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IX.

Kathrein hatte sich ein strammes, nadelstarrendes Weihnachtsbäumchen mit dem Wurzelballen ausgraben lassen. Er haßte den Gedanken, daß ein lebfrohes Pflanzendasein menschlicher Eintagsfreude geopfert werden und unbedankt irgendwo im Spreuwinkel verkommen sollte.

Marianne lachte ihn aus.

»Und die Rosen, Papa? Und die Radieschen? Und die Hühner?«

Der Lehrer versenkte den Wurzelballen der Christtanne in den vorbereiteten Holzkübel. Jetzt trat er prüfend zurück, die Scheitelrechte des Stämmchens zu messen.

»Mich bringst du nicht in Verlegenheit,« sagte er, mit dem zielenden Auge zwinkernd. »Was reif ist, soll geerntet werden. Aber dieser Baum ist jung und kann noch viele Jahreszeiten genießen, und vor allem, man kann ihn genießen, ohne ihn zu vernichten. Was der Mensch gut machen kann, das soll er auch gut machen. Ist sonst so der Natur zum Schmerze da, der Mensch.«

»Papa, das Aufputzen werden wir allein besorgen, Veri und ich. Du hast gar nichts dabei zu suchen.«

»Will ich auch gar nicht!« nickte der Lehrer. »Überrascht will ich werden. Weil mich auf der Welt ohnehin nichts mehr überrascht. Habt ihr denn etwas für den Siebenschein? Ich habe ihn eingeladen.«

»Natürlich, Papa, und das brauchst du auch noch nicht zu sehen.«

»Gut geht ihr um mit eurem Vater. Ich bin aber gar nicht neugierig. Neugierig bin ich nur auf Sachen, die ich nie sehe. Also der Siebenschein kommt um sechse und der Doktor um siebene. Daß ihr's wißt.«

Als der Vater gegangen war, zog Marianne hastig eine Lade ihres Wäschespindes auf. Unter scharfkantig übereinandergeschichtetem Leinen schimmerte es nach Gold und blumiger Stickerei.

»Wie gefällt sie dir, Veri?«

Die blonde Schwester drehte die schöne Stola im einfallenden Sonnenlichte.

»Prachtvoll, Mariann, prachtvoll. Da kann der Siebenschein stolz sein. So was Schönes hat er noch nie umgehabt.« Sie hielt die Stickerei näher an die Augen. »Fein, du. Die Passionsblumen, wie zart schattiert.«

»Findst du? Weißt, das schenke ich ihm von uns beiden zusammen. Du hast ja so nichts für ihn. Und ich hab nichts für den Doktor. Aber du.«

Verena wurde rot.

»Wer sagt das?«

Marianne zog die Schwester dicht an sich heran und küßte sie auf die Stirne.

»Du weißt, Veri, wie ich dir's wünsche.«

Verena ließ sich in einen Stuhl sinken.

»Aber es liegt ihm doch gar nichts an mir.«

»Das glaubst du nur.«

»Er hat noch nie ein Wort gesagt, Mariann. Nicht das kleinste. Weißt ja, wie kurz er ist.«

»So sieh seine Augen an.«

»Er schaut mich nicht anders an wie dich.«

»Vielleicht. So ist er schon. Aber man merkt's doch, Veri.«

Verena schwieg und sah auf ihre Hände herab, die an der Schürze knitterten.

»Mariann, du weißt nicht, wie mich das oft quält. Es kann doch nichts daraus werden, ich weiß es.«

Marianne ließ noch immer den Goldbesatz der Stola in der hellen Vormittagssonne glitzern.

»Warum soll daraus nichts werden können?« fragte sie zerstreut, mit schiefgehaltenem Kopfe. Dann wandte sie sich aufmerksam herum. »Warum soll daraus nichts werden können?«

»Erstens der Vater, Mariann. Ich bin ihm das schuldig. Ich kann ihn nicht allein lassen. Was soll er dann ohne uns? Du wirst einmal heiraten und dann –«

»Ich? Ich werde nie heiraten.«

»Warum nicht? Du bist gesund und mußt jedem Manne gefallen.«

Marianne schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich werde nie heiraten. Merk dir das. Und du mußt heiraten. Wenn nicht den, so einen anderen.«

Sie legte die Stola zärtlich in die offene Schublade und verschloß sie mit ihren anderen Mädchenschätzen.

»Ja, Veri. Du wirst und mußt heiraten. Wenn nicht den Doktor, so einen anderen. Beim Vater bleib schon ich. Diese Sorge schlag dir nur aus dem Kopf.«

»Nein, Mariann, nein. Du bist die Gesunde, du mußt einen Mann kriegen. Für mich – für mich ist die Arbeit gut.«

»Veri, das ist ja Unsinn. Gerad umgekehrt. In einer glücklichen Ehe wirst du gleich ganz gesund werden. Aber nicht hier im Hause. Das laß nur mir, die Arbeit.«

Verena zog und zerrte am Schürzensaum, als wollte sie die Stiche der Naht zählen.

»Mariann, ich glaub immer, er meint dich. Wenn er überhaupt eine von uns beiden meint. Oder überhaupt eine.«

»Das sehen nur deine Augen. Das siehst du in deiner Angst, und weil du nicht eitel genug bist. Mich meint er schon gar nicht. Und wenn – ich mag ihn gar nicht. Ich hab ihn sehr gern, als Freund, ja. Aber heiraten –! Also da darfst du schon ruhig sein. Und du paßt doch so gut zu ihm, du bist still und sanft und spielst Klavier, alles, was er braucht. Ich und der Doktor!« Sie lachte auf.

Verena rang die Hände ineinander.

»Nein, Mariann. Es kann nie etwas daraus werden. Es wird nie etwas daraus, ich weiß. Schad davon zu reden. Es tut einem nur weh.«

Sie stand mit einem Seufzer auf.

»Ja, reich sind wir zwei schon nicht,« überlegte Marianne. »Aber ich glaub, er hat was.«

»Ich wär ja mit so wenig zufrieden. Mit nichts. Und wenn's nur ein Jahr wäre! … Aber es wird nicht einmal ein Jahr sein. Darum, Mariann. Siehst, das ist es.«

»Veri! Was redest du zusammen?«

Verena nickte vor sich hin.

»Und wenn er mich auch fragt … Aber er wird mich nicht fragen. Er weiß es ja selber.« Sie winkte ab. »Besser, man behält's für sich. Alles … Och, Mariann, wenn's nur solange mit mir dauern wollte als der Vater lebt. Dann wärst du außer Sorge … Du verdienst einen Mann, der dich lieb hat und den du lieb hast, längst schon … Hast dich genug geplagt und geschunden. Dir würd ich ihn gönnen, dir.«

Sie sank wieder in den Stuhl zurück.

Marianne rückte dicht heran. Fest umklammerte sie die heißen Hände der Schwester.

»Veri, von mir und von alledem wird jetzt nicht geredet. Sondern von dir. Du mußt mir alles sagen. Komm. Was ist mit dir?«

Verena zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es selber nicht. Es ist immer dasselbe. Ist vielleicht nur ein Schatten. Nur eine Einbildung. Kümmer dich nicht darum, Mariann.«

»Natürlich ist es nur ein Schatten, Veri. Aber den möcht ich dir ausreden. Komm, komm, wenn du einmal glücklich bist, dann ist alles gut.«

»Ich bin ja glücklich in meiner Art, Mariann. Schau, es ist bloß die Angst. Ich möcht nicht sterben! … Ich möcht leben! … Leben, leben, Mariann!«

Sie zog ihre brennenden Hände aus der Umklammerung und schlug sie sich vors Gesicht. Stilles Weinen schüttelte ihre zarten, schmalen Schultern. Marianne sah hilflos zu.

»Aber Veri, Veri! … Es wird ja alles gut werden. Wenn der Frühling wiederkommt! Schau, mußt nicht weinen. Das kommt alles vom Alleinsein, das ist nichts für dich, du brauchst Glück und Wärme!«

Verena wiegte schmerzlich ihren seidenschimmernden Kopf hinter den Händen.

»Du bist gut, Mariann,« sagte sie erstickt. »Und ich bin schlecht, weil ich dir mit meinem Geflenn noch diesen Tag verderb, wo du so schon nicht viel hast das ganze Jahr … Ich hätt auch nichts gesagt, aber es ist so herausgekommen … Mit dem anderen … Ich bitt dich um Verzeihung, Mariann … Vergiß den Unsinn, den ich da geredet hab. Ist ja alles Unsinn. Jetzt ist mir auch wieder leichter. Ich hab mich nur ein wenig ausweinen müssen.«

»Wein dich nur aus, Veri, wenn's dir hilft. Nur solche Sachen darfst du nicht im Ernst denken. Da verliert man sich dann hinein und hat wirklich nichts vom Leben.«

Verena stand auf und strich sich das Haar aus der Stirne.

»Es ist schon vorüber, Mariann. Komm, wir wollen den Baum aufputzen.«

Marianne zögerte noch.

»Ich möcht, daß du dir die schwarzen Gedanken wirklich vertreibst, Veri. Nicht nur mir zulieb. Mir kannst du doch immer alles sagen, ob Weihnachten oder Ostern oder welchen Tag immer.«

Verena stand eine Weile wie verloren. Sie sah in den blitzenden Sonnenschnee hinaus.

»Ich weiß nicht, Mariann,« sagte sie wie zum Fenster; »das Beste und Schlimmste, das kann man nie jemand sagen. Nicht einmal sich selber.«

Die Schwester versuchte zu lachen.

»Paß auf, heut abend hält er um dich an. Und der Siebenschein gibt gleich seinen Segen dazu. Das wär einmal ein Heiligabend, du! Und zur Verlobung back ich euch eine Mandeltorte, so hoch, die, weißt, nach dem gewissen Rezept.«

Verena hörte nicht zu. Plötzlich drehte sie sich nach der Schwester herum und küßte sie heiß auf die Lippen.

»Dich möcht ich glücklich sehn, dich! Damit ich es wenigstens einmal aus der Weite sehe.«

»Geh, Veri. Bist ja gar nicht gescheit vor lauter Verliebtheit. Ich weiß nicht, was du nur willst. Ich bin ja glücklich. Sehr glücklich. Mir fehlt doch rein gar nichts!« Sie wandte sich dem Baume zu. »Komm, nimm du die Kerzeln und die anderen Sachen. Ich trag den Baum hinüber. Hier können wir nicht aufputzen. Und den Baum fertig hinüberbringen geht auch nicht. Fünfzig Kerzeln müssen's sein, zähl nach. Ich hab nur weiße bestellt, das sind die schönsten. Und einen weißen Wachsstock hab ich auch noch, einen angegänzten, den werden wir zerschneiden. Damit es riecht … Und fünfzehn Pomeranzen, dort auf dem Tisch, die nimm auch mit. Zwölfe kommen auf den Baum, kannst sie dann gleich in die Goldborten einbinden … Die Goldborten? … Die liegen in der Schublad, links im Eck in dem Kartandel mit dem Flieder drauf, dort hab ich sie voriges Jahr aufgehoben … Drei Pomeranzen sind für den Punsch, die müssen wir lassen … Ja, richtig, der arme Siebenschein, der darf nur zuschauen. Könnt auch der Alte die Metten lesen, möcht ihm gar nicht schaden … Die Kerzelhalter? … Die sind schon drüben. Fehlen ein paar, aber wir werden die Kerzeln mit Wachs anschmelzen … Die Goldfäden? … Die sind im rosa Kartandel … Ganz hübsch, das Bäumerl, nicht? … Weißt, am besten so: du nimmst fünfundzwanzig Kerzeln und von jedem die Hälfte, und wir putzen jede eine Seite auf, dann wird's gleichmäßig … Du, die Zuckerln, die sind heuer einmal fein, besonders die mit dem Limongeschmack … Magst eins kosten? … Ja, Papier zum Einwickeln müssen wir auch noch schneiden …«

So plauderte Marianne die Schwester und sich selbst über die Schatten der letzten Stunde hinweg.

Als die wagrechten Strahlen der Abendsonne an den Wänden hinankrochen, stand das Bäumchen schon im vollen Flitter. Der steile, borstige Wipfeltrieb trug einen herrlichen Kometen, dessen goldner Schweif nach allen Seiten auseinanderfächerte. Auf der knotigen Spitze selbst thronte einsam und aufrecht ein besonders langes Kerzlein, aus Mariannens geopfertem Wachsstock geschnitten und an seinem Fuße kunstreich gegabelt, so daß es in ruhigem Gleichgewichte den gefährdeten Platz behauptete. In den Tiefen des Gezweigs baumelten die sonnenroten Pomeranzen, von kunstreich übergoldeten Nüssen, Haselnüssen und Kieferzapfen wie von leuchtenden Gestirnen umgeben. Drei besonders zarte und wirkungsvolle Kunstwerke hingen in gerechter Verteilung an hervorragenden Stellen der Gesamtanlage; es waren dies kleine, frostrote Weihnachtsäpfelchen, mit Schweinsborsten igeldicht gespickt. Jede dieser Borsten trug an ihrer Spitze eine mit Schaumgold glorifizierte Haselnuß, so daß sie unter dem Zuge dieser Last federte und der leichteste Schritt, der flüchtigste Hauch das ganze Gebilde zu espendem Gefunkel erregte. Bescheidener nahmen sich neben all dieser Pracht die braunen Lebkuchen und die in zarte Papierkleidchen gehüllten Süßigkeiten aus. Eine der stimmungsvollsten Besonderheiten dieses Weihnachtsbaumes aber ließ sich jetzt noch nicht würdigen: jene kleinen Laternchen, die Verena an müßigen Vorfeierabenden aus ölgetränktem Papier und etwas Draht verfertigt hatte und die, von innen her erleuchtet, den Tiefen des Gezweiges etwas von der mystischen Andacht des Weihnachtswaldes, von den Geheimnissen des mitternächtigen Kirchganges verliehen.

Die letzten Zurüstungen hatte Verena allein besorgt; Marianne war in die Küche abberufen worden. Die süßen Düfte von Festkuchen und Früchtebrot zogen einschmeichelnd durch das Haus. Nun war die liebe Arbeit beendet. Eben traf die Strahlengarbe der sinkenden Wintersonne den Baum, daß er gleichsam von unten herein durchleuchtet wurde und selbst das schuppige Stämmlein einen Hauch echter Vergoldung empfing. Die Haselnüsse espten an ihren unsichtbaren Federn, der Komet in der Höhe flammte auf. Weiß und steil wie die Seelen heiliger Jungfrauen standen die Kerzlein auf ihrem schwanken Altar. Verena trat zurück. Hier war ein Ast stieflich behandelt worden, jener dort durfte aus seinem Überreichtum füglich etwas abgeben. Dieses Licht stand genau über dem anderen und mußte frühzeitig abschmelzen; da würde ein Lebkuchen über der Flamme rösten, das Fransenkleidchen des Bonbons hier in eitel Feuer aufgehen. Aber nun war auch wirklich alles getan. Das ganze Bäumchen stand ja vielleicht etwas schief. Die Übertragung und die Belastung oder die Befestigung des glorreichen Gipfelkometen hatten es wohl aus seiner künstlichen Lotrechten gebracht. Aber wer sah danach an solchem Abende?

Die Sonne verblaßte hinter rauchigen Schneewolken, die aus dem Abend heraufzogen. Der Vater hatte schon des Morgens baldigen Umschlag prophezeit; am Mittage hatte sich in den Höhen dünner, vielverstrählter Dunst bereitet, der Bote des Sturmes. Jetzt woben die goldgrauen Garne sich dichter und dichter zusammen, und der Tag versank in brauenden Nebeln.

Verena setzte sich vor das Klavier. Sie war müde. Dennoch schlug sie den Deckel von den Tasten. Die Winterdämmerung schlich sich ein. Nun verlosch auch der flammende Komet. Wie eine geschmückte Braut vor ihrer Nacht, so stand das Bäumchen im bangen, seligen Zwielicht.

Verena versuchte zu spielen. Sie fand die Akkorde des alten Weihnachtsliedes. Aber mitten darin brach sie mit einem harten Seufzer ab. Wenn Marianne recht behielt! Ihr Herz schlug an und trieb ihr das heiße Blut bis in die Stirne hinauf.

Sie holte ihre Mädchengabe aus ihrem Versteck hervor. Wenn es ihn nur erfreute, ihr heimliches Werk! Doch, mit Mariannes Stola durfte sich das schöne, seidenschwere, breite Halstuch wohl messen. Wenn er es nur tragen wollte! Er hatte manchmal eine Art, jede nahende Weichheit rauh von sich zu weisen. Sie fürchtete sich fast vor ihm. Es war auch nicht wahr, was Marianne sagte. Gar nichts lag ihm an ihr. Und das war ihr schließlich das Liebste. Eine bittere Beruhigung überkam sie, wie sie diesem Gedanken weiter nachging. Es war das Beste so. Sie würde ihn weiter aus der Ferne lieben, nach ihm bangen, ihn mit ihrer Seele, mit ihrem Blute, mit ihren heißen Tränen suchen. Bis alles vorbei war … Auch das war Glück. So viel Glück, als sie nur verlangen durfte … O ja, es kamen Stunden, da es anders aus ihr herausschrie. Da sie leben wollte, leben, leben, alles nehmen, alles geben, was sie zu empfangen und zu verschenken hatte. Da ihr jede Stunde des Welkens leid war; da sie am liebsten in einem einzigen Trunke alles Licht, alle Wärme, alle Schauer und Erhörungen in sich hineingeschlürft hätte … Und dann vernahm sie ihren eigenen verschwiegenen Schrei und erschrak … Sie sah ein verschlossenes Gittertor vor sich und jenseits einen Garten voll schwerer Rosen und süßer Früchte, voll seliger Sonne auf goldgrünen Wiesen! … Nur einmal durch diesen Garten hindurchgehen, nur ein einziges Mal, und dann in die Tiefe! … Und wenn nun Marianne recht behielt! … In beiden Händen würde sie ihm ihr Herz geben und mit ihm durch jenen Garten gehen und an seinem Herzen sterben. Dann war er ja wieder frei. Und sie hatte doch den Duft der blühenden Rosen getrunken und mit ihm von jenen süßen Paradiesfrüchten gegessen und war einmal warm geworden im Sonnenschein jener stillen, wonnigen Wiesen … Nein, sie wollte nicht allein bleiben in der verführerischen Dämmerung. Sie stand auf und ging zu Marianne nach der Küche hinüber, und am Baume zitterten die goldenen Haselnüsse unter der zarten Last ihres Schrittes.

Marianne schrak aus ihrer Arbeit auf, als die Schwester leise eintrat und sie von rückwärts um die Hüften faßte.

»Du, Veri! …« … »Ja, natürlich ich. Wer sonst?« … »Bist du denn schon fertig?« … »Längst schon; hast mich nicht spielen gehört?« … »Nein, das Feuer braust so.« … »Also, wie findest du das? Aber ehrlich sein, Mariann.«

Marianne ließ das enge, leisknirschende Seidenstrickwerk durch die Finger gleiten.

»Da bin ich ja mit meiner Stola ganz arm, Veri.« … »Ach, du!« »Nein, wirklich.« … »Ob er's annimmt?«

Marianne deutete mit dem Kopfe nach der alten Magd hinüber, die im Hintergrunde dampfender Geheimnisse geschäftig umhergeisterte.

»Ach, die Leni,« flüsterte Verena; »die ist ja doch taub. Und wenn – was ist da dabei?«

»Und möchtest nicht, daß etwas dabei wäre, Veri?«

Verena errötete. »Frag nicht noch, Mariann. Ich hab so Angst. Nein, sag, glaubst du, es wird ihm gefallen?«

»Ein Narr, wenn's ihm nicht gefallt.«

»Aber du, dein Siebenschein. Den hast du noch ganz anders beschenkt.«

»Weil wir doch nicht mit leeren Händen dastehn können,« antwortete Marianne kurz.

Die Schwester ließ ihr goldfarbnes Gewebe immer wieder durch die Finger laufen.

»Du, der Siebenschein. Mit dem muß es etwas gegeben haben. Meinst du nicht? Ich denk es mir schon immer.«

Marianne öffnete vorsichtig das Bratrohr.

»Warum? Was soll es mit ihm gegeben haben?«

»Seit die da war, die – wie hat sie schon geheißen? Die Sängerin. Seither ist er ganz anders. Das hat ihn doch verdrossen. Kaum dreimal oder viermal ist er dagewesen seit damals. Ist dir das nicht ausgefallen?«

»Nein. Ich muß jetzt aufpassen, du. Ich hab nicht Zeit … Das sind wahrscheinlich so Launen.«

»Komisch. Ich hab mir schon oft gedacht, ob du das nicht merkst. Ich glaub immer, das mit der Sängerin, das hat ihn entfremdet … Mm, wie gut das riecht!«

»Sie ist ja den nächsten Tag schon abgereist.«

»Ja, auch ganz komisch. Nicht? Und wie sie ausgesehen hat, nachher? Und der Siebenschein, weißt du – der Siebenschein war damals eigentlich ganz betrunken.«

»Das wird's wohl sein,« nickte Marianne. »Er schämt sich.«

»Und dafür bekommt er jetzt die schöne Stola,« neckte Verena; »Mariann, Mariann. Wenn der Siebenschein ein anderer wär! Ich glaub immer, der wär meiner Mariann gefährlich! … Mariandel, bist doch nicht bös?«

»Oh, furchtbar. Weil mir der Siebenschein so am Herzen liegt, was?«

»Die Stola, Mariandel, die Stola! Was du da alles hineingestickt hast. Aber ich mach ja doch nur Spaß … Du, Mariann: möchtest du zum Siebenschein beichten gehn?«

»Ist das eine Frage!«

»Ich frag ja nur so. Ich schon nicht. Denk, einer, den man so kennt. Dem alles sagen! Auch was man denkt!«

»Na, Veri, du, mit deinen Sünden! …«

»Ach, Mariann. Was weißt du von meinen Sünden?«

»Die werden schrecklich sein.«

»Größer schon wie die deinen, Mariann.«

»Ach, Veri. Was weißt du von den meinigen?«

»Heut abends gibt's überhaupt keine. Ich freu mich schon so. Du, Mariann, ich glaub, der Papa strengt sich heuer furchtbar an. Gestern ist eine so große Kiste an ihn gekommen. Und ich hab nichts für ihn wie die Taschentücher.«

Im Flur draußen wurden Männerstimmen lebendig. Verena stieß Marianne an. »Dein Siebenschein.«

Florian Kathrein sah zur Türe herein, umdampft von der gierig ins Warme qualmenden Kälte.

»So sind die Mädchen, sehen Sie. An den schönsten Tagen lassen sie einen allein. Da habt Ihr den Siebenschein. Sind Sie froh, daß Sie Geistlicher geworden sind. Am Hochzeitstag, da weiß man auch nicht, zu was man eigentlich auf der Welt ist. Da glaubt man auch, die Weiber heiraten unter sich und man ist nur der Lohndiener. Und am Weihnachtsabend, da machen sie es geradeso.«

Benedikt rieb sich die froststarren Hände. Es war ihm nicht sonderlich wohl, eine seltsame Schwere zog an seinen Sohlen, und doch fühlte er sich hoch über dem Boden schreiten, als trüge ihn eine unsichtbare Macht oder als sei er über Nacht gewachsen. Die heftigen Kopfschmerzen dieses Morgens hatten gegen Sonnenuntergang nachgelassen, aber nun mahnte ihn ein fast angenehmes, schwächendes Frösteln daran, daß er am Vortage ungewohnte Anstrengungen bestanden. Besonders der Heimweg durch den hüftenhohen, erschöpfenden Schnee war ihm so beschwerlich gefallen, daß er beim Harthofe ganz zermartert eintraf und vor der Talfahrt noch erst ein Stündlein warmer Ofenruhe pflegen mußte. Er würde später den Doktor zu Rate ziehen, tröstete er sich. Die heimliche Festfreude erfüllte auch ihn mit Unruhe und täuschte ihn über sein Befinden hinweg. Aus der Heimat waren schon an diesem Vormittage Grüße und Geschenke eingetroffen, Kuchen, deren Maß der mütterlichen Fürsorge, nicht aber seinem Können entsprach, ein schönes Buch von Friedrich, dem Schriftsteller, eine wohltuend warme, schwarze Häkelweste von den beiden jüngsten Schwestern, von Bruder Sebastian ein schwarzwimmelnder Notenband, großer edelrostiger Winteräpfel die Fülle: eine Bescherung, die er zunächst noch gar nicht übersah und die er erst morgen stückweise durchgenießen würde.

* * *

Aber auch dieser Tag hatte ihm eine harte Stunde gebracht.

Kurz vor Dämmerung war nach sanftem Pochen Fräulein Huber erschienen, pfingstrosig und erstickt vor Verlegenheit.

Benedikt hatte diesen Fall kommen sehen und sich rechtzeitig mit einem starken Gegengeschenke bewaffnet, einem schön eingebundenen Erbauungsbuche, wie es mit dem appetitlichen Goldschnitt und den frommen Schildereien in Buntdruck dem Geschmacke des Fräuleins am besten entsprechen mochte, zumal es außer andächtigen Betrachtungen und den Sonntagsevangelien auch die Lebens- und Leidensgeschichten der vornehmsten Heiligen enthielt. Auf das seidig gewässerte Vorsatzpapier aber hatte er nach langem Wählen und Zögern die ewigen Worte aus dem Evangelium Lucae eingetragen: »Herr, lehre uns beten … Er aber sprach zu ihnen: wenn ihr betet, so sprecht: Vater unser, der du bist im Himmel …« So eifrig er das Neue Testament durchblätterte, er fand keine würdigere Widmung, keinen Spruch, der das, was ihn bewegte und was er ganz von ferne andeuten wollte, in klarerem Gefäße bot: vergib uns unsere Schulden – und führe uns nicht in Versuchung …

Und nun fühlte Siebenschein durch die Gabe des guten Fräuleins sich dermaßen beschämt, daß er es kaum wagte, mit seiner reich ausgestatteten Postille hervorzutreten.

Fräulein Amalie begann unsicher:

»Der hochwürdige Herr Doktor wird wohl nix mehr nehmen wollen von der alten Mali?«

Benedikt griff hinter sich nach der Postille.

»Das habe ich nämlich Sie fragen wollen, Fräulein Huber. Es ist ja nur eine arme Kleinigkeit …«

»Der hochwürdige Herr Doktor soll nur ganz still sein. Ich will gar nix und brauch nix … Aber ob der Herr Doktor was von mir nehmen will, das is die Sach.«

»Ein Andenken, Mali – wenn es nicht mehr als ein Andenken ist …«

»Is eh net mehr. Was halt die Mali zu geben hat. Der Herr Doktor kriegt schon noch was anderes von mir. Aber das da – das möcht ich dem Herrn Doktor in die Hand geben, darum bin ich so frei g'wesen …«

Sie brachte ein winziges, in weißes Seidenpapier gewickeltes Päckchen zum Vorschein.

»Der Herr Doktor soll's anschauen. Ob's ihm g'fallt.«

Vorsichtig und betreten entkleidete Benedikt den zarten Gegenstand seiner Hülle.

Zuerst schwieg er überrascht.

»Dem Herrn Doktor g'fallt's g'wiß net. Weil's so eine alte Sach ist. Jetzt machen ja die Leut so viel schönere Sachen.«

»Aber Mali! Das kann ich ja gar nicht annehmen!«

Fräulein Huber stand erfreut und hochrot.

»Alt is halt. Von meiner Großmutter is noch, und die, die hat's von einer Tant, was die Mutter g'wußt hat, und die Tant, die hat's wieder von ihrer Mutter g'habt, was die Großmutter von meiner Großmutter war, und die, die hat's von einem hohen Herrn zu schenken kriegt … Na, und jetzt hat's der hochwürdige Herr Doktor.«

»Aber Fräulein Huber, Sie wissen gar nicht, was dies Stück wert ist.«

»Gar nix is wert für mich, wann's der Herr Doktor net mag.«

»Aber, Mali, das ist ja ein Kunstwerk!«

»Auf der andern Seiten soll's der Herr Doktor anschauen.«

Ungern trennte sich Benedikt vom Anblick des entzückenden Schnitzwerkes.

»Die Heilandsgestalt, wie die heraustritt! Und Maria Magdalena, jedes einzelne Haar glaubt man zu sehen! Wie er sich über sie beugt und sie segnet! … Und selbst das Salbengefäß! … Und hinten die Flucht der Tafel, jeden einzelnen Apostelkopf entdeckt man. Und alles nur aus einem Pflaumenkern!«

Er langte das Vergrößerungsglas vom Schreibtische und untersuchte die Filigranarbeit noch genauer.

»Wirklich, Petrus, Johannes, Judas, deutlich zu erkennen. Und der Heiland, Zug für Zug, die erhobene Hand –« er atmete angestrengt auf; »Mali, Sie wissen selbst nicht, was Sie da für einen Schatz haben.«

»Hinten soll's der Herr Doktor anschauen,« wiederholte sie.

Benedikt wendete den kostbaren Pflaumenkern zwischen den Fingern. Unter dünner Verglasung in haarfeinem Goldreifchen zeigte sich das Bild der Dornenkrone, auf Papier aufgelegt, aus dunkelblonden, fast holzfarbnen Haaren geflochten, ein Meisterwerk zarter, geübter, entsagender Geduld.

»Der Herr Doktor kann's aufmachen,« erklärte Mali. »Das is ein Deckerl, und drinnen is alles mit Atlas ausg'füttert, und da sein die Reliquien drin, ein Spandl vom Kreuz und ein Faderl vom Schweißtuch – wenn's wahr is …«

»Ja, aber, Mali! … Das dürfen Sie ja unter keiner Bedingung aus der Hand geben! Das ist ja ein Kleinod ersten Ranges.«

»Tät's auch net geben. Nur dem Herrn Doktor. Der Herr Doktor wird's schon in Ehren halten, gelt?«

Siebenschein schüttelte den Kopf.

»Das darf ich nicht annehmen, Fräulein Amalie.«

»Auch recht. Dann schmeiß ich's halt in den Schnee hinaus. Oder in den Sparherd.«

»Mali – die Reliquien!«

»Ah was, Reliquien. Wann's der Herr Doktor net mag, dann mag ich's auch net. Fertig.«

»Aber das alte Familienstück!«

»Ah was, Familienstück. Nach mir lebt keiner mehr. Darum soll's der Herr Doktor haben.«

»Sie könnten das an ein Museum oder an eine Kirche teuer verkaufen. Oder der Kirche schenken.«

»Ah was, Kirchen. Die Kirchen, das is der Herr Doktor. Hab es aufg'hoben die vielen Jahr, allweil hab ich's ang'schaut und dabei denkt, wem daß ich's vermachen soll … Na, und da – – also wenn's der Herr Doktor net nimmt, dann heiz ich ein damit.«

»Ich will es für Sie aufheben, Mali. Sie können es jederzeit zurückverlangen.«

»Nix nimm ich zurück. Was geben is, is geben. Jetzt hat's der Herr Doktor, und jetzt wünsch ich dem Herrn Doktor halt recht glückliche Feiertag, und daß der Herr Doktor g'sund möcht bleiben und net zu viel g'spüren, wie daß er dahier in der Fremd is.«

»Unter guten Menschen ist man nicht in der Fremde, Mali. Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich kann es mit den ersten Worten gar nicht so sagen. Sie haben mir eine große, große Freude gemacht. Freude, das ist noch viel zu wenig gesagt …« Er seufzte auf und brachte das Erbauungsbuch zum Vorschein.

»Hier, Fräulein Mali. Wenn Sie das von mir behalten wollen? Es ist eine sehr klägliche Gegengabe. Aber vielleicht …«

Fräulein Huber griff zögernd zu.

»Das wird wohl zu viel sein, das! Das schöne Buch!«

»Mali, es ist nichts, gar nichts gegen Ihr Geschenk.«

»Der Herr Doktor soll net so daherreden. Wann's aus der Hand vom Herrn Doktor kommt, dann hat's schon viel Wert.«

Sie schlug das umfängliche Werk auf.

»Ja, ja. Das schickt sich für die Mali jetzt besser zum Lesen als wie die schönen G'schichten, wo einem alle möglichen Gedanken kommen dabei. Jesses, da, der heilige Antonius, und der Krampus hinter ihm … Und da, der heilige Laurenzi, wie der bratet! Jesses, was die Leut schlecht g'wesen sind dazumal. Und da, die heilige Elisabeth, mit die Rosen in der Schürzen, Für jeden Tag was zum Lesen. Das wird schön sein. Da werd ich ja noch selber ganz heilig werden davon. Die heilige Mali, die müssens abmalen mit dem Mörser und mit dem Brennschauferl.« Sie schlug zurück und fand die Widmung; langsam überlas sie die geschriebenen Zeilen. Die hellen Tränen sprangen ihr aus den Augen. »Jetzt, is das net seltsam. Grad dasselbe, hat mir die Mutter immer g'sagt, grad dasselbe steht auf dem Papier unter der Dornenkrone. Das Vaterunser.«

»Es ist das Schönste, was wir besitzen.« Benedikt ergriff die Hand des Fräuleins. »Es geht auf uns beide, Mali.«

»Freilich, freilich, Herr Doktor.«

Sie fuhr sich mit der Schürze übers Gesicht.

»Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, Mali.«

Jetzt war sie wieder hell.

»Ah ja, übelnehmen. Bin ich so? Grad daß man sieht, daß der Herr Jesus es net so schlimm g'meint hat mit die Sünder. Bei dem, da möcht ich gleich beichten gehn … Und jetzt will ich den hochwürdigen Herrn Doktor halt net länger aufhalten. Und ich bedank mich noch recht schön. Was für eine Freud daß mir der Herr Doktor g'macht hat, das weiß er selber net. Das is gar net so zum Sagen. Und wann's eine Stecknadel g'wesen wär, vom Herrn Doktor hätt's mir Freud g'macht. Und so ein schöns Buch, so dick, das ganze Jahr hat man zum Lesen … Und ich wünsch dem Herrn Doktor halt noch einmal recht angenehme und glückselige Feiertäg, und daß sich der Herr Doktor g'sund erhaltet und noch recht, recht, recht lang dahier bleibt.«

So hatte Siebenschein auch das überstanden. Aber seine Freude an dem köstlichen, seltenen Geschenke, so groß sie war – sie war wie eine Wunde, wie ein Span, der brannte und mahnte.

* * *

Durch den Bruder Sebastian hatte Benedikt sich Gaben für das Kathreinsche Haus besorgen lassen: einen neuen Bogen und einen kleinen Vorrat an Saiten für den Lehrer, eine Lebensbeschreibung Bachs für Verena, ein fein in genarbtes Leder gebundenes Evangelienbuch und eine kleine Monographie des Kaffees für Marianne, letzteres Werkchen als Scherzdedikation, die auf der inneren Titelseite die Widmung trug: »Martha, Martha, du bekümmerst dich um viele Dinge und machst dir viele Sorgen,« während das Evangeliar den Text fortsetzte: »Eines nur ist not.« Diese Schätze kramte Benedikt nun vor Kathrein aus, mit Ausnahme des Bogens, den er versteckt hielt.

Kathrein lachte in seiner stillen Art.

»Wir haben noch eine Überraschung. Sie müssen mir auspacken helfen. Gestern ist eine große Kiste gekommen. Und wissen Sie, von wem?«

Benedikt sah den Lehrer verständnislos an.

»Von ihr!« sagte Kathrein vergnügt.

»Von wem?«

»Von ihr!«

»Sie meinen doch nicht …?«

»Natürlich meine ich die. Es hat nur eine solche Sie in Unzing gegeben, seit es besteht. Und diese Sie hat uns nicht vergessen. Schön ist das von ihr.«

Er holte Stemmeisen und Hammer.

»Nur vorsichtig. Und die Nägel gerade ausziehen. So macht man das. Aus der Kiste werden noch drei Bienenstöcke. Sehen Sie. Sparen muß man.«

Endlich lockerte sich der Deckel, und die Bescherung kam ans Lampenlicht. Allsogleich verbreitete sich in der Stube ein Hauch jenes beklemmenden fremden Duftes, der von Kleidern und Atem der Fremden ausgegangen war und der nun Siebenschein ganz unvermittelt vor jenes Bild stellte, das er zuerst von Ingeborg Sartorius empfangen: eine Dame in grünem, fließendem Gewande, die langsam vor ihm her durch das Grün der Bergwiese schritt, den schaukelnden gelben Strohhut am nackten Arme, das Haar dunkelweinrot gesäumt und leicht im Nacken verflaumend.

Zu oberst lagen leichte, zart verschnürte, anmutig mit Mistelzweigen verhüllte Pakete, jedes mit dem Namen der Spenderin und dem des Beschenkten versehen. Kathrein ergriff sie mit spitzen Fingern und legte sie andächtig beiseite. »Für Verena. Das ist etwas sehr Weiches. Für Marianne. Das ist auch sehr weich, aber mehr Wolle als Seide. Wieder Marianne. Das ist hart. Wieder Verena. Ist auch hart, ganz das Gleiche. Das ist lang und kalt und steht aufrecht. Das muß eine Flasche sein. Für Herrn Kathrein. Recht hat sie. Noch eine. Wieder für Herrn Kathrein. Sie hat einen großen Verstand, diese Frau. Und da, das letzte. Das muß ein Buch sein.« Er las die Aufschrift. »Für Herrn Kaplan Siebenschein.«

Benedikt zweifelte. »Für mich?«

»Lesen Sie selbst.«

»Wirklich,« sagte Siebenschein heiser; »das hätte ich nicht gedacht.«

»Vielleicht kommt sie wieder im nächsten Sommer,« meinte der Lehrer, während er die geleerte Kiste sorglich verschloß; »aber ausräuchern werde ich das Holz müssen, sonst gehen mir die Bienen nicht hinein … Ja. Vielleicht kommt sie wieder.«

»Hat sie denn geschrieben?«

»Nichts hat sie geschrieben. Auf einmal war die Kiste da. Schön ist das von ihr, daß sie uns nicht vergessen hat. Das überrascht mich mehr als ein Komet oder ein Erdbeben.«

Benedikt wog das große, sauber eingeschlagene Buch in der Hand. Er wußte, was das glatte braune Papier enthalten würde, er erkannte den Band nach Form und Stärke, aber er wagte es nicht, die Verschnürung zu lösen. Immer wieder starrte er das mit violetter Tinte steil beschriebene Blättchen an, das unter der straffen Bindfadenkreuzung gelegen. »Für Herrn Kaplan Siebenschein.«

»Wissen Sie, was sie Ihnen da geschenkt hat?« fragte Kathrein über die Brille hinweg. »Diese Salome, diese neue, berühmte Oper.«

»Warum meinen Sie das?«

»Weil ich es weiß,« lachte der Lehrer; »und wenn Sie mir nicht glauben, machen Sie auf.«

Aber Benedikt rührte nicht an den Knoten, als fürchte er ein unheilvolles Siegel zu erbrechen.

»Wo nur der Doktor bleibt,« zürnte Kathrein. »Es ist schon sieben Uhr.«

Benedikt horchte.

»Ich glaube, ich höre Schlittenglocken.«

Aber es war nichts.

Die beiden Mädchen kamen.

»Wo nur der Doktor bleibt?«

Verena ging unruhvoll durchs Haus. Die Zeit schlich. Man erzählte, man wartete, man lauschte, man besann sich mühevoll auf alte Geschichten, spann mühevoll zähe Fäden. Marianne zupfte noch dies und das am Baume zurecht. Benedikt setzte sich ans Klavier. Aber es war ihm nicht nach Musik um die Seele. Eine seltsame, schleppende Müdigkeit umfing ihn mit schwerem Mantel. Wenn jemand ihn ansprach, erschrak er bis ins Herz. Als habe er stundenlang auf der Folterbank gelegen, so schmerzte ihn selbst das Ausruhen der Sehnen. Es war ein Schweben und Flimmern, ein Auftauen und Ermatten, wie wenn es auf Wolken in den warmen Himmel hineinginge. Seine Stirne brannte. Alle Stimmen wurden fern und ungeheuer im Raum. Selbst seine kalten Hände, die über die Tasten wanderten, spielten irgendwo in unermeßlicher Weite den alten, trauten Weihnachtschoral.

Er stand mühsam auf.

»Ich glaube, ich werde heimgehen. Ich muß die Mitternachtsmette lesen und möchte früher doch einige Stunden schlafen.«

Marianne hielt ihn zurück.

»Da zünden wir doch noch eher unseren Weihnachtsbaum an.«

Siebenschein lächelte schwach.

»Aber der Doktor.«

»Seine eigene Schuld.«

»Warten wir noch ein wenig,« bat Verena; »er kann doch abgehalten sein. Nur zehn Minuten. Eine Viertelstunde.«

Sie lauschten am Fenster.

»Da! … Nein, es ist nur der Hund beim Schattauer drunten … Wie das täuscht … Klingt in der Ferne wie Schellengeklingel.«

»Vielleicht bellt er dem Schlitten nach.«

»Und ganz finster geworden ist es auch. Kein Stern.«

»Es schneit ja. Und wie! … Und stürmen tut's auch in der Höhe … Ja ja, der Sonnenaufgang heute …«

Die Viertelstunde sickerte dahin.

Marianne sah nach Verena hinüber.

»Zünden wir an. Vielleicht kommt er noch zurecht.«

Verena nickte schwach. Sie wandte sich ab, die Augen voll Tränen.

»Er kommt ja doch nicht mehr.«

Hell strahlte das Bäumchen inmitten der ausgebreiteten Gaben. Der trauliche Duft schmelzenden Wachses mischte sich in den guten alten Weihnachtsruch schmorender Lebkuchen und angesengter Zweige. Tief im Geäste brannten die süßen kleinen Papierlaternchen, heimlich und hold wie abendliche Gnadenaltäre in verdunkelten Münsterschiffen. Die goldenen Haselnüsse espten an ihren empfindlichen Zitterfedern. Benedikt sah jeden der Flammentropfen von einem bunten Schleier umflort. Er stand mit andächtig gefalteten Händen; die schmerzhafte Müdigkeit war wieder gewichen. An seinen schmalen Wangen glühte das Heimweh herunter. In seiner Kehle zitterte der zurückgehaltene Strom. Die Heimat! Die Fremde!

Marianne stand freundlich vor ihm.

»Ich verstehe Sie. Kommen Sie, wollen Sie nicht auch nach etwas suchen, was Ihnen bestimmt ist?«

Benedikt ermannte sich.

»Es ist so über mich gekommen. Verzeihen Sie. Ich bin Ihnen so dankbar. Ihnen allen. Es ist wie im Elternhaus … Wie, und diese prachtvolle Stola …?«

»Einen Bogen hat er mir geschenkt!« rief Kathrein von der anderen Seite herüber; »und neue Saiten! … Das heißt, alles ist in Unordnung, die Violine, der Bogen und die Saiten – nur der alte Florian nicht … Oder umgekehrt?«

Verena stand am Fenster. Sie starrte noch immer in die blinde Schneenacht hinaus. Marianne ließ Siebenschein mit seiner Stola allein. Sie schlang den Arm um die bebenden Schultern der Schwester.

»Verili, komm. Sei vernünftig.«

»Ach! Laß mich!«

Die zornige Hand zerknüllte das schöne Seidentuch.

»Ich verlang ja so wenig von meinem bissel Leben … Und nicht einmal das!«

»Verili, komm. Mußt dich auch beim Siebenschein bedanken. Er hat dich auch bedacht.«

»Ah was, mit deinem ewigen Siebenschein! … Laß mich in Ruh mit dem. Ich brauch nichts von ihm. Hab auch nichts für ihn.«

»Veri,« flüsterte Marianne inständig; »willst dem Vater auch die Freud verderben?«

»Ja, anderen immer Freud machen. Und selber keine haben.«

Plötzlich wandte sie sich herum und umarmte die Schwester.

»Verzeih mir, Mariann. Ich weiß manchmal selber nicht, was ich red. Das ist ja kindisch.«

Kathrein stand bei Benedikt und half ihm die Stola bewundern. Dann winkte er mit den Brauen nach den beiden Mädchen.

»Sehen Sie, immer Weiberverschwörungen. Und nie weiß man, warum. Ist auch gar nicht wichtig. Ist immer dasselbe. Darum sage ich, eine Königin, dreihundert Drohnen zum Füttern und Umbringen und fünfzigtausend Arbeiter – da ist immer Friede und Fleiß.«

»Nein, die Sartorius!« schrie Marianne plötzlich von ihrem Tische herüber. »Die Sartorius! Papa! Der Gürtel! Und das schöne Umhangtuch! Rein Schafwolle! Englisch!«

»Euch hat sie auch beschenkt, aber mich hat sie gemeint!« übertrumpfte Kathrein mit einem Hinweis auf die drei steilen, feierlichen Flaschen, aus deren blauen Seidenpapiermänteln die kupfrigen Kappen hervorglühten. »Mich hat sie gemeint, so alte Witwer sind immer gefährlich.«

»Mm, und die Pralinés! Und was für welche. Herr Doktor, wollen Sie? O, Sie Armer, Sie dürfen nicht? Aber morgen. Ja, wenn bis dahin noch etwas übrig ist. Und der Gürtel, Papa, der Gürtel!«

»Wird in Unzing großes Aufsehen machen,« spottete der Lehrer.

Verena bot Siebenschein die Hand.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Es ist zu gut von Ihnen. Und von mir können Sie morgen alle Pralinés haben. Oder gleich jetzt. Da.«

»Veri! Du, und Pralinés verschenken?«

»Ich weiß schon, warum … Die Stola müssen Sie heut nacht schon anlegen, Herr Doktor.«

»Das wird wohl nicht angehen.«

»Ihr habt immer solche Umstände.«

»Das macht erst die Dinge und Handlungen wertvoll, Fräulein Verena.«

»Ein Kaffeebuch!« schrie Marianne auf. »Von wem ist das? … Martha, Martha, du bekümmerst dich um viele Dinge … Das ist ja Ihre Schrift, Herr Doktor!«

»Aber eins tut not!« warnte Siebenschein mit erhobenem Finger.

Marianne hatte den Mund voll Süßigkeit.

»Mm, richtig. Und wie das Leder riecht … Gut, gut, ich werde mich nicht mehr bekümmern … Und dann könnt ihr sehen, woran Not ist.«

Man scherzte, man tauschte Bewunderung, freudigen Neid und Dank. Selbst Verena steigerte sich in eine bittere Heiterkeit hinein. Die weißen Seelenkerzlein brannten herab. Schon verknisterte da und dort eines zwischen glühenden Nadeln. Aber immer noch stand das Bäumchen in voller Verklärung, und seine holden Festkandelaber erfüllten die kleine Stube mit Gnade und Gedächtnis dieser Nacht, mit der seltenen Glorie eines feierlichen Hochaltars. Jetzt verlosch auch das Licht auf dem Wipfel, da es die ganze Zeit über in der strahlenden Hitze gestanden. Von unten her erleuchtet, sah der Friedensstern aus, als schwebe er frei in der Dämmerung.

»Es geht zu Ende,« sagte Verena, und ihre Stimme klang hart.

Eine Weile noch hielt sich das Tännlein in schwindender Flammenpracht. Dann ging das Sterben von Ast zu Ast, und nichts blieb übrig als ein armer, schwarzer, qualmender Baum, an dem der goldene Tand, von der stilleren Lampe erleuchtet, fast gespenstig funkelte.

»Es ist aus,« sagte Verena aus dem tiefen Schatten her.

»Es ist aus,« seufzte Siebenschein.

»Es ist nichts aus,« sagte Kathrein; »aus ist nur, was dann im Schuttwinkel oder im Herd endet. An diesem Baum aber wird die Sonne noch viele Feste entzünden, und vielleicht wird ein uralter Taferlbaum daraus, unter dem die Leute sitzen und sich vergessene Märchen erzählen. Und wird keiner wissen, daß er schon früher einmal ein Altar der Menschen gewesen ist, ein Weihnachtsaltar. So wird er wieder zum Altar Gottes.«

Benedikt nahm Abschied.

»Nur für einige Stunden. So schade, daß der Herr Doktor nicht gekommen ist. Ich dachte immer, wir würden zusammen das alte Weihnachtslied als Trio spielen. Es war so schön.«

Kathrein geleitete ihn bis zur Torschwelle. Durch die hinausfallende Lichtbahn geisterte der dichte leise Flockentanz. Die beiden Männer schauten eine Weile lang dem schwärmenden Spiele zu. Man sah jedes einzelne der duftigen Kristallfederchen, wie es, aus blinder Höhe herabtaumelnd, im matten Flurschein aufleuchtete, im Tretgeleis liegen blieb und verschwand. Immer wieder eins. Immer wieder tausende. Milliarden.

»Die echte Weihnacht,« sagte Kathrein.

»Man wird ganz schwindlig,« nickte Siebenschein.

»Ihnen ist heute nicht, wie es soll?« fragte der Lehrer; »soll ich Sie begleiten?«

»Es ist nur vorübergehend,« wehrte Benedikt; »eine kleine Schwäche. Gestern der Weg zum Geisterer, heute der Wetterumschlag. Es wird sich schon legen.«

Die schmale schwarze Gestalt des jungen Priesters verlosch im erstickend leisen Flockengewirbel; Kathrein kehrte nach der warmen Stube zurück. Etwas Dunkles, Ungewisses hatte seine Schleier um das Haus gesponnen, der alte Mann fühlte es. Aber er fragte nicht, weil er um menschliches Geschehen wußte und weil er dem Gleichgewicht in allem Geschehen vertraute.

* * *

Werner Wendt wollte an diesem Abende zu Fuße nach Unzing hinaufgehen. Es war eben ein starker Stundenweg; auf der glatten Schlittenbahn marschierte sich vielleicht noch eine Drittelstunde dazu, gerade die rechte Erholung für einen rüstigen Mann, und dazu ein schönes Stück Einsamkeit in der feierlichen Winternacht. Das brave Grauschimmelchen sollte wenigstens heute Ruhe und wohlige Stallwärme und doppelten Hafer genießen. Es tat dem Doktor leid, daß er das gute treue Tier auch am heiligen Abende in seinen Dienst spannen und die zahlreichen Hügel hinaufbemühen sollte. Außerdem hatte er in den letzten Nächten und auch an diesem Vormittage der Ruhe genossen. Ein frischer Gang gegen die stählerne Luft würde ihm gut tun.

Die rührenden Gegenvorstellungen des besorgten Fräuleins vermochten nichts über diesen Entschluß. Und allzu dringlich wagte die gute alte Dame nicht zu werden. Sie kannte des Doktors Art, den Bart steil abzusträuben, und das Wetterleuchten seiner grauen Augen; dann stand Gefahr im Verzuge. Daß der Doktor seinen Weihnachtsabend nicht bei ihr verbringen wolle, war ihr natürlich auch nicht recht. Allein sie begriff die Wahl und stellte ihre eigenen Wünsche weit hinter die Absichten ihres verehrten Gebieters. Gott allein wußte, was er da nicht noch alles herauswachsen ließ. Stand doch in so vielen rührenden Geschichten von Verlobungen unter dem Christbaume zu lesen, was sie, Fräulein Graff, stets zu bedeutenden Tränenergüssen reizte; verlegte doch so mancher Dichter den Schwer-, Haupt- und Wendepunkt seines begnadeten Werkes auf das heilige Weihnachtsfest, das die ganze Welt mit Friede und gutem Willen und weicher Stimmung erfüllt. Und Dichter sind Kenner des Menschenherzens.

Der Doktor versprach, gegen Mitternacht zurückzukommen; das belebte Fräulein Therese mit unruhiger Vorfreude. Sie gedachte in der Zwischenzeit eine Überraschung vorzubereiten, die den spät und durchfroren Heimkehrenden mit warmer, traulicher Heimatlichkeit empfangen würde. In Voraussicht dieses Genusses nahm sie den Abschied auch nicht so schwer, als sie es sonst getan hätte. Das Letzte blieb doch ihr, das Beste, das Eigentliche. Und am Ende brachte ihr der Doktor von Unzing eine frohe Nachricht mit. Sie wagte nicht zu fragen, aber sie hoffte insgeheim und gelobte eine Novene.

Werner Wendt trat vor das Haustor. Er hatte den Kragen des kurzen weichen Flauschrockes hochgestülpt und den breiten Hut tief in die Stirne gedrückt. Er lächelte an sich herunter. Das war ja eigentlich ein allzu derbes Festgewand, Kniestiefel, Jagdjoppe und krummgriffiger Hakenstock. Immerhin: er ging zu guten Freunden, die sein Behagen achteten und seinen verwilderten Geschmack schon kannten.

Am liebsten freilich wäre er daheim geblieben bei seiner Kniegeige und einem guten Buche und seinen eigenen Gedanken. Aber nun hatte er es einmal versprochen, und Verena hatte ihn so herzlich gebeten; ob sie ihn noch einmal zum Christabend laden würde, die Allgüte allein wußte es. Den Lebenden muß man leben, nicht den Toten; es war vielleicht ihr letzter Frühling, der unter diesem Schnee sich bereitete. So verbannte er die eigenen Wünsche, um den Freunden ein Freund zu sein. Und er freute sich auf den langen, geruhsamen Weg durch die Nacht der Nächte, durch Traum und Ahnung der schlummernden Welt.

Nun sah er nach dem Himmel empor. Die scharfe Kälte der letzten Tage hatte sich schon am Vormittage gebrochen, jetzt waren auch die Sterne verschwunden und einzelne Flocken schwebten träge herab. In den Höhen mochte schwerer Sturm gehen; man vernahm das Orgeln und Dröhnen der Finsternisse. Desto besser, dachte Wendt. Eine freie Wanderung durch fallenden Schnee, das hatte er schon seit langem nicht mehr genossen.

Aus allen Fensteraugen des Marktplatzes leuchtete die festliche Abendfreude herunter. Vom Turme der Pfarrkirche schlug schleppend die Glocke. Wendt horchte hin; er stand auf der Schwelle. Halb sechs; wenn er tüchtig ausschritt, erreichte er Unzing noch vor der vereinbarten Stunde.

Da, als er eben von der Schwelle heruntertrat, prallte er heftig gegen einen Mann, der just in das Haustor einbog.

»Na,« verwies der Doktor; »schauens doch auf.«

»Seids Ihr am End der Doktor?« schrie der andere zurück.

»Freilich. Wer seids denn Ihr?«

»Der Anrain, von Ober-Sterzen drüben.«

»Was wollts Ihr denn von mir?«

Jener keuchte. »Herr Doktor … Die Frau … Net sterben und net leben kanns …«

»Was fehlt denn?«

»Zum Liegen is halt kommen.«

»Anrain von Ober-Sterzen … Ihr seids aber noch nie bei mir gewesen. Ihr gehört gar nicht zu meiner Praxis. Ihr gehörts zu denen in der Stadt.«

»Wenn die net wollen. Von dort komm i ja.«

»Die wollen nicht?«

»Daß er selber net recht is, hat der eine g'sagt … Daß er in der Stadt ein Fall hat, hat der andre g'sagt … Na, und überhaupts, auf den heiligen Abend.«

»So kommt Ihr von der Stadt?«

»Seit elfe bin i auf die Füß. Jetzt bin i halt daherg'laufen, was i hab können.«

»Wer hat Euch zu mir geschickt?«

»Von die einer. Daß i zum Doktor nach Sanktrain gehn soll, hat er g'sagt, daß der si nix drausmacht …«

»So. Aha. Junge Frau?«

»'s Erste halt.«

»Wie kommen wir am geschwindesten hin?«

»Über die Berg. Von da glei hinter der Kirchen aufi, und dann durchs Mangholz, nach Ober-Sanktrain, und dann beim Überacherkreuz nach rechts, und dann bei der Lenardikapellen nach links, rechts geht's auf Unzing zu, und dann beim Stoderkreuz umi, und über den Höllbachgraben, und dann durch das Gampholz, und nacha sein mir bald da …«

»Kenn mich schon aus. Wie lang gehn wir?«

»So a drei Stund. Könnten viere wern aa.«

»Und wenn wir bis zur Stadt fahren oder bis Ober-Sanktrain?«

»Alls länger. Nacha nimmt's vier Stund g'wiß, fünfe.«

»Gut. Ich komme. Haltet's Ihr noch aus?«

»Grad verschnaufen wenn i könnt. Und ein Enz wann i haben könnt. Oder was Warms.«

Der Doktor sah am Manne herab, der da im Schein der flockenumschwärmten Laterne vor ihm stand.

»Ich werd Euch was sagen, Anrain. Ihr bleibts mir am End unterwegs wo liegen. Das könnt ich nicht brauchen. Da habts Ihr einen Gulden. Und jetzt gehts zum Bären oder zum Kranz und laßts Euch was geben, was Ordentliches, verstehts. Nachher kommts nach. Ich find schon allein. In Ober-Sanktrain ruf ich mir einen heraus. Den Schmölzhofer oder den Rottenbacher oder einen Knecht. Ich geh gleich.«

»Herr Doktor …,« begann der Anrain.

Wendt drehte sich unwillig herum.

»Was noch?«

»Werd net gut sein, allein zur Bäuerin gehn.«

»Glaubts Ihr, daß Ihr mir da helfen könnts? Ich brauch Euch nicht.«

»Ja – aba …« Der Mann stotterte. »Wo die Emmrenz, was die G'sundbeterin is, die Schwandtnerin halt, der Herr Doktor kennts eh …«

»Also geschwind. Was ist mit der?«

»Na, wo die seit gestern schon herom is … Und da hats so daherg'redt … Wie halt die Weiber schon sein, net … Und da hat die Bäuerin jetzten den Kopf ganz voll davon, von dem G'red … Und da hats g'sagt …«

»Das will ich gar nicht hören, was sie gesagt hat.«

Der andere fuhr sich mit dem roten Taschentuch über die Stirne.

»Lieber glei hin sein, hats g'sagt …«

Wendt lachte zornig auf.

»Seids nur ruhig, Anrain. Wird kein Teufel auf die Welt kommen. Wird sich leicht besonnen haben, die Bäuerin. Und jetzt haltets mich nicht auf. Wir haben so schon zu lange geredet. Jetzt gehts Euch ausruhn. Was ich machen kann, das werd ich machen. Habts die Hebamm oben?«

»Wo die nix machen kann … Seit gestern is da, seit gestern in der Früh …«

»Darf auch nichts machen. Ich geh.«

Er ließ den Mann stehen und rannte die steinerne Treppe hinauf. Mit wenigen Griffen raffte er sein Arbeitszeug in die Tasche zusammen, würgte noch den dünnen Mantel darüber, die Notapotheke dazu … Fräulein Graff, die sich schon nebenan zu schaffen gemacht, sah bestürzt herein.

»Wird der Herr Doktor vielleicht doch lieber fahren? Oder zu Haus bleiben. Wo's so schneit …«

»Vergessen hab ich was,« herrschte Wendt sie an; »gute Nacht.«

Die nachhallenden Beschwörungen hörte er nicht mehr.

Unten stand noch immer der Anrain.

»Was machts denn noch da?«

»Wenn i doch mit dem Herrn Doktor gehn möcht …«

»Fallt mir ein. Daß ich wegen Euch langsamer gehn müßt. Daß die Frau derweil draufgeht, und das Kind auch.«

Er ließ den Bauern in seiner Bestürzung zurück und schlug den kürzenden Kalvarienweg nach der Gnadenkirche ein.

* * *

Die Felsüberhänge und die Galerien hielten das immer dichter heranfegende Gestöber ab; der Gnadenpfad lag im Windschatten der Bergkanzel. Aber als Wendt die Scheitelplatte des Hügels erreichte, schlug ihm der wirbelnde Schnee in so schweren Schwaden entgegen, daß er wie geblendet stehen bleiben und die Himmelsrichtung erraten mußte.

Er langte die kleine Batterielaterne aus der inneren Brusttasche hervor. Sparsam gebraucht, würde sie vielleicht eine Stunde vorhalten. In dieser Frist erreichte er zumindest Ober-Sanktrain.

Drunten im Tale vernahm man nur das volle Brausen der Höhen; hier oben ging der Sturm mit voller Wucht. Wendt mußte sich mit angestrengter Gewalt schräg vorstemmen, um den mühsam erkannten Weg zu halten. Ein ganz schwacher Widerschein der hellen Häuser in der Tiefe ließ den dämmernden Umriß der Wallfahrtskirche erkennen. Der versinkende Marktflecken erschien in einem blassen Dampf von Licht. Der Doktor nahm sich hart zusammen. Nur die Ackerblöße über den ersten flachen Hügelrücken hinweg stand unterm Winde; dann gewann die Straße den Wald, und jenseits des Waldes bog sie in ein sanftes, breites Mühlbachtal ein.

Jetzt wuchs die unsichere Masse des Waldes heran. Wendt ließ die Laterne wieder aufblitzen. Millionen weißer Käfer umschwirrten das Glühauge. Gleich darauf sprang düsterrot der schuppige Rumpf eines Ungeheuers aus der Finsternis. Weit dahinter, schon verwirbelnd, noch einer. Und dahinter die starrende, abgrundtiefe Nacht.

So ging es nicht. Sobald das Licht verlosch, stürzte die tausendfarbige Finsternis von allen Seiten her über dem Wege zusammen. Der tastende Fuß spürte die Verirrung, trat auf abschüssige Wurzeln, in tiefe Schneehöhlen zwischen Bruchholz. Die Laterne mußte erschöpft werden. Was dann weiter geschah, würde sich ja ergeben. Wieder glühte das runde Glas auf. Uralte, flechtige Gnomenbärte zotteten aus dumpfglimmenden Domwölbungen in die matt erhellte Wintergrotte herein. Borkengepanzerte Forstriesen schüttelten ihre beschwerten Helme; ein dichter Schleier flimmerte zwischen den leis erklingenden Aststacheln herunter. Große Drachen erheben sich in ihren Höhlen vom brüstenden Lager und spähen nach dem kühnen Manne, dessen flammendes Auge sie aus tausendjährigem Schlafe scheucht. Ein schweres, leises, weißes Tier jagt auf vor der nahenden Leuchte und springt davon, in die Nacht hinaus. Und hoch über dem kleinen Menschen, der durch die starrende Schlucht der Schrecken unaufhaltsam hinandringt, den Funken gefangener Kraft in der Faust, dampfend vor Wärme und Wille – hoch über dem einsamen kleinen Lichtträger in der schwach erdämmernden Tiefe schleifen die Mähnen und Schwänze der Sturmmähren durch die wühlenden Wipfel, die Windmeute winselt, die Wolkenhengste wiehern, dumpf dröhnt der Troß dem wehenden Mantel des Führers nach.

Wendt hatte den Wald durchquert. Er stellte die Laterne ab und versuchte es, ohne ihre Hilfe den wohlbekannten Weg zu finden. Die kleine Batterie war noch nicht auf die Neige erschöpft; doch mußte sie geschont werden. Hier im Tale verspürte man nichts vom wuchtenden Sturme; auch war der Pfad trotz Gestöber und Finsternis noch einigermaßen sichtig. Allein nur schwer kam man vorwärts; die Unsicherheit und der wachsende Schnee verzögerten den Schritt. Ingrimmig bohrte der Doktor sich in die Nacht hinein. Als müßte er die Winde gefesselt zur Erde schmettern, daß ihnen der Atem für immer verging, und als müßte er den hemmenden, erstickenden Schnee mit dem Hauch seines Zornes hinwegschmelzen, so war ihm zumute. Die Frau, die in Schmerzen und Nöten ringende Frau! Mit jedem Schritte stieß er sich wilder ab. Und gerade heute wollte dieses niederträchtige Tal kein Ende nehmen.

Endlich zwinkerte ein Fenster aus entmutigender Ferne entgegen. Das war der Rainstaller. Dann kam der Rottenbacher, und der nächste nach dem Rottenbacher, wieder eine Staffel höher im Berg, war der Schmölzhofer. Wendt überlegte. Der Grießbauer – doch der lag weit seitab in der Öd. Der Doktor wagte es kaum, im Schein seiner Laterne nach der Uhr zu sehen. Um dreiviertel nach fünf war er auf dem Kalvarienpfad gewesen; damals hatte er noch die Pfarrglocke schlagen gehört. Um sechs vielleicht hatte er die Höhe der Gnadenkirche erreicht. Seither – eine Ewigkeit. Viele, viele Stunden. Eine ganze Nacht. Wendt ballte die Faust, daß sie schmerzte.

Am Rainstaller ging er vorüber. Das war der, der ihm damals den Gruß verweigert. Ein unguter, starrer, stockiger Mensch, der nicht soviel Lieb im Leibe hatte, einen Erhängten vom Stricke loszuschneiden, es sei denn um des Strickes willen. Beim Rottenbacher schwenkte er ein. Dem hatte er die Frau aus Kindsnöten gerettet. Der würde ein Verständnis haben. Er stieg die wenigen Stufen zum Vorgang hinan und pochte an die vereisten Scheiben.

Eine Frauenstimme schrie auf, schwere Mannstritte kamen bedächtig heran. Der Rottenbacher öffnete das Fenster, eben nur handbreit, als könnte das wilde Gejaid ihm in die Stube fahren und den Kopf abreißen.

»Wer is denn?« fragte er rauh.

»Ich bin's. Der Doktor.«

»Dahier is all's g'sund, Gott sei Lob und Dank.«

»Ich will auch nicht zu Euch. Kennts Ihr den Anrain von Ober-Sterzen?«

»Den Anrain?« fragte der Rottenbacher schwerfällig zurück; »den Anrain? Von Ober-Sterzen den? Widmann schreibt er si eigentlich. Widmann Matthäus. Aber beim Anrain sagt man halt.«

Wendt stampfte auf.

»Das ist ja gleich. Also Ihr kennts ihn.«

Der andere achtete nicht der Ungeduld seines späten Besuchers.

»Den Anrain? Ja, densell werd i woll kennen.«

»Die Bäuerin liegt auf den Tod mit dem Kind. Ich war noch nicht drüben, und die Laterne geht mir aus. Könntets mich nicht führen, Rottenbacher?«

»Führen? Zum Anrain hinüber nach Ober-Sterzen? …«

Eine Frauenstimme mischte sich ein. Der Rottenbacher zog den Kopf zurück und sprach eine Weile in die Stube. Dann erschien sein Gesicht wieder am schmalen Fensterspalt.

»Wann i mir heut den Fuß überknaxt hab beim Holzmachen für die Feiertäg.«

»Schon gut, Rottenbacher,« sagte Wendt ruhig; »früher, da war ja alles gesund, Gott sei Lob und Dank. Na. Gute Nacht.«

Er eilte weiter, so rasch es ihn ließ. Beim Schmölzhofer trat er gleich in die Stube, schwer von Schnee und Ingrimm.

Die Frauen waren eben dabei, den Herrgottswinkel mit Fichtenreisgewind, bunten Kerzlein und Goldpapier auszuschmücken. Schreiend fuhren sie durcheinander, als der große schneebärtige Mann plötzlich in der Türe stand.

»Jesus Maria …«

Der jungen Bäuerin blieb der Mund offen stehen vor erstickendem Schreck.

Der alte Schmölzhofer, der im Väterstuhle hinterm Ofen genickt, rührte sich und sah unter überschattender Hand nach dem Gaste.

»Jesses na, der Doktor.« Er mühte sich auf. »Und bei dem Wetter! Und gar in der Heilignacht!«

»Bleibts nur sitzen, Vater. Wo ist denn der Bauer? Es pressiert.«

»Marandjosef, is leicht was g'schehn?«

Wendt schüttelte den Schnee von Flausch und Krämpe.

»Ich muß nach Ober-Sterzen hinüber, die Anrainbäuerin liegt auf den Tod mit dem Kind. Es pressiert. Ist der Bauer nicht daheim? Dann geh ich wieder.«

Eben trat der junge Schmölzhofer hinter dem Arzte in die Stube.

»Na, was gibt's denn dahier für an Krawall? … Mei, der Herr Doktor …«

»Ich habe keine Zeit, Schmölzhofer. Nehmts eine Latern. Ihr werds mich nach Ober-Sterzen hinüberführen … Oder wenigstens ein Stückel weit.«

Der Schmölzhofer kraute sich hinterm Ohr.

»Nach Ober-Sterzen? Zum Anrain gar? … Wo schon gestern die Emmerenz hin is?«

»Na ja. Ihr kennts ja den Weg?«

»Den Weg, ja, den Weg – den kennet i schon … Den Weg.« Er sah betreten nach den Frauenzimmern hinüber.

»Na; ja, also, Schleunts Euch. Denkts, zwei Menschenleben.«

»Geh halt, Matthias,« mahnte der Alte.

»Da habts nix dreinzureden, Vater … Da kämeten mir eh zu spät …«

»Ah was, zu spät. Oder Euer Bruder, der Naz, kann ja der gehn.«

Der Bauer öffnete die Türe und rief hinaus: »Naz! … Grad hat er bei der Rotschecketen nachschauen wollen … Nämlich die kommt grad auf die Nacht oder so herum zum Kalben … Schon deswegen … Naz! … Wenn's net grad wegen der Rotschecketen wär … Die is so viel heiklich, die Rotscheckete, is allweil ein Gfrett und Kreuz mit ihr, hab's schon deswegen weggeben wollen, wenn's net wegen der Melk wär, vierzehn, sechzehn Liter am Tag, mehr aa no … Naz! … Wo der Naz nix davon versteht … Na, und wenn's zweie sein … Naz!«

Der Naz erschien.

»Obst den Herrn Doktor nach Ober-Sterzen umibringen möchst … Zum Anrain, weißt es …« Der Bauer zwinkerte … »Wegen der Bäuerin, soll ihr net gut sein …«

»Nach Ober-Sterzen?« fragte der Naz umständlich; »zum Anrain? … Wo i net so steh mit dem Anrain … Müßt rein zeruckgehn, den weiten Weg, bei dem Schneiben … Die alte G'schicht, weißt eh, Matthias …«

Der Schmölzhofer zuckte die Achseln.

»Hammir's eh glei dacht. Ja, selber wann i gehn könnt, da wär's no … Hab nix wider den Anrain … Was i bin, i bin schon a zweimal, dreimal drom g'wesen in Ober-Sterzen, grad wegen der Rotschecketen das letztemal, grad vom Anrain hab i's kauft, wie si dös auftrifft, net …«

»Geh halt, Matthias,« mahnte der Alte noch einmal. »Könnt ja ich bei der Scheckin helfen …«

»Dahier habts nix dreinzureden, Vater … Und bei der Rotschecketen, da laß i kan dran …«

»Ist gut, Schmölzhofer,« sagte Wendt angestrengt; »ich werd meinen Weg allein finden. Könnts mir wenigstens eine Latern leihen.«

»Wann mir grad die brauchen im Stall …«

»Auch recht …«

»Nix für ungut …« begann der Bauer noch einmal. Aber da war die Türe auch schon ins Schloß geschmettert.

Wendt hastete weiter. Erst sieben. Auf der Wanduhr beim Schmölzhofer hatte er es gesehen. Da erreichte er es am Ende noch. Der Sturm war abgefallen. Ruhiger fielen die Flocken, fast zögernd, schläfrig und flaumweich. Eine Hoffnung blieb, der Überacher. Ja, wenn er den Winkler bei der Hand gehabt hätte, den jetzigen Wendtbauer! Aber der lag weitab mit seinem Anwesen. Der war wenigstens ein richtiger Erbe jener Alten auf der Wendt, die sich Krist geschrieben und dann verzettelt hatten, hinaufstudiert und auseinandergeheiratet, bis auf den verdorrenden Hauptstamm … Oder der Marterl-Lukas, wenn der auf seinen geraden Beinen stünde, wie vor dem Unglück, vor dem Brande beim Rainstaller, wo er sich den Schaden fürs Leben geholt. Der wäre auch mit ihm durch Tod und Sturm und alle Höllen gegangen, den kannte er dafür … Da glommen schon die Fenster des Überacherhofes heran. Gleich dahinter, unterm Kreuze, teilten sich die Wege.

»Ihr werds mich zum Anrain nach Ober-Sterzen hinüber bringen,« begann Wendt ohne Umschweif. »Der Anrain selbst hat nimmer können. Und mir geht das Licht aus. Ich find mich nicht allein. Wenn wir uns schleunen, kommen wir noch recht.«

Der Überacher, ein großer, knochiger Mann, stand gelassen von der Ofenbank auf.

»Wüßt durchaus net, wie i dazu käm.«

»Oder einer von Eure Leut.«

»Hab keine Leut zum Umanandschicken.«

»Denkts, ein Menschenleben.«

Der Überacher zuckte die kantigen Schultern.

»Steht alles in Gottes Will und Gnad. Und was i bin, mi geht der Anrain überhaupts nix an.«

»Geh halt, Bauer,« drängte die Bäuerin.

»'s Moi haltst … Daß i mer den Tod holet? … Oder an Dampf … Wer zahlt mir denn nacha dös, hä? … Leicht der Anrain, hä? …«

»So gebts mir wenigstens eine Laterne.«

»Brauch i selber, zum Mettengehn. Hab bloß die ane.«

Der Doktor brach los.

»Ihr werds gehen,« loderte er den Bauern an; »grad Ihr, wo Ihr so einer seids, der nicht einmal das Holz vom Kreuz da draußen wert ist.«

Der Überacher bohrte gemächlich die Fäuste in die Hosentaschen und dehnte die breite Brust.

»Jetzt, was wär denn nacha dös? Dös werd si ja aufweisen, ob mi aner in mei'm eigenen Haus anschreien derf … Und ob er zwanzigmal a Studierter is, a Doktor, so aner … Dös werd si ja aufweisen …«

Er langte die Rechte aus der Hosentasche und holte aus zu verdächtigem Griff.

»Martin! …« kreischte die Bäuerin.

Aber Wendt stand plötzlich so dicht vor dem Überacher, daß jenem die Hand unterwegs erlahmte.

»Du! … Du wirst mir drohen? … Du? …«

Der Bauer wich zurück.

»Du wirst mir drohen?«

Der Überacher hob den Arm vors Gesicht, wie zum Schutze gegen einen schweren Schlag.

Die grauen Augen strahlten.

»Du! … Der du das Kreuz vor dem Zaun stehen hast! … Vor dem Zaun, ja! … Aber da drin hast keins. In dich hinein hast's nicht gelassen!« Er pochte dem anderen an die Brust.

Der Bauer war auf der Ofenbank zusammengesunken.

»Geh nur hinunter zur Metten mit deinem guten Gewissen. Und grüß den Herrn Jesus von mir, und schau ihn dir recht genau an! Heut nacht ist er bei dir gewesen, aber kennt hast ihn nicht, hinausg'jagt hast ihn in die Finster! … Du – mit deinem Herrgott von Stein und Gold und deinem eigenen Kopf obendrauf!«

Als der Überacher wieder aufsah, war der unheimliche Besucher verschwunden.

* * *

Wendt stand unterm Kreuzbild. Er schaltete die versiegende Laterne an und sah nach der Zeit. An die dreiviertel Stunden hatte er versäumt mit seinen erfolglosen Bitten. Das war nicht wieder einzuholen. Der rechte Weg, hatte der Anrain gesagt. Wenn der wenigstens nachkam! Aber mit einer ausgiebigen Leuchte, sonst half ihm der erschöpfte Mann nicht. Licht! Licht! Der fegende Sturm hatte den Weg eingeweht, daß man ihn mühsam tasten mußte. Rechts und links versank man in Tiefen, aus denen sich herauszuarbeiten immer wieder unersetzliche Minuten kostete. Der Himmel blind wie kalte Asche, keine Hoffnung auf Sternenschein. Ja, diesen Pfad war er einmal mit dem Geisterer gegangen. Und wenn du dich selbst ihnen hingibst, sie machen bloß eine Sucht daraus … Was einer am längsten anschaut mit seinem Herzen, das wird er selber, und das ist das Wunder … Damals war er von der Emmerenz gekommen … Richtig, die Emmerenz, die war ja auch droben bei der Bäuerin. Noch schöner. Oder sie war wieder zurück … Dann war es ohnedies zu spät. Da wollte er doch nachfragen. Er griff in seine Tasche. Richtig, eine Schachtel Wachsstreichhölzer. Aber was bedeutete das! … Tausend Gedanken schwärmten wild durch seinen Kopf, in irrem, gescheuchtem Kreisfluge um den einen: die Frau, die junge Frau, das erste Kind! … Herrgott, der Schnee. Und die Nacht. Die verfluchte Nacht.

Jetzt kam er am kleinen Garten der Schwandtnerin vorüber. Das war das letzte Haus. Bisher war der Weg wenigstens noch zu vermuten gewesen, unterm Neuschnee lag das ausgetretene Geleis. Aber das Schlimmste würde nun beginnen. Durch die verschlossenen Laden des Häuschens stahl sich ein dünner Strahl. Irgendwer war daheim. Mit harter Faust pochte er an. Noch einmal. Ihm war, als ob jemand von innen horche. Dann eine junge Stimme:

»Seid's Ihr, Mutter?«

»Ich, Regula. Der Doktor. Mach auf, um Christi willen.«

»Die Mutter hat's verboten.«

»Und der Herrgott im Himmel befiehlt dir's. Mach auf.«

»Was is denn. Seids g'stürzt?«

Wendt atmete wie erlöst auf. Es war die Stimme eines Menschen.

»Die Anrainbäuerin, Regula. Ist die Mutter drüben?«

»Seit gestern mittag.«

»Regula. Habts eine Latern im Haus? Die Anrainbäuerin wird sterben, wahr und gewiß, wenn ich ihr nicht helf.«

»Wartets.«

Der Strahl verschwand. Gleich darauf knarrte es an der Türe. Da stand die Regula. Ihre haselbraunen Flechten schimmerten im Schein des hochgehaltenen Lämpchens.

»Kommts herein.«

Der Doktor trat über die Schwelle. Der Schnee löste sich in ganzen Broden von seinem haarigen Wams.

»Jesus, wie Ihr ausschauts.«

Wendt ergriff die schmale, heiße Hand des Mädchens. Seine eigene brannte.

»Das vierte Haus, Regula, wo ich bitt. Das letzte. Gott lohn dir's. Hast eine Latern? Mehr brauch ich nicht.«

»Kennts den Weg nit?«

»Und wenn. Der Schnee, bis da, die Nacht wie ein Rauchfang. Nur eine Latern, dann find ich schon.«

»Wenns die Mutter mitgenommen hat.«

Der Doktor biß sich auf die Lippen.

»Die Mutter hats mitgenommen,« sagte er verlöschend. »Dann halt so. Deinen guten Willen hab ich ja gesehen. Schön Dank, Regula, hast wenigstens ein Herz, Gott lohn's, gut Nacht …«

Er wandte sich zum Gehen. Schon trat er über die Schwelle. Da rief ihn die weiche Stimme zurück.

»Wartets; wenn ich Euch führen möcht …«

Er drehte sich herum. Die Regula hatte die kleine Lampe weggestellt und rang mit einem Entschluß.

»Du, Regula?«

»Ich kenn alle Steig. Ich treffets im Finstern … Wenn ich Euch führet … Ich richt mich derweil … Trinkts den heißen Kaffee derweil, steht dort beim Ofen, für die Mutter, wanns heimkommt …«

»Gibt's nicht, Regula. Denk, deine Mutter. Die erschlagt dich. Kenn sie ja.«

»Was lieget denn dran …« Sie zuckte die schmalen Schultern.

»Nein, Regula. Wenn's mir helfen tät. Kann aber nicht helfen. Bleib du nur. Was ich tun kann, werd ich tun. Bin auch nur ein Mensch. Hättst ein Licht, dann ja. Und das Licht, das du hast, das geht so mit mir. Inwendig hast sie, die Wundenmale, inwendig, Regula. Bet für die arme Frau, die da oben in Nöten liegt. Gut Nacht, Regula, werd dir's nicht vergessen.«

Er riß sich los und ging hinaus, in die blendende, wirbelnde, stille, tausendstimmige Finsternis.

Schwer und mutig kämpfte er sich weiter. Irgendwoher war ihm neue Kraft gekommen, die ihn trug und trieb. Auch schien der Weg nicht so schlimm überweht, als er sich es vorgestellt. Von hier bis zur Leonhardikapelle hinauf war das Gelände ihm bekannt. Zwischen kargen Hochäckern und Gehölzen hindurch wand der Weg in mäßiger Steigung sich bis zur Scheide hinan, welche die Wasser des Sanktrainer Baches von jenen des Sterzener scheidet. Der Höllbach, das war seiner Erinnerung nach der erste über der Scheide.

Und wenn er nun sein Ziel erreichte, und die Frau war tot! Er stellte sich's vor. Wieder begannen seine Gedanken zu jagen wie die Flocken im Sturm. Wenn er dann in die Stube trat und die schwarzen Augen der Emmerenz blitzen ihm schadenfroh entgegen … Zu spät kommst, Doktor, zu spät. Die armen Seelen da hat der liebe Gott zu sich genommen … Und all die Weiber und Gevatterinnen drücken sich, wie die Krähen, wenn der Adlerschatten über das Feld streicht. Um dann aufzuflattern und dem geschworenen Feinde nachzukrächzen, hunderte gegen einen … Und die junge Frau lag starr in den hohen, rotgelitzten Kissen, den Schatten um Augen und Lippen, Kreuzbild und Rosenkranz in den wächsernen Händen … Es durfte nicht sein!

Die Regula, die kleine Regula! … Wie kam das finstere Weib zu diesem Kinde? … Auf den Weg paß auf, Doktor, Kalendermacher, auf den Weg … Wie kam die Emmerenz zu diesem lieblichen Kinde, dieser kleinen armen Heiligen? … Die Regula, was geht dich jetzt die Regula an, Werner Wendt, such deinen Weg, daß du zwei Leben rettst … Dieser störrische, verwehrende Schnee … Der Doktor sah sehnsüchtig nach dem Himmel empor. Alles finster und endlos. Nur das heiße Prickeln der fallenden Flocken.

Da blieb er mit einem Male stehen. Ein fernes, schwaches Rufen kam ihm nach. Wird wohl der Kauz sein, fliegt jetzt aus, da der Sturm sich gelegt. Nein, Menschenschrei! … Ein Verunglückter? … Oder ein Schrei im eigenen brausenden Blute … Das dumpfe Pumpen des eigenen Herzquells? … Nein, ein Ruf … Und dort blasser Schein durch das stete Gestöber. Wird doch nicht die Regula? … Gutes Kind, aber das fehlte grad noch. Eine Mannsgestalt hinter knatterndem Fackelschein. Ihr langer Schatten zieht ihr nach über den düsterrosig bestrahlten Schnee … Ho, da hat doch einen das Gewissen gezwickt! Geschehen Wunder in dieser Nacht? … Der Überacher oder der Rottenbacher? Am ehesten der Anrain selber. »Hö, da bin ich. Brauchts nimmer schreien.« Der andere keuchte. »Gott sei Dank.«

»Wer seids denn Ihr?«

Ein unscheinbarer fremder Mensch stand hochatmend da im prasselnden Fackelbrand.

»I bin halt der Peter. Grad ein bißl verschnaufen. I hab g'meint, i dergeh's nimmer.«

»Tuts nur verschnaufen. Hat Euch wer g'schickt?«

Der andere nickte.

»I bin halt der Peter … Der Herr Doktor kennt mi nimmer … Der … Der Herr Doktor hat mir amal an schwürigen Finger verbunden. War glei gut … Und nix g'nommen hat der Herr Doktor dafür … I bin halt der Peter … Vom Überacher der Knecht … Die Bäuerin, die hat mi g'schickt … Der Bauer … Der Bauer weiß nix … Wär aa so gangen … Hab alls g'hört … Hab i mir halt denkt, gehst nach. Hab i mir denkt. Und dann die Bäuerin, die hat g'sagt, i soll nachgehn … Wirst halt du den Doktor führen, hab i mir denkt … Wo i früher in Ober-Sterzen g'wesen bin … Hab i mir denkt. Und da hab i mir halt so ane Leuchten genommen. Von Johanni eine, die blieben is. Die Latern, die hab i mi net traut. Was die Latern is, die braucht nacha der Bauer zum Mettengehn. Gehst halt mit dera Leuchten, hab i mir denkt. Und da bin i halt gangen … Wo die Bäuerin aa g'sagt hat, i soll. Da hab i eh scho gehn wollen …«

»Ist recht, Peter. Kennst dich gut aus?«

»Woll. Wo i beim Unterwies in Ober-Sterzen g'wesen bin zwei Jahr und ein halbs, auf Lichtmeß werden's drei Jahr, seit was mir Lichtmeß g'macht ham, der Unterwies und i.«

»Wie lange gehen wir noch?«

Der Peter kraute sich den Kopf.

»A zwei Stund und a halbe werd's woll nehmen … Könnten dreie werden aa … Und wos schiechste Stückl no erst kommen tut …«

»Drei Stunden werden's nicht, verstehst. Du gehst voraus, und dann wechseln wir.«

Der Knecht gehorchte. Mit Leibeskräften warf er sich der Nacht entgegen. Wie der da hinten ihn angestrahlt hatte mit seinen grauen Augen, völlig zum Fürchten. Und seine Stimm, die hatte was eigenes. Sagten ja etwelche, daß er nicht geheuer sei, der Doktor. Aber das war Gered. Freilich, Gered. Immerhin.

»Schneller, Peter, schneller. Wir kommen ja nicht vom Fleck.«

»Geh ja eh, was i kann.«

»Das heißt nichts. Und wenn's uns die Lungen zerreißt. Wir müssen hinüber.«

Nacht, Nacht, Schnee und aber Schnee. Dann und wann ein Baum, rot angestrahlt, verlöschend. Jetzt das Hölzel. Was die Bäume für Gesichter hatten, wenn sie aus der Finsternis erwachten! Der Peter liebte die Nacht nicht sonderlich. Die Nacht ist für die Teufel und Gespenster da, und der Tag für den Menschen. Und nun gar die Rauhnächte.

»Schneller, Peter. Wenn wir so weitermachen, sind wir bis Mitternacht nicht drüben.«

»Geht halt net bei dem Schnee …«

»Ah was, muß! Was du mußt, kannst. Auf die Knie hinaufrutschen den Kalvarienberg, das könnts. Für so einen Heiligen, da beißts Ihr Euch die Nasen ab …«

Dem Peter graute es vor dem Manne, der da hinter ihm herging. Es überlief ihn, wie er auch dampfte vor Anstrengung. Am liebsten wäre er umgekehrt. War das am Ende der Teufel selbst, der ihn trieb? Solche Reden hatte er noch nie vernommen. Und nun gar in der Heilignacht! Da meinte man ein gutes Werk zu tun und rannte dem leibhaftigen Satan in die Krallen. Ist ja doch wahr, daß die bösen Geister umgehen in den Rauhnächten. Vielleicht war das so einer. Der Versucher, der des Doktors Gestalt angenommen, um Seelen zu fangen. Hätte er wenigstens einen Zweig vom Wacholder hinterm Hutband! Das bannte alle Unholde. Nicht gar weit hinter der Leonhardikapelle führte der Weg am jachen Sturze des Höllgrabens hin, und dann, hinterm Stoderkreuz, kam der schmale Steg über die Schlucht … Das Stoderkreuz! … Eisig fegte es dem Peter über den Rücken hinauf, als bliese der Wind unter die schwere Lodenjoppe hinein an die dampfende Haut. Teufel, Teufel. Das kommt davon, wenn man auf den Versucher hört, statt in die heilige Mette zu gehen, wie sich's gehört für einen Christenmenschen … Und der da hinter ihm erriet gar noch seine Gedanken!

»Nimm dich zusammen, Peter. Brav, daß kommen bist, statt in die Metten zu laufen. Die richtige Metten, die halten wir zwei, siehst … Wie weit haben wir noch bis zur Leonhardikapellen, was meinst?«

Dem Peter schnatterten die Kiefer.

»So eine halbe Stund … Könnt weniger sein aa …«

»Gut, gut. Nur vorwärts.«

Daß der Doktor selber der Teufel sei, sagten einige. War am Ende die Wahrheit. Soll ja auch honigsüß sein, der Versucher, manchmal, bis er einen beim Kragen hat … Und in den Rauhnächten, da war's sowieso nicht heimlich, das wußte er noch von der Ahn her … Da waren sie alle am Weg, die bösen Geister … Zum Stoderbauer, da war einmal der Gottseibeiuns grad in der Heilignacht kommen, als ein Jäger angezogen, mit dem Hütl ganz windisch auf der Seiten und einer langen Hahnenfeder drauf und einem pechschwarzen Bart wie ein Geißbock. Denn der Stoderbauer war ein brennheißer Jäger gewesen sein Lebtag, und wie einmal die Jagd weg ist gewesen, weil die von der Stadt drunten sie gepachtet haben, da hat er zum Wildern ang'fangt, der Stoderbauer, weil er's ja doch nicht hat lassen können … Und bei dem erwischt er einen ja, der höllische Ungut, bei dem, was man nicht lassen kann … Kommt der Jager mit dem windischen Hütl und dem Bockbart zum Stoderbauer, und krumm gangen ist er auch, und gestunken hat er nach Schwefel und Pech wie die Pest, die leibhaftige – kommt zum Stoderbauer und laßt sich ein mit ihm, und wie es mit der Jagd ging und so, und ob er nicht ein Mittel wissen möcht, wie daß man sich kugelfirm macht als wie gefroren und unsichtbar dazu, so daß man ohne Scheu am hellichten Tag schwarzgehen könnt, und ein Rezept ob er nicht haben möcht, der Stoderbauer, zum Gießen von freie Kugeln, die alles treffen, gezielt oder nicht … Sagt er ja, der Stoderbauer, das wär schon recht und das gefallet ihm, aber glauben tät er nicht recht daran … Lacht der andere, daß dem Stoder ganz kalt geworden ist, und nacher meint der mit dem Bocksbart, nichts leichter als das, den heiligen Leib soll er sich verschaffen beim Sakrament, der Stoder, und nacher draufschießen, da lauft gleich das Blut heraus, das aufgefangen mit dem Tüchel und von dem Tüchel einen Faden jedesmal ins Blei, so oft daß man Kugeln gießt …

»Geh zu, Peter, wir kommen ja nicht vorwärts. Deine Leuchten brennt ja auch schon auf kurz.«

Der Knecht schrak aus seiner bedächtigen Eile und aus seinen Erinnerungen auf. Herrgott im Himmel, ja, das auch noch, damit hatte er nicht gerechnet. Das hatte der hinter ihm fein abgestimmt. Dort war die Leonhardikapelle, eine Viertelstunde weiter das Stoderkreuz. Dort hattens ihn gefunden, den Stoder, umdraht das G'nack, die Augen voller Himmelangst. Da hat er's gehabt, die freien Kugeln und das Gefrorensein. Dann habens ihm halt das Kreuz aufg'richt zum Gedächtnis und zur Gnad seiner armen Seel … Der hinter ihm: das war schon derselbige, der damals beim Stoder gewesen in der Heilignacht … Jetzt hast es, Peter; in der heiligen Zeit, da soll man auf nix hören und denken als wie daß man seine eigene Seel rettet … Wo der Feind umgeht in tausend Gestalten … Und grad dahier muß die Leuchten auf kurz brennen. Eine gute Viertelstund, länger währt's nicht. Ist schon so völlig heiß zum halten. Was dann? … Das hat der fein angesponnen, der hinter ihm. Zuerst die Geschicht von der Anrain, dann die Leuchten … Und wie er auf ihn gewartet hat auf der Höh … Wie er gewußt hat, daß er eine Seel fangen wird und daß die hinter ihm dreinlauft …

Da glühte die Leonhardikapelle aus der Nacht heran, von himmelhohen, schneestarren Fichten umstanden … Der Knecht zog das Hütl vom Kopf und bekreuzte sich demütig … »Heiliger Lenard, bitt für uns …«

»Was machst denn? Jetzt wird nicht gebetet. Vorwärts.«

Wie eine gehetzte Seele floh der Peter vor seinem Verfolger her. Die alten Rottannen, die rings um das kleine Wegkapellchen auf treuer Hochwacht standen, grinsten ihm mit hundert Wurzelfratzen nach. Unheimliche Tiefen weiteten sich zwischen ihrem düster überstrahlten Geäst … Herrgott, und jetzt würde er sich schon zur Metten richten … Und mit den anderen so schön und fromm hinunterpilgern nach Sanktrain … Wo es doch so lieblich und geheimnisvoll war in der Mette … Die vielen goldenen Lichterln auf dem Hauptaltar; und der süße Weihrauch; und die Orgel; und alles in der feierlichen Mitternacht. Und nun würden sie ihn im Höllbach drunten finden, mit umdrahtem G'nack, die weißen Augen voll Himmelangst … Wenn sie ihn überhaupt fanden … Wenn nicht die Jochraben und Füchse ihn auffraßen … Wer schaute denn nach wegen einem Knecht? Er war kein Vollbauer wie der Stoder. Er war doch bloß ein armseliges Knechtel. Das ganze Leben auf und nieder nichts als eine schreiende Ungerechtigkeit. Den Hof hat der Vater verlempert, daß er hat in Dienst gehen müssen; die Bärbel hat ein anderer gekriegt; alles gegen einen. Und jetzt noch das End dazu! Vielleicht gar nicht einmal ein ehrlich Christengrab … Da ging es schon in das schieche Stückel hinein. Rechts die offene Höll, links der kahle Fels … Beim Stoderkreuz würde er halt noch geschwind dem lieben Gott alle Sünden abbitten … Alle; das mit der Lies, wenn das eine solche Sünd war; das mit dem Lenz – aber der Lenz war ja glücklicherweis noch immer am Leben; und den gewissen Eid, den er in Sach des Unterwies gegen den Zechlehner geleistet … Alle Sünden – wenn der andere ihm Zeit ließ … Aber vielleicht hatte der Angst vor dem Kreuz … Herrgott, die Leuchten brannte ja bald auf den Stumpf herunter … Sankt Lenard, bitt für mi … Heiliger Gervasi und Protasi, bittets für mi … Heiliger Cosmas und Damian, bittets für mi … Alle heiligen Nothelfer …

Nun standen sie unterm Stoderkreuz. In der Tiefe tobelte der Höllbach.

Der Knecht brach fast zusammen.

»Jetzten sein mir's.«

»Was sind wir?«

»Glei aus is, die Leuchten … Und über den Steg ohne Licht … Und das Stückel Weg bis zum Steg, angeschneibt wie's is … Ein Tritt und hin bist …«

Der Doktor knirschte.

»Versuchens wir's halt. Solange wird's ja noch dauern, die Leuchten …«

»Kann's völlig nimmer halten vor Hitz …«

»Ist noch weit, der Steg?«

»Grad daß mir dorten in der Finster ankämeten …«

»Herrgott. Steht denn da nirgends ein Baum? Äste, irgend etwas …«

Wendt sah sich verzweifelt um. Rechts die klafternde Tiefe, links tiefverwehte Halde und grimmer Fels, unten die gurgelnden Wasser … Riesige, steigende, schrumpfende Schatten, auf düsterbrandrotem Schnee, draußen im brauenden Abgrund …

»Möcht eh net brennen, das nasse Zeugs,« sagte der Peter schüchtern; »grad daß mir in der Mitten in der Finster bleibeten …« Seine Bedenken schwanden vor der ehrlichen Not seines Begleiters. »Aus is halt. Umkehrn, heimgehn, is das Gescheitste, da kannst nix machen …«

»Umkehren!« Der Doktor brüllte ihn an. »Umkehren! Probieren müssen wir's. Wie's geht, so geht's.«

»Probieren?« stotterte der Knecht; »der Schnee ein Spann hoch auf dem Steg, und drunter ein Eis.«

»Geh ich halt allein,« sagte Wendt verächtlich; »geh du von mir aus heim. Ich probier's. Gib's's her, deine Leuchten …«

Plötzlich schleuderte er die Tasche von sich.

»Daher, Peter! Daher leucht! … Ich hab's! … Das Kreuz muß um!«

Der Knecht erstarrte vor Grauen.

»Das Kreuz? … Das Kreuz? …«

Schon rüttelte der Doktor mit wahnsinniger Wucht am Pfahl, der das überdachte Gehäuse trug.

»Das Kreuz muß um. Hilf mir doch, du! Was schaust so hornblöd? … Das Kreuz muß um! … Das Kreuz wird uns retten.«

Der andere stand wie angefroren. Seine Zähne klapperten.

»Herrgott noch einmal, so tauch doch an!« Schon krachte der morsche Pfosten. Immer wieder warf der Doktor sich mit Schultern und Fäusten und Fußtritten dagegen. »Und wenn uns gleich ein Blitz erschlagt.« Er keuchte. »Esel, was gaffst? Her mit der Leuchten!«

Ein Teufel also war er nicht, aber sicherlich wahnsinnig.

Da gab der Pfahl in der Wurzel nach, noch ein Sprung, ein Stoß, das Kreuzbild schlug dumpf über den Weg hin. Die Verglasung zerklirrte.

»Her mit der Leuchten. Esel, dummer. Her komm mit der Leuchten.«

Der Peter gehorchte. Wahnsinniger oder Teufel, alles eins. Wenn der in seiner Tollwut sich gegen ihn warf!

»Das Kreuz … Das Kreuz …« Seine Kiefer schnatterten im Fieber.

»Ja, das Kreuz! Hat's schon so vielen geholfen …« Mit ein paar furchtbaren Griffen riß Wendt das nackte Heilandsbild aus dem Gehäuse heraus.

»Das Kreuz … Das Kreuz … Der Herr Jesus … Der Herr Jesus wird … wird uns strafen …«

Der Doktor sah dem anderen wild in die aufgerissenen Augen.

»Den lebendigen Jesus Christus sollts Ihr anbeten, nicht den toten! Und der lebendige, der ist hier!« Er schlug an seine Brust. »Die Leuchten halt her!«

Der Peter schlotterte.

»Das Kreuz …« murmelte er noch immer; »das Kreuz … Das Kreuz … Anbrennen … Wo – – wo i so viele Vaterunser davor betet hab …«

Wendt hielt das dornengekrönte Schmerzenshaupt über die prasselnde Pechflamme. Das uralte, ausgewitterte Holz faßte augenblicklich Feuer.

»So, Peter. Bet nur, bet. Und wo du ein Vaterunser betest, da steht auch ein Kreuz. Merk dir's. Wirf den Stumpf weg. Der ist uns nichts nutz. Und jetzt komm. Du nimm die Tasche. Ich geh voran.«

Langsam schritt er den gefährlichen Weg entlang, tastend, prüfend, suchend, den brennenden Heiland hoch in der Rechten. Unheimliche Lichter flogen über die Tiefe. An den Felshalden zeichnete sich riesig der zuckende Schatten des Fackelträgers. Der Knecht folgte wie im Traum.

Jetzt der Steg. Nicht zwölf Schritte lang, aber hochüberschneit und grausig schmal. Vorsichtig, Fuß um Fuß, schob der Führer sich über das schwanke, tückische Brett. Von drüben wuchsen schneegepanzerte Fichten in den geisterhaften Feuerschein herein. Unsichtbar drunten der sausende Bergtobel. Nun standen sie in der Mitte. Wendt vernahm hinter sich das fiebernde Gemurmel des Knechtes. Heiliger Florian, heiliger Fabian und Sebastian, alle heiligen Nothelfer … Ein verdächtiges Knacken lief durch das steifgefrorene Brückenholz … Der Peter schrie auf … »Er bricht! … i fall! …« Und der Doktor: »Sei ruhig, halt dich, er wird nicht brechen, wirst nicht fallen …« Noch einmal Schritt vor Schritt, Ewigkeiten lang … Dann standen sie drüben. Der Knecht brach fast in die Knie.

Wendt sah sich nach ihm um. Er lächelte.

»Siehst, Peter. Es ist gegangen. Komm jetzt. Da hinauf? Nur schnell, wir zwingen's.«

Er warf einen Blick nach dem Himmel. Die Finsternis zerfiel, hoch droben mußten schwere Stürme gehen. Da und dort blitzte ein Stern in rasender Fahrt durch stille, zerrissene Wolken.

»Schau, was für einen Stern wir haben. Jetzt kommt uns noch gar der Himmel zu Hilfe. Nur die Taschen verlier mir nicht, gelt?«

Wald, endlos, endlos. Schuppige Fichten, aufschnellende Zweige, Schneeschauer … Das Heilandsbild war fast bis zur Herzwunde heruntergebrannt. Unentwegt trug es der Doktor in der hochgehaltenen Faust.

Endlich ein matter Schein von vorne, die Äcker der Ödhöfe. Und darüber die sternblitzende Weihenacht.

Der Knecht zupfte den Arzt am Rockärmel.

»Dorten, wo der große weiße Stern steht – grad drunter der Hof is.«

Wendt atmete schwer auf. Er verlöschte den Stumpf des Heilandsbildes im Schnee. Einen Augenblick sah er nach dem diamantfunkelnden Sirius hinüber, einen Atemzug lang nahm er den tiefen Frieden der schimmernden Weiten in sich auf. Dann legte er dem Knechte die Hand auf die Schulter.

»Und die Frau wird leben, Peter. Wir haben's gezwungen. Die Frau wird leben und gesund werden. Der Stern sagt mir's.«

* * *

»Eine Schüssel mit heißem Wasser, aber schnell. Und dann alle hinaus. Die Hebamm bleibt.«

Feindselig verzog sich das Weibervolk. Unter den engverwachsenen Brauen der Schwandtnerin hervor schossen tödliche Blitze nach dem Manne, der da im langen fahlen Mantel stand, die Ärmel bis über die Ellenbogen zurückgekrämpelt, mit dem Scheitel fast wider die gebräunten Deckenbalken stoßend.

»Nur hinaus, alle. Und Ruh geben, drüben in der Stuben. Verstanden. Reden könnts nachher, wenn alles vorüber ist.«

Die Emmerenz tauchte die Finger in den Weihbrunnkessel, der am Türpfosten hing. Sie bekreuzte sich mit besonderem Nachdruck, und was etwa an den Fingern haften blieb, versprühte sie in die Stube.

Das dampfende Waschbecken stand auf der Ofenbank. Schon hatte der Arzt beide Arme über und über voll Seifenschaum. Grimmig schabte die scharfe Bürste darüber hin.

»Hast net zu spät kommen können,« zischte die Emmerenz, da sie schon auf der Schwelle stand; »no, leicht bist do zu spät kommen … Werd net mehr viel zu machen sein, mitsamt dei'm Hokuspokus … Was net will, das will net, wirst scho du drankommen, Totenpackerin.«

Der Doktor vernahm die Drohungen nicht mehr. Er hatte die Handtasche geöffnet und griff mit seinen nackten starken Armen in ihre Tiefe.

* * *

»Und da hat er auf amal das Stoderkreuz derblickt,« erzählte der Knecht den atemlos Lauschenden. »Denn grad beim Stoderkreuz is g'wesen, wo die Leuchten aufs End brennt hat … Hätt ja eh die Latern g'nommen, hätt's ja g'nommen eh, die Latern, wann's der Bauer net zum Mettengehn braucht hätt, der Überacher. Nimmst halt die Leuchten, hab i mir denkt, und hat so die Bäuerin g'sagt, i soll's nehmen, die Leuchten, wo von Johanni blieben is … Aba daß so g'schwind gar sein könnt, sellne Leuchten, dös hab i mir halt net denkt, daß so g'schwind könnt gar sein und aus. No, und beim Stoderkreuz, dorten, wo's damals den Stoder g'funden ham, umdraht das G'nack, die Augen ganz weiß vor Himmelangst, all's wegen seine Freikugeln, wo der Ungut do in der Heilignacht zu ihm kommen is, zum Stoder, und hat ihm verzählt, dem Stoder …«

»Wissen mir ja eh,« sagte die Mutter der Wöchnerin, die alte Erling; »die G'schicht vom Stoder, die is ja bald älter wie mir alle z'samm … Die brauchst uns net zum verzählen …«

Der Peter kaute mit vollen Backen; ordentlich wohl war ihm unter den vielen Weibern, die alle aus weitaufgerissenen Augen nach seinen Lippen starrten. Auch der alte Anrain saß dabei, den Mund offen, die hohle Hand um die borstige Ohrmuschel. Denn er war arg schwerhörig, der alte Anrain, seit der Tor einmal hart vor ihm in die Taferlfichte heruntergekeilt.

»Ja, wo bin i denn nacha stehn blieben?« überlegte der Peter; »was bringts mi denn aus'm Gleis … I fahr halt wie i mag und wie i kann … Jetzten find i mi nimmer zurecht …« Völlig grob wurde er im Bewußtsein seines jungen Ruhmes.

»Und da hat er auf amal das Stoderkreuz derblickt,« erinnerte die Totenpackerin, die unter allen Zuhörerinnen das genaueste Gedächtnis besaß; »grad beim Stoderkreuz, da is die Leuchten niederbrennt, und da bist auf den Stoder zum verzähln kommen, und da hast di verstiegen.«

»Net hab i mi verstiegen,« verwies ihr der Knecht; »ihr habts mi aus der Ordnung bracht mit dem Dazwischeng'red …« Er nahm sich noch einige Weihnachtskrapfen zum frisch aufgefüllten Kaffee … »Ah, dös is gut, dös glaubts, so was wie i in dera Nacht, dös übersteht aner net in hundert Jahr … Alsdann grad beim Stoderkreuz, da hat die Leuchten niederbrennt, und dös hätt i mir halt net denkt, daß so g'schwind gar sein könnt, die Leuchten … Na, wal ma halt do net denkt auf so was, net, auf Johanni, da sein's net so bald gar, die Leuchten … Na ja, ma denkt halt net da dran wie lang daß der Weg si ziagt und bei dem Wetter, da geht all's auf doppelt, nur die Leuchten net …«

»Wann bist denn weg vom Überacher?« fragte die alte Erling.

»Wann daß i weg bin vom Überacher? … Dös werd so g'wesen sein uma halber achte, könnt auf dreiviertel gangen sein aa. Hab halt net drauf denkt, auf d' Uhr schauen, gehst halt nach und d' Leuchten nimmst, hab i mir denkt, wirst den Doktor do net alleinig lassen in der Finster, hab i mir denkt, und wo's die Bäuerin eh g'sagt hat, und wo's beim Anrain is, net, hab i mir halt denkt, wo's d' do Knecht g'wesen bist beim Unterwies, grad drei Jahr werns, daß mir Lichtmeß gmacht ham, der Unterwies und i … Na, und wo der Überacher do die Latern braucht hat zum Mettengehn, da hab i halt die Leuchten g'nommen, wal i mir do net denkt hab, daß so g'schwind gar könnt sein, wer denkt denn auf all's …«

»Da seid's ja noch gut gangen,« mummelte die Anrainmutter.

»Und dös glaubst. Als ob er kane Lungen hätt und kan Herz net, aso is er g'rast, der Doktor …«

»Hat aa net,« bemerkte die Emmerenz.

»Grad aso hat er hinter meiner herg'flucht … Völlig grauslich zum Hören …«

»Aber jetzten wart's ja schon beim Stoderkreuz,« mahnte die Totenpackerin.

»Na, alsdann, beim Stoderkreuz … Ganz brennate Augen hat er auf mi g'macht, wie daß i ehm g'sagt hab, daß mir's sein mit unserer Leuchten …«

»Da bist stehn blieben,« erinnerte die Totenpackerin.

Die anderen rückten näher zusammen.

»So a Faderl muß fei lang dreht wern,« meinte die alte Erling; »so was kriegst net allweil zwischen die Finger … No, und z'was sitzt ma denn beinand, wann ma schon net zur Metten gehn kann in der Heilignacht …«

»Alsdann daß i's sag – ganz wilde Augen hat er auf mi g'macht, wie daß i ehm das g'sagt hab. Grad beim Stoderkreuz is das g'wesen, wißt's eh, dorten wo's schiech wird auf den Steg zu. Und net amal beten hat er mi lassen bei der Lenardikapellen. Daß jetzten net bet werd, hat er mi ang'schrieren … No ja, was willst da machen … Nix kannst da machen …«

Der Peter stopfte sich den Mund voll. An die anderthalb Stunden schon erzählte er, oft unterbrochen, kreuzweise verhört und erklärt, grad wie vor dem Kreisgericht damals, als er wegen jenes versehentlichen Messerstiches so viele unzusammenhängende und zwecklose Fragen hatte beantworten müssen. Nur, daß ein anderer der Held gewesen und nicht er, und daß es anstatt dampfendem Kaffee und Krapfen Wasser und Brot gab, in einer auf die Dauer ermüdenden Folge.

»Net amal beten lassen,« wunderte sich die alte Erling, den grauen Kopf wiegend; »net amal beten lassen, dös muß ja ein völlig Heidnischer sein, der Doktor.«

»Und dös wundert di?« fragte die Emmerenz; »weißt net, daß er's Gebet von an Christenmenschen net anhören kann, der Teufel?«

»No ja,« erläuterte der Peter; »und grad deswegen hab i wollen beten, grad deswegen … Wirst probieren, hab i mir dacht, was dös für aner is, der da hinter deiner hergeht, hab i mir denkt …«

»Seid's ja schon beim Stoderkreuz g'wesen,« drängte die Totenpackerin.

»No ja, beim Stoderkreuz, und da is die Leuchten aufs End brennt. Jetzten sein mir's, sag i ehm, und da hat er mi ang'funkelt mit seine Augen … Dös vergiß i euch meiner Lebtag net, wie daß der mi ang'leucht hat … Ob da nirgends eine Feichten is? … Na, sag i, eine Feichten, dös gibt's da net, drüben ja, im Gampholz, grad gnua, tät aba eh net brennen bei der Nässen, sag i, wenn aa eine Feichten da stehet, steht aber kane da, wißt's ja eh, beim Stoderkreuz. No, hab i mir denkt, mit solchene brennete Augen, da könnt ja ans ohne Latern in der dicksten Finster gehn, hab i mir denkt, möcht bloß wissen, was der jetzten anfangen werd … I soll z' Haus gehn, schreit er mi an, daß er schon alleinig weiter findt …«

»Hättst'n bloß g'lassen,« warf die Emmerenz ein.

Der Peter schüttelte den Kopf.

»Na, sag i drauf, da draus werd nix, da drom die Anrainerin, die liegt aufs Sterben, da geht's aufs Leben, sag i ehm, wann Ihr da einafallets in den Bach, dann bin i d' Schuld dran, und die Anrainerin geht am End drauf, alsdann dös gibt's net, sag i zu ehm … Und da, alsdann dös vergiß i euch meiner Lebtag net, und wann i tausend Jahr alt werd, dös vergiß i euch net … da derblickt der das Stoderkreuz, wo er grad drunter g'standen is, hab mi eh scho die ganze Zeit g'wundert, daß er's aushalt, so unterm Kreuz stehn … Schmeißt er si net gegens Kreuz, als wann er narret wär worn … Grad so g'schmissen hat er si, als wann er raset wollt wern mit'm Kreuz … Was machts denn? schrei i ihn an … Dös Kreuz da, schreit er z'ruck, dös Kreuz muß um, und wann uns glei der Blitz derschlagt …«

»Jesses, Jesses, das Kreuz?«

»Wann i's sag! … Grad aso hat er g'schrieren. Das Kreuz müßt um, und daß i ehm dabei no helfen sollt. Na, da hat er den Peter aba schlecht kennt. Lieber Herr, sag i ehm, wann Ihr zwanzigmal der Teufel seids oder wer – da hilf i net dabei, da kennts den Peter net, sag i, an Menschen helfen in der Not, dös ganget an, sag i, aber 's Kreuz umschmeißen in der Heilignacht! … Daß i den lebendigen Jesus anbeten sollt, und net an toten, schreit er z'ruck, und daß er der lebendige Herr Jesus selber is, und deut dabei no auf si … Und wieder hat er si gegens Kreuz g'schmissen, daß nur so kracht hat, und brüllt hat er dabei, und da hab i mir halt denkt, Peter, hab i mir denkt, dös schaust nimmer an, wie daß der deinen Herrgott verschimpfieren tut in der Heilignacht – und grad hab i auf ehn springen wollen, er oder i, aner muß hin sein – – da hat's an großmächtigen Kracher tan, und dag'legen is das Kreuz, der ganzen Läng nach.«

»Jesses, Jesses, das Kreuz! Umg'rissen hat er's? … Jesses, Jesses!«

»Wahr und g'wiß. So g'wiß wie i da sitz. Grad übern Weg is g'fallen … Und er, auf amal, da hat er den Herrn Jesus in der Hand, ausg'rissen hat er ehn, da hat er ehn bei die Füß … Lieber Herr, sag i zu ihm, dös is do ane Todsünd, die Ihr Euch da aufladts, und Ihr werd's scho segn, dös Kreuz da ausreißen, wo daß i scho so viele Vaterunser davor betet hab … Ah was, schreit er z'ruck, daß mir völlig kalt aufig'laufen is übern Buckel, Vaterunser, das könnt ma überall beten … Und da hat er mir die Leuchten aus der Hand g'rissen, was halt no übrig war, das Endl hat er mir aus der Hand g'rissen, und den Herrn Jesus hat er mit'm Kopf drüberg'halten … Mit'm Kopf, ja, könnt's ja selber segn … Und daß der Herr Jesus nur amal brennen soll, wie daß er schon so oft brennt hat, oder so was hat er g'sagt, da kann i mi net genau drauf b'sinnen, weil mir der Graus nur so über den Buckel g'laufen is … Und glei brennt hat der Jesus, net zum glauben, und hell aa no, heller als wie ane jede Latern oder Leuchten … Und da hat er halt den brenneten Herrn Jesus bei die Füß g'nommen und is hinein in das schieche Stückel, auf den Steg zu …«

»Jesses, Jesses … Den Herrn Jesus hat er anzündt … Und so hammir ehm ins Haus einalassen!? … Jesses, Jesses … No, das Haberfeldtreiben, was dem g'macht werd … Den Herrn Jesus anzünden! In der Heilignacht!«

Da ging die Türe auf. Die Hebamme trat ein, ein weißes Bündel in den Armen.

»Ahn seids worden, Anrain. Und a Mordsbub is, und gangen is einszwei … Wie der dös g'macht hat, da kennt ma si ja selber nimmer aus … A fünf Kilo werd er ham, da schaut's, steht nix auf über den Buam.«

Alle fuhren empor.

»Und die Agath?« fragte die alte Erling geängstet.

»Schlafen tut's halt. Daß all's in Ordnung is, hat er g'sagt. Schlafen tut's, völlig b'soffen is … Einszwei is dös gangen, da legst di nieder.«

Nur die Emmerenz sah nicht nach dem Neugeborenen.

»Wie der dös g'macht hat, dös weiß ma scho, wie der dös g'macht hat.« Sie schlug ein feierliches Kreuz. »Besser net rühren an den Bamsen, weiß kans von euch, was der mitbracht hat auf die Welt.«

Aber es hörte niemand auf die Schwandtnerin. Und die alte Erling hielt in ihren Großmutterarmen den krebsroten Hoferben.

* * *

Wendt war für einen Augenblick vor das Haus getreten, um der kalten, klaren Luft zu genießen. Die großen heiligen Sternbilder des Orion, des Stieres und der beiden Hunde sanken schon wieder nach Westen, auf die stillen Weihnachtsberge zu. Aus der Tiefe ein verhüllter, dumpfer Knall, ein verwehter Jauchzer – die Leute kehrten aus der Mitternachtsmette heim.

Der Doktor langte eine Zigarette hervor und steckte sie behaglich an. Beim Schein des aufflammenden Streichholzes gewahrte er den heruntergekohlten Heilandsrumpf, den er in seiner Erregung achtlos in den Schnee geworfen. Er rauchte die Zigarette zu Ende, ganz versunken in den Anblick der wimmelnden Sterne, des ungeheuren Christbaums der Ewigkeit. Dann nahm er den Brandstumpf des Jesusbildes sorgfältig auf und trug ihn mit sich nach der Stube, wo die junge Mutter noch immer im tiefen Schlafe lag.

* * *

» Deus, qui hanc sanctissimam noctem veri luminis fecisti clarescere: da, quaesumus, ut, cujus lucis mysterium in terra cognovimus, ejus quoque gaudiis in coelo perfruamur.«

Benedikt stand am Hauptaltare, geheimnisvoll umstrahlt vom Schein der goldenen Flammenherzen. In unendlicher Ferne dröhnte die Orgel; die zum Opfertische hinanführenden Stufen schienen zu weichen unterm unsicher tastenden, gleichwie fremden Tritte. Alles war fremd und fern und in hallende Räume entrückt: der blanke Kelch, der schimmernde Opferteller, der Schrein des Allerheiligsten, die schwebenden Lichttropfen im Weihrauchdunst. Als spräche ein Traum aus ihm heraus, so kamen die schweren alten feierlichen Worte über seine Lippen. Ihm war, als stünde er mit seinen Füßen auf den Teppichen der Erde, und als ragte er mit seinem Haupte in die Sternenkreise hinein. Das flimmernde Astral der Monstranz wurde zur Sonne, die Orgel brauste wie der Sturm der Gestirne, und durch Weihrauchdampf und Kerzenglorien sah er durch blendende Tore in die flammenden Fluchten der Ewigkeit hinein, in die Gärten der Heiligen und Chöre der Engel, bis an den Feuerthron des Allerhöchsten, des fleischgewordenen Wortes.

» Da nobis, quaesumus, Dominus Deus noster: ut, qui nativitatem Domini nostri Jesu Christi mysteriis nos frequentare gaudemus, dignis conversationibus ad ejus mereamur pervenire consortium: qui tecum vivit et regnat per omnia saecula saeculorum. Amen.«

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