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VIII.

Der schläfernde Winter war über die Landschaft eingedämmert, die heimliche Adventruhe, die Mensch und Haus und Same mit süßer Stille umfängt, der Sonntag nach der Ernte, der Feierabend vor dem heraufträumenden Jahr.

Alles Leben hat sich nach innen gewandt, wie das des Blinden, dem das Schauen zur Einkehr sich läutert, alle Wahrnehmung des Zeitlichen zu Ahnen und Begreifen des Dauernden sich vergeistigt: so sammelt hinter den eisblinden Augen der Häuser alles Walten und Weben und Deuten sich um die innere Flamme, aus heurigem Flachs wird des nächsten Jahres Leinwand angesponnen, Hoffnungen und behagliches Bereiten, letztes Verarbeiten und neue Zurüstung, alles verwoben in Mär und Wärme und tausendjährigen Brauch. –

Auch in Benedikt war es winterstill geworden.

Halbe Tage, lange Abende, halbe Nächte verbrachte er in der Einsamkeit seiner Stube, bis übers Herz versunken in den Tiefen der Vergangenheit.

Das war ihm geblieben von der stolz überwimpelten Fracht seiner Ausfahrt; das war zu ihm gekommen und hatte ihn wieder aufgerichtet, das erfüllte ihn jetzt und trug ihn über sein ermüdendes Selbstbedenken hinweg.

Weniger schwer als früher empfand er nun die Last der Einsamkeit. Die eindringliche Beschäftigung mit Menschen und Welten, zu deren lebendiger Vergegenwärtigung er seiner ganzen Einbildungskraft bedurfte, ermüdete ihn nicht, sie erfrischte und entbürdete ihn. So hatte er es nicht nötig, unter dem Druck der beängstigenden Leere, die ihn umgab, mit jedem Griffe an sich selbst herunterzutasten, mit jedem Gedanken sich selbst zu wägen, die Uhr seiner eigenen Pulse zu belauschen, um nur die Gewißheit irgendeiner vertrauten Nähe zu bewahren. Dieser erschöpfenden Einschränkung war er nun ledig. An andere wirkte er sich aus, in andere vertiefte er sich, und wenn es auch nur Schatten waren, Bilder, denen er selbst Sprache und Tat einhauchte.

Selbst mit seinem Vorgesetzten fand er jetzt ein erträgliches Auskommen. Weit davon entfernt, die Beschäftigung seines Gehilfen teilnehmend zu würdigen, bezeigte Permoser doch einen gewissen Stolz auf Gelehrsamkeit und vorbildlichen Fleiß des strebsamen jungen Herrn, der alle Jahreszahlen, alle Päpste, alle Synoden und ganze Strecken uralter, längst verschollener Chroniken im Kopfe hatte. Das starre Mißtrauen, wie der alte Pfarrer es jeder drohenden Überlegenheit grundsätzlich entgegenbrachte, löste sich deswegen nicht geradezu in warmes Wohlwollen auf: Siebenschein blieb nun einmal der unnütze Bücherwurm und Musikus, als welcher er den ersten entscheidenden Eindruck erweckt hatte. Allein über solchen Tadel hinweg gelangte Permoser auch zu vorsichtig einschränkender Anerkennung, darin mehr als ein Körnchen Eigenlob: als trage schließlich er selbst, der Gönner und Förderer, das Hauptverdienst an dieses jungen Mannes stillem Gedeihen, so wurde das gespendete Licht gleichsam mit geschickten Spiegeln wieder zurückgeleitet.

»Ist ein belesener Herr,« sagte er mit leichtem Unterspott zu den Amtsbrüdern, die ihn dann und wann aufsuchten; »ist ein belesener Herr, unser Doktor Siebenschein, in allen Künsten und Wissenschaften erfahren, Trivium wie Quadrivium, ist unser Schriftgelehrter, weiß alles auswendig – hat aber auch schöne Ruhe und Zeit hier bei mir, viel Zeit und Freiheit, wird ihm nichts in den Weg gelegt … Ist unser zukünftiger Bischof, dieser Herr Doktor, unser zukünftiger Bischof …«

Immerhin, Benedikt gelang es, über die wenigen Stunden, die er seinem Vorgesetzten widmen mußte, eine Art von Dämmerlicht zu verbreiten, das doch eine leise Wärme ausstrahlte. Hochwürden Permoser, das fand Benedikt heraus, besaß schwache Stellen, Zugänge, die der Geröllschub der Jahre noch nicht gänzlich verschüttet hatte, und die wenigstens von einer Seite her in die Tiefe dieses Gemütes führten. So sprach der Pfarrer nicht ungern von seiner Studienzeit, von seinen Anfängen, von den großen Ernten vergangener Jahre, die ob unbegreiflicher Änderung des Klimas nicht wiederkehren wollten, von Menschen, die damals gelebt hatten und deren Qualität gleichfalls unersetzlich war, von Papst Pius dem Neunten und von seiner eigenen, Permosers, Reise nach Rom, die er mit einigen Amtsbrüdern des Sprengels unter Führung des früheren Bischofs unternommen und die ihm unauslöschliche Eindrücke hinterlassen hatte, worunter die breitgehörnten Ochsen der Campagna die erste, die wachhabenden Kirchenkatzen Italiens die zweite Stelle behaupteten.

Diesen Berichten, die in zähem, oft stockendem Flusse zum Vorschein kamen, widmete Siebenschein nun seine höfliche, scheinbar wißbegierige Aufmerksamkeit. Das mochte den Pfarrer rühren. Er griff dann wohl ein altes Handbuch der Kirchengeschichte aus den Regalen des Wandschrankes und begann aus Benedikts Kenntnissen da und dort Stichproben zu ziehen, sehr zum inneren Ergötzen des Überprüften. Wann war die Kirchenversammlung zu Sutri? … Wer folgte auf Bonifaz den Siebenten? … Welcher Papst hat sich selbst abgesetzt? … Wie nannte sich Suidger von Bamberg mit seinem Papstnamen? … Wie hieß Sixtus der Vierte vor der Wahl? … Den Schlag auf Schlag folgenden Antworten zollte Permoser kein Wort des Lobes. Allenfalls nickte er unmerklich mit seinem runden Kopfe, nur einmal ließ er sich zu einer Überschwänglichkeit hinreißen: »Ist erstaunlich, diese Belesenheit, ist erstaunlich« … Dafür aber ward ihm eines Abends von Siebenschein eine herzliche Freude bereitet: auf die Frage nach der Dauer der abendländischen Spaltung nannte Benedikt so gröblich entstellte Jahreszahlen, daß der alte Herr in seiner unschuldigen Schadenfreude prustend herauslachte, was er seit unvordenklichen Zeiten nicht mehr getan. Er sei eben auch nicht unfehlbar, triumphierte er, und solch ein arges Versehen, jaja, Schulbildung und Büchergelehrsamkeit seien unhaltbar wie schlechte Tünche, solch unverzeihlicher Schnitzer, wenn ihm das vor der Prüfungskommission zugestoßen wäre, es werde wohl auch noch anderswo Löcher geben … Ganz gesprächig wurde Permoser in seiner Siegesfreude, den ganzen Abend hindurch bohrte er an der zugefügten Wunde nach, vier Wochen lang zehrte er an seinem Genuß, und das abgegriffene Handbuch der Kirchengeschichte hielt er fortan in so hohen Ehren, daß er gar darin las, um sich unter Beihilfe dieses Orakels auf neue Ausfälle vorzubereiten. Allein Benedikt hütete sich vor leichtsinniger Vergeudung seiner Reizmittel, und bis zum nächsten Erfolge mußte Permoser vierzig Tage lang alle Fronten der wohlgerüsteten Kenntnisse seines Gegners abtasten.

An seine geliebte Musik wagte sich Benedikt gar nicht heran. Musik tat ihm wehe, rührte an offene Male, regte ihn auf. In Musik spiegelten sich ihm Bilder, die er nicht sehen wollte; Musik war ihm das Gefäß von Erinnerungen, die er flüchtete. Manchmal empfand er wohl das starke Bedürfnis, seine Seele in Tönen zu heiligen für das abendliche Werk. Er schlug das Harmonium auf, versuchte unschlüssig und kam nicht über ein paar Akkorde hinaus. Allsogleich füllte sich der Raum mit Stimmung, mit Schatten, mit beunruhigender Gegenwart; das süße treibende Gift stieg ihm zu Kopfe und schoß ihm ins Blut und alle Sinne, er vernahm das Nachklingen jener fremden, verwirrenden Musik, hineinverwoben sah er das Bild von Salome Sartorius … Salome Sartorius, mitten im Tanz der singenden blumigen Flammen, der klingenden Feuerblumen, der nackten Sündenlilien und zuckenden Schlangen … Alles in schwindelnden Kreisen durcheinanderwirbelnd, Musik, Wein, das Weib, Salome – ein Meer von Tiefe, ein Meer voll prachtvoller Ungeheuer, das gleich wieder auf ihn hereinrauschte … Und dann die taumelnde Heimkehr … Und jene andere, die nach alledem wiederzusehen er doch froh war … Freundlich wie eine Küste der Heimat tat sie sich seiner Ankunft auf … Und er, erfreut sie zu halten, sich ihrer zu vergewissern, halb erlöst von ungeheurer Spannung, halb zerrissen von unklarer Sehnsucht, ohne Boden unter den Füßen, ohne einen strengen Morgen vor sich, alles Nacht und Trunkenheit … Nein, er wollte es nicht ins einzelne wieder ausdenken. Und mußte es doch tun, stellte sich's immer wieder vor, hing bebend an dieser Erinnerung und sträubte sich zuckend wider sie … Wie sie so allein blieben und warteten: draußen vertobte das schwere Wetter, die Donner verloschen in der Bergferne, der Spätsommerregen rauschte stet, die Kerzen brannten – und sie warteten … warteten – worauf? … Warteten auf sich selbst? … Und sie war ihm so nah, sie schien ihm so warm, sie däuchte ihn fast schön … Was sie damals gesprochen, er wußte es kaum mehr: Worte, die noch verheucheln sollten, was sich zwischen ihnen bereitete, Worte, die anschlichen und davonflohen, arme, törichte Worte … Und einmal hatte sie leise aufgelacht … Und da schien ihm langsam, wie in einem weinroten Nebel, alles in dieses Weib da einzugehen, die Musik, die Geschichte, Salome Sartorius selbst … Alles verkörperte sich in ihr, kehrte in ihr wieder, die da in der Dämmerung neben ihm saß, warm und nah und natürlich … Und sie lachte wieder, leise, dunkel, girrend … Eine Kerze verlosch … Und da wurde etwas wild in ihm, und sie strich leise über ihn hin … Und da zersprang etwas in ihm, ein Tor, ein Gefängnis, und er schlug noch mit den Armen um sich und wankte und stürzte in den Abgrund hinab, und in seinen Ohren brauste, zum betäubenden Ozean angeschwollen, der Prinzessin irres, schluchzendes, blutiges Liebeslied … Und wogte zusammen und schloß sich über ihm …

So hatte es angefangen.

Dann, am anderen Morgen: ein Erwachen, bleischwer und schmerzhaft, wie nach Fieberstürmen. Stöhnend war er zurückgesunken; bitterer Ekel hatte an seinen Lippen geklebt. Aus der regenschwülen Nacht war ein blitzendheller Tag geworden; im Garten draußen funkelte alles neu und genesen, kühl und gereinigt; voll stiller Sonne war die Luft. Er aber schloß geblendet die Lider. Ihm war, als sei er eingemauert in einen Berg von Schuld, deren ungeheure Schwere von allen Seiten auf ihn hereinmalmte. Er rüttelte sich gewaltsam auf. Allein der böse Traum ließ sich nicht scheuchen. Es war kein Traum. Es war geschehen. Und Benedikt wühlte sich in die Kissen, um im Dunkel seiner geschlossenen Lider irgendwie mit sich fertig zu werden. Und das Bildnis des Gekreuzigten sah aus seinen Wundenmalen herunter auf seine Pein, und wie er dann aufstand, sah es ihm zu, wie er immer wieder die heißen Hände vor das Gesicht schlug, und es verfolgte ihn überall hin mit seiner strengen Allgegenwart. Alles schrie auf ihn ein mit tausend Stimmen. Alles wies nach seiner Sünde. Alles war geschwängert von drohender Beziehung. Er selbst fühlte sich wie inwendig schwarz ausgeschlagen, an die Nacht verloren auf ewig. Und dennoch verspürte er daneben noch etwas anderes, ein neues Bewußtsein, einen ganz neuen Anfang, einen erschütternden Eintritt. Irgend etwas in ihm hatte sich aus liegendem Brüten und Warten erhoben, war aufrecht geworden und reckte sich … Er wußte heute nicht mehr, wie er es damals verstanden … War es das alte Tier gewesen – oder das böse Geheimnis der Lust – oder eine reife und abrundende Erfüllung – oder war es eine gesunde, triumphierende Enttäuschung, weil hinter allem Verheißen des Blutes doch nur solch kurze, armselige Freude des Verführten harre? … Doch dessen entsann er sich noch heute: wie er unter seiner Demütigung, in der Betäubung seiner Niederlage selbst sich von einer leisen, fremden Kraft geschwellt und beinahe gehärtet ahnte … Da es aber gegen Abend ging, gerann ihm unter matten Kämpfen alles wieder zu ungeduldigem Wunsche, und als die Nacht über die Welt fiel, lösten sich alle Bande, und abermals sprang er in den offenen Abgrund hinab, um gleich darauf, auf den Boden aufschmetternd, aus dem herzkrampfenden Rausche des Schwindels zu erwachen, erschüttert und zerbrochen bis in des Herzens Herz hinein.

Und so Tag für Tag, Morgen um Morgen, Nacht auf Nacht.

Nach zerschlagenem Schlafe ein gallenbitteres Erwachen, ein schmerzhafter Zorn gegen die grelle Frühe, ein dumpf hinlauernder Tag, eine Dämmerung voll Unrast und Erwartung …

Und eines Morgens hatte er mit kaltem Schrecken gewahrt, wohin selbst seine Angst, selbst das Bewußtsein seiner Schuld sich verirrt. Nein, das war nicht mehr Reue, das war nur Feigheit; nicht vor dem Bilde des Gekreuzigten flüchtete er, nicht vor der Wundenliebe des Heilands, nicht vor seinem eigenen Gram – ihn quälte die gemeine Angst des Heuchlers, und sie riß Stück um Stück aus seiner ohnmächtig zuckenden Seele. Nicht Gottesweh schrie auf aus ihm, sondern eitle, ekle Menschenfurcht. Er fühlte, wie der alte Pfarrer ihn gehässig, voll Genugtuung durchspähte; er erschauerte vor Blicken und Stimmen des Dorfes, die ihn verfolgten. Er dachte und verzweifelte sich in das Empfinden hinein, allen als verfemtes, erkanntes, in die Ecke gejagtes Raubtier gegenüberzustehen. Er selbst belauerte, die ihn belauerten. Und er wußte, wie tief er gesunken, und er rang sich nicht los und sank tiefer ein. Durchschaute sich selbst bis ins Innerste, verdammte sich und häufte neue Schuld zur alten. Trug unter Gottes allsehenden Augen seine schwarze Bürde und scheute die Blindheit der Menschen. Und erinnerte sich gleichzeitig daran, wie er einst um Gotteswillen den Schein jeder Last und Verfehlung willig vor den Menschen getragen und ihrem Urteil unerschüttert standgehalten hätte.

Und eines anderen Morgens ertappte er sich darüber, wie er völlig abwesend die Worte des Opfers in den Altar hineinmurmelte … Introibo ad altare Dei … Ab homine iniquo erue me … Gewohnheitsmäßig mahlten seine Lippen die Formeln … Formeln! Jedes dieser kostbaren, schwerfeierlichen Brokatworte war ihm einst Geheimnis und Weihe gewesen … Und nun starre Formeln, die man je nach Gelegenheit mit Episteln und Evangelien ausfüllte, ohne Sinn, ohne Wert! … Während er sie hinraunte, wühlte seine Seele im Buche des Gewissens. Und schlug immer wieder dieselbe Seite auf … Ja, und eben jetzt, über diesem Erkennen hatte er sich bis zur Epistel durchgebetet, ohne eines einzigen dieser entfremdeten Worte inne geworden zu sein! … Eine Schuld schichtete sich über die andere und verdichtete sie. Wo stand sein Sinn, da seine geweihten Hände das Brot zum Leibe erhoben, den Wein zum Blute umopferten? …

Das alles wuchs ihm aus der Musik entgegen, und allsogleich stieg ihm der heiße Ekel in die Kehle, das Grauen vor dem inneren Gericht. Und er verschloß den Pultdeckel mit sorgfältiger Hast, wie man eine gefährliche Schatztruhe zuschnappen läßt oder einen heimlichen Sarg verlötet, oder ein verborgenes Fach zurückschiebt oder ein schweres Schuldbuch zuhinterst in die Finsternis des Staubes versteckt, zu den Spinnen und Skorpionen.

Er selbst hatte sein Schuldbuch nicht abgeschlossen; aber er hatte es vorläufig versiegelt, nachdem er einen zornigen Strich unter all die verwirrenden Fehlrechnungen gezogen. Dies und das war geschehen, und so war es geschehen; das Skrutinieren seiner Geständnisse fraß ihm schließlich den Verstand aus dem Kopfe, die Erschöpfung gebot Aufgabe dieser langwierigen Selbstbelagerung. Um andere Gedanken zu finden, hatte er eines Abends sich zu gesammeltem Lesen gezwungen. Und siehe, es gelang; es verriet allsogleich die zarten Kräfte der Linderung; gerade weil die arme Seele eine Ausflucht suchte, gab sie sich voll Inbrunst an die Ablenkung hin. Benedikt erinnerte sich, daß er niemals mit solcher Aufmerksamkeit und gleichem Verständnisse gelesen als unterm Drucke eines leisen Fiebers oder nach überstandenem Schmerze. Das bewährte sich auch diesmal. Aus dem Erlebten empfing alles neue Deutung. Es war wie eine Heimkehr in lang entbehrtes Jugendland, da auch das Unwesentlichste, früher leichtherzig Übersehene und Unbewußte mit einem Male Ereignis und Offenbarung wird, bedeutende Gestalt annimmt und an Tiefe gewinnt. Die Fehlbarkeit anderer, in der Ferne zu Bergesgröße aufgetürmter Menschen gereichte dem Gefallenen zum Troste. In steigender Teilnahme an Schicksalen und Verstrickungen längst versunkener Geschlechter fand er, dessen er am meisten bedurfte: wohltätiges Vergessen. Er wuchs langsam in eine andere Welt hinein. Nicht seinem Wissen zeigte sie sich diesmal, sondern seinem Mitleid. Und er spürte in seinen geheimsten Fasern: tiefer schnitt jetzt sein Pflug den zäheren Boden, schwerer wurde ihm jeder Begriff, wertvoller und entscheidender.

So war es ganz von selbst über ihn gekommen, beinahe zufällig, fast unmerklich. Eines Abends hatte er versucht, über Gelesenes und Geahntes sich Rechenschaft abzulegen, eine bestimmte Gestalt, deren gewaltige Umrisse schattenhaft durch den Wechsel der Ereignisse hindurchdämmerten, aus der verdunkelnden Fülle der Bewegungen herauszulösen und auf freie Höhe hinauszustellen – vorläufig ohne Absicht, ohne Ziel, nur zu eigenem Genügen und eigener Klärung. Und dann hatten die schülerhaft spielerischen Versuche mit einem Male Ernst, die drängenden Ahnungen plötzlich Körper gewonnen. Von flüchtigen Aufzeichnungen, die lediglich dem Bedürfnisse entsprangen, den noch unsicher schweifenden Gedanken in der Schrift Führung und Halt zu verleihen, schritt Benedikt zu gründlichen Auszügen vor, und von hier, da mit jedem Schritte weitere Überschau sich offenbarte, gelangte er allgemach zu dem Plane einer selbständigen Arbeit, der Beschreibung eines großen verklärten Lebens, dessen Bedeutung ihn überzeugte wie nie zuvor.

An irgend Ruhm oder Gewinn dachte Benedikt freilich nicht. Ihm allein sollte das Werk dienen, seiner Befreiung und Befriedigung, seinen eigenen Fortschritten. Nichts anderes sollte es werden als wieder nur ein bescheidener Versuch, der in eigener Belehrung auch schon den Lohn trug. War die Niederschrift beendet, dann würden die Blätter irgendwo in guter Geborgenheit vergilben oder auch in Flammen aufgehen – was lag daran? Wertvolles oder gar Neues vorzubringen konnte er ja nicht hoffen. Es fehlte ihm am weitschichtigen Apparate des Gelehrten, es gebrach ihm an Mitteln, sich ein lückenloses Rüstzeug zur Geschichte auch nur dieses einen Jahrzehnts zu beschaffen, des entscheidenden sechsten Jahrzehnts des großen elften Jahrhunderts. Eigener Zuschliff und selbstgeschmiedete Fassung, das war der ganze Preis. Immerhin, seinen eigenen Scheuern mochte auch diese Bestellung des oft durchpflügten Bodens reiche Ernte speichern, Zehrung für eines Winters Dauer, Saatgut fürs kommende Leben. Wenn vielleicht nichts anderes, so lernte er wenigstens sehen, abgrenzen, eine Gestalt in allen ihren Zusammenhängen, Quellgebieten und Mündungen, Erbschaften und Nachlässen, Ursachen und Wirkungen begreifen.

Und schon war auch das Gelüst nach eigenen Griffen, schon war der heimliche Durst nach sättigender Vollendung zu groß, als daß Benedikt sich hätte durch irgendwelche Zweifel die junge Freude trüben lassen. Tagelang zimmerte, maß, lotete und fügte er am Gerüst. Mehrere Grundrisse wurden vernichtet, andere zur engeren Wahl zurückgestellt, wieder andere ineinander verarbeitet. Es war ein Wühlen und Ebnen und Glätten und Behauen wie vor einer Grundsteinlegung. Überall in der Stube lagen aufgeschlagene Bände, auf dem Schreibtische, auf dem Harmonium, auf dem Bette, auf dem Betstuhl. Hundert weiße Zettel und Zettelchen und zu Lesezeichen gefalzte Halbbögen, engbedeckt mit Benedikts zarter, gepflegter Kleinschrift, ragten aus den Oberschnitten der Werke hervor. Der sonst sorgfältig verschlossene Bücherspind, dessen Verglasung und fehlendes Kugelbein der Benutzer aus eigenen Mitteln hatte ergänzen lassen, stand weit offen und sah mit den breiten Breschen in seinen Schätzen, mit den schräggelehnten und ganz umgestürzten Büchern wie geplündert aus.

Aber eines Adventabends, da das Feuer im schmalen Ofen besonders behaglich knackte, versammelte Benedikt all seine Getreuen handgerecht um sich her. Sorgfältig wurde die goldene Lampenflamme zu einem Ausgleich herabgeschraubt – es gelang nicht ohne weiteres, denn ein Zipfel der Lohe leckte beharrlich und verdächtig am Zylinder hinan –; bedachtsam ward eine neue Feder gewählt, getauft, vorgewärmt und angeschrieben; endlich wurden die einladenden Großquartbogen bereitgelegt und zum Lichte wie zur Hand in schicklichen Winkel gerückt. Dann tauchte Benedikt die Feder von neuem in den Schreibsaft, weihevoll diesmal, wie vor entscheidendem Briefe oder an der Schwelle des erlösenden Wortes: was er auch mit diesem Beginnen floh oder überwand, in ihm war etwas von der Festlichkeit jeder Eröffnung, jedes Entschlusses, jedes frischen, fährtenlosen Schnees. Noch einmal überlegte er, in sich hinabhorchend, wie zum Gebet oder auf Geheiß einer heimlichen Stimme; dann setzte er mit gewählter Schrift auf den Kopf der blanken Seite die längst besiegelte Überschrift: St. Leo IX., Bruno von Toul, Graf von Egisheim, der deutsche Papst.

Dieser kühne, treue Neuerbauer hatte es Benedikt angetan, nun er aus anderem Verstande heraus die Geschichten jener großen Zeit in seiner Seele begriffen. Früher war er über den deutschen Leo wo nicht achtlos so doch mit kühlerer Teilnahme hinweggeglitten, den Gipfeln des allüberragenden Hildebrand zueilend. Er wußte, Leo habe die Normannen befehdet, den Kaiser auf seinen Zügen begleitet, die reinigende Strenge der Kongregation von Cluny zu seinem Grundsatze erhoben und anderes mehr – aber all das blieb weit zurück hinter den Erfüllungen des siebenten Gregor, das war nur ein erstes Andeuten, ein Vorklang, ein Suchen noch und ein Versuchen. Und nun erschien dem reiferen Verständnisse dieser ganze Frühling in neuem Lichte, auf anderen Höhen und gleichsam verklärt; wie einer, der an den krausen Blüten und Erkrankungen späterer Gotik sich sattgesehen, sehnsuchtsvoll zurückkehrt zu den harten keuschen Anfängen des Stils, so kam der junge Gelehrte von Bonifaz, Innocenz und Hildebrand zurück auf Bruno von Egisheim, den schon ganz von der Majestät seiner Pflicht erfüllten, schon ganz hochpäpstlichen und doch noch so bescheidenen, treuen und aus tiefstem Herzen gütigen Papst, der nichts Schöneres kannte als Verzeihen, der keinen für einen ärgeren Sünder hielt als sich selbst.

Und Benedikt schrieb; kaum fand er Anlaß, die um ihn her wartenden Gehilfen zu Rate zu ziehen, so quoll es ihm aus innerer Fülle in die Feder. Er hatte sich wohl vorbereitet und seinen Wibert wie andere Biographen seines Helden gründlich gelesen, hier vergleichend, dort unterstreichend, stets auf der Suche nach den Zügen des Lebens. Darum gestaltete es sich ihm jetzt fast ohne Nachhilfe: ein Bild floß ins andere, ein Satz riß den nächsten nach. Nur dann, wenn ein Abschnitt in klarer Vollendung dastand oder eine Seite noch feucht schimmerte im stahlblauen Glanz des Schreibsaftes, überlas Benedikt den mit aller junggelehrtenhaften Sorgfalt hergestellten Text, verglich und verbesserte da und hier, wo ein Blick in seine Auszüge ein kleines Übersehen erwies. Aber was er in seinen gleichmäßigen Zügen geschrieben, konnte auch vor dem empfindlichsten Gewissen bestehen. Selbst die Fassung, näherte sie sich nicht bisweilen künstlerischer Prägung? War die Stelle, da er von der Geburt des kleinen Bruno erzählte, von den voraufgegangenen Vorzeichen, vom inbrünstig gläubigen Aberglauben der Zeit, von den tiefverborgenen Wurzeln dieses Aberglaubens, Verfall der Sitte und Bangnis vor dem Weltende – war diese Stelle nicht durchleuchtet vom warmen Schein dichterischen Feuers, war da nicht etwas vom Rauschen der seligen Schwingen, die den lahmen Schritt aus dem Staube lösen? … Ein ungekanntes Glücksgefühl stieg in Benedikt auf, spannend, überwältigend; sein Herz schlug an. Er mußte aufstehen und einige Male hin- und wiederschreiten, daß er sich aufs neue fand und beherrschte.

Dann begann er mit verstärkter Glut: wie Bruno schon im zartesten Knabenalter der Klosterschule zu Toul übergeben wurde, wohl um seiner früh hervorschimmernden Anlagen willen; wie er dort alle Gelehrsamkeit seinerzeit in sich aufnahm und sein junges Herz doch nicht überwuchert wurde von den krausen Schlinggewächsen mittelalterlicher Theologie; wie er von Zeit zu Zeit auf die Burg der Väter heimkehrte und über dem Dienst der strengen Genien auch der Waffenminne nicht vergaß, weder des Glenwurfs unkundig blieb noch des Hifthornrufes noch auch der alten Weisheit des Schwerthiebes, so damals manche Frage in Gottes großem Rätselbuch auf bündigste Weise löste. Von alledem berichtete Benedikt mit hingebungsvoller Treue; wie ein Mönch jener dunklen Heldenzeit, da er das Leben eines ehrwürdigen Bischofs über einen ausgeschabten Plautus schrieb, so saß er über seiner stetig hinrieselnden Schrift, bis spät hinein in die heilige Vigil.

So ging das Abend für Abend, mit Ausnahme jener Tage, da Benedikt durch seine Pflicht in Anspruch genommen und zu sehr erschöpft wurde, als daß er mit halben Kräften hätte sein Werk verderben mögen. Stattlich schwoll das Manuskript an. Schon hatte es die ursprünglich gesetzte Grenze überschritten, und noch immer saß Bruno in seinem armen Bistum Toul, das er sich aus Liebe zur Stätte seiner Erziehung und aus gütiger Demut erbeten, ob es ihm gleich freistund, den Weg zu Macht und Reichtum einzuschlagen … Und je tiefer Benedikt eintrat in dies wahrhaft heilige Leben, desto mehr Weiten und Tiefen taten sich ihm auf. Ohne von der Sonne mittelalterlichen Mönchtums, ohne von Cluny aus beleuchtet zu werden, konnte der künftige Papst gar nicht scharfe Züge gewinnen; Cluny hinter sich, mußte er seinen großen Schatten in die Ferne werfen, über die Jahrhunderte hin. Und damit trat eine andere mächtige Gestalt neben den Bischof von Toul, Odilo, der Abt der Äbte, der Bernhard des elften Jahrhunderts, der heilige Berater von vier Kaisern, der Biograph der Kaiserinnen, der Mann, in dem alle geistlichen Bestrebungen der Zeit gipfelten, in dem all die tastenden, Bett und Führung suchenden Bewegungen jener Geschlechter zusammenliefen, sich verkörperten und wieder neuen Anstoß empfingen. Aber hinter Odilo dämmerten noch die Schatten seiner gewaltigen Vorgänger, der Erzäbte, Berno, Majolus, Aymar, Odo; hinter ihm, um ihn her, er selbst war Cluny, das allbeherrschende, das ganze Abendland durchhallende Programm, der Berg, die ragende Idee in der Mitte des Gärens und Werdens. So mußte Benedikt weit zurück ausholen, bis in das Zwielicht der Völkerwanderung, da auf Monte Cassino die erste Hochburg des Mönchtums sich erhob; so mußte er auch den grauenvollen Verfall des Papsttums und das ungeheuere Anschwellen des imperialen Gedankens schildern, der schließlich selbst die Ideen Clunys in sich einmünden ließ, um sie seinen Zwecken dienstbar zu machen … Die Aufgabe schwoll an wie ein Strom, der schon im Beginne seines Weges starke Zuflüsse empfängt und die Enge seines Bettes fast zu sprengen, nach allen Seiten hin zu überfluten droht. Oft genug mußte Benedikt sich bändigen, daß er die Mitte einhielt: so lockte es ihn, bald diesen, bald jenen der vielen Quellbäche bis zu seinem Ursprung und in alle seine Verfaserungen hinein zu verfolgen.

Es war ein Werden und eine Befreiung, wie er solche noch nie verkostet und darum auch niemals ersehnt. Nun es an ihm geschah und ihn Tag für Tag mit steigender Wärme erfüllte, meinte er Köstlicheres nimmermehr erfahren zu können. Tausend unbekannte Brunnen begannen in seiner Tiefe zu pochen; ein neues Erwachen zitterte durch ihn hin, als sei in stiller Mitternacht der allmächtige Tauwind wie ein Trostruf des Herrn und ein getreues Wunder an ihn ergangen, daß er nun mit einem Male in voller Schmelze stund und der Erlösung, des Dranges und Schwalles sich fast nicht mehr zu erwehren wußte. So überwältigt fand er sich in den Stunden, da er sich selbst gehörte; so heimgekehrt und begnadigt. Und mußte er bisweilen auch warten, die Fortsetzung auf den kommenden Abend verschieben, weil die Pflicht ihn rief und in ihrer Erfüllung die Frische verloren ging, ohne welche der Guß leicht hätte mißlingen können: es war auch das schön und des Erlebens wert, dies innere Spannen und Vorbereiten, dieser Feierabend, da alles in behaglicher Verheißung geschah und die unerlösten Gedanken sich zu neuem Strome verdichteten. Und hatte jener deutsche Papst nicht die Pflicht über alles gestellt? … War er es nicht gewesen, der zuerst wieder, nach grauenvoller Verdunklung und Irre, die tiefe Würde des Priestertums in vollem Ernste erfaßte und mit seinem demütigen, aufreibenden guten Willen ein Beispiel gab wie nur sehr wenige vor ihm? … Benedikt verspürte wundersame Stärkung, so oft er nur seines Helden gedachte; in diesem Leben, das wußte er gewiß, würde er sein eigenes finden, an diesem Schafte konnte er sich selbst aufrichten, entfalten, die Höhe gewinnen, die Kraft und das himmlische Licht.

Zumeist verbrachte er die Vormitternachtsstunden über seinem Manuskripte; nicht ehe die Lampe erschöpft war, legte er die Feder zur Ruhe. Da war alles um ihn her selige Einsamkeit, alles wandte sich nach innen und wurde zum süßen Geheimnis. Draußen hinter den frostblinden Scheiben starrte die Nacht; Winterschlaf deckte die Welt mit weicher Stille, kein Laut mehr, kein Schmerz, nichts als heilige Tiefe. Und inmitten des Abgrunds brannte sein kleines holdes Flämmchen, das ewige Licht, das seinem Werden und Warten schien, die Herzlohe im Inneren des Berges, in deren Glut er sich selbst zum Schwerte schmiedete, streckte und stählte. Wie der Mönch wachte er der Minne seiner Vigil, und Gott war allein mit ihm in der sanft erleuchteten Zelle. Gott allein war mit ihm, da an ihm das Wunder des Weizenkornes geschah und seine Hülle sprang und er in der warmen Tiefe sich bereitete zu des Herrn Brot.

Stetig gedieh das Werk; rings standen die treuen Engel der Stille und schützten den Einsamen, daß er allein blieb mit seiner Flamme. In einem engsten Kreis von Licht saß er und lauschte; aber manchmal horchte er auf, als habe jemand an die Türe gepocht. Die Dielen knackten, wie die Stubenwärme entwich und der Nachtfrost sich dichter um das Haus zusammenzog. Oder es fuhr ein Klang gleich dem berstenden Eise durch das Herz des Wachenden, und ein neuer Born entpulste dem Berge. Oder es fiel ein schwerer Tropfen aus der oberen Ewigkeit in die untere, und die eherne Schale ertönte, da sie die erstarrende Zeit empfing.

Aber auch die ahnungsvollen Stunden der Frühe nutzte Benedikt, und niemals empfand er inniger die Weihe des Schaffens, als wenn er aus dem Dunkel heraus in die Helle arbeitete und die Dämmerung um ihn her in vertraute Gestalt zurückwich. Es war etwas unsäglich Süßes um die Stimmung solcher Wintermorgen: alles gewann neue Deutung und war irgendwie weihnachtlich, mystische Andacht verbreitete der Lampenschein im zaghaften Vorzwielicht, Schauer der Kindheit erfüllten die kalte Stube mit holder Gegenwart, die schimmernden Blätter der Handschrift wurden zum aufgeschlagenen Meßbuch der Frühmette. So lieb wurde Benedikt das zarte Geheimnis dieser Matutin, daß er gerne dem heraufwachsenden Tage Halt geboten, den keuschen Frieden des unberührten Festes länger genossen hätte. Und dann war es doch schön, wenn die ernsten, schweren Berge überm Tale feierlich aufglühten und das Gold so sachte an ihren starren Firnmänteln herabfloß, bis sie in hellem Brande standen. Dann war es doch immer wieder eine Rückkehr aus der Ewigkeit in die traute, enge Stunde; ein Aufflug aus der bangen engen Stunde in die Ewigkeit.

* * *

An einem solchen Morgen, es war am Feste der heiligen Viktoria vor Heiligabend, schlug Benedikt ein neues Buch auf.

Der alte Pfarrer hatte die Veranlassung dazu gegeben, ganz ohne Absicht, durch ein beiläufig hingestreutes Wort, das aber an Benedikt sofort Halt fand und über Nacht in Halm schoß.

Die Sprache war irgendwie auf den Geisterer gekommen, diesen Eingänger, von dessen Alter und Herkunft man eigentlich nichts wußte, da er selbst nichts darüber zu wissen vorgab. Im Sommer treibe er seinen Handel mit Pilzen und allerhand verdächtiger Bergarznei, erzählte der Pfarrer; den Winter bringe er in unzugänglicher Einsamkeit hoch droben in einer Holzknechtstube zu, oft eingeschneit bis an den Dachrand, so daß man ihn mehr als einmal schon für unrettbar aufgegeben. Mit dem ersten Föhn aber komme er doch immer wieder zum Vorschein, und so treibe er es nun schon viele Jahre, ohne je älter oder hinfälliger zu erscheinen.

»Wie an das Evangelium glauben die Leute an ihn,« sagte Permoser unzufrieden; »wie an das Evangelium. Und ist doch nur ein Quacksalber und ein Heide, ist noch niemals bei den Sakramenten gewesen, dieser Heide, und besucht nur selten die Kirche, nur aus Neugier – dieser Heide!«

»Aber das Volk ist doch sehr gottesfürchtig?« fragte Siebenschein; »wie geht das zusammen?«

Der Pfarrer zuckte schwerfällig die Achseln. Ausführliche Erklärungen kamen ihn immer hart an.

»Weil er dem Aberglauben dient, dieser heidnische Quacksalber,« grollte er; »dem Aberglauben, und das macht beliebt beim Volke.«

Benedikt verspürte den plötzlichen Stich eines Pfeiles. Wie ein Blitz fuhr es über seine Gedanken hin, sie bis in die Gründe ihrer verborgensten Schluchten mit einem Schlage durchleuchtend.

An diesem Abende mied er sogar die geliebte Arbeit, so voll war er seines Planes. Er hätte in der gespannten Vorfreude nicht die Ruhe des Prägens und Wägens gefunden, jene heitere Stetigkeit und Gegenwart, der leise Erschöpfung bisweilen dienlicher war als schäumender Auftrieb.

Er sprach beim Tafernwirte vor … Was, der Geisterer habe ums Versehen geschickt? Da stehe die Welt nimmer lang! … Benedikt wich aus. Das nicht, aber geistlichen Zuspruchs bedürfe er, jeder Sünder habe einmal seine Stunde … Der Tafernwirt überlegte. Nun ja, bis zum Harthofe hinauf könnt der Knecht ihn am Ende schon fahren, auf solch guter Schlittbahn lieber als im Sommer. Ja, und ein Führer? … Na, das treffe ja grad gut auf … Er bog sich in die Schankstube hinüber und rief einen Namen; ein wilder Naturlaut wurde ihm zu Antwort … Einer von die Holzknecht, erklärte der Tafernwirt, der wär grad diesen Abend heruntergekommen, um für die Feiertage Tabak und Rum und andere Unentbehrlichkeiten zu fassen. Der könnt am End mit dem hochwürdigen Herrn das Stückel fahren – wenn der hochwürdige Herr nichts dawider habe? – und heilfroh würde er auch noch sein, solche Gelegenheit biete sich nur selten … Ein riesiger Kerl mit gesprenkeltem Wildbart erschien in der Türe der Schankstube … »Christoph,« schrie der Tafernwirt ihn an: »morgen hast es gut, bis zum Hart hinauf kannst fahren mit dem hochwürdigen Herrn, er erlaubt dir's!« Der Christoph rückte an seinem Hütl, daß es querüber windisch stand, und sah zweifelnd an Siebenschein herunter. »Woll,« sagte er einfach. »Und dann wirst den hochwürdigen Herrn zum Geisterer hinaufführen,« brüllte der Wirt weiter; »zum Geisterer hinauf, verstehst!« »Bin eh net törisch,« knurrte der Christoph; »woll, zum Geisterer aufa.« Er schüttelte bedenklich den pechigen Schädel. »Na, was gibt's da weiter zu bedenken?« zeterte der Tafern; »oder is dir leicht leid, die Fahrt, ganz umsonst?« Der Christoph zweifelte wieder auf Benedikt herunter; seine blutgeränderten Augen zwinkerten. »Schon net,« erklärte er; »aber der Geisterer.« »Was is mit dem Geisterer?« strengte sich der Wirt an. »Aussajagen wird er den geistlen Herrn,« weissagte der Christoph; »wann er kan Geistlan sehn kann, der Geisterer.« … Der Wirt sah betroffen auf Siebenschein. »Das geht di nix an,« brüllte er dem harzigen Wildmenschen ins Gesicht; »das wird der hochwürdige Herr schon selber mit dem Geisterer abmachen, verstehst!« »Woll,« knurrte der Christoph; »geht mi ja nix an. I sag grad.« »Alsdann morgen uma siebene bist g'stellt,« trompetete der Tafern unbeirrt; »uma siebene! Deine Sachen hast eh z'samm. Verstehst.« »Jawoi,« bestätigte der Christoph; »aber is a schiachs Stückl, zum Geisterer aufa.« »Wirst halt du dem geistlichen Herrn schön den Weg vortreten. Oder wirst ihn Buckelkrax tragen, verstehst. Hast damals das gewilderte Stuck von der Alm runtertragen, drei Stund weit, wirst den hochwürdigen Herrn aa no a Stückl weit derschleppen … Der Herr Kooprater enschuldigt schon,« sagte er sichtlich aufatmend zu Benedikt; »aber man muß es dem deutlich sagen. Und um siebene ist der Schlitten gestellt, da sorg ich schon dafür … Na, und auf das G'red von dem, da is ja am End net gar so viel zu geben … Reden halt so, die Leut, mein Gott … Aber richtens Ihnen warm z'samm, Hochwürden, in der Früh die Kälten, das beißt …«

Der Pfarrer ließ es freilich an boshafter Abkühlung nicht fehlen.

»Werden keinen Erfolg mit Ihrer Missionsreise,« weissagte er schadenfroh, »werden keinen Erfolg haben. Ist ein verstockter Sünder, dieser Geisterer. Ist ein harter, an dem Chrysam und Tauf verloren. Werden keinen Erfolg haben mit Ihrer Missionsreise.«

Er genoß noch lange das glücklich gefundene Wort.

Benedikt ließ sich die heimliche Freude nicht verkümmern. Er war es zufrieden, wenigstens den Versuch unternehmen zu dürfen. Der Alte wäre recht wohl imstande gewesen, ihm selbst das zu verwehren.

Aus blutrotem Morgen gebar sich ein klingendharter Wintertag.

Leise glitt der Schlitten durch den starren Tann. Benedikt fuhr staunend in die grimme Pracht hinein.

Wie die Frostriesen standen die alten feierlichen Bäume, glitzernd gepanzert und still bis ins Mark. Noch lag das Weihnachtstal drunten in tiefen, frühen Schatten. Aber auf den Gipfeln jenseits des Flusses brannten schon die heiligen Opferfeuer, und auch die Wipfel der steilen Rottannen fackelten stolz ins Hochlicht hinauf, während ihre Wurzeln demütig in dunkler Tiefe harrten. Der hartgebohnte Schnee winselte unter den Kufen; die spiegelglatten Rößlein prusteten angestrengt, dunstend im Mantel ihrer Stallwärme, Ohren und Nüstern silberverbrämt. Benedikt nestelte sich tief ins Heupolster des Schlittens; der Tafernwirt hatte recht, das taugte besser zu winterlicher Bergfahrt als Kissen von Samt und Pelz.

Ein Schwarm von rotbrüstigen Vögeln trieb sich durch das kahle Untergesträuch; sanfttraurig klang ihr zarter Pfiff durch den stahlhellen Frost. Benedikt freute sich des Erkennens. Doktor Vinzenz Hartmann, der Spiritual, hatte solch schwarzkäppiges Dompfäfflein im Käfige gehalten, einen gelehrigen Schüler, der über ausdrücklichen Wunsch die ersten vier Takte von Hummels berühmtem Arioso vortrug und dann mit artigem Pralltriller wieder in die Weise seines eigenen Knackschnäbelchens hinübermodulierte, gleich als sei die Cantilena, die der größere Meister ihm selbst gewidmet, seinem Geschmacke mehr gemäß als das fremde Menschenkunstwerk. Vergnügt sah Benedikt den kegelrunden Gimpelchen zu, wie sie im zarten Gitter der Birkenzweige und Erlen hingen und den blaßgrauen Morgenschnee verzierten mit ihrer herzblutroten Brust. Und hätte er jenen putzigen kleinen Dompfaffen zur Hand gehabt, der von der behaglichen Klause des Spirituals aus in den bischöflichen Residenzpark hinuntersah, Sommer und Winter und immerzu durch das gefälschte Astwerk seines Gefängnisses: augenblicks hätte er ihm die Türe geöffnet und dem unglücklichen Sänger sein eigenes Lied wiedergegeben, das Madrigal seiner Seele.

Die süße alte Legende kam Benedikt in den Sinn: wie einst der arme kleine Gimpel unterm Leidensholze des Erlösers, da Mensch und Gott ihn verlassen, mit dem Kreuzschnabel zusammen treue Wache hielt, daß sie ihm mit ihrer großen Liebe vielleicht einen geringen Dienst erwiesen – und siehe, es fiel eine schwere heiße Blutzähre von der Höhe herab auf das Brustgefieder des Vögelchens, davon ist's so wundenrot wie ein offenes Herz bis auf diesen Tag, der Gefährte aber verbog sich sein Schnäbelchen an den grausam harten Eisennägeln, da er sich mühte, sie herauszuziehen, und auch ihm blieb der Orden seiner Treue.

Drei graue Rehe zogen unweit vor den Pferden über die Bergstraße. Mitten in der Bahn blieben sie stehen und äugten auf die hinanprustenden, rauchenden Rößlein herab. Erst der Peitschenknall des Knechtes scheuchte sie. Aber auch jetzt flüchteten sie nicht weit. Mit bangen schwarzen Augen verfolgten sie den Weg des Schlittens, und wie auch der Christoph mit dem Peitschenstiel nach ihnen zielte, sie blieben vertraut im tiefen Schnee stehen, zierliche Kraft selbst in der Ruhe, im Wenden des Halses, im Spiel der Gehöre.

Jetzt war der First des Berges fast erreicht. In breitem Strome goß sich der blendende Wintermorgen entgegen. Inmitten einer Brandung von Licht schwebte das Totenkreuz auf seiner Höhe, fast zerschmolzen im Glast der jauchzenden Sonnenflammen. Hier oben lag goldfarbener Märchenschnee mit blauen Teppichen darin; hell goldgrün waren die bärtigen Fichten, goldrot die schuppigen Schäfte, und in den Wipfeln hingen strahlende Büschel von kupfernen Zapfen. Benedikt war es, als fahre er durch die Tore der ewigen Himmelstadt ein zum Herrn der Sonnen und Seligkeiten. Er legte eine besondere Bedeutung hinein, als er jetzt vor dem feuerumsäumten Kreuze den Hut abnahm und das heilige Zeichen über Stirne und Brust schlug: so weihte er sich diesem Tage, der vielleicht dazu ausersehen war, einem verirrten, verarmten, verwilderten Leben zur Wende zu werden, zum Tage der Einkehr in die Gnade und Erlösung.

Nun ließ der Knecht die Geißel knallen, und die Rößlein schickten sich in einen gemächlichen Trab. Der Schnee zwitscherte, seitlich hinterm Schlitten glitt ein drollig verzerrter Schatten über die Fläche, jetzt mit dem Gelände wachsend, jetzt am erhöhten Rain heranschrumpfend. Benedikt wußte gar nicht, woran zuerst sich zu sättigen. Die stählerne, schwertblanke Winterluft; die Hochaltäre der fernen Gipfel; die hunderttausend brennenden Baumkerzen davor; das entzückende Spiel von Schatten und Licht in den Schneeschollen; der feine Seidenglanz der Gleise, die in der enteilenden Landschaft blitzend zurückströmten; die zahlreichen Wildspuren, die den Weg begleiteten und kreuzten, weißer im weißen Schnee, mit zarten, schmelzblauen Tiefen.

Der Christoph erteilte eindrucksvollen Unterricht.

Plötzlich fuhr er herum, als habe er etwas ganz Wichtiges vergessen.

»Da, die Hirschfährten … Du, hö, halt, bleib stehn … Sakra … Du, hast g'hört, stehn bleiben sollst … A so ane Hirschfährten …«

»Meinst, der hochwürdige Herr fahrt wegen deine Hirschfährten dahinauf?« fragte der Knecht; »mit deine Fährten übereinand! Tut's dich schon wieder jucken?«

»Ah ja richtig,« sagte der Wildmensch beschämt. Er wurde plötzlich warm und schmolz in Mitteilsamkeit auf. »Hams die Fährten g'segn?« fragte er zu Siebenschein zurück; »die war von ganz eim groben, ein sakrischer Horner muß dös sein, was meinens, der hat die dritte Kron? Hams g'sehn, die Fährten, wie von dem Krottenhofer seim Stier, so an Hirschen gibt's nur einen, das is der, der vorigs Jahr von der Brandalm überg'schrien hat nach dem Leitnerschlag, dös werd schon der sein …«

»Ich kenne nicht einmal eine Hirschfährte,« gestand Benedikt; »nur Hasenfährten, das sind die hier, nicht?«

»Da seins gestimmt,« lachte der Christoph gröblich; »das dahier is ein Fuchs, segns net, die Lunten, wie's da nachschleift … Da is er ganz stad gangen, segns, und wenn's brennt, dann geht er aso –« er ließ die harzigen Finger der Rechten über die offene Fläche der Linken hingaloppieren – »und wenn er sich an ein Haserl dranmacht oder an ein Hendl, dann geht's so, ganz eng beinand, wie die Weiber bei der Prozession … Segns, das da, das is ein Haserl … Immer aso, zwei hintereinand, zwei nebeneinand, die hinteren, das sein die vorderen, und die vorderen, das sein die hinteren … Jesses, da, schon wieder der Mordstrummhirsch, segns ihn, Kreuzhimmelherrgottsakradividomini …«

»Aber Christoph, Christoph,« besänftigte Siebenschein.

»Ah ja so. No, bei so aner Hirschfährten! … Stehn alle herunt, die Luder, segns, segns, da sein no zwei, drei, vier andre …«

Er brannte lichterloh.

»Ihr kennt Euch gut aus, Christoph.«

Der Wildmensch zog mit der pechigen Hand einen stolzen Kreis über die flimmernde Berglandschaft.

»Wo werd i denn net? … Soweit daß segn, überall hab i schon g'holzt.«

Der Tafernknecht mischte sich ein.

»G'holzt is gut. G'holzt!«

Der Christoph stieß ihn freundschaftlich in die Rippen.

»Eh du. Bist mir's ja do bloß neidig.«

»Den Anfang schon,« lachte der Knecht; »aber 's End net.«

»So erklärt mir ein wenig die Gegend,« bat Siebenschein.

Der Wildmensch zückte aus der Tiefe seiner schweren Lodenjoppe sein Brisilglas und bot Benedikt an. »Net? … Is ganz a feiner, mit ein klein wengel ein Glasstaub drin, sonst greifts net.« Er ließ mit gewandter Künstlerschaft auf seiner haarigen Harzhand eine schwarze Düne erstehen und brachte sie trotz voller Fahrt unverweht zur Nase. »So. Sonsten kann i net reden. Und auf die Mordstrummfährten von dem Hirsch, da tut's gut … Muß schon der von der Brandalm sein, der wo vorigs Jahr auf den Leitnerschlag überg'schrien hat. Muß schon der sein … Alsdann dorten, grad über die einschichtige Feichten, segns, dorten is d' Lenardikapelln. Dorten is ein Hauptwechsel. Da ziagns immer vom unteren Gampholz her auf die Sanktrainer Seiten … Weißt eh, Jakl, beim Stoderkreuz, dorten, wo damals der Stoderbauer g'funden worden is nämlich, der wo mit dem Teufel z'samm auf die Hirschen gangen is … Wenns den schiachen Steig kennen über den Höllgraben? Net? Alsdann dorten, net weit, mehr auf die Lenardikapellen zu, da is der Hauptwechsel …«

»Narr, damischer,« sagte der Jakel; »meinst, der Hochwürn fragt di nach die Wechsel von die Horner?«

»Wo er g'sagt hat, i soll ehm d' Gegend zeign,« verwies der Wildmensch entrüstet. »Alsdann dorten, segns, mehr auf die Seiten zu, dös is das Gampholz, g'hört schon zu die Sterzener, da steht's Wild 's ganze Jahr, dorten hab i g'holzt vor ein paar Jahr …«

»Bis dir eing'heizt worden is mit dieselbigen Scheiter, gelt?« neckte der Jakel.

»Ah, geh, du, Tropf neidiger,« zürnte der Christoph; »alsdann dorten is das Gampholz, das untere, und das dorten … Sakra, da schauens, schon wieder eine Fährten, muß aa kan ganz schlechter sein … Reicht aber dem andern net an den Bart …«

Siebenschein hörte vergnügt zu. So verharzt war der Wildmensch doch nicht, als der Tafernwirt es behauptet. Unwillkürlich lächelte er auf. Hier war das Mittelalter stehen geblieben in all seiner Dunkelheit und Kraft. Was immer draußen geschehen war, diese Menschen waren noch dieselben, zu denen einst der Heilige gepredigt, die zottigen Hirten und Bärenjäger, und als der neunte Leo mit seinem kaiserlichen Freunde über die Alpen zog, belauerten die nämlichen struppigen Wetterleute aus ihren Hinterhalten die Pässe, durch die der eisengraue Heerwurm seinen Weg über die Grenzen bohrte.

Jetzt wuchsen wieder zerstreute Anwesen an die schellenklingelnde Fahrt heran, und nur zu bald erreichte der Schlitten den Harthof.

Der junge Bauer trat Benedikt entgegen.

»Mei, der Herr Kooprater, seltene Ehr, leicht wer krank da herum, wär mir nix bekannt … No, und du, Christoph, dös hat amal gut auftroffen für di, da schauts, nobel, nobel … Zum Geisterer wollts aufi? … Hat ums Versehn g'schickt, der Geisterer? … Da steht die Welt nimmer lang! … Ah so, b'suchen wollts ihn? … Da kann si ja der Geisterer bald was einbilden … Wollts net ein bissl einikommen, aufwärmen? … Net? Alsdann viel Glück beim Geisterer … Ja, der Jakel, der kann schon derweil dahierbleiben … Stells halt in ein Stand z'samm, die Rösser, na, wart, i wer's dir lieber zeigen …«

Gleich hinterm Harthofe begann der Weg in mäßiger Steigung den hochgelegenen Almwäldern entgegenzuklettern.

Der Christoph, eine ungeheuerliche Proviantlast im unförmig geblähten Rucksack, schritt weitausgreifend voran. Mit dem Schellengeklingel war auch der Fluß seiner Rede verstummt; sowie er die Bürde auf den Schultern und den Bergstock in der Faust hatte, galt nicht mehr das Wort, sondern einzig die Tat.

Anfänglich, solange der Pfad schräg in die Lehne hineinstieg, vermochte Benedikt dem bedächtigen, aber schrecklich fördernden Rübezahlgang seines Führers mit keuchender Not zu folgen. Eine Holzschleife hatte hohle, feste Bahn geschaffen, in der sich zwar mühsam, aber doch ohne tiefen Einbruch schritt. Nun aber verließ der Rübezahl dieses Gleis und griff mit weitklafternden Beinen in den tiefen Bergschnee hinein, den eigenen Stapfen vom Vortage folgend. Siebenschein blieb sehr bald zurück; der glühende Schweiß stach ihm aus allen Poren, das dröhnende Herz gebot Einhalt.

Der Rübezahl holte unbekümmert aus, Schritt für Schritt. Er trat den Hang gleichsam hinter sich hinab, so daß es aussah, als spinne er sich mit ungeheuren Gelenken an seiner eigenen weißen Spur zum Walde empor. Erst als er oben bei den verwetterten und verstümmelten Vorfichten angelangt war, wandte er sich gelassen um. Um einen ganzen Weltraum tiefer quälte sich Siebenschein durch den Schnee, unfähig, die fürchterliche Spurweite des Riesen einzuhalten, und darum zu hüfthoch einwühlenden, erschöpfenden Seitenschritten gezwungen.

Der Rübezahl ließ einen rauhen Kriegsruf hören. Benedikt sah auf und gewahrte den Bergstock, der wie ein Speer auf ihn zugebraust kam, verfolgt und überholt von seinem langen Pfeilschatten. Der mittelalterliche Berghüne mußte sich auch auf den Gerwurf wohl verstehen. Hart vor Siebenschein bohrte sich der Lanzenstock in den flimmernden Flaum, und nun ging es etwas leichter vonstatten, wenn auch eine mäßige Halbstunde kaum dazu ausreichte, den Vorsprung des Recken wettzumachen. Triefend von glühendem Schweiß, mit betäubenden Pulsen und matt zum Einschlafen, so traf Benedikt bei seinem Führer ein, der sich die Weile damit vertrieben, aus einer knotigen Jungfichte einen zweiten Bergstock herzustellen.

»Is ein bißl schiach, das Gehn in dem Schnee,« entschuldigte der Rübezahl; »aber nacher, so in einer halben Stund, da wird's besser, bis daß mir halt über den Riegel weg sein.«

Er klafterte voran, die notdürftig entastete Jungfichte in der Faust, in den tausendgestaltigen, winterheimlichen Tann hinein.

Hier kreuzte keine Wildfährte, hier scheuchte kein Vogelflug, kein Hasensprung die feierliche, dumpfe Urstille. In weichgewölbten Schneesärgen schliefen lang und greis vermorschte Baumstrünke; wo durch eine Sturmbruchlücke der blendende Tag einfiel, da strahlte eine Weihnachtskapelle voll flimmerndem Schneerauch und niederschwebenden weißgoldnen Schneeengelchen, und ringsumher war frostblaues, begrabenes Schweigen.

Nur ein Schwarm von Kreuzschnäbeln tummelte sich im schneebärtigen Geäst, und der Rübezahl wollte seinen Begleiter gerade darauf aufmerksam machen, wie es doch seltsam sei, daß dies verrückte Vogelgetier just um die Christwende herum Hochzeit und Fasching mache – da sah er sich wieder allein, trotzdem daß er, seiner eigenen Schätzung nach, so langsam bergan gekrochen war wie ein behaglicher Schneck im sommerlichen Sonnenschauer.

»Aso geht's net weiter,« stellte er für sich fest; »Stadtfrack übereinand.« Und er beschwichtigte sich mit einer hochansehnlichen Prise des schwarzkrumigen Brisil.

Endlich kam der geistliche Herr angewatet.

»Da, nehmens den Rucksack,« befahl der Rübezahl.

Benedikt rauchte vor Anstrengung.

»Ein wenig nur ausruhen …«

»Das könnens nacher. Den Rucksack nehmens und auf den Baum dort steigens.«

»Ja, warum denn?«

»Weil ich Ihnen buckelkrax tragen werd.«

»Das geht doch nicht. Das könnt Ihr gar nicht.«

»Wann's der Tafern g'sagt hat.«

»Aber das könnt Ihr doch gar nicht.«

Der Wildmensch lachte in seinen vereisten Winterbart.

»Phö. Auf ein Kälberstuck schätz ich Ihnen, ohne Geräusch und Plunzen.«

»Ich bin Euch gewiß zu schwer.«

»Den Rucksack nehmts, dann steigts aufi.«

Benedikt gehorchte. Er kam sich wie geborgen vor in der Nähe dieses Tannenmenschen. Aber der Rucksack riß ihn fast zu Boden.

»Alsdann so aa net. Hock i mi halt hin. So. Jetzten setzens Ihnen auf mein Hals.«

Ehe Benedikt widersprechen konnte, wuchs der Riese unter ihm zu Turmhöhe empor. In sanft wiegendem Paß ging es hinein in den blaugoldnen Weihnachtswald.

»Ich bin Euch gewiß zu schwer,« klagte Siebenschein.

»A woi,« knurrte der Rübezahl; »auf die Äst passens auf.«

»Ihr seid ein Riese.«

»A woi,« brummte der Wildmensch; »so a Spießhirschl, armseligs.«

»Sind wir bald beim Geisterer?«

»So in aner Stund.«

»Und wie weit habt Ihr dann noch?«

»So ane Stund.«

»Wie viele seid Ihr denn beisammen?«

»So a zehne wern mir halt sein,« beschied der Rübezahl nach längerer Überlegung.

»Was macht denn Ihr so den ganzen Abend?«

»Was mir machen? G'schichten erzählen halt. An Kaffee trinken. Schmarrn essen.«

»Besucht Ihr hie und da den Geisterer?«

»Ob mir den b'suchen? Wann ei'm was fehlt, und mir ham grad Zeit.«

»So ist der Alte ganz allein.«

»Wird woll so sein.«

»Wovon lebt er denn?«

»Mei, von was. Vom Kaffee trinken. Schmarrn essen.«

»Bin ich Euch nicht zu schwer?«

»A woi. Gspür i net.«

»Ihr werdet aber doch nicht aushalten bis zum Geisterer.«

»A woi, is ja nix. Ein Stuck am Buckel, und in aner Hatz vor die G'wappelten, Kugeln um die Wascheln, Reißen aufi, abi, eini, dös is was, ja.«

»Tut Ihr denn gar so gerne wildern?«

»Zu was is denn sonst das Leben?«

»Es ist aber eine Sünde, Christoph!«

»A woi, Sünd. Grad ane Hetz is.«

»Seid Ihr verheiratet, Christoph?«

»Dös glaubst. Und wie no.«

»Habt Ihr Eure Frau gerne?«

»Dös glaubst, daß i 's gern hab.«

»Und was sagt Eure Frau dazu?«

»Wann ma auf d' Weiber hören wollt!«

»Habt Ihr Kinder?«

»Stucka drei.«

»Habt Ihr sie gerne, Eure Kinder?«

»Dös glaubst, daß i die gern hab.«

»Wenn Euch jemand Eure Kinder wegnehmen wollte?«

»Mir meine Kinder nehmen?« Der Christoph blieb mit einem Ruck stehen. »Dös gibt's ja gar net.«

»Ich sage: wenn.«

»Den derschlaget i. G'schwind aa no.«

»Seht Ihr, Christoph.«

Der Rübezahl schwieg und griff von neuem aus. Wald, Wald, blaugoldner Wintersonnenwald, flirrender Diamantenstaub, der Atemdampf des Riesen.

»Bin ich Euch noch immer nicht schwer, Christoph?«

»A woi. Aber wie meint dös der Hochwürn?«

»Ich meine: du sollst nicht stehlen.«

»Hab no nie net g'stohln.«

»Aber gewildert.«

»Dös is ganz was andres.«

»Warum?«

»Weil das – na, weil dös halt ganz was andres is.«

»Was ist es denn?«

»Mei, dös kannst net aso sagn. Dös is halt ganz was B'sondres. Da g'hört an Schneid dazu. Dös is wie's Schnupfen. Kannst's net lassen, mehr daß beißt, besser is.«

»Ist aber Diebstahl, Christoph.«

Der Rübezahl blieb abermals stehen.

»Na, wie is denn nacher dös? So ein Bratl, dös hat no jeder von die Herrn Pfarrer gern g'nommen, grad der Ihnrige.«

»Die wissen nicht, daß es gestohlenes Wild ist.«

Der Riese lachte rauh auf, daß es bis zu Benedikt hinaufschütterte.

»Und ob sie's wissen.«

»Ist aber doch Sünde.«

»Mei, na, i bet ja dabei, daß gut geht.«

»Solches Gebet hört der liebe Gott nicht.«

»Hat's do g'hört bis jetzten.«

»Weil er Euch Zeit läßt, Christoph.«

»Steht nix vom Schwarzgehn in der biblischen G'schicht, soviel daß i weiß.«

»Wenn Ihr Jäger wärt, was würdet Ihr mit einem Wilderer machen?«

»Mei, na, was? Z'sammschiaßn.«

»Warum?«

»Mei, na, weil's schon so is.«

»Und warum ist es so?«

»Was weiß i? Dös is halt aso. Seit was die Berg stehn.«

»Das ist so, weil man fremdes Eigentum achten soll, Christoph. Wenn alle Menschen fremdes Eigentum achten würden, es gäbe nie Mord und Totschlag und keine Gerichte.«

Der Wildmensch gab keine Antwort. In gleichmäßigem Schritt zwang er den Weg hinter sich. Jetzt blieb er zum dritten Male stehen.

»Bin ich Euch schwer, Christoph?«

»Grad ein bisserl verschnaufen. So, jetzten geht's wieder.«

Der Wald trat zurück, offenes Almgelände, da und dort durchstraucht, senkte sich langsam nach dem Almboden hinab.

»Dorten, den Rauch, segns? Dös is der Geisterer. Brennt Enz.«

»Ich könnte jetzt selbst gehen, Christoph.«

»A woi. Wo mirs schon sein.«

»Wie schön es hier ist.«

»Gelja.«

Nach einer Weile hub der Rübezahl von selbst an.

»Sünd? Was is denn dös überhaupts, eine Sünd? Dös hat mir no kaner so richtig g'sagt.«

»Sünde ist, was den Herrn Jesus betrübt. Den Herrn Jesus, der für uns alle am Kreuze gestorben ist.«

»Um ein Stuck mehr oder weniger oder um an Hirschen, da werd er si am End net gar viel bekümmern.«

»Nicht um den Hirsch, Christoph, aber um Euch, um jeden Menschen. Wer nicht guten Willens ist, der schlägt ihm eine neue Wunde.«

Der Wildmensch schüttelte den Kopf, daß sein vereister Bart klirrte.

»Hab ja kan schlechten Willen daderbei. Wanns an halt juckt.«

»Dann muß man die Wunde ausbrennen, Christoph.«

»Und warum derfen die anderen, und warum i net?«

»Weil es heißt: du sollst nicht stehlen.«

»Ans Stehlen, da hab i sowieso nie drauf denkt.«

»Warum wildert Ihr dann?«

»Mei, dös is halt so – dös kannst gar net sagen, wie daß dös is. Dös is wie die Liab und wie der Brisil. Kommst net auf dagegen.«

»Wenn einer Euch Eure Frau wegnehmen wollte, nur weil er sie liebt? Geradeso liebt wie ihr? Was würdet ihr tun?«

»Schädl einschlagen.« Der Riese zog mit dem Knüppelstock einen furchtbaren Hieb durch die Luft, daß er seinen Reiter fast abwarf.

»Und wenn der andere sagt, daß er nicht aufkommt dagegen?«

»Möchtn mir segn!«

»Seht Ihr. Das eine ist Sünde wie das andere. Und wenn die Versuchung noch so groß ist, die Sünde wird deshalb nicht geringer. Aber um so größer Euer Verdienst, wenn Ihr die Versuchung besiegt. Was dem Mitmenschen gehört, das soll man beschützen und heilighalten, nicht wegnehmen. Denkt immer an Eure Frau und Eure Kinder.«

Der Rübezahl schwieg. Immer näher wuchs der Hüttenrauch heran, jetzt zeigte sich zwischen Schnee und Schnee ein schmaler brauner Spalt. Wie eingesunken war die Hausung in den weißen, stummen, hoheitsvollen Bergwinter.

Der Riese setzte seinen Reiter sanft ab.

»Ich danke Euch schön, Christoph. Ihr habt gewiß schwer getragen.«

»A woi. Grad nur das letzte Stückl. Wann ma viel denken muß, dann is ma zu nix.«

»Und vergeßt nicht, Christoph: Frau und Kinder!«

»Mei, na; ja.« Der Hüne kraute sich unter die Hutkrämpe hinein. »Dös geht net so g'schwind. Dös mußt fei überschlafen und bedenken, bei der Arbeit und so. I weiß net, wie der Hochwürn dös meint mit der Sünd, daß dös dem Herrgott wehtun sollt? … Leicht, daß i amal draufkimm, dös geht halt net so g'schwind. So ane Feichten durchsägen, dös is nix, aba 's Denken, dös is das Ärgste. So was Zachs, wie's Denken, dös gibt's gar nimmer. So Sachen, dies d' net greifen kannst. Da zaxelt ma so in der Luft … Alsdann, da wärn mir halt. Und i dank dem Hochwürn halt für d' Fuhr …«

Mit unbeholfener Umständlichkeit setzte der Rübezahl sich wieder in Gang. Benedikt sah ihm eine Weile lang bewundernd nach. Jetzt, da er nur die Last des hochaufgeknäulten Rucksackes trug, schattete er nur so über die blendende Winterlandschaft hinweg, als trügen ihn die unterwürfigen Berge von Gipfel zu Gipfel. Hinter den Saumwäldern des Almbodens verschwand er, in der verkleinernden Ferne selbst anzusehen wie der Geist dieser Höhen.

Wirklich, der Geisterer hatte es schön in seiner Hochklause. Siebenschein ließ das Bild der gewaltigen Einsamkeit in sich eingehen.

Hoch droben, jenseits der verklingenden Baumgrenze, die jachen Schrofen, in der Wildpracht ihrer ehernen Nacktheit, die nicht einmal den linden Mantel des Firnes duldete; drunten, in verächtlicher Tiefe, das breite, flimmernde Tal, willig eingeschmiegt in die freundlichen Segnungen des Winterschlafes. Und rings um das Haus die einschichtigen Sturmtannen, nicht zu engem Nutzwald verbrüdert, nicht verstümmelt an Ast und Grün wie die unseligen Geschwister, die dem habgierigen Menschen einen Staat gehorsamer häßlicher Holzbürger bilden müssen: sondern frei und voll bis in ihre Tiefen hinab, wildwetterwüchsig, kühn und stark und keinem Herrn hörig als dem der Wolken und Donner und Jahreszeiten und Sterne, vielzerwühlt in tausend Föhnschlachten, geschmückt mit den harten Narben und Edelbrüchen der Helden, nicht mit dem Gebrest untertänigen Krüppeltums – rechte Gesellen des uralten Eingängers, der unterm Wiegenlied ihres Brausens wohnte.

Was war das für ein Mensch, der in dieser Ödnis auf die Ewigkeit harrte? Er mußte ein Sünder sein oder ein Heiliger, ein Enttäuschter oder Erfüllter, ein Weiser oder ein Narr.

* * *

Wiederholtem Pochen ward aufgetan.

Ein kleiner Mann stand auf der Schwelle.

»Ich weiß alles,« sagte er ohne Umstände; »komm herein.«

Benedikt gehorchte.

»Ich möcht dir sagen: geh zurück, dorthin, woher du gekommen bist,« fuhr der Alte fort; »aber der Weg ist weit, und du bist jung. So komm herein.«

Sorgfältig verschloß er der hereinnebelnden Winterkälte die Tür. Dann sah er Benedikt scharf in die Augen.

»Daß du kommen wirst, darauf hab ich schon lange gewartet. Ich hab deine Predigt auf den heiligen Christoph gehört, und deine Predigt war gut. Dann ist etwas über dich gekommen, und du hast dich beinahe verloren. Das war die fremde Frau unter der Linde. Die hat dich irr gemacht. Und jetzt haben sie dir erzählt, daß da oben in den Bergen einer wohnt, der seinen eigenen Namen nicht kennt und der Geisterer heißt. Der selten in die Kirche geht und nie zu den Sakramenten, der krankes Vieh bespricht und Zauberei treibt und im Winter tot ist. Und da hast dich aufgemacht, den Geisterer zu bekehren. Ist das wahr oder nicht?«

Der Alte sprach kurz und bestimmt. Benedikt hatte erwartet, ihn in krauser Mundart reden zu hören, wie es zur einfachen Bauerntracht des kleinen Mannes gestimmt hätte. Und nun war alles anders, und dieser seltsame Greis begrüßte ihn gleich damit, daß er seine geheimsten Gedanken, seine eigenen Wandlungen und Stimmungen erriet.

»Sie haben recht, Geisterer. In dieser Absicht bin ich gekommen.«

»Du bist jung und meinst es gut. Ich sag allen Menschen du. Du kannst mir auch du sagen, wenn du willst. Wenn du nicht willst, so laß es. Komm.«

Sie traten in die große warme Stube, empfangen von einem weißbunten Kater, der freundlich schnurrend die Beine des Herrn umstrich und dann auch dem Gaste seine Reverenz erwies. Auf der Lehne eines grobgezimmerten Stuhles blockte beschaulich ein mächtiger, schwarz schillernder Rabe, der indes keinerlei Anstalten zur Begrüßung traf, sondern dem Ankömmling zuwartend und vorsichtig abschätzend entgegensah.

»Siehst, ich bin gar nicht so einsam, wie sie drunten meinen,« sagte der Geisterer. »Setz dich, du bist müd. Da hast du einen Wacholdergeist, aufs erste. Trink nur, fürcht dich nicht. Wirst warm werden bis hinunter.«

Benedikt schüttelte sich, wie der bittere Brand in ihm hinabflammte. Aber der Alte hatte recht, das erweckte seltsame Wärme.

»So. Und nun sag mir, du junger Mensch, was willst du vom alten Geisterer?«

Siebenschein hatte sich sorgfältig vorbereitet; nun fand er kein Wort von all den schönen Einleitungen, die er beschlossen und Satz für Satz durchgeworfelt.

»Ich will dir helfen,« sagte der Geisterer. »Du denkst daran, daß die Menschen morgen Weihnacht feiern, und da tut dir der alte Mann leid, der da oben in seinen Sünden sitzt und keinen Erlöser hat und keinen Glauben und nichts. Und da hast mir einen Christbaum bringen und hast mir hundert fromme Kerzen darauf anstecken wollen. Woher ich das weiß? Weil du jung bist, weiß ich das, und weil ich deine Predigt gehört hab, weiß ich das, und weil du sonst nicht grad auf diesen Tag gekommen wärst. Weißt, ich zähl die Tage lang nicht mehr, so wenig wie die Stunden. Wenn's hell ist, ist Tag, und wenn's finster ist, ist Nacht, und wenn der Föhn geht, ist Frühling, und wenn die Hirsche schreien, ist Herbst. Aber soviel weiß ich noch, daß morgen Weihnacht ist. Und da bist gekommen, mir zu sagen: Ehre sei Gott in der Höh und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind. Ist recht, ich schick dich nicht heim. Aber was ihr da drunten einen guten Christen nennt, das versuch nicht aus mir zu machen.«

Er schlug ein dickes Buch zu, in dem er zuvor gelesen haben mochte, und stellte es zu anderen Büchern auf ein Wandbrett über der Bank.

»Ich bin gekommen, Ihnen den Frieden zu bringen, Geisterer,« begann Benedikt, »den Frieden des guten Willens.«

»Ist nicht wahr,« widersprach der Alte bestimmt. »Du bist gekommen, mir den Frieden zu nehmen.«

»Das will ich gewiß nicht,« versicherte Benedikt.

»Ich weiß, daß du es nicht willst. Aber du möchtest mich bekehren. Nimm eine Säge und säge der großen Tanne da draußen alle ihre Äste ab bis zum Wipfel hinauf. Meinst, daß du ihr damit den Frieden bringst? Den Tod bringst du ihr. Fang einen Hirsch ein, einen alten, starken Hirsch, und sperr ihn in einen Stall. Meinst, daß du ihm den Frieden bringst? Den Tod bringst ihm. Sperr ihn zu deinen Kühen. Meinst, daß er davon zahm wird wie sie? Umbringen wird er sie. Also laß mich in Frieden.«

»Aber ein Christ sind Sie doch, Geisterer, und ein Katholik?«

»Ich weiß nicht, was ihr heutzutage einen Christen nennt,« sagte der alte Mann ruhig; »ich weiß nicht, wo bei euch das Christentum anfangt und wo es aufhört. Darum weiß ich auch nicht, ob ich ein Christ bin.«

»Es gibt gute und schlechte Christen,« belehrte Benedikt freundlich; »es gibt viele, die den Ehrennamen Christi nicht verdienen. Aber aus einem noch so schlechten Christen kann durch Gottes Gnade immer wieder ein guter Christ werden. Es ist nie zu spät.«

»Schon recht. Aber was ist ein guter Christ?«

Siebenschein seufzte.

»Das weiß freilich Gott allein.«

Der Alte nickte.

»Du bist jung, darum sagst du so. Wart, bis du älter bist und böser. Dann wirst du wissen, was ein guter Christ ist. Viel besser als Gott wirst du es wissen. Ist der bei euch ein guter Christ, der Gutes tut?«

Benedikt schüttelte den Kopf.

»Das ist noch nicht genug. Beim rechten Glauben muß alles anfangen und enden. Alles muß im rechten Glauben geschehen. Aus ihm heraus und um Gottes willen. Wirklich gut ist nur die Handlung, die in Liebe zu Gott und im Stande der heiligenden Gnade geschieht.«

»Dann fehlt's bei mir, siehst du,« sagte der Geisterer; »was ist jetzt der rechte Glaube bei euch, was ist bei euch Gott? Und was ist das, heiligende Gnade? … Brauchst mir nichts zu erklären. Dazu ist der Tag zu kurz und das Jahr erst recht. Und bekehren wirst den Geisterer doch nicht damit. Dafür ist's für mich zu spät und für dich zu früh.«

»Es ist nie zu spät,« rief Benedikt in aufstrahlender Wärme; »zu spät ist es nie! Gottes Güte und Barmherzigkeit sind unermeßlich!«

»Nicht darum. Aber ich brauch das nimmer, schau. Ich bin schon dort.«

»Nein, nein, Geisterer. Sagen Sie das nicht. Es ist kein Licht außer dem rechten Glauben und der Liebe zu Gott und der Gnade. Kommen Sie, es ist kein schwerer Schritt.«

»Du junger Mensch. Ich seh in dich hinein. Ich seh, du willst mir geben. Du willst nicht mich haben, sondern dein Gott soll mich haben. Aber wart, bis du älter bist und böser. Dann wirst du gehen, für dich zu fangen und nicht für deinen Gott. Denn so ist's, daß ihr aus Glaube und Gott ein Mittel gemacht habt. Das alles brauch ich nicht, schau. Laß du mir ruhig meine Einsam, und sei froh, daß ich sie hab. Kümmer dich nicht um mich und geh hinunter zu denen, die im Tal wohnen.«

»Unsere katholische Kirche hat Raum für alle, Geisterer. Auch für Sie. Der Glaube entwürdigt keinen, und der Gnade ist jeder bedürftig … Nämlich …« Er blieb vor einer Frage stehen.

Der Alte sah ihm scharf in die Augen.

»Frag nur ruhig, tust mir nicht weh. Du hast jetzt fragen wollen, ob ich ein Katholik bin oder ein Lutheraner oder vielleicht gar ein Jud.«

»Es wäre ja möglich – ich möchte Sie natürlich nicht verletzen,« antwortete Benedikt.

»Ach was, verletzen! Schau, Katholik, Lutheraner, Jud: alles Namen. Das ist tief, tief drunten, weit weg. Dort, wo ich bin, da gibt's keine Katholiken mehr und keine Lutheraner und keine Juden. Ist ja doch alles nur Einbildung, damit daß die Zeit vergeht. So seid ihr da drunten.«

Siebenschein geriet in Eifer.

»Aber eine Religion muß der Mensch haben. Keine Religion haben, das ist wider die Natur.«

»Weiß nicht, was ihr da drunten Religion nennt,« entgegnete der Alte. Sein runzliger Finger zog seltsame Runen über die weißgescheuerte Tischplatte. »Ist doch nur alles Namen und Einteilung für die Zeit. Geh in die Nacht hinaus und schau zu den Sternen hinauf und sag die zwei Worte: katholisch, lutherisch – oder sag meinetwegen Jesus Christus und Jungfrau Maria. Und wird dir vor den Sternen alles so klein vorkommen, daß du dich schämst.«

»So glauben Sie nicht einmal an den Heiland,« fragte Benedikt tieferregt – »nicht einmal an den Heiland? Nicht einmal an den Gekreuzigten und sein Werk?«

Der Geisterer forschte ihn ruhevoll an.

»Was fragst du, wenn du vor mir erschrickst? Jesus Christus – er war gut wie nur einer. Er war rein und treu. Aber laßt doch ihr Jesus Christus zufrieden. Oder macht ihr es vielleicht diesem guten Jesus Christus nach, mit dem, was ihr tut? Ihr habt einen anderen als den, der wirklich gewesen ist.«

Benedikt schwieg eine Weile vor sich hin. Der große rote Kater schmeichelte sich ihm an, und auch der Rabe rückte auf der Bank näher, wie um den Gast des Genaueren zu besichtigen.

»Glauben Sie denn nicht an Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn, der für uns gelitten hat und am Kreuze gestorben ist?«

»Er wär der Einzige, dem ich glaubte.«

»Sie haben nicht einmal sein Zeichen in Ihrer Stube,« sagte der junge Priester vorwurfsvoll.

»Wer das Zeichen nicht im Herzen hat, dem hilft's nicht an der Wand.«

»Und seine Auferstehung, seine Himmelfahrt? Gibt es für Sie denn nichts, woran Sie von Herzen glauben?«

»Dieses Wort: glauben!« zürnte der Alte; »das ist ein schlimmes Wort. Was nennst du: glauben? Ist bei dir Glauben Hoffen, oder ist's Wissen, oder Lieben oder Lügen?«

»Glauben – Glauben ist festes Fürwahrhalten!«

»Da sind wir beisammen. Also schau, was Zungen reden, Menschenzungen, das halt ich schon einmal nicht für wahr.«

»Gott hat sich durch Moses und die Propheten, durch seinen eingeborenen Sohn Jesum Christum und durch die von Christo ausgesendeten Apostel offenbart.«

»Sag das nur denen, die es brauchen. Die du brauchst und die dich brauchen. Aber nicht mir. Sonst muß ich dich fragen: hast du Gott gefragt?«

»Gott lügt nicht, Geisterer.«

»Das tut er nicht. Denn er redet nicht durch des Menschen Zunge. Schau, das alles kommt vom Menschen. Und was die sagen, halt ich nicht für wahr.«

»So ist Ihnen die Offenbarung nichts? Die Heilige Schrift nichts? Das Evangelium nichts?«

»Laß die alten Judenbücher. Laß alle Bücher. Was Bücher sagen, halt ich nicht für wahr. Und am wenigsten, wo sie von Gott reden.«

»Ja aber, was halten Sie denn für wahr? Nur was Sie sehen, hören, fühlen? … Ist denn das nicht trostlos?«

»Weiß nicht, ob friedlich leben und ruhig sterben trostlos ist.«

»Leben ohne ewiges Leben wäre furchtbar trostlos, wäre nur Tod. Wäre nichts, nur Finsternis und Qual.«

»Sag das denen da drunten, die es brauchen. Aber nicht mir. Leben! Leben hört nimmer auf, Leben, wohin du schaust. Was kann einen da bekümmern?«

»Die Seele, Geisterer, die Seele! Das ewige Leben der Seele!«

»Was willst du mit der Seele? Die Seele hört nimmer auf, Seele, wohin du schaust, wenn du's nur begreifst. Eins geht ins andere, auf und ab, wozu Himmel und Hölle? Das brauchen nur die, die in dicken Haufen da drunten wohnen. Das braucht ihr in den Tälern. Aber ich hier auf der Höh, ich brauch's nicht. Ich bin allein mit den Sternen und dem Sturm, und die lügen nicht.«

»Stürme und Sterne, alles kommt von Gott,« sagte Benedikt eindringlich; »und je gewaltiger der Sturm, je ferner und größer und unzählbarer die Sterne, desto größer und unfaßbarer auch Gott!«

»Wenn du das weißt, warum willst du Gott dann klein machen? Warum willst du ihn einsperren? Warum machst denn einen Polizisten aus ihm, einen Gendarm oder Bezirksrichter oder ein Steueramt? Sag, daß es für die da drunten notwendig ist, die auf dem Haufen wohnen, damit sie sich nicht gegenseitig auffressen – aber sag nicht, daß es wahr ist.«

»Gebt Gott, was Gottes ist, steht im Evangelium,« mahnte Siebenschein. »Wenn die Menschen sich nicht um den Altar zusammenfinden und ordnen, wie sollen sie einander in Gott lieben?«

»Du redst von denen da drunten. Immer nur von denen. Was gehen mich die an? … Was geht den Hirsch der Stall an? … Altar! … Ich sage dir: geh vors Haus in der tiefen Nacht und schau hinauf. Und wenn es dir wirklich um Gott zu tun ist, so wirst in die Berge gehen wie ich oder in die Wüste oder sonst in die große Einsam. Wenn es dir aber um die Wirtschaft zu tun ist und um die tägliche Milch, dann bleib im Stall bei deinen Kühen, und predig ihnen, daß die Kette gerad so vom lieben Gott kommt wie der Klee, und daß sie dir melken müssen, weil's so offenbart ist.«

Siebenschein atmete auf.

»Geisterer, aus Ihnen spricht nicht der Friede eines Menschen, der in der Einsamkeit seinen Gott gefunden hat. Aus Ihnen spricht eine tiefe Verbitterung. Sie müssen Schweres erlebt haben.«

»Das sagst du, weil du meinst, ich wär wie du. Aber schau, ich bin nur immer weitergegangen. Wie man auf einen hohen Berg geht, durch Wald und Wetter, bis alles unter einem bleibt.«

»Aber einmal, Geisterer, einmal müssen Sie doch gläubig gewesen sein!« Benedikt fühlte sich aufschmelzen, der Eifer glühte ihm in die Worte hinein. »Einmal, in den Jahren Ihrer Kindheit? Haben Sie denn nicht bisweilen Heimweh nach dem Glauben Ihrer glücklichen Kinderjahre? Wissen Sie nicht mehr, wie Sie als Kind sich selig und geborgen gefühlt haben in des großen Vaters warmer Nähe? Entsinnen Sie sich nicht mehr des Tages Ihrer ersten Beichte? Ihrer ersten heiligen Kommunion? Der holden Weihe, der Andacht, der süßen bangen Stimmung dieser Feste? … Haben Sie nicht mitunter heißes, tränenheißes Heimweh nach diesen Gärten? … Kommen Sie doch zurück zu uns, kommen Sie! … Machen Sie Ihr Herz auf, heute, morgen, in der heiligen Nacht! … Kommen Sie und kehren Sie zurück! … Erleichtern Sie sich, lassen Sie alles aus sich herausschmelzen, alles Eis, den ganzen Winter Ihres Lebens! … O, lassen Sie mich reden! Lassen Sie mich bitten! … Kommen Sie doch zurück zu uns in die Wärme, in das Licht, in das ewige Licht! Kommen Sie zu uns Menschen, zu Ihren Brüdern – an unsere Tische, zu unserem Brot, zu unserem Wein, zu unseren Altären! … Kommen Sie, gießen Sie sich aus, ins Licht hinein, in den Himmel hinein, und Sie werden die große, erschütternde Gnade an sich erleben. Morgen ist heilige Nacht. Morgen steht der Stern über uns allen. Es muß Ihnen doch grauen vor der Kälte Ihrer Einsamkeit. Kommen Sie in die Täler der Kinder Gottes!« Er streckte dem Alten beide Hände hin; die hellen Tränen brannten an seinen heißen Wangen herab. »Christus wartet auf Sie – mit offenen, mit bereiten Armen, wie ich!«

Der Geisterer ergriff die Hände des jungen Geistlichen und umschloß sie warm in den seinen. Um seinen eingerunzelten Mund spielte der Widerschein eines fernen Lächelns.

»Ich spür dein Herz da drin,« sagte er langsam; »und ist ein gutes Herz, das weiß ich seit Anfang. Aber schau, du junger Mensch, wir stehn nicht auf gleich, du und ich. Du gibst mir dein ganzes Herz, und ich kann dir das meine nicht in die Hände legen. Es wär dir zu schwer und du tätst dich dran verbrennen. Und siehst, das darfst von mir nicht verlangen, daß ich den Weg zurück mach, vom Licht in den Schatten hinunter. Von seinem letzten Berg geht keiner mehr ins Tal. Ich schau euch zu aus meiner Einsam und denk mir das meine, und manchmal freu ich mich über euch, und manchmal tut ihr mir leid. Und manchmal bin ich zornig auf euch, daß ich die Sonne auslöschen könnt, die euch bescheint. Weil ihr gar so unvernünftig und kurz seid, ihr da drunten. Aber dann geht auch das vorüber, wie alles. Ich hör meinen Sturm durch die Bäume gehn und ich seh meine Sterne im Himmel, und dann kommt mir alles so klein vor, so armselig. Wenn ich euch das nur geben könnt, ihr wärt besser dran. Aber euch ist nichts zu geben. Was man euch da drunten gibt, ihr macht eine Sucht draus oder eine Zucht.«

Er brach ab.

Benedikt sammelte sein Letztes.

»Wenn ich Euch nur sagen könnt, Geisterer, wie es mich verlangt, Sie den Weg zur Gnade zu führen.«

»Ich hab sie, die Gnade, was willst du noch?«

»Das ist nicht die rechte Gnade. Sie wissen nicht, was Sie zurückweisen! Sie haben sich hier oben bei einsamen Gedanken verhärtet. Sie haben sich in eine Stimmung hineinverbittert, die Sie nicht glücklich machen kann.«

»Kennst mich denn so gut, daß du weißt, was mich glücklich macht?«

»Ich höre es aus jedem Wort heraus, Geisterer. Sie glauben ja selbst nichts von dem, was Sie sagen. Sie glauben doch selbst nicht daran, daß dieser eisige Zweifel besser ist als die erlösende Inbrunst der Hingabe. Sie glauben doch selbst nicht an die vermessene Höhe, mit der Sie prahlen! Sehen Sie, Geisterer – die Menschen mit ihren Fehlern haben Ihnen vielleicht sehr wehe getan. Sie sind an der irdischen Gerechtigkeit irre geworden und Sie haben in sündhaftem Kleinmut auch an der himmlischen Gerechtigkeit verzweifelt. Sie haben sich aus herben Schicksalen einen bitteren Glauben gewonnen, der kein Glaube ist, sondern Verirrung und Trotz. Wir sollen alles Irdische verachten und das Ewige suchen, mit allen unseren Worten und Handlungen. Aber wir sollen auch unseren Feinden verzeihen und Menschen unter Menschen sein, den Nächsten lieben und heilig halten. Wir sollen alle Brüder sein in Gott. Dazu hat Gott uns erschaffen, daß wir ihm dienen mit dem, was er uns gegeben hat, und daß wir uns zu den ewigen Freuden bereiten, die er uns verheißt. Verzweifeln Sie doch nicht an Gottes Gerechtigkeit und Güte! Was immer Ihnen im Leben begegnet sein mag, daß Sie nun die Menschen fliehen und ihnen fluchen und hier in den öden Bergen einen Frieden suchen, der kein Friede ist, sondern bittere Hoffart – Gott hat die Prüfungen auf Ihre Schultern gelegt, weil er Sie würdig und stark fand, durch diese Prüfungen zu den höchsten Seligkeiten einzugehen. Und denken Sie an die letzte Stunde – wenn der Tod unter der Türe steht und Sie sehen im letzten Schrecken das verlorene Paradies, und es ist zu spät, unwiederbringlich verloren! … Kommen Sie, kommen Sie, machen Sie Ihren Frieden mit Gott, daß auch er seinen Frieden macht mit Ihnen! Kommen Sie in unser Haus, in unsere Kirche, zu Ihren Brüdern – und der Friede wird Ihnen werden, der denen verheißen ist, die guten Willens sind.«

Der Alte antwortete nicht sogleich. Benedikt sah, wie er seinen scharfen, unerforschlich forschenden Blick tief in den seinen tauchte, als schaute er durch ihn hindurch in unermeßliche Fernen. Aus dem leisatmenden Schweigen wuchsen deutlich die kleinen Alltagsstimmen der Stube hervor. Der Ofen brodelte, der weißrote Kater schnurrte, der Rabe kraute sich umständlich unter den Flügeln. Eben fand der Sonnenstrom einen Weg über die schmelzblaue Schneemauer, die vor den kleinen Fenstern stand. Ein verlorenes Spinnwebgarn trieb silbern durch die aufleuchtende Millionenstraße der zarten Flimmerstäubchen. Die blendende Flut ergoß sich gerade über den Kopf des alten Mannes, daß in seinem weißen Haar geheimnisvolle Flammen sich entzündeten und ein goldener Lodersaum sein Antlitz mit feuriger Verklärung umbrämte.

Jetzt begann der Geisterer. Er sprach bedächtig, und seine Worte fielen schwer.

»Du junger, guter Mensch. Wie soll ich dir's sagen, daß du mich verstehst? Du bist so jung und ich bin so alt. Geh hin und predige den Bergen, daß sie wieder in die Täler hinuntersinken, aus denen sie heraufgewachsen sind. Meinst du, sie werden dir folgen? Geh hin und befiehl dem alten, harten Stein, er soll sich erweichen, damit daß du ihn pflügen kannst wie gefügige Erde. Geh und sag dem Kristall, er soll zu Wachs werden, damit daß du ihn nach deinem Willen knetest. Oder befiehl dem Wetterbaum, er soll wieder Moos werden, damit daß er kleiner ist als du! … So kannst mich nicht mehr in die Schule zu den Kindern setzen, siehst. Es müssen immer welche sein, die stehenbleiben und alt werden. Von denen fangt alles wieder neu an, und so geht eins ins andere von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ich schau das aus meiner Höh, aber ich bin allein. Darum kann ich's keinem erklären, weil nur der es versteht, der's selber sieht. Ihr da drunten meint, es wär was für immer und bildet euch weiß Gott was ein, und dauert nicht länger als ein Schwefelholz, das man brennend kaum von einer Tür zur anderen bringt, nicht zu reden vom ganzen Haus. Und das Schwefelholz selber kommt sich auch schrecklich wichtig vor und meint vielleicht, es wär die Sonne, weil die Staubkrümel da, die durchs Licht ziehen, noch weniger lang währen. So geht's von oben nach unten, von unten nach oben, wer weiß wie hoch und wie tief! … Siehst, das schau ich alles aus meiner Höh, das Staubkrümel und euch da drunten und die Sterne und was über den Sternen sein mag. Und wenn einer das hat, so hat er Heiligkeit genug, und man soll ihm nicht eine Spielerei geben wollen für Gott. Ihr da drunten, ja, ihr braucht eure Spielereien, einmal solche, einmal solche, einmal solche, damit ihr Ruh gebt. Aber es sind doch bloß Spielereien, und ihr müßt nicht meinen, daß die Alten auch Kinder sind, wenn sie euch in eurer Kinderstube ein wenig besuchen und euren Balgereien zusehn. Ihr glaubt freilich, daß eure Kinderstub mit ihren kleinen Kirchen und Soldaten und Meierhöfen die Hauptsach ist. Das glauben die Kinder immer, und darum sind sie Kinder. Nur müßt ihr dann nicht wollen, daß die Alten das alles für Ernst nehmen. Müßt nicht meinen, daß wir mit euch da drunten spielen, weil wir selbst Freud hätten an euren Schachteln und Kirchen und Soldaten und Meierhöfen, und daß wir das für wahrhaftig nehmen. Wir tun das manchmal, weil wir unseren Spaß haben an eurem komischen Ernst. Jetzt steht noch alles, da die Kirchen, da die Soldaten, dort die Meierhöf, die ganze Welt – und auf einmal kommt die Stund, und die Uhr schlagt, und die Sachen kommen in ihre Schachtel, und gute Nacht! … Darum laßt uns die Nacht, von der ihr nichts wißt, ihr Kleinen – die Nacht, die Sterne, den Sturm, das Feuer, das Wasser, die Ewigkeit und was noch drüber hinaus ist. Und siehst, wenn man einmal den Kleinen so zuschaut aus seinem Altersstuhl, dann ist Gott nimmer weit, und man braucht sich vor nichts zu fürchten, vor dem Tod am allerwenigsten. Sagst ja selber, man soll das Irdische lassen und das Ewige suchen! Das tu ich, was willst mich in die Zeit zurückholen? Das ist eine ganz besondre Heiligkeit, wenn man einmal weiß, es kann einem nichts mehr geschehen und alles, alles bleibt unter einem wie der Nebel. Vielleicht, daß du auch einmal so weit kommst, fragt sich nur, wie du's anwendst. Und das laß mein letztes Wort sein.«

Siebenschein blickte vor sich nieder. Die Stimme des Alten verbot jeden weiteren Versuch. Er erhob sich.

»Dann will ich nicht mehr in Sie dringen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich eingelassen und angehört haben. Ich will Sie nicht länger belästigen.«

Die magere Hand des Greises wehrte ihm.

»Bleib nur sitzen. Sind wir deswegen Feinde? Ungespeist wirst nicht von hier gehn.«

Er stand auf und machte sich in der braunverrauchten Stube zu schaffen. Aus einem kleinen rohverschnitzten Wandschrank holte er einen Laib Brot, den legte er vor seinen Gast hin auf sauberen Tisch. Dann ging er hinaus, und Siebenschein vernahm, wie er in einer anliegenden Kammer herumkramte.

Inzwischen schloß Benedikt Freundschaft mit dem großen Raben, der auf der Bank näher rückte und den Fremdling erwartungsvoll ansah. Ein Krümchen Brot wurde artig entgegengenommen, und auch der eifersüchtige Kater erhielt eine Gabe. Der Alte schien sich in seinen langen Winternächten mit Büchern zu beschäftigen. Es war eine ganz verwunderliche Bändereihe, die da droben auf dem Brette stand, Werke, deren Äußeres schon jede Verwandtschaft mit Kalendern oder Erbauungsschriften bestritt, gründlich zerlesen und altvernutzt, aber frei von Staub und Spinnweb, wie der ganze einfache Hausrat des seltsamen Mannes. Benedikt verspürte ein starkes Gelüst, die erblindeten und verrosteten Titelpressungen der Bücherrücken näher zu untersuchen, aber da trat der Geisterer wieder ein, Flasche und Glas in den Händen.

»Ah, du hast nachschauen wollen, was der Alte liest!« Er setzte die bauchige Flasche auf den Tisch, dazu das edle, breitauskelchende Glas. Im Stich des Sonnenstrahls spiegelte der gralrote Wein. »Das kann ich dir gleich sagen. Zwei Bände sind Erdbeschreibung. Das dicke Buch dort, das ist über die Sterne. Die vier gleichen Bände da, das ist, was ihr so Weltgeschichte nennt. Das hier, das Buch von den Geheimnissen der Kräfte und Säfte. Das dort ist ein Pflanzenbuch. Die zwei alten Bücher, die erzählen von den Tieren. Dieses besonders dicke Hauptbuch, das handelt vom Menschen, vom inwendigen und auswendigen. Und dann sind noch ein paar Bücher von Menschen da, denen ich traue, daß sie weniger gelogen haben wie die meisten. Bist zufrieden?«

Siebenschein nickte.

»Ich wundere mich nur … Nämlich, das habe ich nicht erwartet.«

»So, du wunderst dich. Schau, das gefallt mir von dir, daß du die Wahrheit sagst. Hast gemeint, der Geisterer, das ist so ein alter Einschicht, der nichts versteht als Geist brennen und Wurzeln graben? Tu ich auch, Geist brennen und Wurzeln graben. Das gehört dazu, schau. Aber jetzt haben die Bücher viel Ruh vor mir, jetzt bin ich fertig mit der Ernte. Ja. Möchtest dich überhaupt über manches stark verwundern, Kleiner. Aber jetzt iß und trink. Und dann geh. Ist nicht viel, was ich dir zu geben hab. Aber Brot und Wein, das ist das Einfachste und Reinste. Schand denen, die es fälschen.«

Benedikt gehorchte, mehr um den Alten nicht zu kränken, denn aus Bedürfnis.

Der Geisterer sah ihm gemächlich zu.

»Wer backt denn Ihnen das Brot?« fragte Siebenschein.

»Ich selbst.«

»Sie machen sich alles selbst?«

»Freilich. Das ist ja das Schöne. Nur das Holz, das spalten und schlichten mir die Holzknecht im Herbst. Hat ja Sankt Gall auch seinen Bären gehabt. Aber sonst schaff ich mir alles allein. So vergeht ein Winter um den anderen, man merkt gar nicht, wie alt man wird. Man meint, es ist immer dasselbe Jahr.«

»Und im Sommer?«

»Im Sommer? Im Sommer, da samml ich Kraut und Wurz für euch Menschen da drunten, für eure Arzneien und Gifte. Und für mich selber samml ich auch, andre Sachen. Und im Winter, jetzt, da wird alles zu Geist gebrannt, und was keinen Geist in sich hat, das verfliegt. So geht's auf und nieder, Herbst ein, Frühling aus, immer derselbe Sturm, immer dieselben Wolken, immer die gleichen Sterne am gleichen Tag. Und rücken doch von der Stell, aber wir merken's nicht, schau. Gestern, war da nicht Sonnwend? Jetzt steigt's wieder hinauf.«

»Die große, die echte Sonnwende ist erst morgen,« sagte Siebenschein betrübt. Er sprang ab. »Aber Sie verstehen sich ja selbst auf Arznei und ihre Anwendung? Die Leute rühmen Ihnen glückliche Kuren nach.«

»Heutzutag, nein, da versteh ich mich bald nicht mehr auf Arznei.« Der Alte stützte den weißen Kopf weit in den Tisch hinein. »Ihr Kinder da drunten habt schon gar keine Geduld mehr, wollt nicht von der Wurzel her genesen, sondern nur ober Erden geflickt sein. Wollt alles in einer Stunde, da kann kein Saft heilen. Wollt lieber was Fremdes in der Wunde als daß ihr von Grund aus gesund werdet. Darum seid ihr auch ganz verlöchert um und um.«

»Und Sie sehen den ganzen Winter über keinen Menschen? Ist denn das zu ertragen, diese furchtbare Einsamkeit, keine Stimme, kein Gesicht, keine freundliche Hand?«

»Ah geh!« Der Geisterer winkte verächtlich ab. »Furchtbar! Furchtbar ist das enge Zusammenleben mit den Stimmen und Gesichtern und Händen. Das ist furchtbar, ja. Manchmal kommt ein Holzknecht zu mir, wenn's Pflaster braucht oder Geist. Aber das sind Leut, die nicht viel reden, sind still wie die alten Arven. Und dann hab ich ja meinen Kater und den Raben da, schau, was die mir alles erzählen, das geht nicht in hundert Bücher.«

»Ich bin Ihnen also wohl sehr beschwerlich gefallen?« fragte Benedikt.

»Sei ruhig. Dann hätt ich dir's schon gesagt. Erzähl mir, du, wie du heißt.«

Siebenschein nannte errötend seinen Namen.

»Benedikt, guter Name,« sinnierte der Alte; »Siebenschein, den Namen kenn ich auch, weiß nicht mehr, woher. Ist mir viel durch die Finger gelaufen, die Jahr lang. Weißt, ich hab immer gewußt, du kommst einen Tag.«

»Woher? Ich habe mich erst gestern dazu entschlossen.«

»Aus deiner Predigt. Die ist dir von innen gekommen, und solche Menschen wollen überall hin mit ihrem Licht. Darum nimm dich in acht. Solche Menschen, die ihr Licht offen tragen, die sind allerwegs in Gefahr. Schlagt ihnen der Sturm entgegen, wirft er das Licht auf sie zurück, daß es sie lichterloh ansteckt und sie verbrennen. Ist mein guter Rat, nimm ihn, wenn du willst … So. Und jetzt kannst gehen. Und grüß mir drunten die Kinderstuben.«

»Ich gehe schweren Herzens, Geisterer.«

Der alte Mann nickte ihm ermutigend zu.

»So bleib oben! Dann wird dir das Herz bald leicht werden.«

Benedikt lächelte wehmütig.

»Ich kann nicht, und ich darf nicht. Meine Wohnung und mein Garten sind drunten, bei den Menschen im Tal.«

»Ja, so. Dann bist du noch lang nicht reif. Dann geh nur wieder hinunter und spiel mit den Kleinen. Ist ja für viele das Beste, für die meisten! Ja, du junger Mensch, schau mich nur an. Vielleicht wird dir auch einmal die Kinderstube mit der Rute und dem gemalten Himmel zu eng. Dann denk an mich und geh in die Nacht hinaus, und schau in die Sterne, und du bist frei. So. Das geb ich dir auf den Weg mit.«

»Aber ich lasse Ihnen nichts hier, Geisterer,« sagte Benedikt bewegt; »nichts, nicht einmal einen Funken. Und ich war voll Hoffnung.«

Der Greis klopfte ihm freundlich auf die Schulter.

»Etwas laßt mir doch hier, Kleiner. Daß ich weiß, daß es auch gute Kinder gibt. Man vergißt's mit den Jahren, wenn man so zusieht, wie ihr euch die Spielereien zerbrecht. Und wenn du dem Doktor begegnest, den laß ich grüßen, der ist unterwegs. Tut mir leid um dich, daß du dich jetzt so mühen mußt. Aber schau, du hast dich da herauf verstiegen, so find jetzt deinen Weg. Du bist schon so einer, der sich versteigen muß. Sehen werden wir uns wohl nicht wieder. So leb wohl.«

Benedikt hörte, wie der Alte die Türe von innen verriegelte. Dann stand er allein im Bergwinterabend, allein unter den späten Goldfackeln der Tannen und den blauen Schatten der Abgründe.


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