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III.

Viel Redens ging um über den Neuen, auf und ab durch die Pfarre.

»Wie ein Licht, ehdaß no recht anbrennt,« hatte zur Leichenfrau die Hartbäuerin geseufzt; »wie ein Licht, ehdaß no recht scheint, akkurat so kommt er mir vor. So zärtlich und fürchtig, die Tür wenn'st aufmachst, gleich is aus.«

Die grauhaarige Totenpackerin lachte unheimlich in sich hinein, und ihr Kopf wackelte.

»Viel Sprüch im Mund und blühweiß die Seel, wird noch viel Wind drübergehn. Was weiß so einer, wie voll Sucht daß das Leben is und wie einfach.«

Und der junge Bauer hatte bedächtig ausgespuckt zum Gemunkel der Altweiber.

»Was ihr schon wollt's. Als a fertig's Brot is seiner Lebtag kein Weizen g'wachsen. Na alsdann. Meß lesen und das Schaueramt und Beicht hören und die Toten in die Erden segnen und grad noch die Predigt am Sonntag … Wann er das in Ordnung verricht, mehr braucht's eh net. Is ja noch der liebe Herrgott da mit seine Heiligen, das is die Hauptsach, die richten's.«

»Da hast recht, Bauer,« sagte der alte Geisterer, der Wurzler und Bergsiedel, der just auf die Klag zusprach; »da hast recht, Bauer, aber weißt, denen der Herrgott zu groß is, der wahre Herrgott, die tun sich halt an kleineren aufstellen, und der muß sein, wie das ihnen recht is und in ihre Kirchen paßt, daß er net am End oben beim Dach herauswachst. So is g'wesen seit was i denk, und das is lang, aus der Höh sixt das alls unter deiner wie die Mehlwürmer im Topf.«

»Heid, alter,« schalt die Totenpackerin; »wo hast denn du überhaupt's deine Kirchen und dein Herrgott, hä?«

Der Geisterer kicherte.

»Und wenn i dir's saget, findst eh net den Weg dahinauf. Hat jeder die Kirchen, die er dergeht, sixt.«

»Von der Sorten bist wie der Doktor,« sagte die Leichenfrau giftig; »von der nämlichen Sorten, das kennt man eh. Von dem hört man eh aa schon so manchigs.«

»Geh,« machte der Alte gelassen; »was du net alls weißt. Könntst g'scheiter sein mit deine Jahr und wost mit so viele stille Leut hast zu tun g'habt … Na ja, könnt sein, daß dieselbe Sorten is, daß der seine Kirchen in der hohen Einsam hat irgendwo … s'God mitnand.«

Und mit kurzem Kopfnicken schob sich der Geisterer zur Türe hinaus.

»Der Doktor, der wär schon der rechte,« entschied der junge Hartbauer nach einer Weile; »bloß aufs Gnadenbild und den Heiligen wann er net so g'hassig wär. Aber a Leutmensch is er schon, der Doktor.«

Wie bekräftigend ließ er die Schwielenhand auf die Tischplatte fallen. Was er befand, das galt jetzt unter diesem Dache.

»Zum Sterben braucht's kan Doktor net,« murrte die Leichenfrau; »eh alls Lug und Sünd, eine giftige G'sundheit, die net vom lieben Herrgott kommt, da is kan Segen dabei. Na, und zuletzt, gegen's Sterben is der Tod das beste Kräutl.«

»Da mußt dich schon beim Gnadenbild und beim Heiligen drunten beschweren,« riet ihr der Hartbauer; »die ham maniche Ketten eing'hakt, wann's Fuhrwerk schon auf deiner zu gangen is.«

Die Totenpackerin schoß aus ihren rotwässrigen Augen einen bösen Blick nach dem Spötter. Dann schlurfte sie hinüber nach der Leichenstube, Wacht zu halten mit den brennenden Lichtern.

Doch war dies Haus der Trauer keineswegs das einzige, darin vom neuen Gewächslein ein Pröbchen gemahlen und auf die Wage gelegt wurde.

Einen Neuen ausgiebig zu diskutieren, das war jedes Pfarrbürgers gutes Recht, seine Pflicht sogar; denn eines so verantwortlichen Amtes Träger auf Korn und Wurzel zu prüfen, lag ersichtlich im Interesse des Gemeinwohles, ganz abgesehen von den privaten Genüssen solcher Zungenweide.

»Ausschauen tut er wie ein Heiliger,« priesen etliche fromme Matronen vom dritten Orden Sankti Francisci; »wär mir lieber, schauet aus wie ein g'standener Mann,« brummte der Haselbauer, der sich seit einiger Zeit in scharfer Opposition zu den Grundsätzen der Geistlichkeit befand, hauptsächlich infolge einer durch das Übergewicht des Pfarrers bewirkten Niederlage, die er im Gemeinderate erlitten; »das sein solchene Wölkeln, die wo Regen bringen,« warnte der Aigner, den das allzu heiße Fegfeuer seiner Ehe vorzeitig zum Spekulierer und Menschenkenner gemacht hatte; »ein Geistler wie auf dem Bildl,« schwärmte Alois Buchleitner, unter allen Betern des Kirchspiels der augenfälligste, mit Bezugnahme auf einen im Laufe der Jahre stark verdunkelten Öldruck, das Hauptstück seines Herrgottswinkels, darstellend den von ihm besonders verehrten Namenspatron und Lilienjüngling von Gonzaga; »ein jeds Wörtl von der heiligen Meß spricht er noch so extra und pünktlich aus,« äußerte Christoph Licht, der Meßner, eine im Fache durchaus maßgebliche Autorität; »so extra und punktgenau, als müßt er's im lieben Gott seiner Schul aufsagen – aba das gibt si schon.«

Erregte nun schon die nicht ganz landesübliche Erscheinung Benedikts einiges Aufsehen, da sie von den hergebrachten Bildern zwar zehrsüchtiger und aufbesserungsbedürftiger, trotz aller Schattenhaftigkeit aber doch nicht eigentlich seraphischer Kapläne wesentlich abwich, so steigerte sich dieses mehr oder minder mitleidige Staunen zu unverhohlener Verwunderung, als Siebenschein am Judikasonntag zum ersten Male als Prediger vor die Unzinger Öffentlichkeit trat: mit einer selbstverfaßten und selbstempfundenen Predigt obendrein, die er vorsichtshalber seinem Pfarrherrn zur Begutachtung vorgelegt hatte, nicht so sehr aus Unsicherheit denn vielmehr im Bestreben, nach jeder Seite die schuldige Rücksicht zu wahren. Und Hochwürden Permoser war mit dem Texte leidlich zufrieden gewesen, bis auf seine, wie er es mit gröberen Worten sagte, allzu erdferne Höhe. »Ist zu hoch für unsere Leute, zu hoch. Ist zu gelehrt für Bauern, Herr Doktor Siebenschein. Für den Bauern muß alles so einfach sein wie die zehn Gebote, nicht gelehrt und nicht verziert.«

Aber dann hatte Benedikt seine mit inbrünstiger Sorgfalt verfaßte, mit schülerhafter Peinlichkeit einstudierte Predigt doch gehalten.

Aufmerksam lauschten die Unzinger der anfänglich schüchternen, dann aber immer wärmer erstrahlenden Stimme, die von der Höhe der Kanzel herab zu ihnen sprach über des Heilands Verheißung im Johannesevangelium: Wahrlich, wahrlich sag ich euch, wenn jemand meine Worte hält, wird er in Ewigkeit den Tod nicht sehen … Welche diese Worte denn seien? Die Gebote der Liebe seien es, der Gottesliebe und der Nächstenliebe; die Bitten des Vaterunser seien es, die Seligpreisungen seien es, der Ruf zur Gerechtigkeit, zur Einkehr und zum Reiche; diese seien die Worte, die sich bewährten über alle Bitternis des Erdenlebens und Schauer des Erdentodes hinaus … Wer sie aber in sich trage als ein Licht und eine wache Stimme, der sei gerettet auch vor dem Abgrund des ewigen Todes, daraus es keine Auferstehung mehr gibt … der sei einer von jenen Auserwählten unter den Berufenen, von jenen einer, die auf dem schmalen Wege durch die enge Pforte zum Leben eingehen, ein guter Wucherer seines Pfundes und kluger Wirt seines Öles … Und also sprach Benedikt weiter mit Bezug auf die heiligernste Fastenzeit, die der Finsternis gleiche vor der Ankunft des Bräutigams; mit Bezug auf diesen Sonntag, der nicht umsonst der stille genannt werde; unter Hinweis auf die unferne Karwoche, da jeder in bußfertiger Einkehr Leid und Opfertod des Erlösers und ewige Lebenskraft des Wortes in sich erleben möge – und da er mit dem Amen seine Erstlingspredigt siegelte und die Gemeinde unter vielstimmigem Räuspern von den Bänken in die Knie glitt, da war kaum einer, den diese geräuschvolle Stille aus wirklich tiefem Schlummer geweckt hätte, mit Ausnahme des Vizebürgermeisters Ignaz Poschinger, dessen Seele in der Wärme eines fettsüchtigen Leibes fast ununterbrochenen Winterschlaf hielt und nur aus Anlaß entscheidender Abstimmungen zu einem gutmütigen Dämmerbewußtsein erwachte. In die ruhige Tiefe dieses Gemütes hätte auch Licht von Weltgerichtsfackeln und Hall der letzten Posaunen nicht einzudringen vermocht.

Um so eifriger ward Siebenscheins Probeleistung von zuständigen wie unmaßgeblichen Beurteilern auf Gehalt wie Absicht geprüft, unterm Heimwege sowohl als auch im Schoße der einzelnen Hausgemeinschaften, und nicht zuletzt in der Hinterstube der Tafernwirtschaft, wo an Sonntagabenden und auch sonst der Rat der Alten um Bier, Tabak und Politik sich zu versammeln pflegte.

Angehend den Austausch der ersten Eindrücke, wie er zwischen den heimkehrenden Kirchgängern zuerst sich anspann, so war hier eine rechte Einigung nicht zu erzielen und in Ansehung der sowohl hinsichtlich des Geschlechtes als auch in bezug auf Alter und Reife gemischten Beratungskörperschaften wohl kaum zu erwarten. Es sei schon etwas an ihm, sagten die Bedächtigen; es sei viel an ihm, sagten die Begeisterten; es sei zu viel an ihm, sagten die Bedenklichen; es sei nichts an ihm, sagten die Nörgler; es würde schon noch etwas aus ihm werden, sagten die Gutmütigen; das sei halt die neue Zeit, sagten die Alten; das sei eben etwas Feineres, sagten die Jungen; das seien Weiberpredigten, sagten die Männer; das sei ja eben das Feinere, sagten die Weiber; und die unbußfertigen Burschen juchzten grell in die herbe Fastensonntagsluft hinaus und trieben heimlichen Schnack mit den Dirnen und legten so verschiedenerlei Zeugnis ab von der Überzeugungskunst des Vielberedeten.

* * *

Einen feurigen Anwalt seiner Gelahrtheit und tapferen Ausleger seiner Gedanken hatte sich Benedikt mit dieser Predigt aber dennoch gewonnen, und das in einem Manne, dessen Stimme, wennschon nicht entscheidendes, so doch namhaftes Gewicht besaß, ja in manchen dunklen Fragen gerne vernommen wurde und fast als Orakel galt: in Peregrin Kranich, dem Gemeindeschreiber von Unzing.

Ein Zitat aus den Schriften des großen Thomas Aquinos, des doctor angelicus, und ein Beispiel aus dem frommen Erdenwallen des heiligen Philippus Neri, diese beiden Argumente in der Interpretation des Johannistextes waren es gewesen, so Peregrin Kranich, den Gemeindeschreiber, bewältigt und mit zwingender Kraft für den Prediger eingenommen hatten. Hier sprach endlich eine verwandte Seele, hier zeigte sich ein ebenbürtiger Geist; freilich, was ahnten diese Leute davon, diese Bauern, den Pfarrer, den Krämer, den Förster, den Lehrer mit einbegriffen!

Und als am Abende im Trinkrate der Ortsweisen der obere Stegmüller die Befähigung des neuen Hilfspriesters schonend anzuzweifeln wagte, setzte Peregrin Kranich mit schöner Wärme sich für den Abwesenden ein:

»Was versteht denn ihr davon? Was wißt denn ihr von tieferer Bildung? Mach es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm – das hat schon Prokopius von Cäsarea, der Begründer der Nomadenlehre, gesagt. Kaviar fürs Volk, sagte der große Tertullian, als man ihn wegen seines berühmten Pendelversuches verbrannte. Was wißt ihr von den großen Kirchenvätern, Pythagoras, Osiris und Zoroaster? Hat einer von euch je die heiligen Mystiker gelesen, Galilei, Astarte oder Brahmaputra? Also!«

»Freili woll, so g'scheit is net a jeder,« lenkte der obere Stegmüller ein; »wo sollt unsereiner das her haben? Aber das mein i, daß man zum Bauern in seiner Sprach reden muß, sonst hat er nix davon, net?«

»Große Dinge kann man in eurer Sprache überhaupt nicht sagen,« belehrte der Schreiber; »nur lateinisch, griechisch oder hebräisch. Das wußte schon der berühmte Minotaurus, Bischof von Upsala, und darum hat er die Vulgata aus dem Deutschen in diese drei Sprachen übersetzt. Davon habt ihr ja auch niemals etwas gehört.«

»Das schon net,« gestand der Stegmüller; »aber was hätt unsereiner aa davon? Wie stark daß i den Weizen feuchten muß, wieviel daß die Steiner enger zu stellen sein von einer Mahl auf die andre, das weiß i schon, und das is halt für mi d'Hauptsach. Soll si a jeder bei der Mühl auskennen, auf der daß er sein Korn mahlen tut, mehr braucht's net zum Leben.«

Peregrin Kranich fuhr sich in den eisengrauen Kräuselbart.

»Das ist schon recht. Das ist ja das System der Arbeitsteilung, wie es schon der große phönizische Kommunist Abälard und sein Lieblingsschüler Benvenuto Spinoza, genannt Averroes, aufgestellt haben. Aber dann darf man sich eben um anderer Mühlen nicht bekümmern.«

»Mahlt a jeder im Leben Mehl für den anderen,« beharrte der Stegmüller; »da muß eines dem anderen aufs Handwerk schauen, was für ane War daß man kriegt für sein Getreid und sein Geld.«

»Nämlich wenn man etwas davon versteht,« versetzte der Schreiber hochmütig; »ich habe den Salamanka und den Apokalyps des Sokrates und den großen Zodiakus von Nostradamus studiert, ich darf schon mitreden, und der Herr Kaplan, das sage ich euch, das ist auch so einer, der kann's mit mir aufnehmen. Aber ihr?«

»Wird uns grad was helfen,« rief der Tafernwirt vom Taroktische her über die Schulter zurück; »oder hat er dir vielleicht was g'nutzt, dein Zodiakamus, hä?«

Peregrin Kranich zuckte nachsichtig die Achseln und lehnte sich groß, unverstanden und verletzt in seinem Sitze zurück.

»Ihr seid und bleibt Ideologen,« entschied er; »ich gebe es auf, diesen Kampf zu kämpfen, den schon Palestrina als aussichtslos erkannt hat. Dem ist es auch ergangen wie mir, in der Heimat wollten sie nicht auf ihn hören, und als er auf seiner Wanderschaft nach Beneventura kam, um dort die Lehre der Transsubhastation zu predigen, wurde er verlacht und starb als Märtyrer der weltpolitischen Freiheit. Ja, das ist unser Los – das des Proteus und des Cormoran.«

Und der Schreiber fuhr sich aufseufzend über die hohe, von Sorgen und Stürmen gezeichnete Stirn.

»Geh, mußt es aso net nehmen,« begütigte der Stegmüller; »daß du a Studierter bist, das wissen wir eh, dadervon kann dir kaner was wegdischputieren. Na also.«

Allein Peregrin Kranich winkte erhaben ab. Die unzarte Anspielung des Wirtes hatte ihn tatsächlich verletzt. Die Schuld daran, daß er jetzt nach dreiunddreißigjährigem Weltstudium zu Unzing saß und nicht als Fackel der Wissenschaft oder gar Rector magnificus zu München, Wien oder Heidelberg leuchtete, war ja schließlich zu allerletzt die seine. An diesem Mißgriff des Schicksals hatte er allergeringsten Anteil. Bei besserer Einsicht der Eltern wäre es ohne Zweifel ganz anders gekommen. Aber wie die Eltern nun schon einmal sind, daß sie die Blüte der Jugend immer nur auf die verdammte Pflicht angewendet sehen wollen, daß sie mit den Mitteln zu belebendem Genusse argwöhnisch kargen und nur auf Nutzanwendung und Leistung bedacht sind, daß sie einzig zur Erreichung des selbsternährenden Berufes verhelfen, nicht aber Gelder zum Besuch jener unerläßlichen feineren und geheimeren Schulen beisteuern wollen, daß sie keinen Blick haben für die Gefahren solcherweise heraufbeschworener Verheimlichungen, Verfinsterungen, Spannungen und Durchbrüche – – wie die Eltern nun schon einmal sind in ihrer selbstischen Blindheit, so dankte auch Peregrin Kranich ihnen zuvörderst den Bruch seines Steuers und die Einbuße von Mast, Segel und Kurs … Aber Strich darunter. So hatte er wenigstens die Welt gesehen, wenn auch zumeist von der Landstraße, von Meilensteinen und staubigen Gräben aus. Am Ende war das doch die beste Schule für ihn gewesen, alt und gegerbt war er dabei geworden, der Überfluß an Freiheit, Grün und Luft entschädigte für manch einen, wahrscheinlich auch nur eingebildeten Mangel an jenen gutbürgerlichen Vorteilen, zu deren Genuß die Eltern ihn hatten erziehen wollen. Chausseestaub ist bei all seiner Unfruchtbarkeit so trocken nicht wie Schulbuchstaub, und aus des Lebens Spuren am Gleis lernte es sich leichter denn aus versteinerten Paragraphen, Scharteken, Kollegienheften. Dreiunddreißig Jahre Luft, Licht, Wechsel, Sonne, Sturm, Armut, Reichtum, Freiheit, Spiel und Krieg: worum ein anderer Zeiten hindurch spart und wirbt, das nahm, kostete, genoß und verwarf Peregrin im Vorüberwandern, und sein Herz blieb leicht dabei, da es mit seinen Wurzeln nirgends Boden faßte. Der Stern der Wissenschaft aber blieb leuchtend über ihm auf allen seinen Wegen, als Tröster, Weiser und Pol; weil er aus niedrigen irdischen Gründen und Widerwärtigkeiten akademische Grade nicht hatte erlangen können, sollte er deshalb dem Dienste der strengen Musen entsagen? Zum Doktor promoviert doch der große Rector magnificus der höchsten Schule, je nachdem man die tausend Fragen der Daseinsprüfungen beantwortet.

So genoß Peregrin Kranich die Segnungen der Wissenschaft dankbar fort, nachdem er längst ihr Allerheiligstes verlassen; Zeit genug, Einsamkeit genug verschaffte ihm das Leben, die angezwirnten Fäden auf eigene Weise weiterzuspinnen und zum Gesamtbilde, zum selbsterspekulierten System zu verweben. In Straßengräben, in verdächtigen Hafenherbergen, unter wandernden Sternbildern, in der entmutigenden Unabsehbarkeit blühender Alleen entstand so aus wahllos benutztem Material eine nicht ganz alltägliche Weltanschauung, und das stündliche Erleben lieferte die Bindungen von Stein zu Stein. Daß aber die aus dem Schiffbruch gerettete, von den Stürmen der Jugend schon weidlich durcheinandergeworfene Fracht an Wissensgut auf all diesen Fahrten kreuz und quer durch Driften und Passate des Daseins allmählich in Unordnung geraten, sich umlagern oder zu Schaden kommen könnte, das zu argwöhnen fiel Peregrin Kranich niemals bei, um so weniger, als das Publikum der Häuser, in denen er immer wiederkehrend vorzusprechen pflegte, kaum die Eignung besaß, einen diesbezüglichen Verdacht in ihm wachzurufen.

So war das fortgegangen, straßauf, straßab, durch hundertzweiunddreißig Jahreszeiten und viele Gewitter hindurch und über den Grat der Kräfte hinweg, und eines Vorwinters merkte Peregrin Kranich, wie etwas in ihm nachließ, und als der erste Schnee ins Land fiel, erkannte er, daß es nicht Müdigkeit an Meilen sei, sondern Müdigkeit an Jahren. Es lag auf der Brust, es zerrte an den Sehnen, es beschwerte die Sohlen; was Wunder auch, denn wenngleich das Schreiten das Blut frisch und rasch erhält, so wog manch eine Verschleppung, manche naßkalte Freinacht, manch ein Hungertag, mancher Ostwind durch regendurchweichtes Gewand diesen Gewinn mehr als reichlich auf, und daß Peregrin Kranich niemals ein Kostverächter gewesen, besorgte das übrige. Da traf es sich noch gut, daß der Weltwanderer mit dem letzten Aufgebote seiner Kräfte das eingewinterte Unzing gerade in dem Augenblicke erreichte, da aus diesem engen Hafen ein Schifflein in die Ewigkeit hinausgefahren war, das des Gemeindeschreibers. So fand sich zu später Stunde ein Ankerplatz für den seemüden Freibeuter.

Eine Station sollte es vorläufig nur sein, nach der Brotgeber und nach Peregrins eigener Meinung; eine Station auf der Wallfahrt nach dem heiligen Brot, wie er, vom Pfarrer über Herkunft und Ziel befragt, seinen Beruf schamhaft zu umschreiben beliebte. Dem ohnehin nicht allzu vertrauensseligen Pfarrer mochte dieser Bescheid zwar nicht übermäßig gefallen haben, und in seinen Augen gereichte das heimliche Salz dieser Antwort dem unheiligen Pilger schwerlich zur Empfehlung. Allein der fahrende Mann hustete so erbärmlich, daß es einem an die Nächstenliebe ging, gegen deren Gebot es gewesen wäre, ihn wieder auf die winterliche Bergstraße hinauszuweisen. So entschied wenigstens das leicht zu rührende Fräulein Amalie Huber. Dann aber lag es doch auch nahe, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen und diesen durch seltene Bildung ausgezeichneten, in den Künsten des Schrifttums wohlbeschlagenen Gast durch billige Verträge der Gemeinde zu verpflichten, maßen der schmerzlich empfundene Abgang des Schreibers und die Beschäftigungslosigkeit des Fremden einander trefflich ergänzten. Also kam ohne allzu große Schwierigkeiten ein auf Leistungstausch abzielender Vorvertrag zustande, wonach Peregrin Kranich gegen Speisung und Wärme seine Fähigkeiten in den vorläufigen Dienst des Unzinger Gemeinwesens stellen sollte.

Nun zeigte es sich aber nach Ablauf des Winters, daß beide Teile nach Festigung der einmal angeknüpften Beziehungen strebten. Peregrin Kranich erwies sich als geschickt, als Arbeiter von zwar nicht aufreibendem aber doch behaglichem Fleiße, als Meister der Schrift, als Kulturträger und anregender Gesellschafter, endlich – und darauf kam es dem Pfarrer erheblich an – als Mann von geradezu vorbildlicher Parteilosigkeit. Anderseits bewährte sich an Peregrin Kranich das Gesetz von der Erhaltung der Energien, wonach zum Stillstand gelangte Bewegung sich in Wärme umsetzen muß: ein unendliches Wärme- und Ruhebedürfnis war an Stelle der treibenden Fernsehnsucht getreten, die geborgene Enge dieses Daseins erschien wertvoller denn die unsichere Freiheit der Weltstraßen, die Regelmäßigkeit des Wirkens in dichtgeschlossenem Verbande vorteilhafter als die Angehörigkeit zur großen Gemeinde der Heimatlosen. So kamen von beiden Seiten die Wünsche einander entgegen und trafen sich in einem neuen, diesmal ernstlichen Vertrage, der nicht allein die Fortsetzung des liebgewordenen Verhältnisses, sondern vor allem auch Festlegung seiner Voraussetzungen und scharfe Umschreibung der ihm zugrundeliegenden Leistungen zum Inhalte hatte. Demnach sollte Peregrin Kranich seine Fertigkeiten dauernd der Unzinger Regierung verpflichten, wogegen die Gemeinde ihm nicht nur gewissenhafte Befriedigung seines großen Wärmebedürfnisses, Sicherung seines Alters, ein standesgemäßes Begräbnis und etliche sonstige Erleichterungen sowie freie Wohnung verbürgte, sondern auch noch eine nicht unbedeutende Gratifikation zusprach, uneingerechnet jener gelegentlichen Sporteln, die solch Ämtlein nebenher trägt wie eine Bergwiese die Erdbeeren. Da aber der Bestallte ohne allen Anhang und Verpflichtungen war, da er seine gewürfelten Pantoffeln jedem kostspieligeren Schuhwerke vorzog, da er endlich, abgesehen von einem höchst bescheidenen Abendtrunke, seine gereiften Leidenschaften vom Alkohol abgewendet und auf das mildere Gift recht starken, heißen Kaffees eingestellt hatte, reichte die so geschaffene Vermögenslage zur Erhaltung seines Daseins vollkommen hin.

Damit hatte Peregrin Kranichs Irrflug, der vorzeiten von Kants und Platos Höhen aus begonnen, hier ein Ende, der Zugvogel selbst im Herbste seines Lebens einen zwar engen doch sturmsicheren Horst gefunden. Nun war es dessen auch schon mehr als drei Jahre, seit diese bewegte Vorgeschichte zu ihrem Abschlusse gelangt, und die Unzinger angehend, so hatten sich diese in der genannten Frist vollkommen daran gewöhnt, den Fremdling als einen der ihrigen anzusehen, ein Gefühl, das im offenen Stolze auf des Schreibers umfängliche Bildung seinen schönsten Ausdruck fand und von Peregrin mit freundlicher Herablassung erwidert wurde. Dessen blieb er sich freilich bewußt, daß er hier ebenbürtigen Umgang und Widerhall nicht finden konnte; Orion unter den Barbaren, so nannte er seine Unzinger Altersrast mit deutlicher Bezugnahme auf das Schicksal des verbannten Dichters der Liebeskunst, und aus seiner Berufung zu Höherem machte er kein Geheimnis – ihm habe eben nicht einmal das Wissen der weisesten Lehrer genügt, deshalb sei er in die Welt gezogen, die letzten Erkenntnisse selbst zu finden. Da man ihm aber diese Umschreibung stets nachgesehen und ihn damit verwöhnt hatte, empfand er nun mit Unmut den Mangel an Zartgefühl, den der Wirt so unverhofft an den Tag gelegt.

»Laßt gut sein,« sagte er von oben herab zum vermittelnden Stegmüller; »das gehört schon einmal zum Schicksale der Atriden. Ich und meinesgleichen, wir tragen das Kainsmal des Olymp an der Stirne. Und dem Herrn Kaplan, der gleich mir einer von den Söhnen Heraklits ist, wird es ebenso ergehen wie Catilina, Hieronymus von Rotterdam und Peregrin Kranich.«

Allein wenige Tage später erlitt die Begeisterung des Gemeindeschreibers einen Stoß ins Herz. Als Benedikt Siebenschein im Auftrage des Pfarrers in der Kanzlei vorsprach, um irgendein Exhibit zu verlangen, nahm Peregrin Kranich diesen Anlaß wahr, sich als verständnisvollen Bruder in allen sieben freien Künsten vorzustellen und seine vertraulichen Beziehungen zum erhabenen Geiste des Thomas Maurus zu entschleiern.

Benedikt lächelte gütig.

»Sie meinen Thomas Morus? … Oder Hrabanus Maurus?«

Der Schreiber stutzte; sollte ihm in der freudigen Erregung ein kleines Versehen unterlaufen sein?

»Hrabanus Morus, natürlich,« verbesserte er dann eilig; »von dem die berühmten Worte stammen: Und sie bewegt sich doch, laßt alle Hoffnung schwinden.«

Siebenschein biß sich auf die Lippen.

»Ganz richtig,« sagte er mühsam, tief über das vorgelegte Protokoll geneigt.

Aber Peregrin gab sich mit dieser Probe keineswegs zufrieden.

»Ja, nicht wahr, unsereins,« seufzte er, »unsereins verständigt sich doch sogleich. Wie Sie neulich in Ihrer lichtvollen Predigt den großen Aretino zitierten, Herr Kaplan –«

»Wen?« fragte Benedikt erschrocken.

»Den heiligen Aretino,« wiederholte der Schreiber ungerührt; »wie fühlte ich mich da angeheimelt! Es ist doch etwas Schönes um gemeinsame Ideale!«

»Sicherlich!« nickte Siebenschein. »Wo haben Sie studiert?«

Kranich warf sich malerisch in die Brust.

»Auf der Hochschule der Welt!« erklärte er. »Auf der Straße von Riesa nach Leipzig, da ist mir der ganze Aristophanes von Abdera aufgegangen.«

»Demokritos,« korrigierte Benedikt unwillkürlich; »oder meinen Sie Aristoteles, den Stagiriten?«

»Ich meine den Verfasser des unsterblichen Pentameron,« stellte Peregrin beleidigt fest; »Name ist Schall und Rauch, Werke allein sind ewig.«

»Da haben Sie recht,« sagte Siebenschein herzlich; »es freut mich, in Ihnen einen Mann von so umfassender Bildung kennen gelernt zu haben.«

Und er gewann fluchtartig die Straße, den Schreiber der Enttäuschung über seine, des Jüngeren, offenbar lückenhaften Kenntnisse überlassend.

»Wie die Zeiten sich ändern,« erörterte Peregrin Kranich am nächsten Sonntagabend vor seiner Wirtstischrunde; »wie doch die Zeiten sich ändern und alles Alte nachläßt! Zu meiner Zeit, da waren die Hochschulen doch weitaus strenger. Da wäre eine Verwechslung zwischen Origenes und Diogenes zum Beispiel nicht nachgesehen worden. Es geht eben mit allem bergab, die Psychologik liegt heute im argen, von Idealismus und Problematik gar nicht zu reden. Problematik, das war zeitlebens mein Steckenpferd, mein Zentraldogma, wie Fra Giovanni Bruno sagte. Aber heute geht auch diese Disziplin ihrem Verfall entgegen. Ubi sunt qui antea!«

»Ja, ja,« seufzte der Stegmüller; »wird schon so sein. Da kannst halt nix machen, sixt. Is anderswo akkurat das gleiche. Früher, da hast dein Auskommen g'habt bei der Müllnerei, jetzt mit die neuchen Dampfmühlen, da kannst's bald verheizen, dein Werkl. I weiß net, was das is, söllene Polematik – –«

»Problematik,« sprach der Schreiber vor.

»Problematik alsdann. Leicht, daß das aa sowas is wie die Problematik, das mit die neuchen Dampfmühlen, wo doch die alten hundert Jahr ehrlich das Mehl für d'Leut g'mahlen ham. Is überall dasselbe, allweil schlechter, bloß der Jud, der schwimmt obenauf, was ehrlich is, dersauft. Leicht, daß das aa von die neuchen Schulen kommt, wo so viel schlechter sein sollen.«

* * *

Der Unzinger Pfarrkirche war Benedikt gleich am ersten Tag Freund geworden.

Dieses schmucke, heitere Gotteshaus, erbaut und ausgestattet von der reichen Heiligenzeller Abtei im Jahre eintausendsiebenhundertdrei, wie eine zur Rechten der Hauptpforte eingemauerte Tafel in pomphaften lateinischen Reimversen kündete – besaß freilich nichts von jener düsteren, steilaufbrennenden Inbrunst, von jener geheimnisvollen Glut und Tiefe des Münsters, vor dessen Altar der junge Priester die Weihe seines Lebens empfangen. Aber es war ihr eine seltsam helle und fast schalkhafte Frömmigkeit eigen, eine anmutig gezierte, körperliche, überladene und doch herzliche Andacht, von der Benedikt immer irgendwie an Dr. Chrysostomus Menzel, den gewandten Domscholaster, erinnert wurde: an dessen witzig überschwänglichen Redestil, an seine oft gewagten Wortspiele und seinen Mangel an heiliger Scheu.

Christoph Licht, dem Meßner, zollte Siebenschein im stillen alles Lob. Christoph Licht mochte seine Nachtseiten haben, aber seine Kirche hielt er in blanker Ordnung. Und das war keineswegs leicht. Denn der krause Stil der drei Altäre und des braunen Gestühls bot dem Staube Niststätten in Hülle und Fülle. Fast schien es auch, als ob Christoph Licht zu den wunderlich verzerrten Heiligen zu beiden Seiten des goldbraunen Altarbildes und zu den feisten Engelchen, welche die heilige Mutter Anna, die Patronin des Gotteshauses, mit Wolkenjubel, Posaunenschall und allerhand drolliger Wichtigtuerei umschwärmten, in einer mehr als rein sachlichen, mehr als schlechtweg christgläubigen Beziehung stünde. Diesen Verdacht erlauschte Benedikt aus einem einseitigen Zwiegespräch, das der Meßner mit dem hingebungsvoll verrenkten Erzapostel Petrus führte, als er im Zuge der österlichen Vorbereitung dessen alte edelgoldene Holzstatue einer scharfen Säuberung unterzog. »Glaubst, daß i grad dir deine Nasen und deine Haarboschen immer extra striegeln werd,« rügte der Meßner ingrimmig den Apostelfürsten; »den heiligen Paulus auf der anderen Seiten schau an, net Halbscheit so viel Mist setzt der an, oder die heilige Agnes, wie die si sauber halt, und steht bloß auf an Nebenaltar …« Und kein strafend Donnerzeichen entlud sich zu Häupten des freimütigen Christoph Licht, der brokatfarbene Sankt Peter hielt dem borstigen Eifer seines irdischen Hüters geduldig stand und verharrte im heiligen Krampfe seiner Verzückung. Das mochte den Meßner versöhnen, denn seine Stimme klang wesentlich milder, als er vom Apostel Abschied nahm. »So, jetzt hast wieder a G'sicht, bis auf Pfingsten. Aber das nächste Mal, wannst wieder solchene Spinnweben auf dir haben tust, nacher schaug di an.« Sprach's und kletterte vom Altar herunter, seine harsche Vaterliebe zunächst den kleineren Patronen zuzuwenden, den heiligen Blutjungfrauen Agnes und Ursula auf der Weiber-, Sankt Isidor und Nährvater Josef auf der Männerseite.

So freudiges Gefallen nun Benedikt Siebenschein an seinem weißgewölbten, schwarzgestühlten Gotteshause und dessen Heiligtümern fand, er begegnete auch darin und darin erst recht nicht dem Geschmacke seines Vorgesetzten.

»Ist ein frivoler Stil,« beharrte der Pfarrer; »frivol und unreligiös und übertrieben. Übertrieben, ja. Ich werde Seiner Eminenz meine Vorschläge unterbreiten. Meine Vorschläge unterbreiten wegen zeitgemäßer Änderungen. Zeitgemäßer Änderungen, ja. Ist nicht mehr üblich, dieser Stil, heutzutage; ist nicht mehr üblich.«

Benedikt seufzte seine Einwände herunter. Es fiel ihm nicht leicht, sich in den Geist dieses schwerflüssigen Mannes hineinzuleben. In eine strenge Schule des Gehorsams hatte ihn der Bischof geschickt, das sah er ein und beherzigte es täglich; verwöhnt durch täglichen Umgang mit den Feinsten und Klarsten seines Standes, von Kindheit auf wennschon nicht an glänzende äußere Verhältnisse so doch an den Luxus geistiger Umgebung gewöhnt, empfand er den Verkehr mit seinem Pfarrer als eine Art Fastenbuße und reinigende Wüste. Mitunter fühlte er sich von gefährlichen Zweifeln überfallen: sollte dies Beispiel Vorbild sein oder Abschreckung, sollte er hier sich vergröbern oder in der Vereinsamung vertiefen? … Vielleicht war dieses Praktikum nur als trockener Lehrgang gemeint, der nichts anderes bezweckte als Übung und tätige Vorarbeit. Damit wollte er sich wohl abfinden; die schlichtesten Meister sollten ja die besten sein. Er wollte nicht klagen; nur daß Hochwürden Permoser jeder feineren Freude so abhold war, nur daß er gegen alles, was über seinen eigenen Alltag hinausging, ein beinahe schon ungnädiges, verletzendes Mißtrauen äußerte. Das erschwerte dem unabgehärteten Benedikt den Gehorsam; das schloß aber auch jede echte Herzlichkeit aus und raubte manchem Jungschmetterlingstraum den zarten Schmelz seiner Flügel.

Auf dem Chore der Pfarrkirche hatte Siebenschein zu seinem erstaunten Entzücken eine kleine Orgel gefunden, ein zierliches und ehrwürdiges Werk, das sich bei näherer Prüfung als recht brauchbar erwies, wiewohl jahrzehntelange Vernachlässigung und vielleicht auch mißhandelnde Stümperhände ihm manchen Schaden zugefügt hatten. Aber die verhältnismäßig geringen Mängel hätten mit unbedeutendem Kostenaufwand beseitigt und bis dahin von einem gewandten, mit dem Instrumente vertrauten Musiker gewissermaßen verschwiegen werden können.

Der Zumutung indes, die Orgel von einem tüchtigen Meister nachsehen und wieder in würdigen Stand versetzen zu lassen, setzte Pfarrer Permoser so erkältenden Widerstand entgegen, daß Benedikt von weiteren Versuchen ohne weiteres abstand. »Ist nicht notwendig,« sagte der alte Herr belehrend; »ist nicht erforderlich, ist entbehrlich. Müßte erst eine Kommission eingeladen werden, den angeblichen Schaden zu erheben. Würde bedeutende Kosten verursachen. Ist noch vollkommen brauchbar, die Orgel, noch vollkommen brauchbar.«

Nichtsdestoweniger hätte Benedikt mit Herzensfreude die Sorge um die Unzinger Kirchenmusik auf sich genommen, eben der lieblichen alten Orgel zuliebe, die unter seinen Händen immer noch Erfreuliches leistete und mit ihrem anmutig ausgezierten Prospekt wie gebaut schien zur Verherrlichung Gottes mit Mozarts Stimme. Aber auch hier begegnete seinen Wünschen ein unüberwindliches Hindernis. Die eigentliche, die große Sonntagsmesse, die Parademesse wurde vom Pfarrer ihm übertragen; Hochwürden Permoser selbst, dessen vorgerückte Jahre doch schon zur Schonung mahnten und langwierige Nüchternheit schwer empfinden ließen, hielt den alten Weiblein den stillen Frühgottesdienst. Damit entfiel für Benedikt Siebenschein jede Möglichkeit, den Unzinger Glauben mit der Flamme der Kunst zu erleuchten, und das Kantorat verblieb weiterhin dem bewährten Florian Kathrein. Schließlich gehörte ja die Pflege der Kirchenmusik keineswegs zu den eigentlichen Obliegenheiten eines Hilfspriesters; das sah Siebenschein wunden und ergebenen Herzens ein. Überdies wurde es ihm von seinem aufrichtigen Vorgesetzten deutlich zu verstehen gegeben. Es sei ja etwas Schönes um die Kunst, gewiß – allein sie ziehe nur zu sehr von den wahren Pflichten ab, sie sei im Grunde doch nur müßiger Zeitvertreib, die Unzinger Kirchengemeinde aber ohnehin mehr für das Althergebrachte, für das Einfache und Volkstümliche … Das sagte Permoser mit scharfem Bezug auf die Werke der von Benedikt besonders verehrten Meister Bach und Mozart, deren er einige Bruchstücke mißtrauisch und ablehnend angehört hatte. »Weltliche Musik,« entschied er damals mit inappellablem Übergewicht, »ist eine weltliche Musik, ist nicht üblich bei unseren Messen.« Siebenscheins Hinweis auf Ruhm und Stil der beiden großen Tonsetzer blieb gegenüber solch schwerbeharrendem Urteil vollkommen fruchtlos.

Desto innigeres Verständnis für seine Art und Anlage fand Benedikt im Hause des Lehrers. Er vergönnte sich diese Erholung von den ungewohnten Härten seines Berufes freilich nicht allzuoft; nicht allzuhäufig nahm er teil an der milden und geistigen Geselligkeit der Kathreinschen Abende, wo er jedesmal eine Welt voll Heimat fand und einen Schatz an Heimat in seine bedürftige Seele aufnahm. Er wollte auch darin Fügsamkeit beweisen, denn er fühlte es wohl, wie der Pfarrer aus kühlem Schweigen heraus mit scheelen Augen auf diesen Umgang sah. Schwer genug kam solches Fasten ihn an, und war er dann einmal in die lichte Wärme des Kreises getreten, so taute für flüchtige, glückliche Stunden alles Bedenken von ihm ab wie Schnee vom Dachrande, an dem der Mittag leckt.

»Das ist schön,« begrüßte ihn dann Kathrein herzlich; »gerade recht kommen Sie mir. Da ist noch ein Messer. Wer übers Unkraut predigt, der muß auch die Unkräuter kennen und sich aufs Jäten verstehen.«

Benedikt hatte sich anfänglich betreten umgesehen; seine Würde war doch noch jung, er trug das Amt wie ein neues Kleid, so steif und behutsam.

»Niemand sieht Sie,« lachte der Lehrer; »und wenn auch! Erdarbeit schändet keinen Erdgeborenen.«

Er hatte an Benedikt einen gelehrigen und vorkenntnisreichen Schüler, und Siebenschein selbst ward bei der Arbeit zumute, als grübe er aus der warmen Muttertiefe der Scholle Erinnerungen an Jugend und Heimat aus.

»Wie wohl das tut,« sagte er zu Kathrein; »man fühlt dabei, wie man sich das Leben verdient.«

»Es ist des Menschen treueste Zuflucht,« nickte der Lehrer; »sehen Sie: Gleichgewicht finden zwischen Alltag und Ewigkeit, das halte ich für das Glück. Und Sie könnten das immer haben; der Pfarrgarten ist groß.«

Benedikt seufzte.

»Mit dem Pfarrer? Das ginge nicht lange.«

Der Lehrer richtete sich auf und strich sich über den ermüdeten Rücken.

»Wie kommen Sie aus mit dem Alten?« fragte er geradezu.

Siebenschein fuhr mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich habe mich an ihn gewöhnt,« leugnete er.

Kathrein lachte in sich hinein.

»Es können ja nicht alle gleich sein, derselbe Baum auf Fels oder Sumpf, und es ist nicht derselbe. Der eine wird reich und reif mit den Jahren, der andere dürr und unfruchtbar. Wir leben nun schon viele Sommer und Winter aneinander vorüber, der Alte und ich, und wissen uns noch immer nichts zu sagen als gerade nur das Berufliche und Bürgerliche.«

»Im Amte ist er ja gewiß ausgezeichnet,« lobte Benedikt blindlings.

»Es gibt zweierlei Amt,« sagte der Lehrer; »das eine hat zur Seele die Pflicht, das andere die Liebe. Kommen Sie, es ist genug für heute, und Sie kennen ja die Marianne, ihr Kaffee riecht durch den ganzen Frühling bis hierher.«

Langsam schritten sie durch die heimliche Frühlingsdämmerung dem Schulhause zu, das sie mit süßem Duft und Traulichkeit empfing.

Marianne schalt.

»Grüß Gott, Herr Kaplan. Aber wenn Sie mir den Papa in seinen Fehlern noch bestärken, statt ihm Maß zu lehren, dann werd ich ernstlich bös auf Sie. Nie hält er eine Stunde. Das Haus könnt abbrennen, wenn er bei seiner Arbeit ist, und er wird sagen: gleich, gleich! … Da soll einer Hausfrau was geraten.«

Und sie stellte die dampfende Tasse vor den betretenen Siebenschein.

»Was werden Sie heute spielen, Herr Doktor?« fragte die sanftere Verena.

Benedikt lächelte erwärmt, befangen, glücklich.

»Ich habe ja eine Kleinigkeit mitgebracht,« gestand er; »aber auf dem Klaviere bin ich noch fremder als irgendwo …«

»Natürlich will er nur gelobt sein, der echte Künstler!« neckte Kathrein.

Siebenschein ward rot bis in seine schmale Stirn.

»Durchaus nicht, durchaus nicht, ich bin doch kein Künstler … Ich habe die chromatische Fantasie mitgebracht und dann die Sonaten von Schubert, aber ich weiß wirklich nicht – –«

»Wie schön!« freute sich Verena.

»Das heißt …,« wandte Siebenschein ein.

»Trinken Sie, trinken Sie,« befahl Marianne; »der Kaffee wird Ihnen ja unter der Nase kalt.«

Und Siebenschein gehorchte.

Anfänglich war er freilich erschrocken vor der gesunden, jungmütterlichen Strenge dieses Mädchens, das neben der jüngeren mondhellen Schwester herb und wirklich wie dunkle Erde erschien. Aber dann hatte er sich an ihre ruhige Tatsächlichkeit gewöhnt; es wurde ihm beinahe zum Bedürfnis, sie zu Verweisen herauszufordern und sich ihr zu fügen, und der Blick ihrer bergseetiefen, bergseeblaugrünen Augen tat ihm wohl wie Müßiggang im Sonnenschein. Die Feinere, die Beseeltere von beiden war aber doch Verena; ihr Haar, so goldseidenhell wie Ostersonnenschein im jungen Birkenhag, ihre quellreinen, leicht sich umflorenden Augen, das blitzende Geplätscher ihres Lachens, ihre taublanke Frühlingsklarheit und über alldem die zarte Andacht ihres Wesens, ihr Verstehen und Aufgehen im Genusse des Schönen – alles das unterschied sie von der reifen, wesenhafteren Marianne. Und wiederum fand die ältere Schwester oft das tiefe Wort, in dem alle Untertöne und halben Klänge einer Stimmung mit einem Male ihren erlösenden Ausdruck fanden. Wenn Benedikt nach beendetem Spiel die Hände von den Tasten hob und Verena verschleierten Blickes dem Aushallen des letzten Akkordes nachträumte, dann ließ sich Marianne aus der lauschenden Stille ihrer Geschäftigkeit vernehmen:

»Bach, das ist gotische Musik.«

»Und Händel?« fragte Siebenschein.

»Oh, Händel, der ist barock. Das ist Perückenmusik. Mit dicken Prunkwolken im Hintergrund und saftigen Heiligen in einem weißgoldenen Himmel.«

Eines Abends spielte Benedikt die letzte von Schuberts nachgelassenen Sonaten. Verena saß mit gefalteten Händen, erschüttert von den Klagen und Tröstungen und wehen Verklärungen des langsamen Satzes.

»Das ist doch Musik, als sollte es die letzte sein, als sollte keine mehr geschrieben werden,« sagte Marianne; »der ganze Schubert, was ich noch von seinen Werken hörte, ein einziges singendes Verbluten.«

Aber ein andermal, als Siebenschein aus dem deutschen Requiem vortrug, wurde selbst Marianne seltsam weich; sie legte die rastlose Handarbeit beiseite und gab sich ganz an die Zauber der überirdischen Musik hin.

»Oh, spielen Sie das noch einmal,« bat sie; »das ist Seele und Friede, das ist Versöhnung und Wiedersehen.«

Und Benedikt gehorchte verzückt – und niemals noch war das selige Jenseitslicht dieser unergründlichen Musik tiefer in ihn hineingeschauert als zu dieser Stunde.

So schwankte sein demütiges Wohlgefallen zwischen den beiden Schwestern hin und wieder, und er merkte es längst nicht, daß es ein heimlicher Advent war, ein keimender Märzfrühling voll Sturmesahnung und fernen Glocken und eine Vigil vor der Auferstehung des Lebens. –

In Musik klang jeder dieser Feierabende aus, gleichviel ob er nun mit Jäten oder Pfropfen oder mit Benedikts unbeholfenen Versuchen an Vater Kathreins Heftlade begonnen. Der Musik galten diese seltenen Stunden, Musik wurde zum Brennpunkte dieses Kreises, zur vereinigenden Mittelflamme. Florian Kathrein genoß diesen erfreulichen Zuwachs seiner Häuslichkeit vielleicht am innigsten. Siebenscheins Fertigkeit ermöglichte den Genuß so manchen Werkes, vor dessen feineren Schwierigkeiten Verena hatte seufzend verzagen müssen. Nun erblühten diese zwischen Dornen verborgenen Rosen zu einem Klangfrühling, unter dessen zarten Stürmen und tiefmächtigen Seligpreisungen auch des älteren Mannes Seele zu leuchten und zu schwingen begann. Mit neuer Zärtlichkeit pflegte Kathrein das klingende Viergespann der goldbraunflammigen Geige; inbrünstig, als schickte er sich zum Empfang einer hohen Weihe, ließ er des Bogens federndes Strähnenband über das topasblanke Edelharz rauschen.

»Was spielen wir heute, Doktor Benedikt?«

Siebenschein wiederholte geduldig das maßgebliche A.

»Ich bin für alles,« sagte er; »nämlich soweit meine Kräfte reichen.«

»Die zweite Schumann?« verführte Kathrein.

»Die G-dur von Brahms,« bat Verena; »die Regenbogensonate.«

»Und dann die große von Grieg,« wählte Marianne; »ich weiß die Tonart nicht – Sie wissen schon, Doktor Benedikt, die Hochlandssonate, die Eddasonate.«

Siebenschein lächelte ihr scheu und gutmütig zu.

»Das ist aber sehr heidnisch, Fräulein Marianne.«

Ein fernes Feuer zuckte auf in den Augen des Mädchens.

»Eben darum, die heidnische Sonate, nennen wir sie so.«

Kathrein präludierte zuwartend.

»Heidnisch, christlich, göttlich,« sagte er entscheidend; »schön ist schön, und groß ist groß. Fangen wir an.«

Und sie spielten. Spielten die regensonnenschillernde, duftleichte, rieselnde Sonate von Brahms; spielten die jauchzend elementare, graumeerjagende, sommerselige, nordlichtflackernde Asensonate von Grieg; spielten, und da sie endeten, mit blitzendem Bogenstrich, mit frohlockendem Vollgriff, sahen sie einander stolz in die leuchtenden Augen, der junge Priester und der alte Schulmeister.

Benedikt atmete tief auf.

»Wirklich, von jedem meint man, das sei doch das Schönste,« sagte er erschöpft.

»Alles ist das Schönste, und das eben ist das Schönste,« sagte Kathrein dankbar; »sehen Sie, mir geht's geradeso; und mir scheint, der Gegensatz macht's. Ich sage es ja immer – alle Gegensätze genießen und zwischen ihnen hindurch seinen Heimweg finden, das ist das Glück.«

* * *

Am Ostermontage war es, und Feierstille lag überm Dorfe, vom Pfarrhofe bis hinab zum Schattauer, dem letzten Anwesen der Zeile.

Im Pfarrhofe tropften die Stunden sogar noch zähflüssiger hin als gewöhnlich, obgleich Hochwürden Permoser geistlichen Festbesuch erhalten hatte, den eines Neffen, der es in der Gottesgelahrtheit allerdings erst bis zu den äußerlichsten Entsagungen gebracht haben mußte, so verstockt und ungepflegt zeigte er sich.

Vom Oheim wurde er nichtsdestoweniger mit einer gewissen zurückhaltenden Auszeichnung behandelt, insoferne wenigstens, als jener vorzugsweise an ihn das Wort richtete, was freilich auch noch selten genug geschah und nur sparsame Erfolge zeitigte.

Diese Deutlichkeit sollte wohl Benedikt treffen; allein sie verfehlte ihr Ziel. Nur zu froh war Siebenschein, in gar keine Reibung mit seinem Vorgesetzten geraten zu müssen.

Auch für dessen Neffen brachte er gerade nur die vom Gebote der Nächstenliebe vorgeschriebene Teilnahme auf. Abgesehen von dieser, flößte ihm der schlechtrasierte, dumpfe, wie von einer sauren, gärenden Schwere gedunsene Kleriker beinahe schmerzhaften Widerwillen ein.

Hermagor Pichler, so hieß der Alumne, legte seinerseits ein eher feindseliges als respektvolles Interesse für den Gehilfen seines Oheims an den Tag. Hier gab es keinerlei Gemeinsamkeit, darauf eine Notbrücke hätte gelegt werden können.

Diese stillschweigende Parteiung griff aber seltsamerweise auch auf das Weibsgesinde des Pfarrhofes über, dergestalt, daß Petronilla sich von allem Anfange an für Hermagor Pichler entschied und ihm wirklich mütterliche Sorgfalt angedeihen ließ, während Fräulein Huber ebenso offenkundig sich auf die Seite ihres Pfleglings Benedikt schlug und allen anderen, ihren eigenen Brotherrn nicht ausgenommen, das Vollgewicht ihrer Launen zu fühlen gab.

Ohne erst zu fragen oder die Einwilligung des Hausvaters einzuholen, hatte sie für Siebenschein einen ausnehmend schöngeratenen, flaumzarten Sonderkuchen gebacken, den sie ihm eigenhändig auf seine Stube brachte.

»Damit unser Herr Doktor net merkt, daß er in der Fremd is,« erklärte sie, zärtlichen Blicks.

»Aber wie komm ich denn zu solchen Ausnahmen, Fräulein Mali?« wehrte der Bedachte.

»Is gar keine Ausnahm,« beschwichtigte sie; »eine kleine Aufmerksamkeit is, weiter nix.«

Benedikt zweifelte.

»Ja, Fräulein Mali, das ist ja sehr liebenswürdig von Ihnen, sehr liebenswürdig – –«

»Aber der Herr Doktor macht zu viel draus, wo's doch der Red gar net wert is.«

»Ja, aber, ob der Herr Pfarrer – –«

Fräulein Amalie schmollte und bezeigte offene Auflehnung.

»Was geht das jetzt den Herrn Pfarrer an? … Von mir kommt das, net vom Herrn Pfarrer, alsdann … Und wo die Petronilla so ein Wesens treibt mit ihrem Hermagor da drunten, dem kritschigen G'wachs … Da is unser Herr Doktor doch was anderes …«

Benedikt gab zögernd nach.

»Ja, wenn Sie meinen, Fräulein Mali – wenn es nicht gegen mein Gewissen zu gehen braucht – –«

»Wär noch schöner, Herr Doktor. Und dann, zu viel G'wissen, überall nix als G'wissen, da kamet eins besser gleich in der Totenkammer mit dem Sarg auf die Welt. Das G'wissen is wegen dem Leben da, und net das Leben wegen dem G'wissen. Und überhaupts, bei ei'm Gugelhupf, da hat's G'wissen schon gar nix dreinzureden, der is zum Essen da und net zum Nachdenken, der Herr Doktor entschuldigt schon.«

Siebenschein lächelte ergötzt zu den kraftvollen Argumenten der Spenderin.

»Ja, Fräulein Mali, und der Apfel im Paradiese?«

»Muß halt arg süß gewesen sein, selbiger Apfel,« schmunzelte sie verschämt; »na, und in Himmel sein's doch beide kommen deswegen, der Adam und die Eva.«

Dieser Hinweis schien Benedikt endgültig zu besiegen.

»Nun, dann bleibt mir nichts anderes übrig als Ihnen zu danken, Fräulein Mali – wenn Sie das von mir annehmen wollen – es ist vom heiligen Vater selbst geweiht …«

Er nestelte eine kleine Medaille mit dem Bildnis der Madonna vom Karmel von seiner Uhrkette.

Nun widerstrebte Fräulein Huber.

»Aber, Herr Doktor!«

»Nicht: aber. Jeder gibt, was er hat und was er kann.«

»Ja, wenn der Herr Doktor meinen … Ich werd's auch in Ehren halten, Herr Doktor …«

Und sie streckte Siebenschein ihre kleine rosenrote festgepolsterte Hand entgegen, eine Ehrung, die abzulehnen er gar nicht die Zeit fand.

»Da werd ich's immer tragen,« versicherte sie, die wohnliche Herzgegend mit klarer Gebärde umschreibend; »da werd ich's immer tragen. Und dabei werd ich immer, immer, immer an den Herrn Doktor denken müssen.«

Solcherweise bezeigte Fräulein Amalie ihre scharfe Abneigung gegen Hermagor Pichler, ihre Gegnerschaft wider die andersgesinnte Petronilla und ihren Groll gegen den Brotherrn, der es sich unterstand, diesen vernachlässigten Kleriker an einem Tische mit dem feinen, hübschen Herrn Doktor speisen zu lassen.

Aber noch eine Wohltat erwuchs Benedikt aus der Anwesenheit des Gastes.

So stand es ihm wenigstens frei, die Muße der Feiernachmittage nach Bedünken zu verbringen und den Pfarrer seinen verwandtschaftlichen Rücksichten zu überlassen. Nachdem er nun die Ostersonntagvesper den Büchern und ernsthafter Musik gewidmet, durfte er die Freistunden des nächsten, minder gewichtigen Festtages um so leichteren Gewissens im liebgewordenen Kreise genießen.

Unterwegs fing Fräulein Amalie ihn auf.

»Weiß der Herr Doktor schon das Allerneueste?«

Benedikt verneinte erstaunt.

Fräulein Amalie dämpfte ihre Stimme zu eindringlichem Flüstern herab.

»Der Herr Doktor ist aber auch der einzige, dem ich's sag. Nämlich, was so die Leut reden – für g'wiß weiß man's ja noch net – leicht is kein wahrs Wörtl dran – – vom Krotzen die Veverl, die is heut in Sanktrain drunten zur Meß g'wesen, weil's doch mit dem Wendel, das is der Roßknecht, oder soll man sagen der Kutscher, vom Bären so wie versprochen is – – alsdann die hat's bracht – i steh für nix ein, so was redt si auf, je weiter als 's kommt, und wie d'Leut schon sein – – eins zum anderen, na, der Herr Kaplan kennt si ja aus – – – alsdann daß i net zuviel sag: ein Wunder is halt g'schehen, ein sichtbarlich's Wunder – –«

»Ein Wunder?« fragte Siebenschein; »was für ein Wunder?«

»Eben,« flüsterte Fräulein Mali; »kein so g'wöhnlich's Wunder, nix mit dem Heiligen oder mit dem Gnadenbild – ganz ein richtig's Wunder, wie nur in die Bücher zum Lesen steht, so wie beim heiligen Franziskus, dem am vierten Oktober mein ich …«

Benedikt horchte auf.

»Eine Stigmatisierung?«

Die Mali schüttelte den Kopf.

»Nix davon. Oben ganz im Gebirg, von einer Gesundbeterin die Tochter, die soll am heiligen Karfreitag um drei Uhr, oder so zwischen zwei und drei Uhr – – alsdann, daß ich's sag, die soll die heiligen Heilandswunden empfangen haben, ganz deutlich, so daß's ein jeder hätt sehn können – an die Händ und an die Füß und in der Seiten – – akkurat wie beim Herrn Jesus – – und das Blut is ihr auf der Stirn g'standen und aus den Wunden hat's tropft – – und dabei is wie im Schlaf g'legen und hat schon bald eine Wochen nix gessen g'habt oder noch länger … So is g'redt worden in Sanktrain drunten, also i steh für nix ein.«

Benedikt überlegte.

»Beim Allmächtigen ist alles möglich,« sagte er nach einer Weile; »was daran Wahres ist, werden wir ja bald hören.«

»Ja, aber wie kann sowas überhaupt kommen?« forschte Fräulein Mali erregt. Die Aufnahme, die ihr Bericht gefunden, befriedigte sie keineswegs.

»Von oben und von innen her kommt es,« erklärte Benedikt ruhig. »Könnten wir es erklären, es wäre kein Wunder.«

Aber das Gerücht fand in ihm doch einen Widerhall; erst an der Schwelle des Schulhauses verließen ihn die plötzlich entfachten Gedanken.

Kathrein empfing ihn mit besonderer Freude.

»Heute bringt Sie Ihr guter Genius, Doktor Benedikt,« sagte er aufgeräumt; »heute soll uns diese Enge zum Paradiese werden.«

Er wies auf einen Stoß von Notenheften, der auf dem Tische lag. Ein unförmiger Gegenstand, in grüne Leinwand gehüllt, lehnte zur Seite des Pianinos an der Wand.

»Ein Cello,« staunte Benedikt; dann stockte er in plötzlichem Erraten.

Kathrein bemerkte es wohl; beschwichtigend klopfte er dem Jüngeren auf die Schulter.

»Was machen Sie für Gesichter, Doktor Benedikt? Vor der Musik wenigstens sind wir alle gleich! Da gibt's kein rechts und links und weiß und schwarz – in der Musik wenigstens wollen wir doch alle dasselbe. In der Musik findet sich alle verirrte und verwirrte und versplitterte Menschheit zusammen – zur Menschlichkeit.«

Siebenschein biß sich auf die Lippen.

»Ich habe keine Vorurteile,« sagte er starr; »aber nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist …«

»Bilden Sie sich selbst eine Meinung,« schlug Kathrein vor; »es ist schließlich Ihre Christenpflicht – Ihre Priesterpflicht.«

»Das ist Ihre Auffassung, Herr Lehrer. Ich sehe aber meine Pflicht darin, allem Ärgernis aus dem Wege zu gehen.«

»Ein Mann, der Kranke heilt und Gutes tut, gibt kein Ärgernis,« verteidigte Marianne.

Siebenschein geriet über die Parteinahme für den Arzt in fast ärgerlichen Eifer.

»Doktor Wendt steht aber nun schon einmal im Verruf gehässiger Freigeisterei.«

Jetzt lachte Marianne Kathrein.

»Lieber Doktor Benedikt! … Sind Sie selbst denn gar so engen Geistes? … Und wir? … Nun also.«

Siebenschein sträubte sich mannhaft.

»Trotzdem – es tut mir ja sehr leid –«

»Wenn uns Doktor Wendt ebenso lieb und genehm ist wie Doktor Siebenschein … Oder wollen Sie uns verletzen?«

»Gewiß nicht.«

»Oder erscheint Ihnen der Verkehr mit uns bedenklich – ärgerniserregend?«

»Das ist doch etwas ganz anderes.«

»Das ist gar nichts anderes. Sie selbst können sich eigentlich nicht darüber wundern, daß Doktor Wendt zu unserer Geistlichkeit keine Herzensbeziehung findet. Und Doktor Wendt wird sich freuen, in Ihnen einer Ausnahme zu begegnen.«

»Ich will gar keine Ausnahme machen,« sagte Siebenschein schroff.

Der Lehrer stimmte gelassen am Gesait seiner Violine.

»Gott ist so groß,« beschwichtigte er; »daß doch die Menschen ihn immer so klein haben wollen, wo in seinem Mantel Platz für alle ist! … Hier sind Sie ja nichts weiter als Cembalist, und Doktor Wendt ist heute nichts anderes als Cellist – und eine gute Harmonie besteht aus mehreren Stimmen.«

»Und in Musik versöhnt sich doch alles,« bat nun auch Verena; »wenn Sie Doktor Wendt erst einmal spielen gehört haben – –«

Da vernahm Benedikt die milde Abendstimme seines Bischofs, und jene Stunde kam ihm ins Gedächtnis, da der greise Fürst von der gottnächsten aller Künste, von ihren Wundern und ihrem Geheimnis, von dieser inbrünstigsten und heiligsten aller Sprachen zu ihm geredet: und er kämpfte und zögerte und blieb.

»Da kommt schon der Doktor,« rief Marianne; »er war bei der Rießbäuerin drüben, sie hat sich am Freitag am Backofen so schlimm zugerichtet, der Ärmel hat Feuer gefangen, ein Glück noch, daß die Magd dabei war und das Wasser zum Teigfeuchten bei der Hand …«

Werner Wendt begrüßte den jungen Priester nicht gerade unfreundlich, aber doch zurückhaltend; auf seiner schweren, ernsthaften Männerstirne stand dunkles Mißtrauen.

»Eigentlich kennen wir uns schon,« erinnerte er; »ein trauriger Anlaß war es obendrein.«

Wie es um die Rießbäuerin stünde, erkundigte sich Benedikt sachlich.

Wendt lächelte verbissen in seinen Bart.

»Mit Brandwunden höherer Grade scheint sich mein Sanktrainer Kollega nicht befassen zu wollen,« sagte er grimmig; »da muß also die irdische Apotheke helfen. Es sieht häßlich aus, ist lange nicht so schlimm wie manche innerliche Verschleppung…« Er zerbiß den Satz. »Da droben im Berg gibt's jetzt einen lehrreicheren Fall.«

»Das ist unser Unzinger Meister,« lenkte Kathrein ab; »heute spielen wir drei uns bolzengrad ins Himmelreich hinein.«

»Hat noch Zeit damit,« brummte Wendt. Dann sah er zu Verena hinüber. »Und Sie?«

»Oh, ich spiele mit. Meine Seele spielt mit – Geige, Cello und Klavier zugleich. Das ist noch schöner.«

»Den Mendelssohn nehmen wir zuerst vor,« betrieb Kathrein; »das erste oder das Ozean-Trio?«

»Eins so schön wie das andere,« sagte Wendt; »das D-moll leg heraus, da kann uns der hochwürdige Herr gleich etwas beweisen.«

Benedikt wurde zaghaft.

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Sie können's,« ermutigte Verena; »Sie!«

»Alles kann er,« bestätigte Marianne.

Wendt putzte an den goldgefaßten Gläsern seines Kneifers.

»Es wird schon gehen,« murrte er, die blanken Linsen gegen das Fenster haltend; »wird schon gehen, so oder so. Man versucht eben, ob man zusammenpaßt. Also, von mir aus.«

Er steckte das falbseidene Schnupftuch ein und klemmte den federnden Brückenbügel zwischen die goldbraunen Brauen.

Benedikt blätterte die Partitur durch, versuchte sich halblaut an diesem und jenem der schwierigeren Gänge; Wendt horchte hin, während er der leisdröhnenden Kniegeige den grünen Mantel abhäutete.

»Das kann ja werden;« die Wirbel knarrten; »bitte, A.«

»Und ich bitte um Nachsicht,« seufzte Siebenschein; »ich spiele vom Blatt, und es sind viele Noten.«

»Nehmen wir schonendes Zeitmaß,« mahnte Kathrein; »mit der Wärme kommt dann von selbst der schnellere Puls.« Er taktierte mit dem Bogen vor: »Eins, zwei, drei – Ein, zwei – –«

Da strich Wendt auch schon das Auftakts- A mit inniger Macht aus seinem Gesait heraus, einen Ton von solcher Inbrunst und Größe, daß Benedikt meinte, sein eigenes Blut aufklingen zu hören, und darüber beinahe den Einsatz versäumte. Aber er haschte sich noch zurecht, und nun wogte das stolztragische, leidenschaftliche Thema dunkelgewaltig dahin, bis im sechzehnten Takte von Kathrein her die Seraphstimme der Violine hereinstrahlte, leise aufhellend und doch schauernd von süßer Trauer, wie wolkiger Frühlingsmond auf einsamen Grabzypressen.

Benedikt vergaß alles, Zeit, Raum und sich selbst. Kaum merkte er es, daß Verena hilfreich hinter ihm stand, die Blätter zu wenden: – denn der Part besaß atemlos gedrängte Stellen; und da er es merkte, empfand er ihre mädchenwarme Nähe wie das Mitklingen einer geheimen inneren Stimme, wie das Mitbrennen einer holden Flamme, beglückend, sanft und ruhig. Nichts mehr verspürte er von Befangenheit; die Lohe leckte an ihm herauf und schlug über ihm zusammen. Als beherrschte er das fremde Werk bis in die letzte Pause hinein, so spielte er, erfüllt von aufgeregter Trunkenheit und ihrem heißen Mute. Er meinte getragen zu werden, da er selbst trug; folgen zu müssen, da er selbst drängte und mitriß. Er erlebte das Werk im triebhaften Wiederschaffen; da er es gestaltete, geschah es übermächtig an ihm wie eine jener plötzlichen großen Stunden, da die Ewigkeit in unsere Zeit hereinbricht. Er jagte; er verhielt und dämpfte; er brandete selbst auf in jener dröhnenden Fortissimowoge, die alle süße Wildnis und herbe Zartheit der Themen in einen einzigen, prachtvoll aufbäumenden Ausbruch zusammenrafft, einige Takte lang schwindelnd hoch emporbrüllt, um dann vor den rasend daherfegenden Sturmtriolen in der schäumenden, jauchzenden, wirbelnden Wut des Schlusses unterzugehen.

Unentweihte Stille blieb, als der letzte Akkord abriß; nur Kathrein hustete leise, als täuschte er sich damit über irgend etwas hinweg, und Wendt zog, ohne aufzusehen, die Wirbel seines Instrumentes nach. Da begann Benedikt aber auch schon mit dem Vorspiel des rührend frommen, kindlich schlichten Mittelsatzes, das wie ein betender Frühlingsmorgen voll Knospen und Sonne und Verheißung aufgeht nach der schwarzwühlenden Dämonennacht des Allegro. Kathrein blickte fragend nach dem Arzte hinüber; der aber lauschte ernst auf das Griffbrett seines Violoncells hinab und horchte mit strichgezücktem Bogen. Jetzt setzte er ein, bald darauf einte sich die Geige der schwellenden Sangesfülle.

Wendt gab sein Bestes. Alle Innigkeit holte er aus dem Gesaite heraus und verhielt sie dennoch, daß jeder Ton vom Puls gefangenen Gefühles bebte wie eine tiefe, gute Mannesstimme. Kathrein aber ließ die unschuldige Inbrunst seiner Violine frei aufsteigen; sie wuchs gleich einer schlanken Opferflamme und hob sich verzückt über die bewegte Ruhe der Bässe und umschlang sie und verwob sich ihnen und schwebte ins Licht hinein wie die Seele einer Heiligen. Verena stand noch immer hinter Benedikt; aber die Noten schwammen ihr im Blick, kaum vermochte sie dem Spiele zu folgen, und da sie die Seiten wendete, fiel ein heißer Tropfen auf Siebenscheins Hand – er ward es nicht gewahr.

Und sie spielten den dritten Satz, und sie führten den vierten herauf, den kriegerischen, den stampfenden, den siegreichen. Jetzt schärfte sich des alten Schulmeisters Bogen zur Klinge; er spielte Schwerthiebe, stählerne Blitze spielte er, Funkenschlag und zischenden Streich. Benedikt trieb, spornte, peitschte das Tempo. Aus leidenschaftlichem Moll sprangen die Themen in sprühendes Dur hinüber. Die Violine jauchzte; das Cello warb und drängte; und beide schlugen zusammen und stürzten in lodernder Umarmung in die große Flammenflut, in die blendende Oktavenkaskade, in den Abgrund, in die Ewigkeit.

So wurde den Dreien Mendelssohns Opus neunundvierzig unsterblich.

Wendt stand mit einem Rucke auf, lehnte seine Kniegeige weg und trat zu Benedikt, der noch immer glühend dasaß, verstört und starr vor Glück.

»Das war schön,« sagte er einfach; aber seine tiefe braune Stimme gestand mehr.

Benedikt ergriff wie im Traume die dargebotene Hand.

»Ich habe doch gar keinen Anteil daran,« wehrte er.

»Doch,« sagte Wendt fast herzlich; »und wenn Sie es nicht wissen, um so besser.«

»Das kommt so über mich,« entschuldigte Siebenschein; »die Musik trägt mich einfach fort und über Schwierigkeiten und Hindernisse hinweg, anstatt daß ich sie meistere.«

Wendt sah ihm in die Augen.

»Darauf kommt es nicht an. Wie es über Sie kommt und von woher, das ist hier Nebensache. Aber daß Sie so empfangen und wiedergeben können, darauf kommt es an, nicht auf kalte, fleckenlose Meisterschaft. Zuerst muß der Mensch empfangen können, daß das Werk oder das Wort lebendig und warm in ihm wird. Und das ist Ihnen gegeben.«

Kathrein rieb sich die Hände.

»Hab ich's nicht gesagt, daß wir uns heute engelsgrad ins Himmelreich hinaufspielen würden?«

Marianne strahlte.

»Und habe ich nicht gesagt, daß alles möglich ist?«

Nur Verena schwieg; aber auf dem Grunde ihrer Augen schimmerte das Wunder.


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