Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Einem Strigon, einem, der nachts aufbricht aus seinem Grab und durch das Mondland schweift nach Blut und Seelen, einem solchen muß man nochmals das ungestorbene unersättliche Wolfsherz töten, daß die Lebenden Ruhe bekommen von seinem Umgang und er selbst Erlösung findet vom Leben und seiner Sucht.

Man schneidet zu gewisser Zauberstunde einen Stecken von heiligem gefeitem Holz, spitzt ihn zu einem Pfahl und treibt ihn dem im Totenblutrausch schlummernden Gespensterleib durch die Brust.

Dann ergießt er einen Strom schwarzen gedickten Bluts wie die Blase des vollgesogenen Holzbocks, er sinkt ein wie ein geleerter Schlauch, zerfällt sogleich in Verwesung, und der Vampir ist endlich tot.

Es hat damit seine mancherlei Schwierigkeiten und Gefahren.

Der helle Tag ist solchem Wagnis nicht hold, des Nachts aber ist die Seele des Strigon häufig unterwegs, und wehe dem, den sie heimkehrend bei ihrer Hülle betrifft.

Mancher schon, der den Strigon hatte töten wollen, war anderen Margens mit gebrochenem Halse, blutleer, mit einer schaurigen Saugwunde an der Kehle aufgefunden worden.

Bisweilen, wenn der Stoß glückt, vernimmt man aus den Lüften einen grausen Schrei und ein Stürmen und Nahen. Dann gilt es, sich ungesäumt und ungescheut mit dem herausquellenden Schwarzblut Kopf, Herz und Nacken im Namen der heiligen Dreifaltigkeit, unter Anrufung des heiligen Christoph und der heiligen Corona in Kreuzesform zu zeichnen und den Pfahlstock im Kreuzwinkel über den einsinkenden Leichenbalg zu legen: so hat der Vampir keine Gewalt über den Bannenden und keine Zufahrt zu seinem zerstörten Gehäus, keine Statt mehr und keinen Halt in dieser Welt, er fällt herab wie eine gelähmte Fledermaus, verkriecht sich und vergeht oder wird von der Hölle verschlungen.

*

Ilija Schorman hockte im Waldversteck und schnitzte nachdenklich am Pfahlstock aus zähem, weißem, unheilwehrendem Hainbuchenholz.

Vielleicht war es Hainbuchenholz; in seiner Heimat drunten bei Grischane auf dem Grat zwischen dem gesegneten Vinodol und dem Sturmkanal, dort gab es keine Wälder wie diese hier, und er kannte sich nicht recht aus unter den Bäumen und ihren Hölzern. Aber es würde schon das richtige sein, mit Gottes Hilfe und Willen; Hainbuchenholz, das der Blitz und die Hagelhexe und alle Unholden scheuen.

Freilich, was war das gegen das Holz der türkischen Weichsel mit seinem süßen sonnwarmen Würzduft: Duft nach Tabak, Licht, Stille, Heimat – –

Würde er sie je wieder schauen, jene trauten kleinen Buschhaine, vernistet in den heißen weißen Felsen überm schmelzblauen Kanal, in den fahlen Steinhängen überm föhnverdüsterten Frühlingsmeer? … Je wieder?

Und die Wälder im fernen Lande Wis-kond-zin sollten noch anders tief und wild sein wie diese hier, und dort gab es sicherlich noch viele fremde Bäume und Hölzer.

Den Baum »Hi-ko-ri« und den Baum »Spruhß«, Bäume so hoch und dick wie der Campanil des Domes zu Krk, hatte der Gevatter aus Klana ob Castua erzählt. Und der mußte es wissen, denn er hatte solche Bäume gefällt.

Aber wenn sie noch so himmelmächtig waren, die Bäume »Hi-ko-ri« und »Spruhß«, was bedeuteten sie gegen den Baum Marascha, den Baum der Wonne, der Wärme, der wölkenden Träume, der versunkenen Seligkeit?

Ob er auch dort wuchs, grünte, seine sprenklig blutbraune Rinde, seine zarte, lichte Blüte, seine würzige Kirschfrucht trug?

Eigentlich müßte es wohl sein; denn im fernen Paradiesland Wis-kond-zin war das Glück, und wo das Glück wohnte, mußte der Baum Marascha duften.

Man hätte doch lieber gleich dorthin gehen sollen. Aber vielleicht kam man dereinst noch dahin, mit Hilfe eben dieses Pfahlstocks aus Hainbuchenholz …

Ilija Schorman besaß keinen Kalender, und er hätte ohnehin nicht lesen können darin.

Nur das, wann Sonntag war, das wußte er so ungefähr aus dem Feierabendgeläut der Kirchlein in den Hügeln und aus dem festlicheren Verkehr drunten auf der Straße im Tal. Allein es gab dazwischen auch Feiertage, und die verrückten die ganze unsichere Ordnung.

Sonntag war sonst gewesen, wenn die Duscha ihren ernsten Staat anlegte und den Marktkorb mit den Käselaibchen und den kleinen Ölbaumholzbündeln oder im Sommer mit den blutdurchglühten Maraschakirschen aufs Haupt schwang, wenn für ihn ein frisches, sorgfältig gepreßtes Hemde und für die Mittagspfanne ein besonders mürb geklopftes Stück Kraken oder gar ein Kalmar bereit lag. Hier aber war keine Duscha, keine treusorgende, liebesduldende Seele um ihn, der aussah wie ein Räuber, wie ein Zigeuner – wie ein lästiger stinkender Hund, ja, den man niederschießt, ja – jetzt nicht und vielleicht nimmermehr bis zum Wiedersehen im abendfernen Glücksland Wis-kond-zin.

Und dahin war es noch ein langer Weg; ein Weg, an dem tausend wie er hätten tausend Jahre lang minieren müssen, Wucht um Wucht, Strich um Strich, Zoll um Zoll … Ein Weg, nicht zu gehen ohne diesen Pfahlstock aus heiligem Hainbuchenholz.

Er hätte ihn eigentlich in einer Losnacht schneiden müssen, unterm vollen oder im abnehmenden Mond, er wußte es nicht so genau; vielleicht ging es auch so. Und es hätte eigentlich in der herbstlichen Quaterwoche geschehen müssen, da sind die Bösen gebunden und haben keine Gewalt über die Kinder Gottes. Aber wann würde Quatember sein, oder war er am Ende schon gewesen? Schorman wußte es nicht. Das eine nur wußte er, daß er dem Strigon den Garaus machen mußte um jeden Preis, oder er kam nimmermehr fort von hier, nicht nach der Heimat, nicht nach dem verheißenen Lande Wis-kond-zin.

Der ihm immer im Nacken saß, der ihn auf Schritt und Tritt beschwerte, der ihn überallhin begleitete, der zu jeder Stunde an seiner Herzkraft zehrte, der mußte noch einmal erschlagen werden. Gründlich.

Von daher kam das alles, von diesem. Darüber war Ilija Schorman mit sich eins geworden in hammerharter, schwermütig zähgrübelnder Arbeit.

Der lebte noch, der andere, als Vampir, wie er unter den Menschen schon einer gewesen. Lebte, wie ein geheimes Nachttier, das sich dem Lichte und dem Schein tot stellt, im Dunkel aber sich leise entrollt, durch das Land spürt und wesenlos eindringt in die warmen Stuben und Ställe, würgt und saugt, reitet und raubt.

Er hatte von solchen gespenstischen Tieren gehört, Schlangen und riesigen Spinnen, Schleichratten, Kraken, die unterm Mondenstrahl dem Meere entstiegen und auf ihren Greifarmen schleimigglimmernd nach den Fischerhütten am Strande krochen. Ein solches Spukgeschöpf war der Strigon. Die Kameraden selbst mit ihrem wilden Verdacht hatten ihn darauf gebracht. Lange hatte er darüber gesonnen und gesponnen, nun wußte er's klar. Er selbst war nicht, den sie ihn geschimpft, als den sie ihn angeklagt und verstoßen; aber gemacht hatte er einen solchen, von jenem unter den Steinen kam aller Unglück und aller Spuk, und der mußte gänzlich ertötet werden.

Dann war er frei. Dann gewann er vielleicht doch noch die Beute der unfehlbaren Büchse, die goldenen Hörner des verwunschenen Bockes, den alten Schatz im Berge. Dann würde vielleicht auch die Ljubitza nicht mehr zurückschaudern vor seinem Doppelschatten. Dann schmeckte er vielleicht nicht mehr nach Blut und Aas. Dann würde er endlich seinen Weg antreten können nach dem verheißenen Abendlande, wo unter den Bäumen Hi-ko-ri und Spruhß, hoch wie der Domglockenturm auf Krk, der paradiesische Friede wohnt.

Dann.

Und vielleicht, ja, gab es noch einmal einen Sonntag mit Geläut und blauer Meeresstille, und ein frisches, neues Heimathemd, und mittags einen Calamajo in Öl.

Vielleicht.

*

Es war in der Nacht, da der Sommer mit einem letzten rauschenden Gewitter wilden Abschied nahm von den Wäldern.

Von Isterberg her über die Höhen, von Gorica herauf aus den brauenden Brüchern, von Landstraß und Munkendorf durch die Grenzschluchten zur Gurk, von allen Seiten unter schwellendem Schüttergedröhn der huschenden Himmel kam es schweflig hereingeleuchtet. Die Geister heulten, Sturmhexen pfiffen, Wütenheer johlte, Windbracken kläfften; in der Halde aber unter der Trasse, wo sie nach erstem Anlauf gegen die Lehne sich in einen Seitentobel wegwindet, dort zwischen dem bleich überflackerten Sprengschutt ging ruhlos eine Gestalt um.

So recht, so gut, je wüster, so besser. In solcher Nacht läuft einem schon keiner so bald der Kreuz, nicht Menschenseele aus Dach und Fach, nicht Gespenst von den Teufelstanzböden.

Hier war es gewesen, hier, ja; damals, als die Maronenblüte mit dem bleichen Johanniskraut zusammen so wild und fleischig unter schwerer Schwüle roch; wie Blut roch, wie Mensch roch, wie die Ljubitza roch, die jetzt anders hieß; damals.

Und hatten ihn nicht gefunden, so nah, so mitten unter ihnen fast; und hatten selbst noch Bruch und Schutt über ihn gehäuft, hatten selbst noch dazu geholfen, daß sie ihn begrub, die ihn gebracht, der er mit ihnen gedient, die Straße.

Die Straße. Verdammte Straße, die auch ihn diesen Irrweg geführt.

Da droben im fackelnden Wetterschein leuchtete ihr schräger Schürf bleich aus dem sturmwogenden Dunkel der Berge.

So hatte er sie hundertmal gesehen aus seinem Schlupf drüben in den Wäldern; würde sie bis an das Ende seines Lebens vor sich sehen, nacktwimmelnden, eisenklirrenden Bruch, glastend im lohglosenden Kessel; würde sie gehen und brechen, brechen und weitergehen müssen bis ans Ende seiner Welt.

So mochte die Hölle sein. Das war die Hölle, vielleicht würde er auch dort wieder den schweren Zweihänder schwingen müssen auf den dröhnenden Bohrmeißel im lodernden Gestein, Wucht um Wucht, Strich um Strich, Zoll um Zoll, in alle Ewigkeit.

Wie Gott will. Was wollen wir? Gottes Wille.

Hier herum; hier irgendwo; wenn man nur den Mond noch haben könnte zu dieser Finsternis, ganz für sich allein, das wäre gut.

Oh, aber fein hatte er sich's ausgedacht bei verträumter Zigarette im Halbschlaf – wie man eben am besten denkt –, er, den sie für stumpf und stumm hielten, fein! … Das mit eben der Straße; das mit dem Versteck unter dem von selbst wachsenden Hügel; das mit dem irrenden Schuß; das Ganze.

Und wenn sie ihn je durch Zufall fanden, dann hatte er gar nicht diesen verdächtigen Schuß im Kopfe, sondern einen Schlag.

Schlag von einem Hammer; es konnte auch der Schlag von einem abgehenden Stein sein; von irgend etwas.

Wie der geklungen hatte, dieser Schlag; anders als auf den schmiedenen Bohrmeißel droben in den brennenden Felsen, anders. Erst die geisterstimmige Stille; dann die Schritte von ferne heran im Tal und das eigene Herz; jetzt Sprung und Schwung aus dem Hinterhalt und dumpf zermalmender Fall …

Fein, ja, fein hatte er's ausgerechnet und gesponnen, damals in glimmender Ruhe, nach jener anderen Nacht der Bitternis und der Rache. Fein, ja; nur das eine nicht. Das hatte er nicht vorausahnen können, das mit dem Totenreiter im Nacken: daß so einer in jenem gesessen wie der Wurm im Ei, wie Kern in der Frucht, daß er den Menschen nur umgebracht und nicht den Wolfsgeist … Und war nicht etwas wie eine große Fledermaus, wie eine Eule, ein flügelnder Schatten damals aufgeflattert aus der Mordschlucht und hinweg in die Finsternis? …

Da: Stimmen? … Schritte? … Kommt er wieder das Tal herauf? … Nacht um Nacht in alle Ewigkeit vielleicht so, bis zu seiner Erlösung, oder nur wie heut unter Wettergeleucht? … Bach drüben, was da murmelt? … Sturm über den Höhen, Gronen und Grummeln der Donner? … Irrlicht das oder Schwefelflamme, Fratze dahinter oder Gesicht? … Jetzt, im fahlen Schlagschein das Starrende dort, was war das gewesen, Menschgestalt, Spuk? … Wird doch keiner, um diese Stunde, vor dem Ausbruch? … Von den Baracken herunter blinken noch Fenster. Wenn die wüßten! … Und wenn man nur sähe, warten bis zum Frühschauer? … Daß sie dann zurückkehren von Jagd und Tanz und drehen einem den Hals um! … Nein. Unter diesen drei Steinlasten. Schutt hat sich drüberhin angeböscht, um so besser, den räumt man schon langsam weg, Brocken für Brocken. Müßte ihn ja eigentlich … Aber es ging eine Rede, solch ein Strigon läge immer hohl und buchtig geschützt in seinem Grab. Wie die Kröte im Stein. Und vielleicht … Damals hatte er sich nicht gefährden wollen … Vielleicht hatte er auch Geld bei sich … Viel, viel Geld. Von der Alten. Hatte es doch holen wollen. Geld! … Geld: Tabak, Wis-kond-zin, alles.

*

Droben aber in der Kantine lärmt Eiselt der Former die halbverschlafene Schlampe wach und verlangt Schnaps und Gesellschaft.

»Das gibt was, sag ich euch. Über den Wäldern alles ein Fegfeuer zusamt der Höll und allen armen Seelen. Wie sich's gehört, wenn alte Hexen der Teufel holt. Also die Konfinka ist am Krepieren; das Neueste.«

Der Magazinmeister Jacksch, der sich gerne auf einen und den anderen Sliwowitz hinzugefunden – wer wird schon einen Meter Zündschnur stehlen wollen in solchem Gewetter, Unsinn – hält im Anbrennen seiner »Gemischten« inne, und die Schlampe hängt sich in ihr Gähnen hinein zähnestochernd tiefer über den Tisch.

»Die? … Der Teufel. Da hätt' man gemeint, die überlebt noch den Jüngsten Tag und fangt von vorne an. Hab sie gut kennt.«

»Wer nicht? In der waren wir viele Brüder.« Eiselt lachte heiser. »Bei der haben sich viele den Text geholt. Na, jetzt kommt s' einmal selber dran. Der Rauchfang wartet schon auf ihre Himmelfahrt.«

Der Magazinmeister sog nachdenklich an seiner aufblätternden Stänkerin. »Ja no; ganz so recht beisammen war sie schon die längste Zeit nimmer. Seit der Geschicht – –«

Eiselt fiel mit gestrecktem Zeigfinger ein: »Und da fangt das Aufhören an. Der Schluß, von vielem. Das hat so was wie ein Schloß gesprengt, bei ihr, da drinnen. Ja. Also, na, und gestern, weiß nicht, da muß noch was dazu geschehen sein …«

»Ja, wie? … Habens ihn gar gefunden?«

»Weiß nicht und nichts. Das kann aber sehr leicht auch noch möglich sein. Und ich sag' euch, da gibt's vieles zu finden; nicht nur den. Ich komm von da drunten. Da ist was geschehen. Könnt mir beinah denken, was …«

Ein brandblauer Blitz blendete ins Tal; die Kellnerin kreuzte sich. »Jesus Maria.« Der Former spuckte wieder aus und stürzte seinen Schnapsstulp in einem Schlag hinweg.

»Na, so was denn?«

Eiselt blinzelte. »Langsam, habt's doch den Stermelz gekannt, den Alten, den Fuhrknecht?«

»Wie nicht? Soll's doch mit ihr gehalten haben die längste Zeit? Wann war's … Seltsam, noch grad gestern hab ich zum Schuller, dem einen von den Partieführern gesagt, wie das doch sonderbar ist, daß man den Stermelz seit einigem gar nimmer so sieht und peitschknallen hört wie sonst …«

»Und wirst ihn auch nimmer so sehen und peitschknallen hören wie sonst. Ich frag ja drum: habt's ihn gekannt, habt's ihn? … Also: der ist nämlich verschwunden.«

»Verschwunden, der Stermelz?«

»Derselbe. Und da stinkt was. Da raucht was. Da brenzelt was. Da stimmt was nicht. Der ist verschwunden seit vorgestern, und die ganzen Monat her war er schon so eigen, jetzt noch etlicher sechs Wochen krank. Ein Roß hätt' ihn geschlagen: – wird schon ein Pferdefuß gewesen sein, ja. Der Stermelz verschwunden – sie, die Alte, zum Verrecken, ohne daß man recht wisset – na, wie reimt sich das aufeinander, hä?«

Wetterwucht wälzte über die wogenden Wälder. Der Magazinmeister rückte näher und genehmigte einen zweiten Zwetschgenen. Wenn schon an Schreck und Ungunst grad genug vorgefallen in diesem Sommer, das mußte genossen werden …

»Ich werd euch sagen: da glimmt was. Der Stermelz und die Alte … Da haben sich Sachen zugetragen in früherer Zeit: man spricht nicht gerne davon. Daß man nicht noch in was hineinkämet. Aber das mit dem grünen Giftbürschel da, ich weiß nicht. Der Stermelz, der hat verdammt viele Schmitze gehabt in seiner Peitschenschnur. Der war schwarz hinter den Ohren. Und lang genug habens zusammengehalten, die zwei. All die langen Jahre, wo schon nichts mehr war mit der Hütte: wir sind verhungert und bei lebendigem Leib verfault da drinnen in dem Loch, der aber ist in Schmalz gebettet gesessen bei der Kuppelmutter, und immer hat sich für die zwei was gerührt … Na, ich war's ihm nicht neidig; lieber mit dem Teufel selber sich auf Blutsbruderschaft einlassen als auf Tisch und Bett mit seiner Geliebten …«

»Und was meinst, was da gewesen sein soll?«

Der Former zuckte vieldeutig die Achseln.

»Das: Eins zieht das andre und einer den andren nach sich. Das. Und – –«

Ein Strahl mit seinem prasselweißen Scheinwurf unterbrach ihn; stockend starrte er nach den qualmgetrübten Fenstern der Bretterbude. Sturm mit dumpfen Donnermassen stürzte in die Schlucht.

»Was hast denn auf einmal?«

»Nichts, nichts.«

»Ein Blitz halt, es kommt, was schaust denn so?«

»Nichts, nichts.«

»Hast was gesehen?«

»Nichts, nichts. Nur … Mir war so … Nämlich …«

»Geh, no, bist du fürchtig worden? Glaubst auch vielleicht schon an Geister und Gespenster?«

Eiselt hob die Brauen. »Ein bissel abergläubisch sind wir Glasmacher alle.« Er kramte eine zerbrochene Zigarette aus der Westentasche und klebte sie mit einem benetzten Papierfleck sorgfältigst zurecht. »Ich ja nicht. Aber es sind ganz merkwürdige Dinge um Glas und Glasgewerb. Man gewöhnt sich alles wie durch Glas zu sehen oder gläsern … Ich werd euch sagen: wenn ich je einem Gespenst begegnet bin, dann heut. Jetzt vor einer Viertelstund, keine dreihundert Schritt weiter drunten.«

Der Magazinmeister grunzte. »Tätst uns gern schrecken, hä? Weil Tod und Trauer noch nicht genug umgehn dahier in dem malefizigen Pestgraben?«

Und die Kellnerin, mit einem gescheuchten Blick nach dem Fenster, schauderte. »Jesus, und wo ich mich so schon fürcht in der Nacht.«

»Wenn grad keiner da ist, dich zu wärmen?« Der Former grinste. »Nein, also Ehrenwort. Drunten die Hex am Krepieren, hier droben hockt der Teufel auf dem Stein und wartet auf den fetten Braten. Geht's hin, probiert's selber. Aber das Schönste, wem er gleichschaut, der Teufel, wißts, wem?«

Jacksch versuchte zu lachen. »Einem rußigen Kessel vielleicht, in dem man die Zwetschken brennt, mit den zwei Röhren als Hörner? Wär's um Lichtmeß, ich meinet bald, du wärst einem solchen am ehsten begegnet.«

»Keinen Spaß.« Eiselt schüttelte den Kopf. »Nüchtern wie der heilige Aschermittwoch. Also, so werd ich euch erzählen. Genau so schaut der Teufel aus, soviel ich im Blitzen hab sehn können, wie der Kerl, den ihr weggestaubt habts; der Krabat da oder Morlak oder was weiß ich. Der den anderen auf die Seiten gebracht haben soll, den Giftbuben. Macht sich dort unter den Steinen was Geheimes zu schaffen; wie einer, der einen Schatz grabt. Gibt da vielleicht einen Schatz zu graben, wer weiß; den vielleicht, von dem man – –«

Prasselnde Zündung riß vom Himmel, die Berge erbebten bis in den Grund, der Regen barst. Das Wetter war da.

*

Im Konfin drunten hauste das Grauen.

Volle vierzehn Stunden, nachdem die Berta sie drunten im hintersten Keller blutig hingestreckt gefunden, hatte die Horvatitschka wie verlöschend, mit dunsig verfallenem, fiebrisch zuckendem Gesicht gelegen; war dann ganz plötzlich mit wilder Kraft aufgesprungen, und jetzt wanderte sie rastlos unter dumpfen Murmelsprüchen, das Küchenbeil in der Faust, treppauf und -nieder in der Wirtschaft umher, schloß Türen und Fenster, Laden und Kasten hundertmal wiederkehrend und aber wiederkehrend auf und zu, auf und zu, spähte unter jedes Spind, hinein in jeden Ofen, unter jede Bank, in die Teigmulde, ins Backgewölb, erstieg den Boden, kramte in den Kammern, warf Schrein und Schrank aus, wühlte in der Mehltruhe, schlug mit Deckeln und Klappen, haute mit Gerät und Gerümpel, grub in den Betten, zerwirkte Strohsack und Matratz, und auf ihrer blutverharschten Stirne stand der schwarze Wahnsinn, in ihren irren, unterlaufenen Augen dunkelte der Tod.

Nur auf der Stiege draußen zum Kellergeschoß hinab kehrte sie jedesmal wie in dumpf aufflackernder Besinnung um.

Die Berta war nicht ratlos noch fürchtete sie sich. Sie sah ruhig zu und tat ihre Christenpflicht und wartete und war nur noch neugierig aufs Ende aller dieser Dinge.

Das war sie, die ihre Jugend aus dem Elend in die glücklose Schande verschachert, die aus soviel Weibsnot und Angst das Sündengeld erwuchert, die Kindswürgerin, die Giftmischerin, die Seelenverkäuferin – –

Ob sie den Pfarrer holen solle? … Den Doktor aus Samobor oder Jessenitz? … Die Gendarmerie? … Die Alte starrte sie nur finster an und schlurfte murmelnd weiter den Kreisweg ihrer wahnwütigen Suche.

Oder von den Nachbarn einen? … Den Gevatter? … Zur Antwort riß die Horvatitschka zum vierten Male das Bett durcheinander, daß Federflaum und Stroh stoben, weidete die Truhe aus, räumte den Wandschrank von Tabak und Zündwerk, alles zuhauf. Da! … Da! … Das sind die Nachbarn … Alles weg, begraben! … Begraben? … Begraben, ja! wiederholte die Irre herrisch, hinunter in die Hölle mit allen, ins Feuer! … Sie ging und vergaß, und die Berta hinter ihr stellte eilig die Ordnung wieder her.

Man konnte sie ohnehin nicht alleine lassen. Sie hätte sich das Haus noch überm lebendigen Kopfe angezündet.

Aber einmal wurde es gefährlich. »Soll ich hinaufgehen nach der Glashütte, den Stermelz suchen?« Wie der Blitz schlug das ein. Getroffen horchte die Horvatitschka, ihre Augen funkelten, sie brach los. »Wo hast ihn? … Du hast ihn versteckt, daß er mich umbringt! … Wo hast ihn versteckt?« Das Beil fuchtelte, die Berta flüchtete beiseit, die Alte fiel vornüber hin und blieb wimmernd liegen. Aber mit unheimlicher Kraft half sie sich wieder auf, und als sie stand, hatte sie schon vergessen, dumpfmurmelnd setzte sie ihre Wanderung fort.

Spätsommernd schwüler Erntewerktag, drunten im breiteren Talboden zogen schwerschwanke Grummetlasten, hier und da regte sich's schon in den angilbenden Maisfeldern, Hirtenpeitschen knallten, fahl aufdunkelndes Wetter drängte, kein Gast, der kam. Um Vesper endlich hielt ein Junzengespann, hoch mit würzigem Bergheu, vor dem Konfin. Gleichmütig setzte die Berta dem Gevatter seinen Viertelstutzen auf den Pfahltisch, und dabei fiel es ihr seit langem plötzlich ein, wie über diesen Tisch damals ihr Vater im letzten Schlummer gelegen … No, was ist, die Alte gar nimmer – – Öh, Brauner, öh, öh! … Grauer, öh, wohin denn, wohin, wollt's ihr ganz allein zu saufen haben, ihr Reitvieh des Teufels, öh! – – die Alte gar nimmer zu sehen? Wirst wohl du den Konfin übernehmen als Nachfolgerin? Wär gar nicht ohne; ein gutes Geschäft hier am Platze für ein gerundetes Frauenzimmer … Da erzählte sie ihm kurz und in Auswahl, wie es in der Nacht gewesen und gekommen, und der Gevatter warf einen scheuen Blick nach den Fenstern, hatte es plötzlich sehr eilig mit seinem Stutzen, wischte sich den triefenden Schnauzer bald schon wie mit geheimer Bekreuzung, und brach auf. Das Gewitter! … Heut Nacht könnt was werden, das braut! … Schtija, Rumen, schtija hajs! … Und die Berta sah ihm nach, und wußte, nun kam es unter die Leute.

*

Sie war in der zweiten Stunde nach Mitternacht aufgewacht; geschreckt durch einen dumpfen Schlag, durch die tickende Totenstille: – nein, durch ein Traumgesicht, wie sie nachher genau wußte. Am Fußende ihres Schragens stand die Alte, blutüberschwemmt, eine Erscheinung: wieder einmal, hatte sie sich gedacht, spukender Unruh seit Wochen gewohnt, was denn heut nun, Litanei oder Gespensterjagd? … Doch da war ein Schrei aus der Tiefe durch ihre Schlaftrunknis gegangen: Berta, hilf mir! … und wie sie die Augen auftut, alles finster, die grause Gestalt verschwunden. Drunten in Küche und Stube keine Spur von der Horvatitschka; die Türe nach dem Pergel hinaus offen der hereinhauchenden Taukühle; unterm dunkelflüstrigen Waldgebirg drüben rauschte nächtig der Bach. Mit einer Kerze stieg sie draußen am Hause hinab; alles Stille und Schlaf; aber die Kellertüre verdächtig unverschlossen. Die Berta leuchtete in den wachsenden Schatten unterm Gebälk umher. Da war nichts. Friedlich neben Ackergerät und Heber schliefen die drei Lauffässer auf ihren Kufen. Leer auch der zweite Kellerraum; allein da klang es irgendwoher wie Brodeln und Schmatzen in einem beiseitgezogen still für sich weiterkochenden Topf, oder wie gluckerndes, quirlendes Grundwasser, und wie sie die Kerze hob und dann senkte, gewahrte die Horchende hinter einem verlassenen Fasse schwachdämmernden Schein: aus einer niedrigen Schlupftür, die sie früher nie bemerkt. Dorther kam das Geräusch; und dort, vier oder fünf erdmorsche und dann noch etlich drei felsene Glitschstufen hinab, in einer kleinen ausgepölzten Kellerkammer, neben einer schwarzen Faßmasse – oder was es schon war – lag die Horvatitschka auf dem Gesicht. Ihr Atem gurgelte blasig in einer Blutlache; im Strahl des stickdumpf auf fortgestelltem Leuchter schwelenden Talgstumpfes blinkerte die Klinge einer Erdkrampe, hinter dem Körper in den Berg hinab schachtete sich Tiefe wie Schlund oder Abgrund.

Die Berta dachte nicht lange nach, vielleicht, daß die Alte, von einer Schwäche, von der Stickluft überwältigt, in das Grabgerät gefallen und sich verletzt; oder sie hatte etwas Erschreckendes geschaut, vernommen, gefürchtet, sich eingebildet … Die Berta kniete zu ihr hin und untersuchte den atmenden Körper, nachdem sie ihn aus seiner Lage herumgewälzt und halbsitzend gegen das Faß gelehnt. Aus einer schwartig klaffenden Scheitelwunde durch das fettige graue Haar sumpfte und sickerte zäh das Blut.

Und da, im düsteren Schein der tiefergesetzt kaum noch mit kleiner Stickflamme brennenden Kerze erkannte sie, was die Alte zu Sturz gebracht, etwas, was sie selbst Herzschläge lang in stockendem Grauen starren ließ.

Aus dem Geschatte hinter den mattglitzernden Stichschollen ausgeschachteter Erde herauf dämmerte, was sie zunächst für den Stiel eines weggesetzten Spatens gehalten, und es war eine aus dem Grund emporgreifende, morschig verlederte Totenhand.–

Sie hatte sich bald gesammelt. Daß es Gerippe gebe in diesem Hause, das hatte sie längst gewußt, und ruhig darüber geschlafen, gelebt, geliebt. Mit größter Anstrengung und Kraft, das Licht in der Linken, schaffte und schleifte sie untergefaßt das bewußtlos sackende Gewicht der Alten die Treppen hinauf und durch die beiden vorderen Kellergelasse. Ihr Blick streifte die Kartoffelsäcke; der in den Wäldern draußen, der Wolf, der verwilderte Hund fiel ihr ein. Er hatte manches erlauert und erlauscht, sie selbst hatte ihm wohl das und jenes verraten. Aber darüber nachzudenken blieb immer noch Zeit. Wenn jetzt unter den Weiden drüben einer auf Spähposten stand, der andere, jener: und sah sie mit der Halbleiche da herauf aus dem Kellerloch tauchen? … Machte gar noch Gebrauch und vergeltende Gewalt davon … Verdacht würde ja auf sie fallen, das war gewiß. Einerlei, auch dieses gleich und alles eins; von ihr aus. Gegenbeweise genug. Die Leute? Ihres Bleibens wie dieses Lebens hier war ja nun doch nahes Ende. Auch darüber nachzugrübeln blieb spätere Muße. Und sie nahm sich noch die Ruhe zu bemerken, daß kein Schlüssel in der Kellertüre steckte. So mußte also noch jemand drunten gewesen sein, jemand, der die Türe erbrochen oder mit einem Haken geöffnet. Schwer zerrte sie den lastenden Körper die Stiege hinauf. Drüben unter den raunenden Erlen rauschte ruhig der Bach, die Spätsommergrille feilte im Tau, ein verfrühter Hahn krähte. Sie wuchtete die Alte auf ihr Bett, pflanzte ein neues Licht auf den Halter und holte Wasser, Essig und Linnen. Bös sah die Wunde aus, aber nicht gefährlich; wie ein scharfer Hieb, der gerade nur die vom schmeerigen Haarfilz geschützte Schwarte gespalten; nichts tieferes. Eigentlich müßte man das wohl nähen; nach mehr als einem roten Sonntag schon hatte sie eingedroschene Schädel, geschlitzte Bäuche auf Wirtstischen beleuchten helfen, während der Arzt, wo solcher zur Hand, rasierte, wusch, mit krummer Nadel die Nahten setzte; sie kannte keine Furcht, kein Grausen, sie konnte das nur spielen, den Mannsbildern zulieb. Das hier, das müßte man eigentlich auch so auflösen, balbieren, ausspülen, verschnüren und haubendick verbinden; nun, aber sie verstand nichts davon. Unter der feuchten Kühlung erwachte die Wunde, ihr Blick suchte irr. »Das Vieh! … Du Vieh!« Und sank verächzend, die Fäuste geballt, in Dämmerung zurück. Die kleine beblümte Uhr in der Gaststube zeigte die fast vollendete dritte Nachtstunde.

Und dann hatte die Berta mancherlei überlegt. Allein konnte man die Kranke nicht lassen. Was war geschehen? Die Alte in ihrem schlaflosen Argwohn mußte irgend etwas vernommen haben, etwas, dessen sie keine Zeugen wollte, drunten im tiefinnersten Kellerschoß, dessen kleine Schlupftür durch das Faß verdeckt gewesen; möglich auch, daß eine geheime Horchverbindung bestand zwischen der Wohnkammer hinten und jenem letzten Gelaß, die Lage konnte etwa dazu stimmen, oder? … So war sie diesmal trotz Angst und Wahn selbst hinuntergeschlurft; hatte die Außentür unverschlossen gefunden; hatte, Zeichen bestürzter Eile, den Bund überhaupt nicht mitgenommen – er fand sich an der gewohnten Stelle, am Nagel innen dem Wandschrank. Die Berta huschte noch einmal hinunter und sperrte sorgfältig ab.

Oder sollte sie …? Eine Gelegenheit … Man könnte sich so manches in seinem Dasein … Das Kind … Zu dem sie recht eigentlich durch die alte Seelenverkäuferin da … wäre nur recht und billig … Eine geringe Entschädigung … Und selber würde man sich auch … Aber: Blut dran, Unglück, Pest, Fluch … Und zu ändern ohnehin nichts mehr … Höchstens jenes Land, jenes ferne Glücksland – wie hatte er's schon genannt, der Narr? …

Man konnte es sich noch bedenken. Mochte alles so liegen und stehen bleiben, wie sie's gefunden … Vorderhand wenigstens, vorderhand … Man konnte ja noch immer … Die Hähne in den Hügeln krähten die fahle Vorfrühe ein.

Das Heimchen beim Herde schrillte; die schwarzen Schaben geisterten; Seufzeratem zog dumpf durchs Haus, wie Schluchzen und Schlürfen; in der beblümten, küchenschwül tackenden Uhr schnarchte das Zeigerrad.

Aber dann mußte noch jemand drunten gewesen sein; jemand mit einem Nachschlüssel, jemand mit einem Licht. Einer, der sich da auskannte. Nicht der andre also, der Wolf in den Wäldern nicht, der war zu dergleichen nicht gemacht. Einen Rehbock konnte der wildern, ja, einen Verhaßten in glimmender Rachwut erschlagen, ja; nicht einbrechen, nicht so einbrechen. Der hatte kein Licht, der besaß keinen Haken, der verstand nichts von Schlössern. Möglich wohl, möglich; aber nicht wahrscheinlich. Ein solcher packt's anders an, wenn schon; sie kannte die Mannsnarren. Und dann, woher hätte der etwas wissen sollen von dem geheimen dritten Kellerloch? Das hatte sie selbst nicht einmal geahnt. Das konnte nur einer wissen, der – – die Berta hielt ihre Gedanken an. Einer, der – – ein Lebendiger und ein Toter. Ein Lebendiger und ein Toter.

Wie tief mochten die beiden vorderen Kellergelasse insgesamt sein? … Fünf Stufen hinab, und dann vielleicht acht und noch einmal sieben Schritte. Und das Haus? Ebensoviel. Die dritte Kellerkammer, die geheime, ging hinten in den Berg hinab. Also. Und das konnten nur wenige, das konnten außer der Alten selbst nur zweie wissen – ein Lebendiger und ein Toter. Niemand sonst.

Ja, doch, eine Möglichkeit blieb. Die Alte, in ihrer Besessenheit und Unruh, war hinabgestiegen, zum Beispiel – irgendjemand, der andere, hatte sie beobachtet und hatte sich hinter ihr dreingeschlichen, nicht wahr – sie selbst hatte ihm also den Weg gewiesen – – aber nein, die Schlüssel! Und selbst wenn die Horvatitschka einen zweiten an anderem Bund besaß – unterm Kopfkissen oder sonstwo verwahrt hielt – er mochte etwa unten liegengeblieben sein – sie hätte auf solchem Gange, halbsterbend hätte sie da noch unfehlbar hinter sich abgesperrt, sie! … Und das Faß, ein Faß von seiner zwölf oder fünfzehn Eimern, vermochte sie allein auch nicht von der Stelle zu rücken, und gestern noch, das war zu beschwören, hatte es still und dunkel aufrecht vor der Grundmauer gestanden … Blieben wieder nur jene zwei, er, der's wußte, der andere, der's gewußt, oder erlauscht oder erraten – der Lebendige und der Tote.

Der Tote, vielleicht war er gar nicht tot.

Auch Tote leben.

Vielleicht lebte er, sein Geist, sein Wort, seine Mitwissenschaft. Lebte vielleicht durch irgend etwas, was er hinterlassen, seinem Mörder gelassen. Was man bei ihm gefunden. Was man gelesen und sich zu eigen gemacht. Der war doch so einer gewesen, der alles genau aufschrieb, der alles vermerkte, den Menschen dann seine Rechnungen vorzulegen. Wie zum Beispiel der Alten, seiner eigenen Mutter, der Hund. Aber der ihn erschlagen, der konnte nicht lesen. Ein anderer? Dennoch eine Möglichkeit? Nein, dann wär's längst ruchbar geworden, wo man und wie man den Vermißten entdeckt. Nicht alle schweigen wie jener, der in seiner Weise verschlagen war und stumm wie ein wildes Tier.

Es mußte viel Geld sein, gewesen sein … Man würde es nicht bemerken; es kam ja jetzt nicht mehr drauf an … Man könnte ein neues Dasein einrichten damit, ein anderes, zufriedeneres … Aber dann sah sie den morschfarbenen Totenarm, wie der drohend heraufstarrte aus der Grube; und die Alte rührte sich im betäubten Wundschlaf, ihre welkfleischigen Hände suchten und krampften und krallten, ihr dunsiges Leichengesicht zuckte. »Nicht, nicht … Rühr nicht dran … Es brennt … Es ist alles verflucht … Alles verflucht.«

Wer mochte es sein, der da unten im Berge seinen ewigen Schlummer schlief? Man sprach von einem verschollenen Zigeunerhauptmann oder Kesselflicker, von einem Grenzwächter, von einem Waldwärter … Man sprach von vielen und vieles, verworren durch das wuchernde Wachstum der Jahre; die Horvatitschka war alt … Viele Tote gab es in diesem Tale, an dieser Straße; bald würde ihrer eines mehr sein …

So kam der Tag. –

Fuhrwerk in der frühen schwülwäßrigen Sonne knarrte staubwühlend hinauf, ins Holz, in den Zweitschnitt der Bergwiesen; noch wollte die Berta niemand anrufen, wollte noch überlegen und ihre Zeit mit dem Geschehnen haben. Hätte doch auch niemand helfen können; bei der Arbeit ums Brot ist jeder sich selbst der erste, da macht keiner einen weiten Umweg. Möglich, daß die Gendarmen zufällig ihres Patrollganges durchmarschierten, das wäre das einfachste; in den Wachtmeister konnte man sein Vertrauen setzen. Allein alles blieb still, Mittag lastete überm Tal, unterm Geschwärm der Spätsommerfliegen stöhnte die Alte; und plötzlich war sie hellwach, warf sich mit wildem Schwung vom Bett, taumelte starren Blicks an der Berta vorbei und begann ihre rastlose Wanderung.

Um die Vesper endlich ein Gast, dem man jetzt das Notwendigste sagen konnte; und später, in die Nacht hinein schon kam dieser Mensch, dieser Eiselt, der sie damals erkannt und es unbarmherzig dem Vater zugetragen. Und es kam der Sturm, und es kam das Wetter, und immer noch, taub und stumpf, setzte die Horvatitschka ihr wahnsinniges Wandern fort, bis sie endlich stehenblieb, sich ans Herz griff und erschöpft zusammenbrach.

*

Das Gewitter hatte aufgewaschen und ausgefegt; frischfunkelnd und glasklar stieg der junge Herbst aus dem Nebelbrauen der Waldschluchten herauf.

Eiselt, der Former, schlendert gelassen die feuchtglitzrige, brandiggelbem Lapor abgestufte Trasse hinan; droben am grauen Dolomit in den Seitengraben hinein dröhnen die Schlägel, scharren die Schaufeln, klirren die Klauen und Krampen, blitzend in Sonne und Tau; es ist wie ein neuer Anfang in einer neuen Welt.

Eiselt tritt an den Partieführer heran. »Was ist das?«

In seiner flachen Hand liegt mit schmalem Strahl ein kleiner braundunkliger Gegenstand.

Andere drängen herzu.

»Das – das ist ja – Gott mir, Gott! … das ist ja die Weichselspitze von dem Kujon da – dem Primurzen, dem Mordkerl – wie hat er schon geheißen? … Schorman, Ilija Schorman – –«

»Gott mir und Gott, daß sie es ist …«

»Von dem Strigon!«

»Nicht zu verkennen, an dem schmalen Silberring …«

»Die er mir nicht hat ablassen wollen für sechzig Kreuzer, der – –«

Eiselt nickt bewußt. »Da drunten gefunden; hab heut nacht schon da was gesehen. Und – mir scheint, dort findet sich noch anderes … Nach dem schon längst gesucht wird … Ein paar Krampen werden notwendig sein, ein paar Hubstangen …«

Ein Trupp mit Hauen und Brechern folgte seiner Führung, gleich die verschütteten Ziegenpfade durch Strupp und Dorn hinab. Droben auf der Trasse sammelte sich's von anderen Rotten her zuhauf, die Arbeit feierte. Der Oberingenieur selbst, wie er die Nachricht vernahm, kletterte und rutschte eilends nach.

Eiselt wies stolz die Stelle, »Hier hat das da gelegen – und hier: – was ist das – – –?«

Ein Mann stieß leise mit der Hauenklinge daran und zog sie schnell zurück. Die anderen sahen, erkannten, wichen in scheuem Ekel; der Oberingenieur starrte bleich.

Unter Gesteinsbruch und Schutt hervor zeigte sich dunkel und schrecklich der faulig beschuhte Fuß eines Menschen, eines Begrabenen, Verwesten.

»Soweit hab ich es selbst freigelegt,« erklärte Eiselt; »so, mit der Hand … hab es gerochen gehabt, im Bücken nach dem Ding da … Aber dann – dann hab ich nimmer können.«

Ein paar von den Männern bekreuzten sich. »Das ist er.« … »Das war's.«

Drüben in den krainischen Bergen fiel ein harter Schuß; der Widerhall rollte an den Flanken der Talbuchten hin und verschwebte in Morgenferne.

»Das war er.«

»Nicht anrühren!« verbot der Oberingenieur; »Gendarmerie und Gericht müssen zugegen sein. Zwei von euch stehen Wache in vierstündiger Ablösung; für Nachtwachen doppelte Löhnung. Und Sie, Partieführer, Sie lassen jetzt hier alles liegen und stehen; laufen hinauf nach Stojdraga, verstanden, und lassen sich mein Bräundel anspannen, verstanden; fahren sogleich nach Samobor hinaus und erstatten bei den Behörden Anzeige. Am allerbesten, Sie bringen den Wachtmeister und irgendwen vom Gericht gleich mit. So. Und Sie, Herr – wie war der Name? – Eiselt? Deutschböhme also? – Sie halten sich inzwischen zur Verfügung, nicht wahr.«

Der Former verbeugte sich geschmeichelt und fühlte sich Held des Tales und seiner Geschichte. »Ich werde in der Kantine zu finden sein,« sagte er herablassend.

»Schön. Und ihr, ihr gafft und glotzt und munkelt nicht weiter da herum, sondern nehmt jetzt ruhig die Arbeit auf, los! … Zum Beschwatzen bleibt euch noch immer Atem genug. Vielleicht geht's von nun an besser und ihr seht keine Gespenster mehr. Vorwärts!«

Die Leute gehorchten. Einer nur wendete sich gegen den Oberingenieur zurück. »Haben wir nicht recht gehabt, damals?«

Der aber starrte ihn streng an. »Und hab nicht ich euch gleich gesagt, daß es mit alledem irgendein ganz natürliches Bewenden haben müsse, hä? … Ihr aber – – na also, vorwärts, marsch!« – – –

*

Die Klauen knirschten, die Hauen hallten, Schaufeln schlurften, Schlägel schütterten; drunten unterm harten Wirrgelärme des Werkes lag der verschüttete Tote, aber dennoch blieb es, als habe mit diesem perlfrischen quellklaren Morgen eine neue Zeit begonnen, und über Tod und Spuk und Grab und Vergangenheit hinweg und hinan bohrte und brach unbekümmert die Straße ihre Bahn in die Zukunft.

*

Er hatte es nicht vollbringen können, ein böses Vorzeichen, und als er nun noch merkte, daß er sein Schutzkleinod verloren, wurde er traurig in seiner Seele.

Das verbissene Rohr aus dem blutbraunen äugigen Holz der türkischen Weichsel, durch das er mit dem wohltätigen Rauchgeist immer auch den Duft der Heimat in sich gesogen, mit dem dünnen armen Silberreifchen, an dessen schmalen Blinken er sich so erfreut.

Vielleicht, eine bange Hoffnung, daß er's in seinem letzten Versteck gelassen; aber soviel er schaute und scharrte, es fand sich nicht, irgendwo unterwegs oder dort, an jener Stelle, als er sich gebückt, mußt es ihm aus der Innentasche des Leiblings oder aus dem offenen Hemdbusen gefallen sein, und am hellen Tage durfte er nicht suchen und im Schutze der Dunkelheit würde er's nimmer ermerken. Es blieb verloren, und Ilija Schorrnan trauerte und fühlte sich von allem Glück und allem Glauben verlassen.

Er hatte es nicht fertigbringen können. Der Aasbrodem, der da aus dem Geschichte zu ihm aufhauchte, weit schlimmer als je von gefallenem Tier, und die blitzgeblendete Finsternis, grell aufgerissen jetzt, und jetzt in blindflimmernde Schwärze zusammenstürzend; eine ängstliche Schwäche, die ihn gelähmt – unbewegbar schwer diese Felstrümmer, die er in wilder Spannung jener Nacht so mühlos über den Erschlagenen gewälzt, als habe ihre Last seither sich verzehnfacht, als hielte der Begrabene selbst sie mit furchtbarer Totengewalt fest. Und Störung und Unruh und Ungewißheit, tappende Schritte in Halde und Grund, überall raunende Stimmen; und dann war's mit eins von allen Seiten über ihn hereingebrochen, Johlen in den Höhen, Höllengeheul durch die Wälder, in den felsigen Hängen wildes Geistergelächter; der Himmel in weißen Flammen, das Tal ein Braus, die Berge gegeneinander wankend zu niederkrachendem Einsturz, das jüngste Gericht … Da hatte er alles gelassen und war gesträubt geflohen, wie damals von der einsamen Hütte des Jägers. Hatte die Wetternacht unter überhangender Felsstufe, von tobelnden Herbstgüssen, von fressender Frühlingsschmelze hohl unterwaschen, hinter rauschenden Traufen verkauert; in fahler nachrieselnder Vorfrühe es noch einmal verzagend versucht und vor dem Weben einer die Stätte warnend umschauernden Nebelgestalt umgekehrt; hockte nun hier in der gekühlten Nlorgensonne und hörte es von den Bäumen tropfen und das erste Laub fallen und wußte, nun waren ihm Schatz und Hoffnung und Traum auf immer verloren.

Was sollte er tun? Er würde eben heimwandern in Gottes Namen, so gut es ging und so weit er kam; heimwandern und, ließen sie ihn in Frieden, das alte mühselige Leben wieder beginnen. Mochte der andre leben und sie und alles haben: ihn verlangte jetzt nach einem nur, nach einem vertrauten guten Menschen, nach Bergung und Einkehr.

Was aber wird die Duscha sagen, wenn er mit leeren Händen und Taschen kommt? Wie anders, wenn es sechs Wochen später wäre, und er hätte in Fleiß und Frieden seine Jahrschicht durchgearbeitet und brächte davon einen ganzen gestopften Leibling voll Forinten mit – da, zu unserem neuen Hause mit der Rebenlaube! – und vielleicht noch ein schönschweres seidenes Kopftuch von unterwegs, oder ein Andenken! … Und wenn er ihr erst erzählt, was geschehen und daß er einen erschlagen, daß er keine Stunde mehr sicher ist an seinem eigenen Herd? … Was wird da die Duscha sagen? … Und sie werden ihn suchen; sie werden ihn finden; sie werden ihn eines Tages doch holen; sie werden ihn hängen. Er weiß es; jetzt weiß er's; mit dem Verlust dieses kleinen Stückchens Holz, dieses kleinen Stückchens Heimat hat sich's ihm angekündigt, Unglück und Tod. Er wird vielleicht gar nicht mehr bis zur Duscha kommen. Sie werden ihn überall erkennen. Werden mit Fingern nach seiner Stirn zeigen. Er war ja ein verwilderter Hund. Er witterte nach Blut, er stank nach Aas. Er selbst roch es; es war ihm der Schmack davon geblieben aus dieser Nacht. Und immer noch lebte der Strigon, der Vampir, der Nachzehrer in seiner Grube. Der wird ihn begleiten, der wird mit ihm eintreten, wird sich mit ihm niederlassen an der Feuerstatt. Er wird es der Duscha gar nicht zu erzählen brauchen; sie wird es ihm ansehen; wird es vernehmen aus stöhnenden Reden und Aufschrei seiner Albträume. Sie wird es ihm nicht verzeihen können. Sie wird ihn nicht mehr haben wollen. Wird ihn von sich stoßen wie einen Unreinen. Wird ihn verdammen. Hast ihn um Geld erschlagen, wo ist es, mit wem hast's vertan? Also um ein Weib, wer war sie? Und dann, möglich, könnte die schwarze Wut über ihn kommen, und er greift zum Beil oder zur Haue und vergißt Gott und sich und die ganze Welt. Und wenn sie erst anfangt, ihn zu fragen; Weiber fragen so viel; ganze Nächte lang können sie fragen und bohren; fragen, wenn man Geld bringt: woher, und bringt man keines: warum? Aber nein, sie war ja gut, die Duscha; hatte eigentlich nie viel an ihm herumgequält; es war nur der Zorn darüber, daß sie vielleicht mit Fragen anheben könnte und er wüßte nicht rein zu antworten und müßte sich mit Gewalt wehren … Wenn er je noch so weit kommt, zu ihr, heim zu ihr. Oder, wenn er reich wäre, wenn er den Schatz gehoben hätte oder wenigstens einen schönen Verdienst zusammengespart, und die Duscha wollte ihm um Gotteswillen verzeihen, und man ließe ihn in Frieden gehen und er könnte sie mit sich nehmen nach dem gesegneten Lande Wis-kond-zin …

Die Nebel, aus den Gründen gestiegen, spannen aufverschwebend über Schlag und Wiese; ein Bussard schrie, auf geruhsam schwimmenden Schwingen hoch im Blau ob goldgrün dunstender Taltiefe. Schorman sah ihm nachsehnlich zu. Gottes Wille, daß solch ein Vogel Flügel und Freiheit hat, wir Menschen aber nach seinem Ebenbilde müssen uns durch Dornen und Disteln schlagen unser Lebtag … Er erinnerte sich: einmal in jedem Jahre, an einem Sonntag im neigenden Sommer war's, wenn die Boote schwer mit dunkelvliesigen Schläuchen, überquellend von strotzenden Trauben von Krk herüberkamen, da wurde in der Kirche aus dem heiligen Briefe gelesen und erzählt von den Vögeln unterm Himmel, die nicht ernten und nicht sammeln, und sind doch satt, von den Lilien auf dem Felde, die nicht arbeiten und nicht spinnen, und sind doch gekleidet, prächtiger als der Herr Bischof oder der Kaiser … Aber schon einmal Gottes Wille so, daß der Mensch, durch Weibessucht versündigt, es von allem Lebendigen am schlechtesten haben müsse auf Erden, der Arme allzumal unter seinem Kreuz; und als armer Teufel verliert man dann noch das Geringe, das Einzige, das man besitzt und liebt …

Ein aufregender Gedanke flog ihn an. Könnte man nicht noch – so unterwegs – –? … Es kam ja nicht mehr darauf an. Wenn es vielleicht weiter verhalf? … Wenn man so wüßte, wo das meiste zu finden, bei wem; es begegnen einem viele von hier bis zum Meer; wenn man doch zum Beispiel so seine hundert Forinten zusammenbrächte … Und würde der Duscha nur sagen: erspart, mit harter Arbeit verdient … Aber wie, schließlich könnte man gleich hier anfangen. In den Baracken, nein; bei den Bauern auf den Höfen, nein; beim Herrn Oberindschenir, nein, das war viel zu gefährlich. Aber das alte Weib drunten, die sollte reich sein wie ein Propst; und was er so bemerkt und erlauscht … Das Haus so einsam unter den stillen Bergen; er wußte da jeden Schlupf und Stieg; daß er das überhaupt nie noch richtig bedacht … Er hatte ja die Flinte, wenn er wollte, er hatte Pulver und Blei; ein Zaunpfahl, die Sichelaxt aus dem Holzstall dort würde es schließlich auch tun. Mit der Jungen – – –

Da blendete etwas von der Seite her in seinen Blick, und er wendete den Kopf und sah, und sein Herz stand still.

Über eine kleine wiesige Blöße zwischen Staudicht und Strupp des tropfenschillernden Schlages, in bläulich durchleuchtetem Dunstschauer äste sich still ein Reh: – ein Bock: – und jetzt spielte der Strahl ihm ins golden aufgleißende Zackengehörn –

Der Nebelbock.

Auf keine dreißig Schritte, zum Werfen nahe; und die geladene Flinte weit im Hange drunten, mit Laub und Reisig überblendet im Schlupf des verlassenen, klippig überstuften Fuchsbaues geborgen; und hier saß man und starrte, wehrlos –

Still, eine heilige Erscheinung, wie in Weihrauch schwebend, graste sich das Wild über die Blöße und verschwand weiterziehend hinter laubigem Aufschlag, tausendsprühfunkligem Wildrosengeheck.

Schorman hielt es nicht mehr aus. Er mußte ihn nochmals sehen, mußte mehr von ihm, mußte sich wenigstens satt an ihm sehen, mußte ihm nachschleichen, ihm irgendwie nachstellen, ihn schauen, belauschen … Behutsam, tiefgeduckt von Busch zu Busch, spürend, schmiegend, spähend sich streckend, huschte er hinterdrein … Jetzt, hier war er gezogen; hier hinter diesem Erlenschuß hervor war er getreten; noch konnte er nicht weit fort sein; dorthin war er – –

Da sprang es dicht vor ihm wegdumpfend ab, er erschrak – und da, mitten in sein gespanntes Trachten hinein traf ihn ein durchsprengender Schlag – irgendwo in den Weiten, tiefinwendig in ihm selbst hallte das wieder wie ein Knall, wie schwindende Erinnerung: und Schorman erwachte aus wirrbangem Lebenstraum:

*

Oh so lange, oh so weit war er gewandert, durch nächtige Waldwildnis ohne Ende, über rauhe schaurige Schreckensgebirge, auf dem Grunde des Meeres, wo an Bord schief eingebohrter Gespensterschiffe tausendäugend die verknäulten Kraken hocken … Immer zu ihr, immerzu heim, immerfort weiter und weiter nach unerreichbarem Lande Wis-kond-zin … Und immerzu mit der kalten Totenlast im Nacken, die in alle Ewigkeiten zu schleppen ihm verhängt, Hemmung im sperrigen Gehölz, zerrende Würgung bergan, auf dem Meeresboden ihn beschwerend, daß er knietief einsank im zähen Schlick: auf daß er ewiglich nicht näherkomme dem zurückweichenden Ziel, daß er nicht fliehen könne, während Häscher und Henker, gluthechelnde Wölfe in den schwarzen Forsten, spukhafte Wesen in den Sümpfen, schnappende Haie in der See ihn unablässig verfolgten und jagten, und narrend vor ihm her der Irrwisch zuckte, der schleimfahle Glimmerschein einer Qualle schwamm … Und nun war er erwacht, und es war alles nicht wahr und war überstanden oder war längst vorzeit in einem vergessenen Leben gewesen. Die Heimat leuchtete ihn an, über den seligblauen Sturmkanal drunten zogen friedlich die gelben und braunen Segel, viele festliche Glocken läuteten, es mußte hoher Sonntag sein, Ostern, Auferstehung … Ja, und dort hinter den grauen silberstillen Ölbäumen und den türkischen Weichseln im Felsgestrüpp hinan weideten seine Ziegen – und dort stand die Duscha mit ihrem Rocken an der Hüfte, schlank gegen den Himmel, seine fleißige Duscha – und jetzt hatte sie ihn gewahrt, jetzt sah sie ihn an, jetzt kam sie entgegen, schön und jung wie an dem Morgen, da sie sein Weib geworden … Es trug ihn hinan zu ihr, mit jedem Schritte leichter, er schwebte – wie lange hatte er geschlafen, wo war die geträumte Last? … Und sie, sie gibt ihm die Hand und lächelt ihn an: Ilija, Lieber, wo bist du gewesen? … Daß du nur wieder da bist! … Komm, wie siehst du aus? … Deine Opanken so staubig und zerschlissen, deine armen Füße darin müssen wund und müde sein, komm komm, daß ich sie dir wasche und mit süßem Öl kühle … Und dein Hemd, so abgerissen und verschmutzt – und hier, zwei Knöpfe fehlen dir auch daran – komm, daß ich dir das frische reiche, das ich derweilen gesponnen und genäht für dich … Und sieh, was ich gefunden, hast du das nicht vermißt? … und hält ihm in offener Hand dar das kleine Rohr aus blutbraunem geäugtem Maraschaholz, schmal in der Sonne blitzt die dünne silberne Zwinge. Und hebt und führt ihn an ihrer Brust sachte das letzte Stück Weges hinan ins grüßende Heimathaus, das sie ihm erbaut und bereitet aus ihrem Herzen … Heimat – Haus – Duscha: wie ein tränenwarmer erlösender Quell bricht das auf in ihm: … Heimat – Haus – Himmel: – goldgrün umschattet sie die Rebenlaube, dämmerkühl hauchend umfängt sie der tiefe Flur; die Türe fällt ins Schloß, der Tag draußen verlischt: – und nun ist er bei ihr, mit ihr zusammen auf ewig im ewigen Lande Wis-kond-zin.

*

Duscha Schorman mit dem Spinnrocken stand droben im kargen Karstgestein und schaute sehnsüchtig sorgend über das morgende Inselmeer.

Gestern war Sturm gewesen, er hatte sich ausgewettert; ein luftiger Gottestag strahlte, weit hinauf und hinunter das Litoral, von den feierlich starren Planinen des wilden Velebit bis zum einsam thronenden Hohen Utschka blauten leuchtklar die Fernen. Friedlich zogen, die gestern wie Möwen geflüchtet, die ruhig beflügelten Segel; im Quarner drüben kreuzten die langen Rauchfahnen, den Morlacca herauf kroch langsam ein kleiner Dampfer … Aber der Duscha hatte so seltsam geträumt diese Nacht, sie wußte nicht mehr was; die Tage wurden kürzer, die Stunden der Dunkelheit länger, es war einsam. Ja, und auf den Mihelisonntag wollte sie hinunter nach Novi gehen – vielleicht konnte sie dort von ihren drei Zickeln zwei verkaufen, sie konnte es bitter gebrauchen; und außerdem, dort wußte sie sich eine Alte, die war früher in Fiume und selbst in Triest herum gewesen, die konnte gut schreiben, gab sich auch dazu her – gerne würde sie der einen Sechser entgelten für einen recht schönen Brief an den Ilija, wenn man nur wüßte wohin und bloß wüßte was, es gab ja nichts Neues, es drängte sie nur … Sie grüße ihn von ganzem Herzen und sie mit den Kindern sei gesund und hoffe das gleiche von ihm; und grüße ihn wiederum recht herzlich, und hoffe, daß man sich gesund wiedersehe; und grüße ihn nochmals aufs schönste, und sie schreibe ihm dieses durch ihre liebe Gevatterin, damit sie ihm zu wissen mache, daß sie wie die Kinder auch gesund sei und gerne dasselbe von ihm vernehmen würde, was Gott geben möge … Ja, und dann, was dann weiter? … Und also Neues wisse sie ihm gar nicht zu berichten – wenn er bloß gesund sei und käme eines Tages froh und heil wieder – ja, und also, die Schecka habe drei Hipplein gezickt, zwei davon gedächte sie zu verkaufen – ja, und der Lazaritsch Lazar sei bei einem Gewittersturm in der Einfahrt von Porto Ré verunglückt, angeschmettert worden mit seinem Boot – ja nun, und – und er möge doch ja recht achtgeben auf sich – und – und wenn er vielleicht bald heimkommen könnte – – – aber zuviel wollte man nicht durch das Schreiben unter die Leute bringen, von der Not manchmal, von Sorgen und heimlicher Sehnsucht, von der nahenden bangen Stunde … Und wie es manchmal schwer fiel, auch nur die paar Kreuzer fürs Brennöl aufzubringen zur einsamen nächtigen Arbeit … Den Armen wird nichts geborgt … Ja, und wenn man so zum Beispiel des verunglückten Lazar Lazaritsch Anwesen kaufen könnte von der Witwe; man hätte da ein besseres Leben, ein billigeres sogar – ein kleiner fruchtbarer Ackergarten gehörte dazu und Weidegrund für eine Kuh; Feldfrucht aber und Milch und Butterschmalz und Käse brachten und ersparten viel Geld … Für einige vierhundert Gulden sollte es zu haben sein, hatte sie vernommen; aber natürlich, man würde handeln, man würde nicht sogleich das Ganze bezahlen, man würde sich's einteilen, man würde vielleicht doch auch hundertfunfzig Forinten lösen für das eigene Fleckchen Karstgestein, und wenn dann der Ilija – – –

Da stand er plötzlich vor ihr, irgendwoher erschienen, wie vom Meere heraufgestiegen, und sein Gesicht war wie strömend und rauchgrau verglast, seine Augen, verschatteter leerer Schein ohne Blick, starrten hohl, sein zerfetztes Hemde stockte von Schmutz und Blut.

Duscha schrie auf: Ilija! … wo kommst du her? … Wie siehst du aus? … Ilija! …

Die Spindel fiel an ihr herab, der Faden riß.

Da war die Gestalt verschwunden.

Die Ziegen rauften im Rauhgestrüpp, im gekühlten Klärwind vom Quarner herüber schwamm dar schwellende Gebrüll einer Dampfpfeife.

Duscha Schorman bückte sich nach dem entglittenen Rocken. Der ziervoll verschnitzte Zackenkopf, ein Erbstück, das einzige fast, was sie in die Ehe mitgebracht, war im Zopf zerbrochen, und als sie den Faden zu knüpfen versuchte, zitterten zu sehr ihre Hände.

Verloschen ging sie ins Haus.

*

»Kind, um Christi willen – was hast, was ist dir –«

»Jesus, Mutter! … Mutter! … habt Ihr ihn nicht gesehen?«

»Wen denn? … Aber Kind, was – du bist ja ganz weiß –«

»Mutter, der Primus – wie er dort gestanden ist – – habt Ihr ihn denn nicht –«

»Kind, träumst schon am hellen Morgen? … Könntest einen wahrhaftig erschrecken! … Ist dir der –«

»Aber, Mutter, Jesus! … Wo er da gestanden hat wie am Zaun – hier, da, vor uns – bei den Rosen, bei den Nelken! … Und so wie – daß man den Zaun und alles hindurchgesehen hat durch ihn, so … mit dem Hut im Genick, mit der Feder, mit dem Gewehr … Und so wild hat er geschaut – und seine Hände waren ganz blutig …«

*

Primus Koschutnik beugte sich über den Erlegten.

»Hund, du verfluchter, walachischer! … Hat's dich?«

Der stierte gebrochen, aus unermeßlichen Tiefen des Sterbens, zu ihm hinan.

»Duscha!« schluchzte es noch einmal aus dem verzitternden Körper. »Duscha!«

Dann war er still.

Eine große goldgrüne Fliege klebte sich ihm unter die Augenhöhle, bekroch nippend den Mund, aus dem der helle Blutschaum sickerte, das Kinn, die verblassenden Lippen; andere schwärmten gierig herzu – –

Koschutnik schob den Hut zurück, rieb sich den schwül durchstechenden Schweiß aus der Stirne … verdammter Hund! … Das wäre so etwas gewesen, ja! … Den Bock, den Nebelbock auch noch zu guter Letzt … zu allem übrigen! … Mit verächtlichem Fuß stieß er an den Toten, gereizt summte das Fliegengeschmeiß auf.

Und dann spürte er kalten Aufhauch der Leiche, und ein erstes fahles Frösteln überschauderte seinen Nacken. Wo lag das Gewehr? … Der Kerl hatte doch ein Gewehr gehabt! … Was sonst hätte er um diese Stunde getrieben im Revier? … Er mußte doch ein Gewehr gehabt haben! … Er hatte gar kein Gewehr. Nirgends eine Spur von einem Gewehr. Was sollte das heißen? … Er hatte doch den Bock, er hatte ihn, er hatte ihn den Bock beschleichen sehen … Er konnte doch nicht – er würde doch – Herrgott, und nun hatte dieses Schwein überhaupt kein Gewehr! … Nun konnte nicht einmal von Notwehr die Rede sein … Und was war sein letztes Wort gewesen, Duscha? … Duscha, Seele? … Seele?

Primus überlegte; seine Gedanken tanzten und kreisten.

Da hatte er plötzlich von drüben her den Bock gesichtet, wie er im aufsonnenden Dunstschauer in die schmale Wiesenkehle trat. Der Nebelbock – Herrgott, das war er! – der mußte, kein anderer konnte es sein! … Fußhoch die Stangen: – und jetzt zog er aus Schattenflimmer in die Morgensonne: wie geschmolzen Gold, wie Gold aus dem Berge Bogatin glühte das über den spielenden Gehören, Blendung und Blitz, eine Krone wie aus Strahl und Flamme, Lohe und Loder … Das war er; derselbe, dem er damals im Geistergrauen der Frühe begegnet, derselbe, der ihm damals nach dem Wetter wie der böse Geist der Berge erschienen … Und gehen mußte er ohnehin, mußte er in elf Tagen schon; da war nichts mehr zu verderben, war nur zu holen noch und zu nehmen; und wenn er noch so dauerfest in Gunst und Dienst stand, schießen würde er dennoch, gegen Befehl und Verbot; würde, weil er mußte; würde, weil er nicht anders konnte; würde um Kopf und ewige Seligkeit, weil er sich verschworen und verschrieben auf den dort, den Gefeiten … Und nun das Heil oder die Verdammnis, und er bekam ihn doch noch vors Visier, zu rechter letzter Stunde, um den er sich dem Satan verwettet … Vielleicht eben darum; der Satan selber als Obertreiber … Gleichgültig; zur Höll geht's ohnehin mit jedem rechten Jäger … hundert durchschießende Blitzgedanken in einem Blick, einem Griff und Aufknack des Hahns … hundert Schritte – hundertdreißig – da konnte man ja gar nicht … Kerb und Korn schmolzen zum Todespunkt in der Ferne zusammen … Aber da stellte sich der Bock schräg, das war nicht gut – und jetzt spitz – und jetzt deckte ihn halb ein Storren mit seiner Wurzelstaudenbrut – und jetzt schob er sich hinter Schuß und Strauch … Aber dort in der nächsten Lücke, dort bei jenem Ahornaufschlag, dort mußte er sogleich wieder kommen; oder dort in der Rinne; oder dort in dem haldigen Schlund … Und da blendete etwas anderes her, ein anderes Wild, ein Mensch. Ein Mensch in Leibling und Hemd und alter Soldatenmütze –

Der mit der Opanke.

Der mit der Opanke. Primus wurde alles Blut zu Brand und Braus. Der da – mit dem sie – mit dem er – durch den er zum Spott – wegen dem das alles – und gewildert auch noch – während er – und umgekehrt – und erschlagen – für den sie gebeten – von dem die Alte – und jetzt hier noch der Kreuz – –

Der Schütz nahm sein Ziel, flirrigen Augs. Eingeschraubt, wie eingeglüht haftete das Korn dem Feinde auf dem Blatt; hartgellend stieß der Schuß in den keuschen Kühlduft der geklärten Herbstfrühe, schreckhafter Hall und Widerhall prallte und rollte durch die Wälder und verschwebte in schimmernder Morgenferne. – –

Und nun stand Primus über dem Toten, und der schwüle Schweiß wurde kalt auf seiner Stirne.

»Duscha!« hatte der da im Verröcheln gestammelt, »Duscha …« Duscha, die Seele. Seele …

Der Hundsfott. Nicht einmal ein Gewehr bei sich, wie sich's ehrlich gehöret zu solchem Ende. Was hatte er gewollt in den Wäldern? … Hätt er nicht drei Minuten warten können, daß die Kugel ein anderes Ziel gefunden und der Knall ihn warnte und scheuchte? … Hatte er sich da dreinzeigen müssen zwischen Bug und Wild, ja? … Und der Bock, Nebelbock, Satansbock, könnt nicht eines Zielatems lang breithalten, nein? … Nebelbock, ja Nebelbock. Da lag er nun, der Nebelbock, und wieder einmal hatte sich's erfüllt bis auf den Strich.

Primus überlegte. Dann packte er den Erschossenen, und in gedeckten Sprüngen durch Strauch und Strupp schleifte er ihn schnell aus dem Schlage weg zum jach niederschießenden Hang, hier in schrundiger Schluchtsteile düsteren, selten betretenen Bannwalds würden ihn andere nicht finden als Fuchs und Winterwolf; da drinnen mochte er bleiben, in diesem Wildwust von Rebwickelgewirr, Salweidicht, Hasel und Holler auf überwucherter Windräumde, dahin er ihn gerollt und gezerrt, lag er gerade gut. Einen Blick noch warf er in das verfallene, jetzt von Blut und Erdmulm, Streu und Moos entstellte, drohend bekümmerte Totengesicht. Duscha hatte er im Verlöschen geseufzt, Duscha, Seele; Seele … Und Primus Koschutnik selbst seufzte und rieb sich wieder den kaltschwülen brennenden Schweiß von der Stirne, schüttelte den Kopf wie in Abwehr seiner selber und schaute stier auf die Eingriffe, von den Händen des Geschleiften in die lockere Krume gekrallt. Drunten rauschte regengeschwellt der Grenzbach, in den einsamen Bergweilern jenseits tackten herzdumpf die Tennen, ferndrüben hinan klang und klirrt es verweht vom erzenen Gewerke der Straße … Duscha; Duscha, die Seele …

Langsam, wie vom Schwindel geschlagen, erschreckt vom Abrieseln losgetretenen Grundes, schrägte Primus im Hang des Bannwalds hinauf, und er sah nicht den Fuchsrüden, der schußnah vor ihm über die altverwachsene Riese schnürte, sah nicht den fahlgefittigten Schlangenadler im verklärten Herbstblau, nicht den verzückt spissenden Haselhahn auf dem Strunk, nicht den vertraut äsenden starken Bock in der schmalen Wieshalde: jenen selben, der ihm vor der Ewigkeit einer kurzen Schicksalsstunde die Erfüllung alles Trachtens vorgeblendet … Er sah eines nur, das wehe Verfallen eines Menschenangesichts, das Verzittern eines Menschenlebens, und auf blassen Lippen das leise Verschluchzen jenes einen Menschenwortes: Duscha: Duscha, die Seele.

*

Droben aber in der hohen Pfarrwiese stand einer tiefbefriedigt eratmend auf von steifverkauertem Auslug und schob das Zugfernrohr auf Spannenlänge zusammen.

Sieh, und nun war's doch gut, daß man damals mit seinen dreißig bescheiden hinter den prahligen einunddreißig zurückgeblieben, und war das Glas da doch zu etwas nütze, mehr als dem drunten die Büchse: die es einem noch obendrein verschaffte. Noch obendrein, außer Gewalt, Sieg und erschöpfender Rache.

Da hatte man denn doch etwas anderes gesehen als nur grad ein paar heimliche Gefälligkeitsklafter an stillem Revierort oder ein frisches Rehgescheid außer Dienstabschuß. Etwas sehr anderes. Etwas Unbezahlbares.

Den Feind fest in Händen, den Preis dazu, die Gewißheit gründlicher Abrechnung, das beobachtete Schauspiel, wie es sich da vollzogen im Rund dieses gewölbten Glases, was wollte man mehr? … Das war genug, und das mußte mit Umsicht genutzt und mit Bedacht bis zur Neige genossen werden.

*

Soviel auf einmal und durcheinander war dem Wachtmeister nie noch in all seinen Dienstjahren vorgekommen.

Da kam man ja mit dem Schreiben und Bleistiftanspitzen allein gar nicht mehr mit, und mit dem schwitzschweren Federtschako, unveräußerlichem Zeichen amtlicher Würde, immer weiter und tiefer ins Genick.

Aber nur gemach, immer nur schön langsam eins nach dem anderen; es kommen alle daran, die Lebendigen und die Toten.

»Sie heißen?« … »Eiselt, Emil Eiselt.« … »Eiselt, E-i-s-e-l-t, E-mil, Ei-selt, Eiselt. Geboren den …+?« Eiselt langte beflissen in sein zerschlissenes Innere und brachte allerhand brüchig zerfressenes Papier zum Augenschein. »Also am zweiundzwanzigsten April achtzehnhundertundvierzig, zu – Mies in Böhmen – Mies in Böhmen. – Also: Als Sie sich am Abende des wievielten? … des sechzehnten September – das wäre so wie gestern – auf dem Wege von wo? … Bregana? … Bregana nach wohin? … Osredek? … also sozusagen bereits nach der alten Glashütte? – nach der alten Glashütte ›Osredek‹, nach dieser letzteren begaben, bemerkten Sie – nur langsam – bemerkten Sie wo gehend? … auf dem Wege gehend? … diesem Wege hier gehend? … auf dem von der neuen Straße nach der erwähnten Glashütte ›Osredek‹ gehend, zur Seite … welcher Seite? … zur rechten Seite des letztgenannten infolge wessen? … infolge des herrschenden Gewitters eine was? … eine menschliche Gestalt, welche Ihnen sogleich wie? … verdächtig vorkam, wessentwegen Sie auch wo? … in der zur Verpflegung der beim Bau der neuen, nach den Ortschaften Stojdraga beziehentlich Sichelburg und Kalje fortzuführenden Straße beschäftigten Arbeiter bestimmten, zu den Baulichkeiten der erwähneten Straßenbauleitung gehörigen Kantine angelangt letztere Beobachtung sofort wem? … dem im Dienste obbezeichneter Straßenbauleitung stehenden Magazinmeister Franz Jacksch, geboren? … geboren am siebzehnten Mai eintausendachthundertundachtunddreißig zu Friedau in Steiermark sowie der daselbst konditioniereten, am neunten Oktober eintausendachthundertundsechzig zu wo? … zu Littai in Krain geborenen unverehelichten Helene Tomazin mitteileten und in weiterem Verfolg dessen am Morgen des wievielten? … siebzehnten September … also bereits so wie heute … an welcher Stelle? … an gedachter Stelle unter obgedachter Straßenanlage Ihre was? … nur langsam … Ihre Nachforschungen fortsetzeten, in deren Verlauf Sie was? … und wo? … nur langsam … also in dem von den Sprengungen und sonstigen zum Bau obbezeichneter Straße erforderlichen Arbeiten herrührenden, wie wäre das zu nennen? … Bruchmateriale eine, dem Vermuten und dem Zeugnis der Nachstehenden gemäß wem? … einem gewissen Schorman … demselben? … Schorman Ilija aus … nur langsam, gleich werden wir's aus den Aufzeichnungen über die früher bereits gemachten Erhebungen finden … aus Grischane gehörige Zigarettenrauchspitze – diese hier – bestehend aus Weichselholz und gekennzeichnet durch einen schmalen, zirka wieviel? … zirka zwei Millimeter breiten Silberring, und, dadurch, und durch was noch? … durch einen unangenehm auffallenden, sozusagen bereits penetranten Geruch was gemacht? … aufmerksam gemacht, an selbigem Orte den Ihrem Dafürhalten gemäß zur Leiche des seit der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten Juni des Jahres – laufenden Jahres – vermißten beziehentlich abgängig gewesenen, bei dem obberührten Straßenbaue beschäftiget gewesenen Hilfspraktikanten – wie war der Name? – Branko Katič gehörigen Teil eines bereits in was? … bereits in Verwesung übergegangenen menschlichen Körpers entdeckten.« … Uff.

Wenn man das so in drei gewöhnlichen Sätzen, so in aller Wirtshausgemütlichkeit sagen und schreiben dürfte. Aber Amtsstil muß sein, er schafft Klarheit und erhöht das Ansehen, und überdies hatte der Wachtmeister in winterlichen Freistunden so manches gelesen, dessen Zeugnis abzulegen er sich gebildeter Umgebung und gar Würdenträgern und Vorgesetzten gegenüber stets gerne verpflichtet fand.

Es ist ein Unterschied zwischen einer scharfen Einvernehmung unter vier Augen und der respektheischenden Feierlichkeit eines solchen Protokolls. –

Mit hebelnden Stangen und räumenden Spaten war der Leichnam erhoben worden: eine grause dunkle Masse von Pestilenz, vor der das wildeste Arbeitsgetier gesträubt wegschauderte. Der Wachtmeister mit dem schweigsamen Postenführer, der blasse Gerichtsadjunkt und der Oberingenieur allein genügten der eklen Pflicht der Untersuchung und Erkennung; Eiselt der Former nur hielt es für angemessen, seine nähere Zugehörigkeit zu Amt und Stand und zur Sache durch einen Sieg der tapferen Neugier über die feige Scheu nachdrücklich zur Geltung zu bringen.

»Hat er denn nicht eine Mutter gehabt?« fragte der Gerichtsadjunkt aus einiger Entfernung, in die er sich gegen den Wind zurückgezogen. »Ich glaube mich zu erinnern –«

Der Oberingenieur nickte ihm zu. »Natürlich. Die sogenannte Konfinka oder eigentliche Horvatitschka. Freilich. Warum?«

»Es müßte diese eigentlich zitiert und behufs Erkennung vor den Leichnam geführt werden,« erklärte der vorschriftsmäßige Jurist; Eiselt im Hintergrund grinste, und der Oberingenieur schüttelte den Kopf.

»Wird nicht gut möglich sein. Die Horvatitschka ist seit drei Monaten halb und seit einem Monat mehr oder weniger ganz verrückt, wahnsinnig.«

»Und seit vorgestern tobsüchtig,« ergänzte Eiselt, von seiner eigenen Fallkenntnis geschmeichelt.

»Seit gestern aber bereits sterbend,« rief der Wachtmeister herüber; »außerdem, ich bitte, es wäre bereits wohl überflüssig; hier sind Knöpfe, stimmen bereits genau überein mit einem im Zuge früherer Eruierungen gefundenen Korpus und mit einer bei gleicher Gelegenheit aus dem Nachlasse des Vermißten erhobenen Schneiderrechnung – bereits bei den Akten. Und hier …« Er stutzte, dann hob er mit spitzen Fingern einen dunklen Gegenstand in die Höhe – »das hier schließt bereits wohl jeden identischen Zweifel aus.«

»Was ist es?« fragte der kurzsichtige Adjunkt; »jeglicher Zweifel könnte doch nur durch Zwangsvorführung der Mutter und Konfrontation der Leiche mit derselben – –"

»Ein Notizbuch!« unterbrach der Wachtmeister; »bereits wohl nicht im besten Zustande, und natürlich – – aber, ich bitte, stellenweise noch ganz gut lesbar. Hier zum Beispiel; hier hat der Verstorbene bereits wohl bei zwanzigmal hintereinander seinen Namen hineingeschrieben … Die Herren wollen sich überzeugen?«

»Nein, danke, ich danke!« wehrte der Jurist zurückweichend; »Das beweist auch noch gar nichts. Es könnte sich ja jemand anders zu irgendwelchem Zwecke den Spaß … Und das müßte erst – –«

Nur Eiselt bezwang sich; mit angehaltenem Atem sah er dem auf Armeslänge lesenden Wachtmeister über die Schulter.

»Es steht hier geschrieben: Branko Katič – Branko Katič – Branimir Katič – dreimal – fünfmal – zehnmal – in teilweise verschiedenen Charakturen …«

»Aber das wiese ja gerade darauf hin …« begann der Adjunkt.

»So hat er ja auch tatsächlich geheißen,« bestätigte der Oberingenieur; »war doch ein – nun – Witwenkind …«

»Bitte, ist mir natürlich bekannt. Aber dann weiter: Branko Horvatitsch – Branimir Horvatitsch – –«

»Nach seiner Mutter; ihr Frauenname.«

»Bitte, ja, schon; aber hier: – Branko Edler von – Bu – –«

Der Wachtmeister stockte ungläubig. »Budins – –«

»Budinski?« half Eiselt nach.

»Wirklich: Edler von Budinski … Branimir Edler von Budinski … Ritter von Budinski … Branko Baron Budinski … Le – ich weiß nicht, wie man das liest – Le Baron de Boudinski …«

Der Adjunkt horchte verwundert. »Ja aber, ich bitte Sie – das ist ja – –«

Und Eiselt pfiff respektlos durch die Zahnlücke. »– der sogenannte Herr Papa. Nämlich der – hm – der Zahlende … Wie ist schon die Titulatur: Illustrissimus oder spectabilis? … Nämlich, ich war drei Jahre auf dem Gymnasium –«

Der Oberingenieur trat vorsichtig näher heran.

»Das ist gut. Da hat er so probiert. Wie das aussieht, vielleicht geübt, zu irgendeinem Zweck, weiß Gott. Richtig, daß ich mich dessen erinnere, er hat sogar Post unter diesem Namen erhalten. Ich weiß es genau. Weiberbriefe und andere, hat ja immer gerne geprahlt mit seiner hohen Herkunft und einer großen Erbschaft und so weiter. Überhaupt – man soll ja vielleicht vor der Leiche hier sowas nicht sagen – aber – na …«

Der Wachtmeister hob die freie Hand. »Bitte, es kommt noch weiter. Branko Poch.«

»Der dicke Posthalter! Verfluchtsackerment.«

»Branimir Farkas …« Der Wachtmeister grunzte. »Bereits mein eigener Vorgänger; da ist man bald schon selber neugierig. Branko Zistler.«

»Na da, da! … Der gräfliche Schloßgärtner!«

»Branko Frangesch.«

»Frangesch? … War das nicht der Berginspektor?«

»Aber jetzt!« Der Gendarm wendete sich langsam und vorwurfsvoll nach dem Former um. »Branislaw Ei-selt?«

Und jener kehrte sich mit einem schämigen Achselzucken ab, ein dünnes Lächeln auf den Lippen.

Der Oberingenieur trat dazwischen. »Eine merkwürdige Spielerei das auf alle Fälle; sich so alle – Möglichkeiten sozusagen zu veranschaulichen … Sich mit allen – wie sagen die Herren Juristen? – zu konfrontieren … Sieht ihm übrigens sehr ähnlich; war eine kalte Kröte gewesen. – Ja, nun, ein Zweifel an der Identität besteht nun wohl nicht mehr?«

Der Adjunkt schürzte die Amtsstirne. »Also zwar – eigentlich müßte man allerdings –«

Der Wachtmeister räusperte sich.

»Ich bitte unterbrechen zu dürfen – etwas kommt noch dahier, ganz unten unter allem übrigen … Branko Stermelz, gleich dreimal unterstrichen. Branko – Stermelz …« Er warf einen bedeutsamen Blick auf den Adjunkten. »Stermelz. Stermelz. Dreimal unterstrichen.«

»Was? Sie meinen doch nicht – –«

Der Wachtmeister neigte schwer den federumwallten Kopf. »Ich bitte, ja, ich meine. Nachdem die obbezeichnete Horvatitsch vulgo Konfinka geborene Katič mit diesem besagten Stermelz bekanntermaßen ein langjähriges Verhältnis – bereits schon ein Konkubinat – unterhalten hat – –«

Eiselt hatte seine Fassung wiedererlangt. »Stimmt. Stimmt. Das war wirklich jahrelang. Und komisch, jetzt ist gerade dieser Stermelz seit drei Tagen spurlos verschwunden.«

Der Wachtmeister sah ihn dunkel an. »Er ist tot.«

»Tot? … Der Stermelz tot? … Der Fuhrknecht?«

»Bereits derselbe, ja,« versetzte der Wachtmeister trocken, mit einem flüchtigen Blick auf seinen weggelehnten Karabiner; »dieser hier bezeichnete Stermelz ist bereits seit einigen neun Stunden tot.«

*

Trotz aufgetragener Eile hatte der Partieführer es sich nicht versagen können, mit seiner brennenden Neuigkeit auf einen Stehstutzen wenigstens beim Konfin einzusprechen.

Überraschend hatte die vipernzähe Alte sich von ihrem Zufall erholt. Der Schlag, schwunglos in der Enge, hatte sie verwundet und erschüttert, nicht erledigt. Nun saß sie, von der Berta abermals gewaschen und verbunden, still in der leeren, früh schon fliegensummenden Gaststube, und über ihr breites Gesicht, welk unter bleichverschaffender Dunsung, zogen und zuckten wechselnd wie an nachstürmischem Wolkentag die Kämpfe zwischen Klärung und verfinsterndem Aufdunst der Tiefen.

Dann rief sie wohl nach einer Weile stummen Beobachtens ihre Pflegerin wie in plötzlich aufflackernder Strenge an. »Komm her, du.« Tiefmißtrauisch, zwischen Irre und Wissen, sah sie der schweigend Gehorchenden auf den Grund der Augen. »Ich will dich zu meiner Erbin einsetzen, weißt du … Die anderen sind alle schlecht, alle undankbar …« Aber mit eins besann sie sich, ein Schein von Haß, ein Schatten von schmerzhaft argwöhnischem Grübeln trat in ihren Blick. »Du lügst auch. Du wartest auch bloß, daß ich krepier. Ich will noch lange leben. So lange nach, bis … Niemand bekommt was, niemand. Verstehst du. Ich bin nur schläfrig. Aber ich sehe alles.« Sie vermurmelte, ihre Gedanken schweiften und schwanden, ihr Kinn fiel herab, sie schlummerte, zuckend unterm Kriechsums der Fliegen.

Um demnächst wieder aufzutaumeln. »Wo ist er?« Wild um sich starrend gewahrte sie die müd über ihrem Strickwerk wachende Berta. »Komm her, du.« Und zum zwanzigstenmal legte die Angerufene ihr Zeug weg, schaute die Alte in herrischem Mißtrauen ihr ins ruhige, gelassen duldende Gesicht. Eine Frage rang auf den bläulichen Lippen, ein Verdacht, eine Drohung; und wieder verlor sich das in schweifendes Suchen und Verdämmern, der verbundene Kopf nickte schwer vornüber, das Kinn sank in den welkfaltigen Fetthals.

Allein die Gedanken unterm Schein des Schlafes wanderten rastlos weiter in inwendigem Kreis um einen geheimen, unerkennbaren Mittelpunkt.

Ein Schuß fiel droben irgendwo in der Frühe der Berge, der Widerhall lief langausklingend durch das Tal. Die Alte schlug voll die verquellten Augen auf. »Da! … hörst! … Jetzt hat der Jäger ihn totgeschossen. Jetzt hat er ihn totgeschossen.« Sie lachte sogar. »Mit dem du ihn betrogen hast. Ich hab ihm Geld dafür versprochen, viel Geld. Alle lauern darauf, auf mein vieles Geld. Mit Geld kann man jeden zum Narren und Mörder machen. Auch sich selbst …« Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht, wie um verschleierndes Spinngeweb, wie um einen Vorhang wegzustreifen, und wieder kämpfte sie mit einer drängenden Frage, einem dumpfen Verdacht, einer tiefverschütteten Erinnerung, und versank wieder und verschwieg. –

Der Partieführer, vom mitteilsamen Eiselt auf anderes vorbereitet, war erschrocken und fast enttäuscht, die alte Frau immer noch bei Kräften und halbem Bewußtsein zu sehen. Er winkte die Berta hinaus in den Flur. »Also – er ist gefunden.«

Sie nickte gleichmütig. »Weiß es ohnehin schon – die drinnen.«

»Weiß es schon? Ja, woher denn? Ist ja doch grad erst vor einigen zwei Stunden oder so –«

»Sie war gestern schlimm dran. In dieser Nacht aber, wie ich schon gemeint hab, jetzt ist alles aus, wurd sie auf einmal besser.«

»Die wird auch nie und nimmer krepieren; vor der fürcht sich noch die Höll.«

Die Berta zuckte die Achseln. »Ja; und dann, gegen Morgen, spricht sie wie aus dem Schlaf: jetzt haben sie ihn. Jetzt haben sie ihn. Dort unter den Steinen. Ich hab's zuerst selbst gar nicht verstanden, was das bedeutet.«

»Ich sag ja, die steht mit allen bösen Geistern im Bund; die tragens ihr zu. Was ist denn da eigentlich geschehen?«

»Ich weiß nicht.« Die Berta zögerte. »Sie ist doch seit längerem schon so … Ist gefallen, hat sich verletzt, schwer und unbehilflich mit ihren Jahren … Vielleicht ein kleiner Schlaganfall, möglich.«

Der Partieführer schüttelte verwundert den roten Kopf. »Was da alles geschieht in diesem Loch da herin, in diesem Kleinwinkel Welt, um einen einzigen Kilometer Straße herum! … Bin doch weiß Gott genug herumgekommen auf Arbeit; aber wann das überall wollet so zugehen, alle Straßen gepflastert und gemauert wären mit soviel Blut und Unglück … Nämlich, also wirklich: ganz tief unter Bruch und Abraum … Der, na, wie heißt er schon, der Glaser da, der Eiselt, der ist drauf gestoßen; hat gestern sowas bemerkt; schaut heut in der Früh näher nach; sieht so was herblitzen, was ist's, der Rauchspitz von dem da, diesem Primurzen, Morlaken da, diesem Schorman … Auf den sowieso gleich der Verdacht gefallen war … Sonst ein ganz fleißiger Bursch gewesen, nüchtern eher, verschlossen, ein Finsterling; ein tiefes Wasser wahrscheinlich. Scheint sich also doch noch hier wo herumzutreiben …« Der Partieführer, durch irgendein Mienenspiel gewarnt, erinnerte sich, irgendwann irgendetwas vernommen zu haben, was nicht so richtig mit seinem Bericht zusammenpaßte, und hielt ein. »Na ja, ich erzähl's, weil doch eine Feindschaft ist zwischen diesem Kerl da, dem Primurzen – ich für mein Teil hab nie was gegen ihn gehabt, im Gegenteil, hab noch für ihn geredet beim Oberingenieur, damals, wie schon alle anderen – na, und dem Jäger, dem Oberkrainer … Ja, und der – – also« – der Partieführer machte eine Deutgebärde nach der Stube hinein – »schon ganz – was man so bis jetzt merkt und – –«

Die grollende Stimme der Alten schreckte ins Geflüster.

»Was tuschelt's da drauß miteinand? … Denkts, ich weiß nicht? … Gefunden habts ihn! … Ich weiß es sowieso … Was fürchtets euch vor mir? Ihr habts ihn gefunden, was macht ihr draus ein Geheimnis?«

Aber der Partieführer, mit einem bedeutsamen Blick, legte den Finger auf den Mund, rannte eilends die Stiege hinunter, warf sich in das Wägelchen und peitschte auf den erschrockenen Braunen ein, daß im Ansprung die Lachen spritzten.

Gleich darauf kam die Horvatitschka in den Flur vorgeschlurft, schwer und schleifend an einem Stock, und am Türpfosten mußte sie sich hinausstemmen, doch in Sprache und Miene einen flackrigen Abglanz ihrer rüstigsten Tage.

»Was hat er von dir wollen, der? Kenn ich ihn nicht, den roten Schinder? Was versteckt er sich vor mir?« Sie schleppte sich zur Vortüre und sah unter überschattender Hand dem Davonschlingern des Wägelchens nach. »Jesus, die Angst, die er vor mir hat! Und wie das gegossen haben muß diese Nacht.« Mühsam half sie sich zurück. »Na, ist es vielleicht nicht wahr so? Antwort!«

Die Berta wich leicht zurück; was sollte sie sagen?

»Lüg nicht! … Ist es nicht wahr so? … Antwort!« Drohend fuchtelte der Stock.

Die andere hob langsam den Blick. »Wenn die Frau es schon so gewiß weiß …«

Die Horvatitschka schlug eine böse Irrlache auf. »Also! Ich weiß immer gewiß, verstanden! Ich, und werd nicht wissen! Mir kann man nichts vormachen. Ich hab immer recht. Ich weiß mehr wie die ganze Welt. Verscharrt unter Schutt und Schotter, was? Unter Schutt und Schotter, ja ja, tief, tief? Ganz ganz tief, gelt jawohl? … Ich weiß; ich hab immer recht … Nur eins hab ich nicht gewußt; schau, und nun will ich dir auch etwas anvertrauen. Komm nur her; ganz nah zu mir, so; braucht sonst niemand zu hören. Fürcht dich nicht.« Ihre unterlaufenen Augen begannen geheimnisvoll zu erglühen. »Daß jemand noch schlechter sein könnet wie ich, das, das hab ich nicht gedacht. Denn, weißt, wer mir das hier angetan hat? Das und alles? Alles angestiftet? Alles genommen? Weißt, wer? Du erratst es nicht. Der Stermelz. Der Stermelz … Der Stermelz!« gellte sie plötzlich auf. »Dem Satan sein eigener Vater, einer wie der andre, Mörder, Räuber, Halsabschneider! … Gott fordre sie vor sein Gericht! … Gott im Himmel fordre sie …« Ihre geballten Fäuste fielen, sie keuchte, rang, stickte, taumelte und mußte behutsam zurück nach ihrem Stuhl am Ofen der Gaststube geführt werden, wo sie, dankbar ergeben für den Augenblick, in dumpfes Dämmern versank.

*

Sie erwachte, als dann später die beiden Wagen, mit den Gendarmen und dem Gerichtsadjunkten unterwegs nach der Fundstätte, vor der Wirtschaft kurz anhielten.

»Sind sie schon da?«

»Wer soll da sein?« log die Berta.

»Die vom Gericht. Seh sie ja, ihre Federbüsch, Bajonetten und Ketten, seh sie schon längst. Sollen sie halt kommen, Gott in deinem Reich. Ich wart auf sie. Was können sie mir?« Sie lachte leise in sich hinein. »Was können sie mir? Tot ist tot. Hab aber doch gelebt. Früher, ja früher … Jesus, Jesus.«

Und die Wagen fuhren nach kurzem Augenschein weiter.

»Werden schon kommen, werden schon kommen. Nur Geduld, nur Geduld. Wart ja schon lang drauf, auf sie. Was können sie mir noch? Nicht der Müh wert …

Was Gericht, Federbüsch, Bajonetten? … Was können die einem, der schon in der Höll gewesen ist? …

Und im Himmel, war auch einmal jung, war auch einmal schön. Damals, damals, Jesus …

Was können die einem? Können sie einem was nehmen? Dem alles schon genommen ist? Das Leben? Ist das ein Leben? … Nicht der Müh wert, nicht der Müh wert.

Ja ja. Federbüsch, Ketten, Bajonett. Federbüsch, Ketten, Bajonett. Werden schon kommen, werden schon kommen. Alles zusammen nicht der Müh wert.«

*

Und dann vernahm die horchende Berta ein seltsames Selbstgespräch.

»Sag ich ihm, Stermelz, Jesus, du! … Stermelz, Jesus, du? … Sagt er drauf: freilich ich, freilich ich. Glaubst, ich will ewig warten? Glaubst, ich will auf die Ewigkeit warten? Glaubst, ich hab Lust auf die Ewigkeit? Glaubst, ich will hängen? Häng du! … Häng du! … Häng du! …

Hehe, ja. Häng du, häng von mir aus du. Federbusch, Bajonett. Häng du, häng nur du …

Sag ich ihm: Stermelz, ich bin krank von all dem, sag ich, ich bin von all dem krank … Sagt er drauf: werd halt g'sund davon und krepier. Krepier, krepier. Werd gesund, krepier … Närrisch bist, närrisch bist. Bringst uns noch beid an den Galgen; alle beid an den Galgen. Mich aber nicht, dafür bin ich da, mich nicht, mich nicht, mich nicht. Dich selber, wennst willst, dich selber, dich selber, dich selber …

Alle beid an den Galgen, hehe. Wart schon die längste Zeit drauf. Ist ja der Müh nicht wert. Närrisch bist, närrisch bist, alles ist närrisch. Die ganze Welt ist närrisch. Das ganze Leben ist närrisch. Bringen alle einand an den Galgen …«

Nach einer Weile begann es von neuem wie aus dem Taumel kreisender Fiebergesichte mit stumpfsinnigen, lallenden Wiederholungen:

»Stermelz, sag ich, Jesus, was machst, was machst, wie kommst da herein? … Sagt er drauf: Siehst ja, siehst ja, mit dem Schlüssel, mit meinem Schlüssel, mit meinem eigenen Schlüssel. Bin kein Einbrecher, kein Einbrecher, hab meinen eigenen Schlüssel … Tu graben, graben. Graben, graben, graben. Ausgraben, eingraben, eingraben, ausgraben. Das Lebendige hinein, das Tote heraus; das Tote hinein, das Lebendige heraus … Graben, graben. Das ganze Leben ist ein närrisches Graben. Eingraben, ausgraben, ausgraben, eingraben. Nicht der Müh wert …

Sagt: nehm mein Anteil und deins, nur dem Teufel seins, das laß ich dir. Nur dem Teufel seins. Geh und red, geh, red. Kommt man zu zweit an den Galgen, zu zweit; ist lustiger; als dem Teufel sein Anteil. Geh und red. Red ja, red, hörst nicht? Was können sie mir? Sind alle dem Teufel sein Anteil, das ganze Leben, die ganze Welt. Hehe. Was können sie mir? … Aber dir, dir! … Mörder, Räuber, Anstifter! … Unser Kind!

Sagt: nehm mein Anteil und deins, nur dem Teufel seins, vom Geld im Grab, weniger als von Menschen im Grab … Sagt er: besser Menschen als Geld im Grab, besser Menschen im Grab als Gold … Närrisch bist, närrisch bist; hast noch mich zum Narren gehalten und gemacht, sagt er, noch mich … Hehe. Wahr, wahr. Viele, viele. Seelen, Menschen, Mannsbilder; Federbüsch, Ketten und Bajonett. Viele, viele. War auch einmal jung, auch einmal schön. Zu Narren gemacht, selber närrisch geworden. Jaja. He.

Stermelz, siehst ihn, siehst ihn nicht, wie er nach uns greift? … Sagt: nach dir vielleicht, nach mir nicht. Immer nur nach denen, die sich fürchten, immer nach denen greift's. Sagt: selig sind die Toten, haben ihre Ruh und ihr Himmelreich …

Selig, selig, ja, ja. Ruh und Himmelreich; nicht mehr graben, graben, graben, wachen, horchen, beten, fürchten … Nichts mehr, nichts mehr …

Was willst mir, du? … Mörder! … Räuber! … Hilfe!«

In kaltem Schweiß, vom Alp gedrosselt, taumelte die Kranke auf. Nach ringendem Kampfe erst erkannte sie sich. Zeit und Raum, die Stunde, die Stube, und ihr wilder Blick löste sich.

»Er war wieder da! … Nein? … Oh, du …«

»Niemand, niemand. Ihr habt nur schwer geträumt.«

»Nicht geträumt, nein; wirklich, wirklich … Oh, du! … Was hab ich geredet, du?«

»Nichts, nichts. Ihr solltet Euch zu Bett legen.«

»Nein, nein, nicht legen, nicht liegen, das ist gleich wie im Sarg; ich erstick … Was hab ich geredet?«

»Nichts, nichts. Hier ist frisch Wasser, es wird Euch erleichtern.«

Dankbar schlürfte die Alte aus zitterndem Glase. »Oh du! … Oh du!« Sie schöpfte Atem, dann wurde sie flüsternd vertraulich. »Nämlich, weißt: er hat mir nimmer getraut. Einer von uns beiden, verstehst? Darum ist er die längste Zeit nimmer kommen; hab gedacht, ich könnt ihm was, verstehst? Hat vielleicht einmal was geschmeckt, gerochen, verstehst?«

»Kommt, ich trag Euch den Stuhl nach hinten in die Kammer; da ist es stiller und kühler.«

»Nein, nein, nicht; nicht still und kühl, so ist das Grab. Ich muß sehen können, wer kommt. Aber bleib bei mir, bleib, bleib.«

Sie verdämmerte, fing nach kurzem wieder mit kreisendem Fiebergerede an. »Närrisch bist, närrisch bist, alles närrisch, die ganze Welt. Immer graben, graben, eingraben, ausgraben, ausgraben, eingraben; närrisch, närrisch. Bist da, du? Komm her, ich bitt dich, komm schnell her; es rinnt, hörst es, wie's rinnt?«

»Ich hör nichts; soll ich Euch frisch verbinden?«

»Nein, nein, nicht die Reifen; die Reifen halten. Aber die Pippe lauft, an der liegt's, vielleicht muß man sie dichten.« Sie nestelte an sich herum. »Die Pippe, der Zapfen; hörst, wie's lauft? Da lauft das Blut aus, das Leben. Schnell, schnell stell was unter; man muß dichten.«

Die Berta verstand, brachte das Holzschaff, dichtete den unsichtbaren Zapfen und drehte fest ab.

»Noch?«

»Nein, nein, jetzt ist's besser. Ja, jetzt ist's gut. Man wird umschänken müssen. Laß aber das Schaff stehen für alle Fälle. Und bleib hier, bleib ja hier.«

Wie die Horvatitschka dann später emporschrak, standen die federbehelmten Gendarmen und der Gerichtsadjunkt verdunkelnd vor ihr in der Stube.

»Jesus, schau, die schwarzen Männer! … Die schwarzen Männer kommen mich holen!« Sie starrte und sammelte angestrengt das verflackernde Feuer zu einer flüchtigen Erleuchtung. »Was, was denn, was denn, wer seids denn? … Ich kenn euch gar nicht, hab kein Quartier für euch, für soviele auf einmal.« Jetzt trat es wie ferner Widerschein in ihr verwüstetes Gesicht, sie versuchte sich zu erheben. »Aber – das sind ja die Herren G-Gäste, die längsterwarteten Herren G-Gäste! … Da hab ich Sie doch nicht kommen sehen, hab es verschlafen! … Berta, die Herren Gäste; Federbusch und Bajonett, hab's dir doch angesagt. Hast auch den Tisch gedeckt für die Herren, rote Rosen aus dem Garten drauf gestellt zum Empfang? Ist doch Feiertag heute, H–Himmelfahrt; der Braten – H–Himmelfahrtsbraten, die Herren – steht schon fertig im Rohr. Jetzt geh, Berta, Kind, hol einen Doppelliter Vipernsteiner für die Herren; werden durstig sein, die Herren. A–aber nicht aus dem hintersten Faß, hörst, Berta, Kind; g–geh nicht ans hinterste Faß – nämlich, das bin ich. Da ist nicht Wein drin, sondern Blut; Blut und blutige Tränen; das lauft, rinnt, rinnt aus mir heraus, muß umgeschänkt werden … Die Ehr, die hohe Ehr. Ich kann leider nicht. Die Herren müssen entschuldigen. Ich bin närrisch. Eine arme alte närrische Frau. Ein Faß; lieg auf den Kufen und kann mich nicht rühren. Mein Kopf, mein armer Kopf. Immer graben, graben, graben. Eingraben, ausgraben, ausgraben, eingraben; tief unter Schutt und Schotter, das ganze Leben, die ganze Welt. Drüber geht die Straße. Alles nicht der Müh wert. Närrisch, närrisch. Die Herren müssen fürlieb nehmen, mit dem, was ich bieten kann. Was ich bin. Was übriggeblieben ist von mir. Ein Faß, ein rinnendes Faß. Denn der Stermelz – der Stermelz nämlich – ist dagewesen und hat alles weggetragen. Alles genommen, mein Kind, mein Geld, meinen Verstand …« Sie brüllte auf. »Mein ganzes Leben, der Räuber, der Mörder! Er hat mich erschlagen!« …

*

Der Wachtmeister hatte viele ofenwarme Stubenstunden des verflossenen Winters über bedachtsamer Lesung der ungezählten, Herrn Demeter von Derenczin, dem alten Fiskal, schockweis entliehenen, schweren Herzens zurückgestellten Bände des Neuen Pitaval zugebracht, und durfte er bei schicklichem Anlaß auf dieses sein entscheidendes Erlebnis zu sprechen kommen, so wurde er, der sonst so nüchterne Ordnungssoldat, das bewaffnete Organ – wie er sich gerne nannte und nennen hörte – fast mitteilsam, schöpferisch beschwingt, wunderlich beredt in allerhand fremden, seinem Stande und seinem natürlichen Wissen fernliegenden Zungen.

»Ist aber bereits wohl der sensionellste – senationalste – sensalste – Fall meiner Praxis,« eröffnete er dem Gerichtsadjunkten, als sie nach geschlossener Voraufnahme durch die kühlschimmernde Herbststernennacht zum Tale hinausfuhren; »steht wohl bereits einzig da in dieser, wie man so liest, kasualischen Verkettung von Umständen. Könnte bereits gleich in diesen Neuen Pitaval aufgenommen werden; weil es doch heißt, die Sammlung wird fortgesetzt,« fügte er, eine geheime Hoffnung nährend, hinzu.

»Man weiß ja noch gar nichts Gewisses,« dämpfte unmutig herablassend der Adjunkt, von ungeduldiger Bitterkeit erfüllt gegen den lästigen Wächter, dessen Anwesenheit ihn daran gehindert, seiner Hinneigung zur tröstlichen Weisheit des Weines und seinem durch nichts abgekühlten Wohlgefallen an jenem blassen, hübschen, aufreizend unbeaufsichtigten Frauenzimmer – wie hieß sie schon? – über die Schranken amtlicher Teilnahme hinaus näher und länger nachzugehen; »man hat ja noch gar nicht den vermutlichen Haupttäter. Dieser müßte erst gefaßt, verhört und überführt werden.«

»Ja, dieser Schorman; diesen werden wir aber wohl schwerlich bekommen,« gab der Wachtmeister schlicht zu; »die Wälder sind groß, die Berge haben viele Wege, ein solcher Mensch ist unabhängig von Dach und Straßen, er kann sich überall leicht durchschlagen. Wird aber auch bereits wohl mehr, wie man es so liest, das Werkzeug einer Intrigü gewesen sein, das Opfer einer bereits frevlischen Leidenschaft.«

»Da wars' beinah noch ein Glück, daß Ihnen dieser mehrfach genannte Stermelz so gerade in die Hände gelaufen ist,« bemerkte der Adjunkt; »hätte auch noch der durchrutschen können.«

»Bitte, dieser ganz so leicht nicht. Auf diesen haben wir bereits schon ein Auge des Gesetzes gehabt; ist schon einmal von mir angehalten worden, denn es haben sich auf ihn, wie man so sagt, mehrere monumentanen Verdachte gehäufet. Es sind im Zuge der ersten Erhebungen, wie ich es in den Akten genau beschrieben« – der Wachtmeister stockte, in Erinnerung all des in nutzloser Mühsal mit Tinte und hochsommerlichem Kanzleischweiß bedeckten Papiers mußte er an einem harten Pflock schlucken – »genau beschrieben, was aber zur löblichen Kenntnis zu nehmen man nicht der Mühe wert oder bereits wohl zu bedenklich erachtet hat, verschiedene gefälschte Banknoten, Guldenscheine gefunden worden; zwei bei jenem verdächtigeten Subjekt namens Schorman, und eine in Verfolgung der vermutbaren Spur des vermißten Branimir Katič. Ich habe dieses in meinem Berichte aufgeführt und belegt und habe bescheidenst darauf hingewiesen, wohin die, was man so sagt, Fährte zeigt,« wiederholte er vorwurfsvoll; »ist dem aber bereits wohl keine Wichtigkeit beigemessen worden.«

»Ja, ja, ich entsinne mich,« fertigte der Adjunkt aufgähnend ab; »der Akt ist höher hinauf gegangen … Man hat vielleicht das weitere abwarten wollen …«

»Möglich,« sagte der Wachtmeister ausweichend respektsvoll; »es mag sein. Nun habe ich aber in Erfahrung gebracht, daß gerade solche Banknoten von eben dieser gedachten Persönlichkeit, jenem Stermelz, an verschiedenen Stellen in Zahlung gegeben worden sind. Man hat mir die von den Geschädigeten zu spät erkannten Falsifikate vorgezeigt, es war dasselbe Fabrikat.«

»Doch nicht seines oder dieser verrückten Alten da?«

»Nicht, bitte; diese waren hier nur die Helfer. Aber es wäre wichtig gewesen, von der ganzen Bande doch wenigstens ein Mitglied zu fassen, um von ihm das weitere zu erfahren, und darum hauptsächlich habe ich, in Anbetracht der gehäuften momentanen Verdachte, besagten Stermelz zunächst zwecks eingehenderer Leibesdurchsuchung – –«

»Was für Verdachtsmomente außerdem?«

»Verdachtmomente, ja, stimmt, so heißt es. Wenn es den Herrn Doktor nicht langweilt? … Es war mir, ich bitte, bekannt geworden, daß also der besagte Stermelz nicht mehr mit der früheren Regelmäßigkeit in der sogenannten Konfinwirtschaft verkehrt, und ich habe daraus geschlossen, daß zwischen ihm und der besagten Horvatitsch geborenen Katič, einer früheren Geliebten und Komplixin, irgend etwas vorgefallen sein müsse; ich habe diese beiden Subjekta von Anfang an schon in einen, wie sagt man, kasualischen Zusammenhang gebracht mit dem Verschwinden des Branko Katič und anderen älteren Begebenheiten, und ich war der Meinung, daß der erwähnte Stermelz jetzt vielleicht geneigt sein würde, irgend etwas Näheres über die mit ihm zerworfene beziehentlich geistesgestörete Horvatitsch geborene Katič auszusagen. Ich habe ihn somit und aus den weiteren bereits mitgeteilten Gründen, in Unkenntnis der bereits stattgefundenen Vorfälle, angehalten, wobei es mir, wie heißt es gleich, gra – gravitätisch vorkam – –«

»Gravierend?«

»Gravierend, das ist bereits das rechte Wort, gravitierend vorkam, daß besagter Stermelz statt wie gewöhnlich auf der Straße mit Roß und Wagen weitab von seinem Wohnsitze auf Wanderung, bereits wie ein Bettler mit einem schweren Quersack auf den Schultern, anzutreffen war – –«

»Wo denn eigentlich?«

»Im Rudaner Tal, der Herr Doktor werden die Örtlichkeit vielleicht von einem Spaziergange oder einem Ausfluge her kennen, unterhalb des sogenannten Hungerbrunnens. Es führt sozusagen ein Paßweg aus dem Tal der kleinen Bregana, also bereits unmittelbar von der besagten Wirtschaft zum Konfin, über Otruschevatz hinüber ins Tal der kleinen Gradna, zum dortbelegenen Kupferhammerwerk, und von hier durch einen Bergeinschnitt, in der Nähe der daselbst befindlichen Gipsbrennerei, wird dem Herrn Doktor gleichfalls bekannt sein, ins Tal der großen Gradna; weiter hinauf dann über Sveti Lenard und den Sattel der Pleschiwitza nach der anderen Seite, nach Jaska, durch den großen Lug an die untere Kulpa und hinein gegen Bosnien, oder auch in die Lika, wo man so leicht keinen findet und fangt. Der bequemste Weg für einen, der belebte Straßen und Ortschaften vermeiden will und eine heimliche Last auf dem Rücken fortzuschaffen hat; derselbe auch, den vorzeiten die verschiedenen großen Räuberbanden, der Petar Kvotschka, die Bosniaken, bei ihren Einfällen und Rückzügen benützt haben. Der besagte Stermelz war Fuhrmann gewesen, vor der Zeit der Eisenbahn noch auf der Luisenstraße; der hat sich ausgekannt wie ein Wolf im Wald. Also, und dort, im Rudaner Tal, wie er aus dem Schlupf von der kleinen Gradna zur großen herüber und heruntersteigt, ganz schnell und scheu, für sich schon verdächtig, dort sind wir ihm auf unserem Patrollgang begegnet. War noch früh am Tage, bereits noch so halb dunkel zwischen den Bergen, habe die Persönlichkeit des Betreffenden kaum sofort erkannt; da hat er schon ein ganz schönes Stück zurückgelegt gehabt von zwei Uhr morgens etwa, wie diese Person aussagt, bereits wohl so bei einer schwachen Meile; und jenes gerade, wo er am ehesten eine Erkennung befürchten mußte, im Schutze der Nacht. Er war schlau. Ich langweile den Herrn Doktor?«

Der Adjunkt gähnte. »Ich habe ja selbst gefragt. Gehört sozusagen zum Dienst. Ja; aber was mich wundert: daß er nicht einfach mit Pferd und Wagen, als der überall bekannte Fuhrknecht sich und die Beute in Sicherheit gebracht hat. Hätte ja dann das Gespann irgendwo im Stiche lassen können.«

»Nicht, ich bitte. Das hätte sogleich die Spur deutlich gemacht. Es wäre ein, wie sagt man, ein Anhaltspunkt vorhanden gewesen. Mit Pferd und Wagen kommt man nicht still und unsichtbar fort. Und dann, das war für ihn mit einer Schwierigkeit verbunden. Ich habe diesbeziehentliche Erhebungen gepflogen. Eines der Pferde steht lahm, dieses konnte er nicht vorspannen, aus mehreren Gründen nicht; ein lahmendes Pferd ist wie ein schwarzes Schaf unter weißen, es läßt sich leicht verfolgen, dann besonders, wenn man das Gespann und seinen Führer ohnehin kennt. Außerdem noch, es hat der besagte Stermelz, wie ich erfahre, längere Zeit angeblich krank gelegen; nämlich, er wollte sich nicht gerne draußen auf den Straßen zeigen und ansprechen lassen, aus verschiedenen Ursachen nicht; es ist etwas vorgegangen mit ihm, er hat sich auf einen Schlag vorbereitet; hat auch ohne allen Zweifel selber das Pferd lahm gemacht, mit einem Faden oder einem Nagel, das ist für so einen eine Kleinigkeit. Hat dann aber nicht von heut auf morgen gesund sein und ein krankes Pferd aus dem Stall ziehen können.«

»Konnte ja aber noch etwas warten, so lange.«

»Nicht, bitte. Hat es vielleicht beabsichtiget; war ihm jedoch, wie es heißt, also logisch nicht möglich. Der Gesundheitszustand dieser Horvatitsch geborenen Katič – seiner früheren Geliebten und, wie sagt man, Komkublizin, ist ihm jedenfalls genau bekannt gewesen. Er hat es gewußt und beobachtet, daß sie oder daß wenigstens ihr Geist sozusagen also der Auflösung entgegengehet. Er hat also von ihrer gestöreten Geistesverfassung gewissermaßen eine Enthüllung, von ihrem Tode aber eine Durchsuchung des Hauses und den Verlust seines sogenannten Anteiles, oder am Ende noch andere, wie nennt man es, Kompolitikationen befürchten müssen. Darum hat er sich das Seine beizeiten mit Gewalt gesichert, und darüber ist er zur weiteren Straftat gekommen.«

»Hätte doch seine Beute woanders einscharren können; es gibt Gelegenheiten genug.«

»Nicht, bitte. Er wäre dann gebunden gewesen an diesen Boden, der ihm, wie heißt es, schon unter den Füßen gebrannt hat. Die Verwendung des Schatzes aber war ihm hierorts unmöglich, die Fortschaffung später noch viel schwieriger.«

»Sie wollen wohl ein Herr Lecoq werden?« Der Adjunkt tastete nach der Zigarettentasche. »Haben Sie das vielleicht auch schon gelesen?«

Der Wachtmeister bediente höflich mit handumhöhltem Feuer. »Nein; aber wenn ich darum bitten dürfte? Man liest gerne solche Sachen, wenn es sonst nichts Dienstliches zu tun gibt; bereits lieber als Zeitungen. Man lernt etwas, man kann lange darüber nachdenken, es ist unterhaltend und nützlich. Zum Beispiel in diesem Neuen Vitapal – Tipaval – Pivatal – die Sammlung wird fortgesetzt – steht drin, daß die Entdeckung in vielen kriminalogischen Geschichten bereits nur dem Zufalle zu verdanken ist. Das war auch hier. Wenn wir mit dem Kollegen, dem Titularpostenführer, nicht gerade auf Patroll im Rudaner Tal gewesen wären, das heißt eigentlich auf einem Dienstgange nach dem Dorfe Cerje hinauf, es soll dort ein Frauenzimmer, eine gewisse Princetowka, ihre Leibesfrucht – –«

»Und da also ist er Ihnen sozusagen ins Bajonett gelaufen?« unterbrach der Adjunkt.

»Sozusagen bereits wohl, zu seinem Unglück. Steht doch in diesem Neuen Pitafall verschiedentlich geschrieben, daß ein jeder Verbrecher, der Schlaueste sogar, immer irgendwo einmal einen Fehler begeht, der ihn an die, also: irdische Gerechtigkeit liefert. Einen solchen Fehler hat auch dieser besagte Stermelz gemacht. Er hätte sich den ersten Tag über, solange er in dieser Gegend, im Umkreis gewissermaßen seiner Bekanntschaften befindlich, verborgen halten und in der nächsten Nacht erst seine Wanderung fortsetzen sollen. Er hat das vielleicht beabsichtiget; er hat vielleicht nur erst nach einem geeigneten Unterschlupf Umschau halten und noch ein wenig Entfernung vom Tatorte gewinnen wollen; er hat sich dabei zu weit in das, wie sagt man, anbrechende Tageslicht vorgewagt und diese Unvorsichtigkeit büßen müssen.«

»Und?«

»Ja; ich sehe also einen Menschen unter einer Sacklast da so merkwürdig heimlich heruntersteigen; ich erkenne zu meinem größten Erstaunen diesen mehrfach besagten, der Verbreitung von Falschgeld verdächtigen Stermelz, und verständige hiervon, wie auch von meiner Absicht, den Kameraden, den Titularpostenführer; der Betreffende, noch einige dreißig bis vierzig Schritte entfernt, gewahrt nun auch uns, schreckt zurück und wendet sich, wie zur Flucht zurück den gekommenen Bergsteig; dieses benutze ich zu scharfem Anruf, er besinnt sich, kommt sozusagen wie harmlos an uns heran, und ich stelle mich zunächst verwundert, als ob ich ihn erst jetzt richtig erkennete: bemerke aber bei dieser Gelegenheit schon trotz herrschender Dämmerung verschiedene gravieristische Umstände: so eine gewisse Unordnung und Verstörtheit der gesamten Erscheinung, Blut in den Nagelrändern, eine bereits also wie flackerhafte Unsicherheit des Blickes, ein so ein gewissermaßiges Kainzeichen auf der Stirne, möchte man beinahe sagen … Ich werde alle diese Monumente in meinem Berichte zu erwähnen haben, es wird wieder eine schwere Arbeit sein; hätte schon heute angefangen, aber da ist dann das dazwischengekommen, die Kakastropfe dieser Dramödie, möchte man bereits sagen. Man weiß gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht, es ist ein bereits wohl einzig dastehender Fall; aber die Sammlung wird fortgesetzt, und –«

»Und den Haupttäter hat man noch gar nicht,« gähnte der Adjunkt; »Sie, das ist ein ganz hübscher Weibsbraten übrigens, die da drin, da würde sich eine längere Amtshandlung lohnen … Na ja, also, und weiter, und?«

Der Wachtmeister schluckte wieder an seinem Pflock. »Ja; habe den mehrfach bezeichneten Stermelz also angehalten und gestellt; ihn freundschaftlich angesprochen, dabei aber scharf ins Auge gefaßt; ihn so nach seinem Ergehen und nach seinem Wege gefragt, und was er hier tue und treibe und wo er denn heute sein Fuhrwerk gelassen und ob er ein wandernder Fechter geworden; worauf er sehr mürrisch und verstört erwidert, er habe den Dienst aufgesagt und begebe sich mit seiner Habnis in einen anderen. – So, wohin denn? frage ich. Sei noch nicht so bestimmt, antwortet er verdrossen, vielleicht nach Jaska, vielleicht nach Ogulin, möglich nach Karlowatz, nach Sissek, dahin, dortenhin – er müsset weiter. Ja, wieso denn, warum es ihm hier nicht mehr paßt, frag ich, nun wär er doch schon so lange in der Gegend, noch einmal an einen neuen Herrn sich zu gewöhnen in seinen Jahren? … Macht er: so – zuckt die Achseln: die Zeiten ändern sich, und jetzt diese Unruhe und alle diese Geschichten mit der neuen Straße, sei alles nicht mehr dasselbe wie früher, aber nun müsset er sich beeilen … Schön, sag ich, gehen wir, haben ja soweit einen Weg, marschiereten sowieso auch da hinauf … Wird er unruhig: ja, aber er hätt früher noch ein Geschäft in Samobor, seien dort noch ein paar Stiefel von ihm zum Besohlen, die wollet er abholen und mitnehmen … Gut, sag ich – und indem tritt der andere, was der Titularpostenführer ist, so beiläufig hinter ihn, rührt unvermerkt an den Sack und gibt mir einen Deuter: weiß nicht, scheint mordsschwer zu sein! – sag ich, gut, auch dann bleiben wir zusammen, begleiten ihn überall hin: solleten wohl bereits die Siebenmeilenstiefel sein, die er so dringend benötiget? Und was das Versohlen und Mitnehmen angehet, das besorgeten wir grad mit Vorliebe – wollet sich wohl auf sechs Semmeln und drei Kreuzer Infanterie von einem falschen Gulden herauswechseln lassen, das wär wohl dasjenige eigentliche Geschäft? … Da riecht er den Rauch und wird wild: was das heißen soll? … Sag ihm drauf gemessen: Im Namen des Gesetzes soll das heißen, wegen wissentlicher Verbreitung gefälschter Zahlungsmittel … Lacht er nur: wenn's das und nichts weiter ist? Wenn andre ihn mit solchem Falschgeld schädigen, soll er der Dumme sein und der Geschädigte bleiben? Soll lieber der Staat durch seine Gendarmen und Polizisten besser aufpassen, damit solches falsches Geld überhaupt nicht gemacht wird … Jetzt keine Redensarten, ermahn ich ihn, das wird sich zeigen, könnte ja am End auch noch was weiteres sein. Was ist in dem Sack da drin? … Das Meine, schreit er, ob wir vielleicht da auch noch unsere Nasen hineinstecken müssen, ob wir hier auf der Grenze, ob wir Finanzer sind? … Sag ich ihm drauf: lieber keine vielen Worte, keine Anstrengung und keinen Widerstand; herunter damit, da wird sich's gleich erweisen. In dem steht der Titularpostenführer noch immer hinter ihm – so, daß wir ihn zwischen uns haben – hebt jetzt richtig an und ruft mir zu: hart und schwer wie Blei! … Schmeißt da der Verhaftete den Sack mit einem Fluch herunter, daß es nur so scheppert und klirrt, reißt unter seinem Rock, war bereits so eine Art Fuhrmannskittel, wie sie ihn früher getragen haben, eine schwere Doppelpistole heraus – zusammengestutzt aus einem Schrotgewehr, ich hab das Zeug gekannt, er hat es immer mitgehabt auf seinen Fahrten, mit gehacktem Blei geladen, gegen Räuber und Wölfe; erliegt jetzt als solcher Corpus delicti bei den übrigen Beweisstücken – no, und will den Hahn aufziehen: da habe ich sie ihm mit dem Bajonett aus der Hand geschlagen – und dann, wie er auf das hin geflohen ist, habe ich nach dreimaligem Anruf von der Dienstwaffe Gebrauch gemacht … Etwas zu hoch bereits ist mir die Kugel gegangen, es waren etlicher funfzig Schritte, über diese Entfernung tragen unsere Ordonnanzgewehre eine Spanne übers Visier,« fügte er sachlich hinzu; »der oberkrainische Jäger aus dem Mokritzer Revier, der mit seiner Büchse hätte an meiner Stelle sein müssen, der hätte ihn anders getroffen, den habe ich einen solchen Hühnergeier, wie sie hier vorkommen, aus bereits wohl zweihundert Meter Höhe herunterschießen sehen … Ja, und davon ist er dann heute früh auf dem Einlieferungstransport gestorben … Ein alter Mann, hat mir leid getan; aber nichts zu machen … Und ein gefährlicher Verbrecher …«

»Aha,« sagte der Adjunkt undeutlich, und der Wachtmeister setzte seine Betrachtungen fort.

»Gestorben ohne Reu und Leid und ohne ein geständiges Wort; geflucht und gedroht solange ein Atem in ihm gewesen ist, bereits fast bis zu seinem letzten Augenblick – auf uns, auf die ganze Welt, ganz besonders auf seine eigene Geliebte, diese Horvatitsch, seine Konkublizin. Da hat man erst gemerkt, was für ein Mensch das er gewesen ist, ein Wolf, könnte man bald sagen, im Schafspelz. Sollen etwan bereits bei siebentausend Gulden in Goldstücken und an die tausend Gulden in Silbertalern gewesen sein, was er da zwischen Hafer und Häcksel in seinem Sack fortgeschleppt hat; ein Vermögen.«

»Vermögen, ja, großes Vermögen,« murmelte der Adjunkt.

»Und alles von bereits jahrelangem gemeinsamen Raub und Mord, wie sich jetzt aus den Aufzeichnungen dieses vermißten und aufgefundenen Branko Katič und aus den ersten bereits nur oberflächlichen Nachforschungen in besagtem geheimen Keller ergeben hat. Solche Eltern und ein solches Kind: der Herr Doktor haben gesehen: förmlich, wie sagt man, Tagebuch hat dieser vermißte Branko Katič geführt über die an seiner eigenen Mutter verübten Erpressungen. Schreibt er: ›Der alten Bestie wieder hundert Gulden abgeschraubt, windet sich unter meinem Tritt wie eine Schlange …‹ Schreibt er: ›Der alten Hurenkanaille mit dem heimlichen Totenkeller gedroht und wieder hundertzehn Gulden aus dem Bauch gerissen …‹ Der Herr Doktor haben gesehen?«

»Ja, ja,« knurrte der Adjunkt in den hochgestülpten Mantelkragen; »schrecklich.«

»Ist nicht wahr? … Doch wohl bereits ein einzig dastehender, wie sagt man, ein krassischer Fall. Und alles gegangen auf Weiber, Wein, Zigeunermusik! Der Herr Doktor haben ja gehört?«

Jener brummte wie in tiefem Nachdenken. »Freilich; Weiber – Zigeuner … Wie – wie heißt sie schon?«

»Wen meinen der Herr Doktor?«

»Na, die – die – die da – –«

»Ach die? … Berta; Berta Grabert; Tochter von einem der Glasbläser da hinten drin in der alten Hütte, von der besagten Horvatitsch in bereits zarter Jugend schon nach der Stadt verkauft worden. Der Vater, ein schwerkranker Mann, ist vor einigen Monaten erst verstorben, unter merkwürdigen Umständen; es wird noch zu untersuchen sein. Auch als ein Opfer dieser ganzen, wie möchte man sagen, verketteten Verwicklung und verwickelten Verkettung … Und um dieses Frauenzimmer, dieses Mädchen – soll etwann an mehreren Orten Prostituierte, an anderen Kellnerin gewesen sein, kommt im ganzen aber wohl auf das gleiche heraus – hat sich zum Schlusse sozusagen gewissermaßen, wie heißt es schon manchmal im Neuen Pitaval, der Knoten geschürzet. Wird vermutlich noch des Näheren einvernommen werden müssen …«

Der Adjunkt schwieg.

»Fluchtgefahr dürfte schwerlich vorliegen, es ist ja auch der Postenführer für alle Fälle zurückgeblieben in diesem, wie möchte man sagen, bereits wohl Bluthause … Und außerdem, indem und insoferne die Besagte sich die Gelegenheit bis jetzt offenbar nicht zunutze gemacht hat … Es wird aber diese Horvatitsch den dritten Tag vom heutigen kaum erleben; scheint mir, wie heißt es, der Auflösung entgegenzugehen und der irdischen Gerechtigkeit entrinnen zu wollen. Es ist schade.« Der Wachtmeister hielt in seinem Vortrag inne. »Es steht in diesem Neuen Pitaval geschrieben, was ein französischer General – oder Kaiser – oder Landesgerichtsrat – immer gesagt hat, fallt mir ein, es paßt bereits großartig auf diesen Fall, ich weiß nicht, wie man es ausspricht: Tschertsches – herhes – dscherdschetz la femmé …«

Allein die erwartete Nachhilfe blieb aus. Der Adjunkt, sanft eingetäubt durch das Mühlwerk der holztrockenen Dienststimme an seinem Ohr, war fest entschlummert; aus dem hochgestülpten Mantelkragen hing schlaff die erloschene Zigarette.

Die Jugend, dachte der Wachtmeister, die Jugend; und behutsam wie über ein Kind spreitete er die pferddurchwürzte rauhe Wagendecke von sich weg höher hinauf um den selig weggesunkenen Schläfer. –

Im Sternenschein blinkte das Bajonett, Herbstgrillen klagten in kühler Späte, die fernen Hunde bellten; weit hinaus unter spinnenden Nebeln schimmerte das Feld, im Schauer der Hügel spielten träumig die kleinen Schnarrmühlen.

*

Der Juterman, der Geist der blassen Vorfrühe, von den schnurrenden Nachtschwalben umgaukelt, schritt still über die Felder und säete den Tau in die Stoppel, in die neue Furche, ins dunkelreifende Heidekorn: um die Stunde trat Primus Koschutnik, mit Büchse und Weidmesser wie zum Reviergange gerüstet, aus der einsamen Jägerhütte. Er schloß sorgfältig ab, blieb ein Vaterunser lang in Lausch und Sinnen stehen, seufzte alles ab von seiner Seele und schickte sich, nach einem letzten Blick die Wieshalden empor, die heimliche Dämmerweite der Talgründe hinein, zum zarten Umriß der alten Wahrbuche hinüber, auf die trautkleine Waldhausung zurück, an seinen gewiesenen Weg.

Strauch und Strunk wuchsen geduckt aus dem Dunkel, Fratzen die starrten, Riesen die ragten, webend Wesen, schwebende Schatten, dumpfe Sprünge übern Steig in dunstige Tiefen hinab. Aber die Gestalten des Zwielichts hatten keinen Schreck mehr für den Jäger, der seltenstes Wild, nach harter Birsch gestreckt, zu Tale trug in seiner Brust; er vernahm das heimliche Schweichen und Schlurfen nicht, nichts von Lauf und Lurchen im Laub, nichts von Raun und Rufen im Holz, heut den Schlag seines Herzens nur und den eigenen schweren Schritt.

Die losen Baumschnarren spielten klapprig im leichten Morgenwind; in Buschgräben drunten glockte friedsam das Weidevieh, Pflugeisen blinkte im Hügelgeländ, über den Rebhängen, um die Pappeln der weißen Weinberghöfe schwärmten rüstend die Stare; bald würde die mehlbeerbaumene Spindel, bald der maßholderne Klotz der Presse im Umgang der Steinwucht knarren … Schön war die Welt, schön, am schönsten im Herbst, wenn Wein und Wild zur Ernte gereift …

In den bohnendurchrankten Kukuruzäckern raschelte heimsendes Weibsvolk. »Der Herr Jäger, schon so früh auf, wird er uns nicht helfen? … Jetzt beim Brocken, später an Regenabenden, beim Rebbeln? … Da könnte er uns dazu schöne Geschichten erzählen aus seiner Heimat …« Kichern aus hellen Kopftüchern hervor klang in das Rauschen des Maisschilfs; Koschutnik blieb stehen. »Später einmal, wenn ich wiederkomm.« »Der Herr Jäger will fort von uns, will uns schon wieder verlassen? … Es gefällt ihm nicht bei uns? … Wer aber wird uns dann den Dachs wegschießen, der hier solchen Schaden frißt, und den Habicht, der schon vierzehn Junghühner geschlagen hat in diesem Sommer? … Der Herr Jäger wird doch keine Angst haben vor Gespenstern? … Vor der alten Horvatitschka, vielleicht ist sie derweil schon verreckt, daß die umgehen könnt? Die verwandelt sich gewiß in eine Kröte oder in eine große Spinne, oder in eine Steinviper, eine solche mit Horn und Hahnenkamm, das sind die bösesten … Sagen überhaupt einige, sie wäre früher etwas solches gewesen, ein Tier des Teufels; die alte Nuna, die kennt sich aus bei solchen Sachen, die weiß es bestimmt, sie habe sich zu gewissen Nächten in einen Wolf, zu anderen in eine schwarze Schlange, in eine graue Ratte verwandelt – wenn man da ein Messer lang drüber hinwirft oder sie beim Namen anruft, steht sie auf einmal nackend da … Und einen Gürtel soll sie gehabt haben, wenn sie den anlegte, konnte sie ohne Anstoß zum Rauchfang ausfahren … Sie ist niemals beim Herrn Jäger eingeflogen? … Was denkst, den Herrn Jäger, den haben schon andere aufgesucht … Ja, und warm zuzweit fürchtet man sich vor keinen Gespenstern, nicht wahr …+?« Koschutnik warf schwermütig ein scheidendes Scherzwort in den neckenden Schwatz und ging; neben ihm her über kurzgeweideten Wiesrain zog sein blasser Schatten, verstummt unter überdachender Hand sahen die Weiber ihm nach.

Es war noch zeitig, im Pfarrdorf läuteten sie mit Mariens Morgengruß zur frühen Alltagsmesse. Scheu auf seinen harten Nagelsohlen schlich sich Primus ein, in banger Ehrfurcht netzte er Stirne, Lippen und Herz mit dem Zeichen der Erlösung; dann ließ er sich dem Eingang nah, unter der schützenden Verdunkelung des Orgelchores, an seiner Büchse aufs Knie nieder. Solange er hier, hatte er die Kirche nie betreten; nun zum ersten Male sah er die glorreich zu den ewigen Wonnen aufschwebende Mutter Gottes, von dunstigen Buntlichtern der Fenster überspielt, zwischen den beiden bärtigen Apostelfürsten mit Schlüssel und Schwert, und zu ihren Füßen hob soeben der geistliche Herr den goldenen Kelch in den einfallenden Strahlenstrom der Herbstsonne empor. Eingeneigt schlug Koschutnik sich an die schuldige Brust, wie er's einst in glücklicher Zeit gelernt, wie er's vor Sankt Primus und Felician, den heiligen Blutzeugen auf dem nelkengeschmückten Hochaltar der Heimat zum ersten Male getan: damals, als er von Leben und Jagen noch nichts anderes gewußt, als daß es ein großes Geheimnis voll wilder Seligkeit … Hier hatten sie noch den guten Nährvater Joseph mit Lilie und Jesukind auf der Männerseite, Sankt Michael, den geharnischten Engelhelden, wie er vor schwefelflammigtem Hintergrund dem gestürzten Satan den Fuß in den Nacken tritt, vor den Weiberstühlen. Ja ja, schon recht; nur daß sie den Bösen nicht immer als bocksbärtigen Waldgeist hinmalen sollten, sondern als Frauenzimmer, wie er's von Paradies und Schlange her allerzeit gewesen … Primus bekreuzte sich, stand behutsam auf und ging, sowie der Priester den paar alten murmelnden Litaneimuhmen vorne den Segen gespendet; ihn brauchte niemand zu sehen.

Aber vor dem blutenden Heiland bei der einsamen Schwarzföhre am Rain verrichtete er noch ein kurzes Gebet, und als er sich in scheuem Umblick allein fand mit dem Bild der Erlösers, entkramte er seiner Weidtasche hastig eine leere messingblanke Patronenhülse, aus etlichen anderen ihresgleichen auserwählt zum Behalt für die vom Hutgesteck abgenestelten, einst unter Todes Flügelhauch von grausem Überhang gebrockten Edelweißsterne. Eilends stieß er seine Schmuckgabe Jesu zu den durchnagelten Füßen ins bretterne Gehäus, dann flüchtete er vor nahenden Stimmen den dornumstrauchten Hohlweg hinab. Aus der Weite erst spähte er nach dem schwalbenumspielten Kreuzstock zurück; man hatte es nicht bemerkt, ein Leiterwagen knarrte auf der Feldhöhe drüber hin durch Herbstrasen und Stoppel in die Kürbisernte. Später einmal vielleicht, auf Allerheiligen oder gar auf den großen Samstag übers Jahr, wenn die Schwalben zurückgekehrt, und sie schmückten den Auferstandenen zum Umgang mit Buschwindrosen, Primeln und Palmweiden, würden sie das Weihgeschenk entdecken und sich wundern über die fremde rauhe Alpenblume in ihrem seltsamen Gefäß – – –

Im Tal drunt unter herbstgrauem Krähengeschrei wogte der Nebelstrom, dumpf im feuchten Kies des Schloßhofes wiegten und rauschten unter erstem Schauer roten Wildweinlaubes die eichenen Gebündwuchten … Lese, stürmender Most, unter Herbststernen das Brausen werdenden Weins in den Preßkellern der Hügel, bratgoldene Kastanien aus spätem Hirtenfeuer, Brackengeläut durch bunten Wald und Flintenknall: bald würde Jahres lustigste Zeit gekommen sein …

Und nun stand Primus Koschutnik vor dem Herrn Grafen im durchsonnten Zimmer und nahm all seinen guten Willen zusammen.

»Also, was willst denn, was ist denn mit dir? … Wie siehst denn aus, bist krank oder was, brauchst Arznei? … Möchtest noch vor der Zeit austreten? … Vielleicht, daß du dich daheim ein paar Tag umschaust?«

Primus schüttelte den Kopf. »Eine Bitt hätt ich an den Herrn Grafen.«

»Was denn? … Wenn du das meinst, da ist nichts zu ändern, mein Lieber, hab schon einen anderen aufgenommen, nächsten Samstag rückt er ein. Geht nicht, ging auf keine Weis nicht. Du weißt ja.«

Der Oberkrainer stand stramm. »Ich weiß, ich versteh auch, und ich dank dem Herrn Grafen für alle Güte und Nachsicht. Und, ich bitte, hier das Gewehr, nicht geladen; und geputzt und geschmiert hab ich's auch noch nach dem letzten Schuß … Und da sind die Patronen, soviel ihrer mir geblieben sind: drei auf Prob, drei auf Böck, eine auf Trutz, der Herr Graf erinnert sich, der welsche Honiggel, dem ich's hab zeigen müssen – sind siebene – und dann noch eine – sind achte – –«

Der Graf wunderte sich immer mehr. »Was soll denn das heißen? Die Büchse ist doch dein, kannst sie mitnehmen in den neuen Dienst, kommt dort vielleicht besser zu ihrem Recht …«

Koschutnik sah seinem Herrn klar ins Aug.

»Ich glaub, bitte, nein.« Er seufzte auf. »Ich werd das Gewehr wohl nimmer brauchen. Gut war's, zu gut für mich; gern hab ich's gehabt, zu gern; es hat's mir verleidet. Und den neuen Dienst beim Herrn Fürsten, ich dank der Ehr, werd ich auch nicht antreten können …« Seine Kehle bebte, seine Lippen zuckten bitter, er versteifte sich gewaltsam. »Ich bitt: ich komm's melden: ich hab einen erschossen.«

Der Graf starrte zurück. »Du, was sagst du? … Du hast einen – einen Menschen? …«

»Bitt, jawohl. Denselbigen, den sie jetzt da suchen tun, diesen Primurzen oder was er gewesen ist; der den anderen, diesen Ingenieur oder was er schon war, von der Alten, der Horvatitschka drunten der Bankert, umgebracht haben soll. Den. Und tät halt den Herrn Grafen schön bitten, wenn er wollet auf alles drauf noch so gut sein und mir bei der Selbstanzeig vor den Gendarmen jetzt ein wenig beistehn …« Er atmete befreit auf.

Und dann erzählte er alles bis zum letzten, bis zu seinem Entschluß, bis zur Entscheidung dieser Stunde.

»... Hab's ja auch nicht glaubt, daß einem das so zu Herzen könnet gehn … Bei uns daheim im Oberland, an einem roten Sonntag, da sticht man einen ab und macht sich kein Gewissen draus, bloß daß man sich giftet ums Eingesperrtwerden hinterher; und in den Bergen, da putzt man einen weg und laßt ihn liegen, und schweigt und wird nicht gefragt … Aber der: Duscha, hat er im Sterben zu mir gesprochen, Duscha, Seele! … Das ist mir selber so wie in die eigene Seel gefahren, bald schon, als ob ich erst eine Seel von ihm empfangen hätt, von ihm übernommen: wie eine schwarze Last hat sich das gelegt auf mich, hab keine ruhige Stund gehabt seitdem … Duscha, stottert er, schluchzt er, Duscha, Seele, meine Seele, deine Seele – und da zieht's wie Nacht über seine Augen, daß man meint, man sehet die Sterne tief drin, und er ist tot … Da hab ich gemerkt, daß er auch eine Seel gehabt hat, der andere – halt auch ein Mensch, na – auch ein armer Hascher zuletzt, der sich sein Brot sauer hat verdienen müssen in der Fremd – schwerer als ich … Wenn er auch gewildert gehabt hat …«

Der Graf ging unruhig auf und ab; aus dem Schloßhof herauf rollte hohl das knirschige Wiegen und Walgen der Fässer.

»Und weißt das gewiß, daß es dieser Kerl war, dieser Morlok, dieser – also angebliche Mörder?«

»Für sicher, bitte; hab ihn wohl kennt, ihn und die Spur von seinen Opanken; hab die oft genug abdrückt funden, immer frisch, von der Nacht, von der Stund, auf einmal da und kein Mensch wo in der Näh, wie von einem Gespenst … Um meine Hütten, in meinen Wegen, überall. Hab ihm wie oft im Zorn die Kugel zugeschworen gehabt …«

Der alte Herr sah sinnend. »Also doch ein ganz gefährlicher Bursch?«

Koschutnik zuckte die Achseln. »Wegen dem? … Wird ihm halt auch das Blut schwarz worden sein, dann ist kein Halten nimmer … Die Weibersachen …«

»Ja, jawohl, Weibersachen.« Der Graf nickte ihm bedeutsam zu. »Weibersachen …«

Primus nestelte am Hut. »Der Herr Graf hat schon Recht habt. Ich seh's jetzt. Man ist halt – ich sag nichts …«

»Hm. Und Gewehr also keins? Hast alles abgesucht?«

»Alles. Kein Gewehr.«

»Daß es ihm, sagen wir, so im Sturz zum Beispiel aus der Hand geprellt wär worden?«

»Nichts.«

»Das tät nämlich die Sach sehr zu deinem Besseren ändern.«

»Freilich, weiß wohl. Aber ich sag's, wie's war.«

»Und ausgerechnet an dem Tag, wo sie drunten den Toten – also diesen Vermißten – und das Beweisstück gefunden haben, grad an diesem selbigen ist es geschehen?«

Koschutnik lachte bitter auf. »Man könnt sprechen: bald schon zur selbigen Stund … Was ich so gehört hab derweil.«

»Das machet nämlich auch einen Unterschied.«

»Ich sag's, wie's war.«

»Gesehen hat dich niemand?«

»Ich wisset von keinem.«

»Und dennoch treibt's dich zur Anzeig?«

Jener zuckte unsicher die Achseln. »Wann das einem immerzu aufhockt und aufschluckt, bei der Arbeit, in der müden Nacht, bei jedem Bissen, bei jedem Denken … Immer hör ich's inwendig drin, wie er so verseufzt: Duscha, die Seel, meine Seel, deine Seel, unsere … Hab auch eine Seel gehabt, hast auch du eine, denk dran …« Die Tränen schwammen ihm herauf in Stimm und Aug, er wendete sich halb zur Seite und zog den Handrücken über die Lider. »Ja; und streckt sich, und wie ein grauer Schatten legt sich's über ihn, als verlöschet ein Licht, und er fallt ein … Das ist nicht zum Aushalten; man denkt an die Sorgen und Schmerzen, die der andere vielleicht auch gehabt, und wie daß er auch gerne gelebt hat … Drei Tag würgt das so herum in mir; möcht sich bald selber umbringen zur Buß, würd was besser davon … Schwindelt mir, wenn ich droben steh und die Klötzer abriesen in die Tiefen, als ginget's mit dem hinunter und er zöget mich nach mit seinen toten Augen; graust mir, steh ich auf der Roll und es rauscht und ruckt durch die Engen zutal, spür's kalt hinter meiner, als hätt der aufgesessen und ziehet die Seitspreizen heraus. Als fahret und fahret man in so einer Riesen, nicht anders ist einem, man weiß nichts, man denkt nichts, man kann sich nimmer derfangen: – wie sollet's ich dem Herrn Grafen beschreiben? … Mag gar nimmer nach den Bergen in der Heimat schauen, hängt wie eine Wolken auf allem; hab schon alles liegen und stehen lassen wollen und davonlaufen, bekenn's dem Herrn Grafen frei; aber na, ist mir doch eingefallen, daß das die größte Dummheit wäret von allem … hab ja einen Bluthaß wohl gehabt auf den Hund; ums Wildern, um alles Mögliche, ich war ein Viech, na … Hab's auch wahrhaftig kaum anders glaubt, als daß er ein Gewehr bei sich tragen müsset; wie das schon geschienen hat mit dem Bock, maledeitem Nebelbock … Aber, na … Und dann hab ich zum Schluß gemeint: besser so. Wie's kommt, wie's wird, soll's hinter mir sein. Ginget jetzt in anderen Dienst, gewöhnet mich ein, möchtet mir vielleicht das Bleiben und Heiraten verdienen, kämeten Kinder auch: – und dann, ein schönen Tag, man hat's schon vergessen, wird er doch gefunden, fallens doch auf mich, munkelt sich was zusamm, tätens mich holen mitten aus Fried und Brot … wie das mit dem da auch gewesen ist, hat mir ein Schrecken geben … Und Frau und Kinder bleibeten dann in Schand und Not … Besser schon gleich, was sein muß, daß eine Ruh ist, magar im Arbeitshaus, magar im Grab … So oder so … Darum.«

Er seufzte ab, verloren schweifte sein Blick; der weiße Porzellanofen, der geschnitzte Hirschkopf, das grünbefilzte Waffenbrett mit den starken Rehkronen … Auf dem Tisch dort hatte damals der Brief gelegen des Herrn Baron von Egg; der Brief, der ihn aus der Heimat in die Fremde geleitet … Und aus der Vergangenheit irrte die Hoffnung über alles Dunkel hinweg in die Zukunft:

»Könnet später vielleicht doch noch wo eine Anstellung kriegen, in Bosnien drunt oder so; beim Aufforsten, als Aufseher, als Waldhüter … hab gehört, dort braucheten sie solche Leut, dort wird nicht so viel gefragt, ob einer einmal – –«

Der alte Graf blieb vor ihm stehen, er legte ihm die Hand auf die Schulter, seine Stimme klang wie fremd.

»Davon wird noch zu reden sein, das hat Zeit … Primus, ja, was soll ich dir sagen? … Ich sag: gefehlt hast, hast schwer gefehlt, wirst hart dafür büßen, das ist jetzt schon einmal so. Aber ich sag auch: getroffen hast, ins innerste Herz, ins Zwölferkreuz hast getroffen; und heut, mit dem Meisterschuß, hast den Nebelbock, das alte Gespenst, wirklich erlegt, hast ihn erlöst, hast den Schatz im Berg da drin, in dir selber gewonnen … Tust mir leid, Primus, daß du das auf dich geladen hast, daß du jetzt dafür einen bitteren Weg durch eine traurige Zeit wirst gehen müssen; aber dazu, daß du das freiwillig und ehrlich auf dich nimmst, dazu wünsch ich dir Glück, das ist, Gott verzeih mir die Sünd, halb schon mehr wert als Beicht und Kommunion … Und alles geht einmal vorüber, wird am End gar so schlimm nicht werden; was ich tun und sagen kann, soll gesagt und getan sein, das versprech ich dir … So, alsdann komm; und jetzt fahren wir halt in Gottes Namen hinunter zur Gendarmerie.«

*

Der Wagen hielt vor dem kleinen weißen Kasernhaus des Postens, des letzten an der Reichsstraße nach der Krongrenze hin. Das Grundstück, dem kaiserköniglichen Landesgendarmeriekommando abvermietet, gehörte der Herrschaft selbst; ohne viel Umstände trat der Graf durch den backsteingefliesten Flur in die doppeladlerbehütete Wachtstube zur Linken; bleich folgte Primus. Der Postenführer, ein hagerer, trockener Mensch, sprang vom Kanzleitische her abwehrend entgegen. »Was soll denn das heißen – ah so, der Herr Graf … Wenn ich den Herrn Grafen bitten dürfte, einen Augenblick; es ist eine Anzeige von größter Wichtigkeit; betrifft ohnehin …« Er stockte. »Ja, aber wie denn das? Hier ist ja schon der Betreffende …«

Und der Graf blieb verwundert stehen. »Ja, was denn du hier, Peter? … Hast wen gefaßt? …«

Der Postenführer erklärte. »Ja, ist aber ein eigenartiger Zufall; ich weiß gar nicht … Dieser hier befindliche Peter Jelinek – beeideter Revierjäger des Herrn Grafen, nicht wahr? – ist gerade gekommen, unter angebotenem Beweis des Augenscheines eine Anzeige zu erstatten gegen eben diesen – wie heißt er – Koschutnik Primus, gleichfalls in Diensten des Herrn Grafen – wegen – also wegen – –«

Der Graf sah von einem zum anderen. »Du, Peter? … Gegen den da, den Primus? … Primus: was ist das jetzt? … Du hast doch gesagt – –«

»Ja, also ich weiß nicht – wegen vorsätzlicher Tötung; wegen Mordes also« – setzte der Postenführer verwirrt, mit einem unsicheren Blick auf den Gewährsmann, in seinem singenden Sprechton fort; »also wegen, also ich weiß nicht, also wegen Mordes an diesem – –«

Wieder sah er suchend auf den Angeber; der nickte in betretenem Trotz. Hatte der Alte da, mit seinem vielgeliebten Schützling, hatten die grad dazwischenkommen müssen? Und hatten sich's doch so fein ausgesponnen, er, der Vater, die Jana, der krumme Kropatschek; hatten sich's sorgfältig überlegt, ob den Schlingfaden erst noch langsam drosselnd anzuspannen, zwecklos gegen diesen Habenichts und bedenklich ob seiner Gewalttätigkeit, oder aus dem Hinterhalt mit eins den vernichtenden Schlag zu führen, das Rätlichere … »Ich hab es mit angesehen; ich kann's beweisen.«

Primus, totenblaß, drängte sich vor. »Was willst mitangesehen haben? Was kannst beweisen?«

Der Schwarze zwang sich zu überlegener Gelassenheit. »Das, was geschehen ist.«

»Was weißt denn du überhaupt, daß geschehen sein soll?«

»Mit dir red ich gar nicht. Steht alles im Protokoll, den Herrn Postenführer frag, von ihm wirst es schon noch erfahren.«

»Du lügst! … Mußt gelogen haben! … Du hast gar nichts – kannst ja gar nichts …«

Der andere lachte höhnisch auf. »Das wird sich ja gleich weisen … Soll dich der Herr Postenführer fragen, ob du nicht am – –«

»Ruhe, zum Dreiteufel noch einmal! …« gebot der Graf; »eben deswegen sind wir ja – aber nun, ich bitte, Herr Postenführer; weiter.«

»Ja, also: Mordes – begangen an diesem – wie heißt er gleich? … Jetzt bin ich ganz vermischt durch das … Da haben wir's: – also an diesem seinerseits von den jenseitigen Behörden gesuchten – also auch bereits wegen Mordes oder Mordverdachtes gesuchten Ilija Schorman – Ilija Schorman – sind dieserhalb auch schon verständiget und um Unterstützung gebeten worden … Man wird da aber wohl im Namen des Gesetzes …«

»Ja, nun, aber eben deswegen sind wir ja hier,« unterbrach der Graf; »der Primus Koschutnik da will Selbstanzeige erstatten, und die ganze Sache – –«

»Will Selbstanzeige erstatten?« fragte der Postenführer verblüfft; »ja, dann wird man aber wohl – –«

»Gewiß; das macht einen Unterschied. Und überhaupt …« Der Graf blitzte den Angeber aus verdüstertem Brauengewölk an. »Mit dir hinaus!«

Der Bedrohte wagte zu mucken. »Ja, aber – ich –«

»Kein Aber. Hinaus!«

Der Postenführer trat dazwischen. »Ja, aber, ich bitte; man wird ja da erst feststellen müssen, inwieweit diese Selbstanzeige nicht vielleicht –«

»Gar nicht inwieweit und inwiefern. Eine Selbstanzeige geht vor. Sie können ja dann noch immer –«

»Ja, aber, ich möchte doch bitten, Herr Graf, hier habe ich – –«

»Herr Postenführer, ich als langjähriger Bürgermeister, als alter Soldat, als Landeserbmarschall dürfte wohl auch Ihre Instruktion kennen. Ich stelle Ihnen den Selbstgeständigen hiermit vor, dann gehe ich so lange. Mit demselben Rechte aber verlange ich, namens des hier frei gestelligen Koschutnik, daß auch der Angeber – –«

»Ja, aber ich bitte, dieser Hierbefindliche hat doch nur seine Pflicht –«

»Ach was, Pflicht! … Seine nächste Pflicht wäre es gewesen, daß er –«

»Ja, aber, bitte, der Betreffende hat auch geäußert, daß seinen Mitteilungen im Schlosse vielleicht nicht der rechte Glaube würde beigemessen – –«

Der alte Herr wendete sich scharf gegen den Zuträger.

»So, das hast du behauptet?«

»Wenn es doch die Wahrheit ist …«

»– und daß diesem – also diesem Primus Koschutnik schon zahlreiche Dienstvergehungen waren straflos durchgelassen worden,« setzte der Postenführer fort; »Unterschleif und Bestechung durch diese – na, wie heißt sie gleich – Horvatitsch –«

»Was?« Primus, alles vergessend, alles von sich werfend, blaß bis ins tödliche Dunkel des Blicks, sprang ein. »Du hast das …? Das hat er …? … Der?«

Der Gendarm straffte sich in strafender Amtswürde. »Was ist das für eine Art dahier? … Hier ist die Postenkaserne der kaiserlichköniglichen Landesgendarmerie, verstanden! … So fragt man nicht! … Das wird sich noch alles zeigen …« Er kehrte sich wieder gemäßigt dem Grafen zu. »Und auch, daß er diese – also Horvatitsch mit Wild aus den herrschaftlichen Wäldern beliefert haben soll … Gewissermaßen so, der Herr Graf entschuldigen, also als Kuppelpelz … Soll sich ja dort etwann eine gewisse Person aufgehalten haben – oder noch aufhalten … Liegt ja auch sogar der Verdacht vor, daß dieser andere – wie hat er schon geheißen – Branko oder Branimir Katič – also dieser Sohn der erwähnten Horvatitsch von einer anderen Hand … Besteht darum auch die Möglichkeit, daß mit also dieser Selbstanzeige wegen Tötung, das heißt Beseitigung, des bisher mutmaßlichen Mörders, dieses Schorman, noch etwas anderes – –«

Er kam nicht weiter.

Primus aus schwarzer Starre herzgetroffenen Tieres schnellte rauh aufgröhlend über Stuhl und Tisch hinweg dem Feind an die Gurgel.

Der Postenführer schnappte nach dem Seitengewehr.

»Halt! … Im Namen des Gesetzes! … Oder –

»Primus! … So hab doch Verstand, um Gotteswillen –«

Ein Schlag fiel, dick und dumpf wie auf einen Block. Der Peter stieß einen seltsamen pfeifenden Schrei aus, schwankte, und krachte nieder wie ein Baum. – – – – – – – – –

»Heiliger Gott.« Der alte Herr hielt sich fest. »Primus! … Was hast getan?«

Der Jäger, schweratmend, stierte hinab auf den Gefällten und den hinknienden Postenführer. Draußen um den wartenden Wagen sammelte sich Dorfgesind, der Postillon, der Gemeindeschreiber mit nasser Feder hinterm Ohr, der dicke Posthalter.

»Da drin ist was geschehen.«

»Den Jäger, den Oberkrainer, hat man mit dem Herrn Grafen hineingehen sehn.«

»Und früher den Schwarzen, den Peter, den Bemz.«

»Ich hab ja immer schon gesagt, mit dem, mit dem seiner Schießerei nimmt's einmal kein gutes End – –«

Der Postenführer stand auf, zitterig, selber fahl vor schwächendem Schreck.

»Scheint aber schon tot zu sein. Was ich sehen kann. Ich bitte sich zu überzeugen, Herr Graf. Man könnte ja noch den Doktor –«

Der Graf untersuchte den Erschlagenen. Stumm nickte er dem Gendarmen zu. Der bekleidete sich eilends mit den vorschriftsmäßigen Abzeichen seiner Amtsgewalt und trat an den still, gesenkten Kopfes, wartenden Primus heran. »Im Namen des Gesetzes.«

Der Jäger bot selbst die Hände dar. »Ist nicht notwendig. Aber von mir aus.«

Der Graf wiegte betrübt den Kopf. »Primus, Primus, ich kann's gar nicht fassen. Hat das jetzt sein müssen?«

Der Bursch seufzte nur. »Hat wohl, hab's ja nicht wollen. Der Herr Graf weiß.« Er warf einen verächtlich bedauernden Blick auf den Erlegten. »Hätt ihn ja schon einmal können, den. Was hat er sich mir überall dreingemischt? Mir nichts vergunnt, nicht einmal ehrlich Geständnis und Straf? Der Herr Graf soll mir verzeihen. Ich kann nichts dafür. Ich bin halt einmal so. Aus Zirklach im Zayerfeld.«

Der Postenführer reckte sich in wiedererlangter Würde.

»Ich muß den Herrn Grafen schon aufmerksam machen; Gespräche mit Verhafteten sind aber eigentlich nicht zulässig. Sowie die zwei anderen von der Patroll zurückkommen, wird uns dieser – also – Primus Koschutnik zur Leiche des anderen, also dieses Ilija Schorman führen müssen …«

*

In Fesseln, zwischen strengstarrenden Bajonetten, tat Primus Koschutnik seinen letzten Gang durch den vespergoldnen Herbstwald.

Hier im frühschattigen Schlag war ihm die erste Beute geworden, damals an jenem taublassen Morgen, als er zum Wilde noch das Weib gesucht und gefunden; da unter der breiten Buche hatte er übernächtig geharrt und gehungert, bis endlich der erlösende Schuß auf das ertrotzte Stück brach; im grauen Ton jener Naßgalle zum erstenmale die geheimnisvolle Spur fremden Schleichers gefährtet, dort über den Nebelpfad in spinngrau aufschauerndem Gespensterholz die ungeglaubte Erscheinung geschaut; und hier, beim fliegenbeschwärmten, grausig verfallenen Toten endete dieser Schicksalsweg.

Ein später dunkler Schmetterling schwankte auf und taumelte hinaus in den goldgrünen Abendfrieden; drunten rauschte geruhig der Bach, die Gattersäge heulte, jenseits von den verklärten Bergen lallte und gurgelte schwermütig das herbstliche Rindenhorn eines einsamen Hirten.

Der Erschossene im Wirrgestrüpp lag wie der Jäger ihn gelassen; böser Hauch schien aufzudünsten aus seinem klaffenden Munde, der Rankenwuchs, darein der hinabgezerrte Körper verstrickt, sah angewelkt aus, verbrannt von giftigem Brodem.

»Den hätte man aber allerdings lange suchen können,« bemerkte der Postenführer; »in fünfzig Jahren vielleicht wär der ohne einen Mitwisser nicht gefunden worden.« Er wendete sich gegen Primus. »Wieso, daß Sie sich haben selbst anzeigen wollen?«

Der hob müd die Achseln. »Es hat mir keine Ruh gelassen.«

»Warum aber dann nicht gleich?« fragte der Postenführer, milde gestimmt durch die Offenheit des Burschen, der ihm schon am Tatort alle Umstände unbeschönigt ins schwarze Buch eingesagt; »warum nicht sogleich?«

»Man kommt nicht gar leicht bis dahin.«

»Es wäre aber besser gewesen.«

»Freilich, freilich. Nun ist's halt so, wie's ist.«

»Sie haben nichts davon gewußt, daß Sie beobachtet wurden?«

»Hätt ich's, wär ich eher kommen. Oder hätt mich besonnen. Oder hätt dem, diesem Angeber, eher den Hals gebrochen.«

»Er – dieser andere – hat durch ein Fernrohr, ein solches Spektir oder Spektlin, wie man sagt, alles mitangesehen.«

Koschutnik lachte bitter auf. »Hätt ich nur damals zwei Ring weniger geschossen.«

»Was soll das heißen?«

»Der Satan, dem ich mich verschrieben, hat den Zorn das Feuer gewinnen lassen und den Neid das Licht. Zwei verdammte auf seine Rechnung, und noch eine dritte arme Seel.« –

Unter den hohen Kastanienbäumen die buchtigen Hänge hinab rüllten und rüffelten schon die dörflichen Sauherden nach der fallenden Mast; schwellend verschwebend Windgeschnurr und tropfträumig Geklöppel der kleinen Schnarrmühlen im weinklaren Abend, da und dort ein Winzerschuß, ein Jauchzer, verwehtes Lied von Marien, Lieb und Rosmarein in goldseligem Hügelgeländ, Geißelplatzen, Weideglocken, junges Hirtengejohl in der Trift … Von gelichteter Statt zwischen uraltgewaltigen gespenstisch brandgehöhlten Bäumen strichen blaue Schwaden wie Nebelgespinst durch die eindunkelnden Gründe; still unter der Kühle rauchte der Meiler, vor seiner Moosbucht hockte finster der schwarze Waldmann und starrte aus verqualmten Augen hinab in die webende Welt.

Der dumpfe Strengschritt der Gendarmen erweckte ihn aus seiner düsteren Beschaulichkeit; er sah auf, über sein verwildertes Kiengesicht zog Widerschein dämmernden Erkennens.

»No, habt's ihn, hat's ihn, schleppt's ihn vors Jüngste Gericht und zur Höll?« Er erhob sich, trat wie haltgebietend heran und blickte dem Gefesselten ins Antlitz. »Du bist's. Ja ja, Blut, Blut, Bruderblut, giftig Menschenblut. Damals hast's nicht glauben wollen. Die Straße, die Straße drunt, das ist euer Weg; wer aber denkt an Gott? Die große Hure auf dem Drachen reitet über die Erde und trinkt das Blut der Völker. Aber ich bin ja irr, irr. Der Nebelbock, dem ihr alle nachjagt, das Wild im Nebel, was ist dir worden davon? Fangt's keiner, erlöst's keiner; müsset denn ein Besonderer sein. Tier, Eisen und Geist stehen auf wider euch und eueren Unsatt und narren euch in ewige Verdammnis. Ihr da, die ihr euch so stolz vorkommt unter euren Federbüschen, ihr denkt auch nicht an Gott. Die Gerechtigkeit, der ihr den Bruder da überliefert, auch nur ein Schatten im Nebel. An Gott denken nur noch die Irren, die Einsamen, die Sünder. Ich.«

Der Postenführer blieb erstaunt stehen, er wendete sich geradezu an den Verhafteten. »Wer ist dieser? Weiß der etwas zu dieser Sache?«

Der Köhler lachte hohnvoll auf. »Sag ihnen, daß ich alles weiß, Kleiner. Die Verrückten, die Sünder, die Freien, die sind in Gott, die wissen alles. Hab ich nicht alles gewußt von dir, besser, anders als die da, die sich noch was einbilden auf ihren hündischen Narrendienst?«

Der Postenführer trat ihn streng an. »Sie: wenn Sie glauben, die öffentliche Gewalt beleidigen zu dürfen! … Und übrigens, es ist untersagt, einen Verhafteten ohne besondere Bewilligung der begleitenden Wachorgane anzusprechen. Ich muß Sie aufschreiben. Wer sind Sie? Was wissen Sie? Was haben Sie mit der Sache zu schaffen?«

Der Waldschkrat stickte vor inwendigem Gekicher. »So schreib halt, du wichtigschreibeter Staatsnarr: Einer, der einmal was anderes gewesen ist – der einmal was anderes getan hat – der alles zum voraus weiß, weil er mit allen Sachen unterm Himmel zu schaffen gehabt hat … Schreib, hast geschrieben? … Hab auch einmal lesen und schreiben können. Alles Blendwerk, Unwerk, daß ihr euch ja drein verlügt und verstrickt. Brenn lieber die Welt zu Kohlen; wird doch einmal eure ganze Wichtigkeit drunten zu Kohle gebrannt. Drauf wart ich. Tal und Straße, die Welt. Seid alle der großen Hur verfallen.«

Der zweite Gendarm, von Koschutnik verständigt, zog den Vorgesetzten beiseite. »Nicht ganz richtig droben, und unschädlich. Hat nichts dabei zu tun, sagt der Verhaftete. Kenn ihn selbst von früheren Patrollgängen; so ein Sonderling.«

Mit einem strafenden Prüfblick ließ der Postenführer ab. »Eigentlich müsset man ihn aber wohl einvernehmen. Scheint gewissermaßen doch verdächtig … Also na, gehen wir halt, es ist spät; vorwärts.«

Dem Abmarsch nach, durch die einschattenden Herbstwälder hinab, äffte schauerlich des Einschicht höhnendes Wildgelächter.

»Gehts nur, gehts, daß ja nicht spät kommts zu eurem Tod! … Untersagen, hehe! … Öffentliche Gewalt, hehe! … Aufschreiben, vergeßt ja nicht die Berge und Himmel aufzuschreiben und einzusperren, wenn sie die öffentliche Gewalt beleidigen, weil sie sich auftun und einstürzen und euch verfluchte Narrwelt all verschlingen – –«

»Wer ist dieser Mensch?« fragte der Postenführer den Gefangenen.

»Weiß es selber nicht, weiß wohl niemand,« gab Primus zur Antwort; »manche sagen so, manche so … Einmal, da hat er solche Reden gegen mich gehalten, hab's nicht verstanden, hab ihn verlacht, so vermischt ist er mir vorkommen. Heut ist mir nicht zum Lachen … Oder doch,« setzte er nach ein paar Schritten für sich selbst hinzu; »alles um ein Weibsmensch. Zum Lachen, wohl.«

»Das wird sich schon noch zeigen,« versetzte der Gendarm abweisend; »davon ist jetzt hier nicht die Red.«

*

Der Abend sank; von letzter Höhenscheide weitete sich das glutige Fernbild der Planinen, Grintouz, Ojstriza, Jelouz als entrückter schartiger Zackenriß vor brandigem Goldgrund, abseits zur Linken in einsamer Größe der heilige Triglav. Primus, in Banden zwischen den Bajonetten, blieb stehen, schloß wie verzückt die Augen und stieß aus gepreßter Brust einen grausig über Dämmerdunst der Tiefen hinausverhallenden Juchschrei aus, einen grellen Hochwildschrei voll Blut und Wehwut und verzweifelter Sehnsucht. Der Postenführer hieb ihm die Faust derb zwischen die Schultern. »Na; was soll denn das heißen?«

Koschutnik sank schuldbewußt zusammen. »An die Heimat einen Abschied; seht dort die blauen Gebirge, die allerletzten; dort ist's schön, am schönsten von der ganzen Welt; werd's nimmer wiedersehen. Hab dorten eine, die auf mich wartet, zu Sela in der Oberen Kanker; steht ein Rosmarin, blüht brennrot ein Nägelstock vor ihrem Fenster; hätt nicht gehen sollen in die Fremd. Juchezen ja auch, wenn wir gestellt und tauglich befunden sind zum Totschießen und Erschossenwerden; werd's auch Ihr's so gemacht haben wie wir von Zirklach im Zayerfeld.«

»Dummheiten!« verwies der Gendarm in aufgebotener Strenge; »keine Geschichten da, vorwärts jetzt.« – –

Sie stiegen in den einnachtenden Frieden der Hügelflur hinab. Ein Kolkrabenpaar mit rauhem Herbstruf strich hoch im Verglühen der Sonne nach über den Kühlhauch der Wälder. Das einsame Hirtenhorn gurgelte, Taunebel spann, brandig aus Brauen der Täler erglomm der Mond über leisem Lied, Schnurren der Windschnarren, schläferndem Schrillen der Grillen.

*

Rüstig in leuchtender Kühle, mit erfrischten Hämmern und fleißigen Meißeln förderte das Werk; schon war der gekrümmte Umstieg des Seitengrabens, schon die schwierige tiefuntermauerte Kehre um den Gegengrat in fröhlichem Fortschritt überwunden, Minen schütterten, Hauen klirrten, unaufhaltsam, von Menschenwille und Menschennot getrieben, brach sich die siegende Straße in die jungfräulichen hirtenstillen Herbstwälder hinan.

»Ja, das sind jetzt die schönsten Tage,« sagte der Oberingenieur zu den besuchenden Herren; »solche müßte man das ganze Jahr hindurch haben, die bringen einen vorwärts, da könnte man zum nächsten Micheli schon auf der Höhe sein. Nun, vielleicht auch so … Aber Herr Graf haben Mitteilungen über die Hinterbliebenen dieses – also dieses Schorman gewünscht. Ich habe mich bemüht, dem Herrn Grafen gefällig zu sein; hier wäre alles …« Er suchte einen Zettel aus seinem Merkbuch. »Es ist da eine Witwe, Duscha Schorman, geborene Walput, mit mehreren Kindern – eines tot in eben diesen Tagen geboren; traurig, jawohl – wohnhaft bei Grischane oder Krischane oder Krischanje ob dem Vinodol, im Litorale. Soll auf einem kleinen Anwesen, wohl schon mehr in so einer Hütte, als sehr fleißige und brave Frau – ich bitte, hier wäre eine Auskunft vom Gemeindeamt, Herr Graf belieben zu sehen – in recht dürftigen Verhältnissen leben …«

Der Graf nahm die Blätter an sich und starrte auf die Schrift. »Duscha Schorman – Duscha … Ja ja, ich kenne diese dunklen tapferen eisernen Frauen von da drunten, immer mit Spinnrocken oder Strickzeug, und noch mit schwerer Traglast auf Kopf oder Rücken; ich kenne den Schlag. Duscha: heißt soviel wie Seele. Will sehen, was ich für diese arme Seele tun kann …« Er verwahrte die Aufzeichnungen in seinem Taschenbuch. »Ich danke Ihnen, Herr Oberingenieur; sehr freundlich von Ihnen. Nun, mein Oberkrainer wird die Reihen Ihrer Regimenter hier fürs Erste nicht wieder lichten,« schloß er mit einem schwermütigen Lächeln; »und der sogenannte Strigon hoffentlich auch nicht … Ja ja, Ihre Straße, die geht jetzt mit Macht hinauf; und meine alten Wälder kommen reißend herunter. Was wollen wir, es ist der Lauf der Zeit … Nein, nein, ich bitte Sie, sich nicht zu bemühen, Herr Oberingenieur; der Herr Fürst und ich, zwei alte Jäger, wir finden schon allein hinab … Ja, und was ich sagen wollte, Herr Oberingenieur: wenn Sie dann im kommenden Sommer einen guten Bock schießen wollen …«

Doch ein richtiger Kavalier, dachte der Oberingenieur in erfreutem Nachblick, diese fürsorgliche Väterlichkeit, diese rüstige Schlichtheit, diese vornehm leutselige Art … Da merkt man doch gleich, mit wem man es zu tun hat, da spürt man erst den Unterschied …

Langsam wanderten die beiden Herren die breit herausgestufte halbrohe Straße hinunter.

»Lapor,« sagte der Fürst mit einem Stockschlag gegen das brandgelbbraune herbstfeuchte Gestein; »hier haben sie's eigentlich leicht gehabt, da droben weiter im grauen Dolomit, was da so zu sehen war, da werden sie sich schon noch einige Zähne ausbeißen. Immerhin, hör einmal, doch ein großer Schlag für dich, so das Ganze; einmal müssen die Wälder dran glauben, da gibt's nichts, für den Luxus von Romantik und Pietät und Schönheit und Wild allein haben wir seit der achtundvierziger Glorie keine Mittel übrig.«

»Ja, schon,« sagte der Graf; »aber Ausbau und Erschließung und so weiter erhöhen doch nur den gesamten Lebensumtrieb, die Löhne, die Bedürfnisse, die Preise, die Steuern. Umgekehrt wird auf dem Papier gerechnet, aber so, wie ich's dir hier sag, so kommt's in Wirklichkeit. Immer mehr Menschen, die einbezogen werden in den Kreis derer, die gut leben und höher und höher hinaus wollen. Das hat Folgen. Die ganze Wirtschaft frißt sich selbst, und wird dabei allweil bloß hungriger und gieriger, niemals satt. Das wird noch einmal bös. Bis die neuen Wälder schlagbar sind, steht die Welt auf dem Kopf. Und die friedlichen Menschen droben in der Wildnis werden auch um nichts besser und glücklicher durch solche Segnungen. Das scheint bloß so, das ist Zeitungsgered.«

Der Fürst lachte. »Ja, freilich, also wenn du mich fragest, ich bin ja auch für die Leibeigenschaft, für die Hörigkeit, von mir aus für die Sklaverei in vernünftigen Grenzen. Kommen gar nicht aus ohne etwas dergleichen; bekommen auch todsicher eine neue Sklavenwirtschaft; haben sie schon, gleich dort oben hinter uns der steinharte Robot um das bissel Leben, was ist das viel anderes? … Also, du, um darauf zurückzukommen: wieviel Jahr, denkst, wird er kriegen, unser geliebter grüner Grasteufel?«

»Das hängt ganz davon ab … Sechs, sieben? … Zwei, zweieinhalb vielleicht für die Geschichte mit dem Morlacken, diesem Schorman; gibt da eine Menge mildernder Umstände, allerhöchstens also dreie. Na, und dreie, schlimmstens viere für die andere Sach; was ja auch kein Mord war, nicht einmal ein reiner Totschlag, der Bursch kann nichts für seine Bärenkräfte. Wie der Peter da so zusammengekracht ist, dem Postenführer hin vor die Nasen, also das werd ich nie vergessen. Mit der bloßen Faust … Also sechs, sieben Jahre; grad genug für so einen jungen Menschen, gewohnt an Licht und Wald und Freiheit.«

»Freilich genug; zuviel; man müsset solche Strafen nach den Lebensumständen bemessen, ob einer ein Stubenvogel ist oder ein Falk. Also, und nun will ich dir etwas sagen: ich übernehm ihn; trotzdem.«

Der Graf blieb stehen. »Du willst wirklich?«

»Jawohl will ich. Der Bursch gefallt mir, der arme Gras- und Reißteufel. Es steckt ein guter Kern in ihm. Wenn er's übersteht, ich wünsch es ihm von Herzen, kann er bei mir antreten; als irgendwas.«

»Das ist großartig von dir. Ich dank dir in seinem Namen.«

»Nichts zu danken. Er gefallt mir eben, mit einem Wort. Und seine Lehr fürs Leben hat er ja dann hinter sich; da wird er schon gut tun. Aber wie ist's denn: hat doch einen Schatz gehabt oder eine Braut oder so etwas, irgendwo droben in seiner Heimat?«

»Ja, also du, das ist ein Prachtmädel. War oben beim Schwagern in Egg, hab von dort aus die Leut aufgesucht. Sela in der Oberen Kanker. Einfach, aber blitzsauber. Der Vater, schon lang verstorben, war Säumer gewesen, hat's zu einem kleinen Wohlstand gebracht; soweit halt, daß ein Dach da ist und ein Garten voller Blumen und Ordnung und ein Stückel Feld. Hab also da meine Trauergeschichte schön allmählich, schweren Herzens, erzählt; und was sagt das Mädel? … Das wisset sie schon alles, ihr Primus, bleich, blutig, in Ketten, sei ihr eines Abends im Flur entgegengetreten, und nun wär's ja gut, nun wär sie auch wieder ruhig, im Gefängnis wäret er am besten aufgehoben, bis er herauskämet und sie könneten dann heiraten. Genau wie du: seine Lehr, seinen Stempel hätt er ja jetzt, da würd er ihr in der Eh bestimmt nichts wieder anstellen, da sei sie dann seiner ganz sicher. Und da hat die Mutter, kreuzbraves Frauenzimmer das sie ist, dawiderreden können, was sie hat mögen, ganz umsonst. Was sagst dazu? Ein Prachtmädel.«

Der Fürst nickte beifällig vergnügt. »Und nicht einmal so dumm. Das gibt ein Paar.«

»Ja; und da hatt ich mir eigentlich folgendes gedacht: ich, oder der Schwager in Egg – oder, also, du – einer von uns, oder wir alle drei mitsammen, irgendwie kaufeten wir der alten Frau – rüstig und gut beinand wohl noch, aber auch nimmer die Jüngste – löseten ihr ohne viel Handel die Heimstatt ab und nehmeten sie samt der Jungen derweil zu uns … Aber dann sind mir doch Zweifel gekommen.«

»Gescheit, daß du sie hast kommen lassen. Solche Leut entwurzeln aus lauter schmalziger Wohltäterei, das wär das Verkehrte. Man muß den Menschen auch ein bissel eine Freiheit lassen; diesen ihr Heimatl und ihren Herd. Zahlen wir ihnen lieber eine gewisse kleine Zubuß zu ihrem Erwerb, zu einem sorgloseren Dasein. Nicht zuviel natürlich, damit das gesunde Arbeiten notwendig bleibt und Undank nicht aufwuchert; der mischt sich leicht in die bestgemeinte Saat. Können ja statt dem etwas zurücklegen für die beiden jungen Hartköpf, auf später.«

»Genau wie ich's selber bei reiferer Überlegung dann beschlossen hab. Abgemacht; ich dank dir.«

»Hör schon auf damit. Ich will dir noch etwas sagen. Die Witwe von dem Morlacken, dem Primurzen da: also bitte, erinner mich heut abend dran, daß ich dir einen Gutschein auf meine Forstkasse ausstell. Zweihundert Gulden stift ich bei, kannst sie für deine milden Zwecke einziehen.«

»Bist du aber nobel! Die Frau geht schließlich dich nichts an.«

»Soviel wie ein Mensch den anderen. Der Grasteufel war schon so halb in meinen Diensten; die Straße dient dir, meinem liebwerten Herrn Vetter von der anderen Linie, und damit dem Ansehen des gemeinsamen Namens und der Familie, deren Oberhaupt zu sein ich die Ehre und das Vergnügen habe. Ohnehin wenig genug für ein Menschenleben; damit Schluß. – Aber eins hast du mir noch gar nicht erzählt? Was ist denn eigentlich aus der alten Vettel geworden?«

»Die? Um die hat der Teufel den Henker betrogen, der hat er lieber gleich selber den Kragen umgedreht. Ist wenige Tag drauf ganz elendig gestorben, halb erschlagen, halb verrückt, bei lebendigem Leib schon bis zum Mund in der Höll. Gott sei ihrer armen Seel gnädig, wenn er's fertig bringt; war eine Pest von Weib. Ein Fräulein Tochter, fein im Kloster erzogen, wie man sagt, erbt das Ganze; das heißt, so viel das Gericht übriglassen wird vom beschlagnahmten Raub. Bei vier oder fünf Gerippe, es klingt schauerlich, wie aus einer Volkskalendergeschichte, hat man hinten im innersten Bergkeller gefunden, und für einige achttausend Gulden Gold und Silber bei diesem alten stillen Mordkerl, ihrem Helfer, dem Stermelz. Davon eigentlich müsset der Witwe von dem Morlacken ein anständiges Lebensgeld ausbezahlt werden; sowas schicket sich.«

»Eigentlich, und schicket sich, schon; aber die löblichen Herren werden sich's überlegen. Ha, und diese Flitschen?«

»Die? Ja, siehst, das ist so richtig der Dinge Lauf. Still, wie sie aus der Welt hereingekommen ins Tal, so ist sie aus dem Tal wieder hinausgegangen in die Welt. Hat nichts mitgebracht gehabt außer dem, was sie war, hat nichts mitgenommen außer dem, was sie ist, und der Mitschuld an Mord und Totschlag und Leid und Elend. Man hat sie verhört; man hat ihr nichts anhaben können – na, oder wollen … Unberührt und kalt zieht so eine aus allem Unheil davon, und zurück bleiben Blut und Brand und Weh und Witwen. Und trotzdem, sie selbst – hab's nicht leiden mögen, das freche Luder, nicht einmal für ihren Vater ein Fünkel Seele hat's übrig behalten – trotzdem, wenn ich so da drüber nachdenk – im Grunde genommen – – –«

Sie waren im Tal beim wartenden Wagen angelangt. In goldbunter Glorie die gebuchteten Hänge hinab leuchtete der verklärte Herbstwald, hoch in gestilltem Südblau schwamm der Bussard, aus der Schlucht herüber durchs Enggefels grollten und polterten die Rollwuchten, schmetterten die Scheiter, heulten in der Riese die niederbrausenden Stämme …

Der Graf, den Fuß schon auf dem Tritt, sah zurück den grobgeschotterten Anstieg der Straße hinauf; ins Gedröhn des Holzwerkes murrte ein dumpfüberhügelter Sprengschuß mit seinem weitumschwingenden Widerhall.

»Was hast du?« fragte der Fürst; »hast du etwas vergessen?«

Der Graf schüttelte den Kopf. »Ich schätze nur. Ich sage: beiläufig elfhundert Meter.«

»Das Stück? Ich würde glauben: neunhundert. Aber du kannst recht haben. Warum? Du meinst, ob die Berechnung stimmt?«

»Nein. Also runde Mitte: ein Kilometer. Darum: ein einziger Kilometer Straße und ein einziges solches Weib – und wieviele Straßenkilometer und wieviele solcher Weiber in der Welt – wieviel Fremdes, wieviel Störung, wie viele Opfer, wieviel Schicksal … Und geht alles unbeirrt weiter seinen Weg: die Menschen kreuzen sich, bringen einander um, sterben, verderben – der Himmel ist blau, der Bach rauscht, die Straße steigt, die Forsten fallen – – –«

*


 << zurück