Als er sich dem einsamen Künstler näherte, grüßte er ihn mit gravitätischem Kopfnicken und setzte sich ihm dann schweigend gegenüber, gab aber seine Neigung, nicht zu reden, dadurch zu erkennen, daß er sogleich die Zeitung ergriff, die der Maler soeben hingelegt, und die er kaum so lange aus den Händen ließ, als er dieselben zur Handhabung der Messer und Gabeln beim Essen gebrauchte.

Obwohl unser junger Freund dies Benehmen etwas auffallend fand, so war er doch schon so sehr an das abstoßende Wesen dieses Mannes gewöhnt, daß er sich im stillen nicht im mindesten darüber beklagte, vielmehr benutzte er die Gelegenheit, die eisernen Züge und Linien zu studieren, die sein trotziges, kaltes und stolzes Gesicht in so ungewöhnlicher Fülle aufzuweisen hatte.

»Ja,« sagte endlich der in der Deutung menschlicher Physiognomien wohlbewanderte Maler, »Herr Seiler kann recht haben, wenn er diesen Mann für einen Russen hält. Etwas Tartarisches, Asiatisches liegt in dem geheimnisvollen Blitzen seines dunklen Auges, obgleich der Schnitt desselben weit davon abweicht. Jedenfalls prägt sich der Charakter, ein fester Wille und eine zähe Energie darin aus, und um ihm nicht zu viel zu tun, will ich mir selbst kein Urteil über ihn ablegen, als bis ich tiefer und klarer in sein Wesen geschaut.«

Der Gedankengang des Malers wurde durch einen lauten Seufzer unterbrochen, den der Fremde, als er endlich die Zeitung weglegte, hören ließ, und da sich zufällig bei dieser Gelegenheit die Augen der beiden Männer begegneten, so konnte ersterer nicht umhin, eine Frage an den düsterblickenden Fremden zu richten, die diesen aus seinem Schweigen wecken mußte. »Wie befindet sich Ihre Frau Gemahlin?« fragte er. »Hat sie Wärme und Behaglichkeit in ihrem Zimmer gefunden?«

Der Fremde verzog seinen Mund zu einem schmerzlichen Lächeln, das jedoch augenblicklich wieder verschwand, seufzte noch einmal und erwiderte mit viel weicherem Tone, als er ihn früher hatte vernehmen lassen: »Sie fühlt sich gut gebettet, ja, und ich bin sehr zufrieden, daß sie wenigstens vor der Hand unter Obdach ist. Zwar fiebert sie ein wenig, doch das tut sie immer, wenn sie einer Anstrengung unterworfen gewesen ist. Ach, diese Frauen, wie viel Sorgen machen sie den Männern, wenn sie so schwach und gebrechlich sind, wo sie der Kraft und Gesundheit gerade am meisten bedürfen! – Doch nun gute Nacht, mein Herr, hoffentlich werden wir morgen besseres Wetter haben.«

Der Fremde stand auf und verließ das Zimmer, wahrscheinlich vor der Zeit von Herrn Seiler aufgescheucht, der ihm, während er sprach, das Fremdenbuch vorgelegt und mit einer stummen Geberde zum Einschreiben seines Namens Gelegenheit geboten hatte. Allein der Fremde warf nur einen gleichgültigen Blick auf das Buch, wies es mit der Hand abwehrend zurück, als wollte er sagen: »Das liebe ich nicht,« und fuhr ruhig in seiner Rede fort, bis er zuletzt den Nachtgruß ausgesprochen.

Der Wirt folgte dem Abgehenden mit einem Lichte, und Franz Marssen war wieder allein und ungestört seinem Nachdenken überlassen. Eben hatte er die noch nicht ausgelesene Zeitung wieder ergriffen, um darin weiter fortzufahren, als der Wirt wieder hereinkam und lächelnd sagte:

»Der Herr bewahrt mit Ernst und Entschlossenheit sein Inkognito. Meinetwegen, das kommt bei uns öfter vor. Daß er aber ein Russe ist, glaube ich um so eher, da eine seiner Reisetaschen, die der Diener vorher auf sein Zimmer trug, stark nach Juchten roch. Der Mensch ist auch gut dressiert und hat auf alle Fragen, die man an ihn richtet, nie die Antwort, die man von ihm hören will. Es gibt doch närrische Leute auf der Welt!«

»Wie ist das Wetter?« warf Franz Marssen hin, der kaum gehört, was der Wirt über den Fremden gesagt.

»Ah, das Wetter, Herr Marssen, ist gut geworden. Wenn es nur so bleibt, bis die Herrschaften in Meiringen sind – aber ich glaube es kaum.«

Franz Marssen hatte sich schon erhoben und war ins Freie getreten. Er war erstaunt, alle Wolken von einem frischen Winde weggeblasen und den blauen Himmel bis in unendliche Fernen mit goldig funkelnden Sternen besäet zu finden. Dieses Schauspiel, immer groß, erhaben und verlockend für den Freund einer schönen Natur, wirkte belebend und erfrischend auf die Seele des jungen Mannes, und wohl eine Stunde lang ging er am Ufer der Rhone auf und nieder, sandte seine Blicke bald nach dem strahlenden Himmelsgewölbe, bald nach den bleichen Schneefeldern des gigantisch sich vor ihm auftürmenden Gletschers empor und sagte dabei zu sich:

»Großer, allmächtiger Gott! Was für herrliche Schauspiele hast du uns auf dieser Welt entrollt, und welch unbegreiflicher und unsagbarer Segen liegt in dem wohlorganisierten Auge des Menschen! O, ich empfinde es alle Tage lebhafter und dankbarer, was du gerade mir durch mein Auge gegeben hast. Aber wie seltsam hast du meine Schritte nach der Heimat gelenkt! Habe ich wohl gestern geglaubt, daß ich die heutige Nacht in dieser Einsamkeit verbringen und daß die kalte Rhone mir ihr schauriges Nachtlied singen würde! Ach nein, und wie wird der Morgen und der Tag beschaffen sein, die auf diese Nacht folgen? Hinter diesen Vorhang freilich reicht mein Auge nicht, und es gibt also doch eine Begrenzung für den Sinn, den ich schon so oft den göttlichsten des Menschen genannt und soeben noch als einen unbegrenzten gepriesen habe!«

Langsam und in tiefe Gedanken versunken wandelte Franz nach diesem Selbstgespräch, das gewissermaßen sein Nachtgebet war, noch eine Weile auf dem steinigen Boden auf und ab, dann aber schien das monotone Gebrause der Rhone und das ferne Wassergeriesel im Innern des Gletschers selbst einschläfernd auf ihn zu wirken, und er ging langsam dem öden Hause jenseit der Brücke zu, um auch für sich ein warmes Bett zu suchen, das ihm um so wünschenswerter erschien, als sich in den letzten Stunden eine fühlbare Kälte vom Eisberge her über das Tal verbreitet hatte.


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