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IV

Früh im schwülen düsteren Morgen des Johannistages geht Sagmeister Vidmar am Fluder hinauf, nach dem Wehr unterhalb der Klause zu sehen; müht sich vergeblich mit einem starreingerosteten Riegel und sucht nach einem brauchbaren Handstein zum Hammer; greift sich den nächstbesten vom Schotterhauf an der Straße und findet ihn, erkennt plötzlich die ganze Haufenhalde mit Blut bespritzt; folgt der Fährte tief in den Staub eingestupfter Tropfenmale über die Straße hinweg an den dunkel eingeengt rauschenden Bach und gewahrt einen trocken aus den Schaumstrudeln aufragenden Grundfels wie fleischrot gestriemt, Blutspuren auch auf der kleinen Kiesbank zwischen dem Ufergesträuch, drüben den steilen Buchenhang schräg hinan in die Streu gescharrt eine dunkle erdfeuchte Schleife, und jenseits im feinen Schlämmsand den deutlichen Breittritt einer Opanke. Ein kroatischer Lugar wahrscheinlich oder ein Wilddieb, der hier an der Grenze ein Stück Rehwild, einen Bock geschossen, oder den Verendeten oder Kranken in der Kühlung der Flut gefunden, meint der Sagmeister; bringt das Wehr noch vor dem hereinhangenden Regensturz in Ordnung; geht zufrieden, mit seinen Gedanken bei der einzuteilenden Arbeit, in der Sulzbacher Alpenheimat, bei den versprochenen kommenden Winterjagdfreuden, nach der Gattermühle zurück; das Frühgewitter bricht berstend los, und eine Stunde später ist alles verspült und verwaschen: bis auf eine dunkle getränkte Stelle hinterm Felsbruch in die Klause hinein, zwischen blauspiegelnden Pfützen einen fauligen Fleck, an dem im dumpf nachkochenden Glitzerdunst die heißen Fliegen saugen.

*

Schorman werkt eisenstumpf am Hammer, malmt die zerbreiende Klaue Linie um Linie hinein ins knirschende Gestein. Stickschwer lastet die sonndampfige Demse; Beizgeruch von lauchigem Schmutzschweiß schwadet niedergehalten über den Männern.

»Wo sie wohl den Tschechen begraben werden?« fragt Rok Ban, der Tschitsche.

Ilija reibt sich Ströme aus dem Gesicht und zuckt die Achseln.

»Gott mir, daß ich das nicht weiß. Ich habe dir nicht drüber nachgedacht.«

»Ich meine nur so. Wie das kommt; dich hat er noch vor ein paar Tagen gehöhnt und gehetzt, nun ist er tot. Jedem von uns kann's so geschehen, hier bei der fremden Arbeit.«

»Freilich, freilich. Gott mir, wer weiß, vielleicht bin ich selber der nächste.«

»Ich sage nur so. Es ist hart. Sterben, für nichts und wieder nichts, für ein paar Steine, die einen nichts angehen …«

»Gott mir, daß es hart ist,« versetzt der Morlak; »alles ist hart auf dieser Welt und in diesem Leben, vom Anfang bis zum End – der Stein, der Hammer, das Geld, das Brot … Gut nur der Tod, höchstens noch der Schlaf. Schon einmal Gottes Wille so, was wollen wir, was?«

»Im Schlafen jedenfalls, da nimmst es auf mit hundert anderen und bringst sie noch darum!« flucht Angelo Danielis mit schmierig verbundener Hand; »hab dich Schnarcher angerufen, angepfiffen, angestoßen in dieser Nacht, nicht zum Aushalten war's, ostia maledetta, und nicht einmal gerührt hast du dich, nicht einmal gegrunzt hast du Schwein!«

»Ich war müd,« erklärt Schorman einfach; »mein Hammer ist schwer, es war heiß.«

»Andere sind auch müd, ostia maledetta. Das nächstemal, per dio, kriegst was ab in dein Maul hinein.«

»Habe ich die ganze Nacht geschnarcht? Das kommt, wenn ich mit schweren Träumen auf dem Rücken liege.«

»Was gehen mich deine dreckigen Träume, ostia! … Friß weniger. Später ist's vielleicht etwas besser geworden, da haben dich wahrscheinlich deine eigenen Winde herumgedreht – ich weiß nicht, ich bin dann endlich eingeschlafen.«

»Der Hammer ist schwer und hart,« wiederholt Schorman stumpf; »schwer und hart, schwer und hart, das dröhnt mir oft nach im Kopfe und im Herzen …«

»Ja, und selbst bei Tag dremmelst du Büffel an deinem berühmten Hammer, ostia maledetta, und andere Leut kostet's Finger und Knochen … Kauf dir halt eine Mundharmonika und steck sie dir hinten hinein – –«

Lache schüttert, der Partieführer brüllt, Schorman versinkt wieder dumpf in betäubender Arbeit.

Schlag um Schlag, Zoll um Zoll, Herz um Herz. –

Und dann kommt der Mittag, und wie gewohnt hockt er schweigsam abseits vom Rudel bei Zwiebel und Zigarette, und sinnt und brütet und wartet.

Er hätte vielleicht doch lieber dort hinüber nach Wis-kond-zin gehen sollen.

Freilich, auch in Wis-kond-zin gab es gewiß Weiber und andere Menschen und dunkle Nächte und allerhand eisern Gerät.

Und auch in Wis-kond-zin wahrscheinlich wäre er ein Mann gewesen wie jeder andere, und wenn es Gott einmal so will und vorbestimmt hat, so geschieht im fernen Wis-kond-zin drüben genau dasselbe wie hier im Tal der Bregana, an der Straße nach Jaska und Karlstadt und weiter über die einsamen Bärenwälder zum blauen Meer.

Schwermütig betrachtete Schorman das blutbraune weichselne Zigarettenrohr mit dem dünnen Silberreifchen und dem würzigen Sonnenduft. Damals, ja, da es seine einzige Freude gewesen, hier in dieser Fremde seine einzige Heimathabe außer Haut und Hülle und den ersten eingeknoteten Sparforinten im Leibling, das war noch eine glückliche Zeit.

Er hätte vielleicht doch lieber nach Wis-kond-zin gehen sollen.

*

Niemand fragte, niemand suchte, niemand vermißte.

Frühe Eigenmacht, dachte der Oberingenieur, eine versprechende Frucht.

Er liebte ihn nicht, diesen jungen Menschen mit dem unheimlichen kalten Wesen, mit seiner ungemütlichen Ausgelassenheit, seiner irgendwie unfreundlich hinterhältigen Freigebigkeit, im Witz ohne Blitz, im Feuer ohne Flamme, beim Wein ohne Wärme, im Spiel ohne Spaß, hinter den Weibern her wie ein Affe; im Dienst von einer tückischen, drohenden Beflissenheit; ein Aufschreiber, Merker, Zuträger, Heuchler und Schleicher. Selbst noch in Hut nehmen mußte man sich vor dem halbgrünen Giftburschen mit seinem Reden und Tun; wußte der Teufel, was der da alles zusammenkontrollierte und bei sich verbuchte, und eines Tages kam der Wolkenbruch von oben und man war bei der Regierung eingetränkt wie jetzt irgendein armer Hund von Arbeiter beim Aufseher und der Aufseher bei der Bauleitung selbst. Schon möglich, daß etwas wahr war an dem Gerücht seiner Herkunft; der alten fetten Kröte drunten, der sah es ähnlich, solch einen Molch in die Welt gesetzt zu haben, wahrscheinlich ein Abenteuer, zu dem sich der gnädige junge Herr beurlaubt, irgendeine Schürzenjagd in entlegenerem Revier; und wenn er gleich ganz wegblieb, er, der Oberingenieur, würde ihm mit keinem Blicke nachsehen. Gab wenigstens gleich einen Anlaß zu erwünschtem Abschub; solch Ausstudierter zu Hilfsdiensten boten sich übergenug, und angenehmere und bescheidenere.

Immerhin, man konnte ja einen Partieführer fragen; der Ordnung halber.

»Keiner von euch den – na, wie heißt er schon – gesehen?«

»Niemand, Herr Oberingenieur; wir wundern uns selbst.«

»Auch von den Arbeitern keiner?«

»Nichts weiß man, Herr Oberingenieur.«

»Beim Konfin drunten? Da soll er doch herstammen. Wenn er morgen nicht antritt, einmal nachsehen.«

»Schaffen, Herr Oberingenieur. Man hat ihn zum letztenmal bemerkt in der Nacht oder am Abend vor Johanni, grad auf dem Wege hinunter; nichts mehr von ihm seither.«

»Von mir aus könnt ihn der Teufel geholt haben, aber – –«

»Von uns und von den Leuten kann ihn auch keiner ausstehen,« bemerkte der Partieführer bescheiden; »auf und nieder die alte Viper, die was das Ei gelegt hat, nur noch um hundert Prozent giftiger. Ich glaub, der nähm es mit der selber auf – –«

»Kann sein, kann sein, geht mich nichts an,« unterbrach der Oberingenieur; »mögen sich meintwegen einander umbringen, wär kein Loch in der Welt …« Er selbst hatte vor Jahren mit der Horvatitschka einen harten, nicht ungefährlichen Strauß wegen Enteignung und Ablösung von einem Stück früher öden, zum Zweck plötzlich bestellten Landes, wegen Schäden und Befahrungen und Nutzung einer Kiesgrube bestehen müssen und hätte gegen ihre Künste, gegen ihren vielseitigen Schutz, gegen ihre Zunge und gegen ihr Geschick in ergiebigster Ausbeutung noch so weit zurückliegender Schwächen beinahe den kürzeren gezogen. »Meinetwegen. Aber gefragt muß werden der Ordnung halber. Daß es dann nicht am End heißt, es wär bei uns was verheimlicht worden, ein Unglück vielleicht wie das mit dem Tschechen oder dergleichen. Und dann wegen Ersatz. Man braucht so einen gelernten Laufburschen. Bleibt also dabei, weiter, die Listen.«

*

»Was, nicht da? … Der Branko nicht da? … Nicht dort, seit Tagen nicht dort, mein Branketz?« Die Horvatitschka heulte wild auf. »Jesus, Jesus, Heiland nazarenischer in deinem Reich, wird ihm doch nicht etwas zugestoßen sein? … Jesus, Jesus, um alles in der Welt! … Und bei mir ist er auch nicht gewesen seit – wann war das? – wann ist er zum letztenmal hier gewesen, Ljubitza? – am Abend vor Johanni war er zum letztenmal da, ganz richtig, den Tag zuvor war ich in Agram … Damals ist er das letztemal hier gewesen, am Abend nachdem ich aus der Stadt zurückgekommen bin … Seit Johanni abgängig? … Jesus in deinem Reich! … wenn ihm etwas zugestoßen ist! … hab solch schwere Träume gehabt all die Nächte … Immer hat's mir geträumt von niedergehenden Bergen, ganz langsam sind sie auf mich heruntergekommen und haben mich erstickt … Und von Schüssen und fliegenden Steinen … weil es doch bei euch droben einen erschlagen hat, den Tschechen, hat mir der Branko – Jesus, der Branko! – noch selbst erzählt … himmlischer Heiland! Ich arme alte Frau! … ich arme alte Frau, die sich ihr ganzes Leben lang ehrlich geplagt und geschunden hat … Mein Branketz! … Mein Brankitschek …«

Der Partieführer beruhigte sie.

»Wird vielleicht nur einen kleinen Ausflug gemacht haben …«

Allein die Alte war nicht zu trösten und zu täuschen. »Ausflug, ja, Ausflug! … Weiß schon, was für einen Ausflug, was für eine Reise! … Die, von der keiner mehr zurückkommt! … Wird was unternehmen und mir's nicht sagen, mein Branko! … War ja doch mein eigen Kind, mein Sohn – was soll ich's nicht frei sagen, wo es doch alle Welt weiß und er gewiß tot ist … Gott in deiner Barmherzigkeit, das überleb ich nicht; das überleb ich nimmermehr …« Und sie griff sich an den Kopf und wühlte die Fäuste ins rote Gesicht und schrie und wütete hemmungslos.

»Die Straße, die Straße, diese verfluchte, verdammte, elendige Straße, die keinem was nützt außer euch und denen, die sich die Säck dabei vollstopfen, keinem was bringt außer Unfried, allen nur nimmt und rein zu nichts da ist … Ich hab's ja immer gesagt, diese eure vermaledeite Straße wird noch mein Unglück! … Weiß Gott, weiß Gott, wo er liegt, mit eingeschlagenem Kopf vielleicht, seit Tagen schon, mein Branketz …«

Der Partieführer sprach noch ein paar Worte, trank sein Glas aus und ging. –

»Wer war noch dagewesen an dem Abend zuvor?« Heftig nahm die Horvatitschka die Ljubitza ins Verhör, »Weißt du etwas? Kannst du dir was denken?«

Die Junge sah still aus gedeckten Augen. »Was sollt ich mir denken können? Der andere, der Kroat, mit dem Reh, das er gebracht hat, ja, der war da; ihr wißt ja. Sonst niemand.«

»Ist der lange geblieben?«

»Nun, so – bis vor Mitternacht. Bis der – der junge Herr gekommen ist.«

»Hast ihm zu trinken gegeben?«

»Wie ihr's mir geschafft und ihm versprochen habt.«

»Noch drüber hinaus vielleicht?«

»Nein. Noch von dem ist geblieben.«

»Daß er vielleicht betrunken gewesen wäre?«

»Ich hab nichts bemerkt.«

»Haben die sich gesehen?«

»Welche?«

»Na: der Kroat, der Primurec und – – der Branketz … Gott in deinem Reich, darf ja gar nicht dran denken … haben die sich gesehen?«

»Gesehen? Nein.«

»Wie das?«

»Weil der andere, der Morlak, derweil hinaus und davon ist.«

»Wie: derweil? Erzähl genau.«

»Ich hab's ja schon erzählt. Derweil ich mich mit dem – mit dem jungen Herrn im Gastzimmer unterhalten hab. Weil es ihm vielleicht unangenehm war, wenn er noch so spät hier gesehen wird, und grad von einem Vorgesetzten … Und dann auch wegen dem Reh …«

»Na, und dir war's wohl auch recht?«

»Wieso mir?«

»Erinnerst dich doch, was ich dir neulich gesagt hab? Der – – selige Jungfrau, nicht einmal aussprechen kann ich seinen Namen! … Und jetzt ist alles vorbei. Alles aus.«

Berta lächelte geringschätzig. »Darauf hab ich sowieso nicht mehr gedacht. Und der – – Herr Branko noch viel weniger.«

»Woher weißt denn das?«

»Eben: – aus unserer Unterhaltung?«

»M …« Die Horvatitschka blickte schmal, »von was habt ihr euch denn unterhalten?«

Jene zuckte die Achseln.

»Nun, so … wie der – – Herr Branko schon einmal war …«

»Jesus, sag nicht: war! … wie du herzlos bist! … Es ist ja nicht möglich … Und daß man früher nichts erfahren hat! Der wievielte ist heut? … Schon der Sechsundzwanzigste? … Drei Tage schon abgängig, und die sagen's einem nicht einmal, Bagasch, die! … Und meinst, daß der andere vielleicht etwas gehört haben könnt davon?«

»Ich weiß nicht. Möglich schon. Und wenn?«

»Ich mein bloß: Mannsbilder …«

»Ich hab ja auch den Herrn Branko gebeten – –«

»Was?«

»Ich hab es ihm verwiesen. Er hat mir gedroht. Er hat mir gesagt, der Herr in diesem Hause wär er.«

Die Alte setzte sich schwer hin und schluckte.

»Und?«

»Nichts weiter. Der Herr im Hause wär er. Was er wollte, das würde und müsse geschehen. Nichts weiter.«

Die Horvatitschka brach das Verhör ab.

Aber nun konnte man wenigstens davon sprechen. Nun wußte man, daß etwas geschehen. Diese letzten erstickten Tage waren schrecklich gewesen.

*

»Erledigt ist's; besorgt ist's.« Der alte Fuhrknecht schlich an die versperrte Kammertür, horchte, und öffnete sie mit einem überraschenden Wurf; die Luft war rein. »Ja: erledigt und verrichtet scheint's also zu sein. Nur: wie und was?«

»Hast geschaut?«

»Freilich hab ich. Nichts.«

»Gehört hat man den Schuß.«

»Und deutlich genug auch noch. Aber, wie ich dir sag: nichts.«

»Es war eine Nacht später.«

»Weil er's Gewehr nicht bei der Hand gehabt hat. Sonst hätt er ihn noch in derselben erledigt. Du: – das Mädel, daß die doch nicht am End – –«

»Die hat heut, glaub ich, ihren Oberkrainer bei sich.«

»Hoffentlich. Horcherei, die verdammte. Wegen dem hat's sein müssen.«

Die Horvatitschka atmete schwer auf.

»Unser eigenes Kind, du.«

Der Fuhrknecht ballte die Faust auf den Tisch hin unter den Leuchter.

»Eigen oder nicht eigen, was einen verraten will, ist das eigen? Hab ihrer noch manche von der Sorte, von Fiume drunten bis hinauf nach Pettau. Was denn? Hätten wir noch das Gehängtwerden lernen sollen auf unsere alten Tag?«

»Daß er aber auch so war!«

»Vielleicht geworden in der Stadt. Und wir zwei, wie und was sind wir?«

Die Alte starrte trüb ins schwelende Licht.

»Stermelz, ich sag dir, manchmal ist mir's, als ob … Das ganze Haus voll Blut und Fluch und Gespenstern …«

»Willst vielleicht beichten gehn oder eine Wallfahrt tun? … Jetzt ist's zu spät.«

»Stermelz, du bist ein Mann; hast überall in der Welt herum deine Kuckuckseier gelegt, hast mit der Peitschen geknallt und bist weiter. Aber ich, ich hab ihn getragen in diesem meinem verdammten Leib.«

»Und bist eine Frau und hast's gesponnen in diesem deinem findigen Kopf.«

»Weil's hat sein müssen.«

»Freilich hat's sein müssen.«

»Sonst hätt er uns umgebracht.«

»Wenn er's nicht noch tut.«

Sie schwiegen; ihre Flackerschatten wuchsen und schwankten an der Wand.

»Der Oberkrainer will ihn etwan auch gehört haben, den Schuß.«

»Einen Schuß. Kann ja nichts wissen. Irgendeinen Schuß.«

»Freilich, so mein ich's. Hat sich gedacht, Burschen auf Sonnwend.«

»Schmeckt nichts?«

»Durch die, das Mädel? Was weiß man?«

»Ist sie selber verliebt, wird sie sich schön hüten.«

»Ist, scheint mir bald. Ein Prachtbursch, kein Wunder.«

Stermelz lachte grimmig. »Dir wär auch, glaub ich bald, noch ein Sarg mit der Leich drin zum Bett gut, wenn du verliebt bist … Was jetzt?«

»Was jetzt? Ich weiß nichts. Wir müssen warten.«

»Warten, auf was?«

»Daß irgend etwas geschieht. Daß sie ihn finden.«

»Die Gendarmen werden kommen.«

»Von mir aus. Hier ist er ja nicht. Hier ist nichts zu suchen, von hier ist er weggegangen.«

»Gefragt wird nach manchem werden.«

»Man wird halt antworten müssen.«

»Ich weiß schon; aber nicht du und ich; auch andere. Das Mädel.«

»Was kann die viel erzählen?«

»Der Kroat, der Morlak?«

»Gegen uns auch der nichts. Höchstens das mit dem Gewehr und dem Rehschießen.«

»Wär grad genug. Aus kleinem Loch wird leicht ein tiefer Riß. Das ist ja das Dumme, daß ich nichts gefunden hab, so oder so. Da würde man sich nicht so viel um all die Nebensachen bekümmern. Erschossen, fertig, wer ist der Täter? Und der Verdacht fallt natürlich auf einen, an dem man das Gewehr kennt, und kann man dem nichts nachweisen, schlaft die Geschicht ein. Die Nacht, wo ich aufgepaßt hab, war nichts; da haben wir schlecht gerechnet. Und in der nächsten muß es geschehen sein, da war ich nicht bereitet. Hätt nichts schaden können, ihm die Taschen ein wenig umzukehren; wär auch gut, könnt man jetzt gleich an seine Sachen heran. Aber da wird nichts zu machen sein.«

»Warum?«

»Na so. Schriftliches. Wirst wohl sagen müssen, daß du die Mutter bist.«

»Hab's ja schon getan. Weiß ja doch ein jeder. Liegt mir auch gar nichts dran.«

»Und der andere?«

»Welcher andere? Erschrick mich nicht; ich bin so durcheinander. welcher, wer?«

»Nun, der: – den du zum Zahlen für ihn gebracht hast.«

»Was bekümmerns den? Der ist noch froh.«

»Sein Name wird genannt werden müssen. Sie werden fragen.«

»Kann ich dafür? Ist ohnehin kein großes Geheimnis.«

»Geld hat er also nicht mitgenommen, sagst?«

»Keins.«

»Ist aber doch darum gekommen? Bist doch deswegen nach Agram gefahren?«

»Kennst mich? Nichts ohne Unterschrift. Daß er damit ausgezahlt ist und keine Ansprüche mehr zu stellen hat, und vor allem, daß er's als gemeiner Mitwisser von seiner eigenen Mutter erpreßt hat. Das hätt er mir schriftlich geben müssen.«

»Das hast hineingesetzt?«

»Wenn du willst, ich zeig dir den Zettel. Meinst, ich hätt ihm den gelassen? Hat's aber nicht quittieren wollen, wie ich mir gleich gedacht hab. Das war dir noch eine Stund, Stermelz, eine Galgenstund … Um zwanzig Jahr bin ich gealtert seit der Nacht. Die Ungewißheit! …«

»Jetzt wird's wohl gewiß sein. Hoffen wir.«

»Ja – ja … Aber, Stermelz … Na, ja … Alles hat er gewußt, rein alles.«

»Dein Fehler. Was hast ihn immer kommen lassen müssen, wenn er frei gehabt hat, im Sommer, in den Vakanzen? Man denkt nicht jedesmal an so einen Fratzen, daß der auch noch im Haus ist, redet dahin, und die gierige Krot horcht und sammelt Gift. Dein Fehler.«

»Ich war halt seine Mutter, Stermelz; ich hab mich gefreut.«

»Ja, gefreut; bis du dich gründlich ausgefreut hast. So ist's gekommen und darum hat's sein müssen. Irgendwie. Hätt's ihm noch selber besorgt.«

»Hast es ihm auch, auf deine Art, grad wie ich; gleicher Teil am Leben wie am Tod … Ich sag dir, wenn man das Mädel da, die Ljubitza oder Berta, Mensch wie sie eins ist, anschaut mit ihrem Jäger, die ist noch glücklich. Stermelz, warum haben wir zwei eigentlich nicht geheiratet?«

»Weil's auch so gegangen ist, und das Geschäft dabei besser. Und weil ich der Fuhrknecht Stermelz war und du warst die reiche Frau Wirtin zum Konfin. Darum.«

»Hätt der Bub einen ehrlichen graden Namen gekriegt und wär vielleicht anders geworden, alles anders.«

»Und du wärst ärmer geworden wenigstens um das, was du zurückbehalten hast von den erpreßten Milchkreuzern und Schweiggeldern; was von rechtens wirklich ihm gehört hätt. Und um manches andere.«

»Was nutzt's mir? Wen hab ich noch auf der Welt? Das Mädel, soll ich das her nehmen, in dieses Haus?«

»Seh schon, nächstens laufst noch hin zum Galgenpater und beichtest, viel Vergnügen.«

»Vielleicht, daß er doch lebt; daß er nur weggegangen ist von hier; daß ein Brief von ihm kommt, wenn noch solch ein niederträchtiger …«

»Scheinst ja gar nicht mehr zu wissen, was du willst und wünschst; bald so, bald so …«

»Weiß es auch nimmer, Stermelz, bei meiner armen Seel. Laß nur, ich werd mich schon wieder fangen und finden, wenn er nur nicht so gewesen wär; versteh gar nicht, wie das so in ihn hinein gefahren ist und über mich …«

»Sehr einfach; hab mir's überlegt. Schön abgepaßt hat er sich die Zeit, daß er fertig ist und sich hier hereinsetzt, uns vor den Kopf, uns aufs Genick. Wo er genau gewußt hat, daß wir ihn am schwersten loswerden, ihm am wenigsten anhaben können. Früher, da hätt es ihn vielleicht das Fortkommen, die angefangene Schul' gekostet, das hat er bedacht; und als Unehlicher hätt er auch nicht weiß Gott was geerbt, sich mit dem Pflichtteil begnügen und mit dem Mädel teilen müssen; und hätt vom Reden auch nichts gehabt, da wär ihm viel, das meiste, alles da drunten – – alles Gefundene – – entgangen … Schlau, ganz schlau.«

»Ja, gescheit war er. Durchtrieben war er. Erst gesichert sein, dann anziehen die Schrauben … Übrigens, wenn du das glaubst, in Agram auf der Kassa war ich nicht gewesen und Geld hab ich auch keins mitgebracht von dort. Daß da dann irgendwas herausstinkt? … Das hätt ich schon anderswoher gehoben, wenn's wirklich hätt dazukommen müssen.«

»Ja. Aber nun, was machen wir, wenn sie was finden? Irgendwen verdächtigen?«

»Um Gottes Willen!«

»Hab mir's auch bedacht.«

»Schweigen und warten.«

»Das Einzige und Beste.«

»Zu tun haben wir ja nichts damit.«

»Eben. Was wissen wir?«

»Und das mit dem Gewehr liegt auch schon lange zurück.«

»Über einen Monat.«

»Vor Fronleichnam war das noch.«

»Am Tag nach der Scheibenschießerei von dem Jäger.«

»Ganz richtig; na also. Und fassen's ihn wirklich, kann man ja noch immer sehen.«

»Werden ihn vielleicht nicht einmal fassen. Wenn er gescheit ist. Wenn er mich verstanden hat.«

»Angespielt hast nichts?«

»Ich werde! … Grad nur so alte Geschichten erzählt.«

»So mein ich's; wir verstehen uns.«

»Kein Wunder. Fünfundzwanzig Jahr.«

»Jesus, ja, in deinem Reich, fünfundzwanzig Jahr. Da feiern andre silberne Hochzeit. Grad dreißig war ich damals.«

»Und ich fünfunddreißig.«

»Wie du frisch aufgenommen warst drin in der Hütten, und bist zum erstenmal vorübergekommen mit deinem Peitschenschnalzer; demselben wie heut noch.«

»Ja, und hab damals viel Welt und Weiber schon befahren gehabt; und du bist jung und rund unter der Stiegen gestanden vor der Kellertür und hast mir hergewunken mit einem Stutz Roten.«

»Weißem; Weißem von Vipernstein, Neunundfünfziger. Das waren noch Jahrgäng, Jesus. Einen Braun und einen Schimmel hast damals geführt, seh sie heut noch vor meiner.«

»Einen Fuchsen und einen Braun, irrst dich; der Schimmel ist später erst gekommen für den Fuchsen, das stätige Luder, maledeite; das ich jetzt noch aus seiner Haut hinauspeitschen könnt für den Schlag gegen das Bein, der mich vor jedem Wetter reißt.«

»Tätst es doch nicht, Stermelz; gegen deine Rösser bist immer gut gewesen.«

»Ja; na. Zu dir vielleicht nicht? Ein anderer hätt dich erschlagen.«

»Und du warst gescheiter als andere, und bist auch nicht zu kurz gekommen.«

»Und da fragst, warum wir nicht geheiratet haben? … Ja, na; laß mer's.«

»Ja, ja, lassen wir's, Stermelz. Jesus, und das sollen fünfundzwanzig Jahr sein.«

»Bald sechsundzwanzig, im Oktober werden's sechsundzwanzig. Die, was da bei dir ist, vom alten Grabert die Berta, die war damals noch gar nicht auf der Welt. Grad vor kurzem erst waren's gekommen, die Grabertischen, aus Böhmen oder Deutschland oder woher. Weiß genau.«

»Himmlischer Heiland; wie das alles vergeht. Und in der Zeit ist ein Mensch aufgewachsen, groß geworden, hat ausstudiert, und jetzt – –«

Der Fuhrknecht starrte dumpf. »Ja.«

»Wo doch alles nur für ihn war.«

»Wann er's nicht hat hören wollen?«

»Am liebsten gleich alles an sich hätt er gerissen und gerafft. Gleich übergeben und sterben hätt man dürfen von ihm aus.«

»Hat ihn von den Arbeitern auch keiner mögen, tröst dich. Nicht einmal von den Ingenieuren, was ich so gehört hab, soviel er hat springen und aufmarschieren lassen.«

»Wie Wasser das Tal hinunter ist das Geld von ihm gelaufen. Wie Wasser durch ein Sieb, ich hab sowas noch nicht gesehen.«

»Du nicht und niemand. Jetzt kann ich dir's ja sagen: hier sitzt du und weißt's nicht einmal: von Agram herauf hat er Weiber und Zigeuner und Wein kommen lassen, mit den Menschern schampanisiert und getanzt ist da droben worden die ganze Nacht …«

»Stermelz!«

»Ja. Und noch den Popen hat er so vollgetrichtert, daß er wie ein losgelassener Aff herumgehupft ist unter den nacketen Frauenzimmern und nicht einmal mehr blöken hat können. ›Sauft's nur, spielt's nur,‹ hat er gesagt, ›ich hab eine Quelle, die fließt nach und versiegt nie, ein dickes altes Faß, in dem schwimmt ein toter Zigeuner, da brauch ich nur den Hahn aufzudrehen oder den Heber anzusetzen, und es muß laufen …‹ Jawohl. Und er hat bloß zugeschaut und sich unterhalten über die Besoffenheit und ist ganz nüchtern geblieben. Jawohl. Da ist es hin, das Geld.«

»Stermelz, das ist wahr?«

»So wird's erzählt.«

»Und ich, ich soll nichts bemerkt haben?«

»Das hat er schon weislich eingerichtet. Es gibt noch andere Wege.«

Die Horvatitschka schüttelte Kopf. »Etwas muß gesteckt haben in dem Buben.«

»Möglich, möglich. Heißen tun sie ja alle zusammen nichts, diese Hinaufstudierten. Giftschwammerln in einem Mistbeet; der Same und die Art bleibt, nur noch fetter werden sie.«

»Und ich war stolz auf ihn.«

»Konntst es auch sein. Fragt sich nur, auf was.«

»Wie man's ist, Stermelz, als Mutter; man hofft auf was Besseres. Aber wie hat er mich gehaßt, verflucht, beschimpft, bedroht! … Es muß etwas gesteckt haben in ihm, das laß ich mir nicht ausreden.«

»Freilich; du selber zu allererst. Dann die Stadt, die Schule. Wärst du jünger in die Stadt kommen; möcht's nicht erlebt haben. Weißt doch, wie schon so ein Advokat alles umkehrt. Das lernt man. Hättst ihn Advokat werden lassen, dazu hätt er gepaßt, bist selber ein halber. Ich sag dir, auf diesen Schulen heutzutage wird jeder seinen Eltern und der alten Zeit Feind; aufgehetzt, daß er ihnen den Prozeß macht. Das drängt nur vorwärts, vorwärts, kriegt den Hals nicht voll und möcht gleich alles in seinem Weg fortstoßen oder verschlingen; wie den Fuhrmann die Eisenbahn, die verdammte, wegen der ich daherein gekommen bin und sitzen geblieben. Man sieht's an anderen. Ja; und nun gar der.«

»Muß sein. Muß rein so sein. Denn: nein, Stermelz, nicht, daß er grad nur mir nachgeraten wär; da hat sich noch was andres mit hineingefressen gehabt. Mutter und Sohn halten sonst zusammen; verstehen einand; helfen einer dem anderen. Für ihn aber war ich nichts wie die Hur, die ihn geboren und ihm jetzt im Weg gestanden hat.«

Der Fuhrknecht schlug vor sich hin wie verloren und verstarrt die breiten Hände ineinander. »Und ich sag dir, und es hilft nichts: an den Galgen hätt er uns geliefert mit kaltem Blut, Vipernkönig, der er war. Und dagegen wehrt sich ein jeder, solange er kann, und mit allen Mitteln. Zuerst ums Geld hätt er uns gebracht, und dann an den Strick.«

»Und was machen wir jetzt mit dem ganzen Schatz?«

Stermelz lachte trocken. »Fahren wir halt nach Amerika.«

Sie seufzte schwer; das trübe Licht flackerte.

»Ob er nicht doch lebt? Weiß Gott, du?«

»Geben tu ich keine zwei Groschen dafür.«

»Aber wissen tun wir noch nichts.«

»Wissen freilich nicht.«

»Stermelz, du – ich – ich fürcht mich. Ich fürcht mich …«

»Fängst schon wieder so an?«

»Ich kann nichts dafür. Ich fürcht mich.«

»Du: dann aber geh lieber gleich und mach ein End. Wer zuckt, der wird sicher gebissen.«

»Ich kann nichts dafür. Ich seh ihn. Ich seh ihn.«

»Mit dem Hals im Hanf tätst ihn freilich nicht mehr so gut sehen.«

»Ich hab keine Ruh.«

»Hast in den letzten Wochen bessere gehabt?«

»Einmal legt sich's, dann packt's mich wieder.«

»Gescheiter, das packt dich, als wer andrer. Dabei haben wir den nicht einmal selbst – –«

»Sei still, ich bitt dich.«

»Dabei hat sich der selber –«

»Sei still!«

»Und die anderen?«

»Sei still! … Gott: mein ganzes Leben verfluch ich!«

»Da fließt das Wasser bergan. Ich kenn dich nicht.«

»Ich mich auch nicht. Jesus, wenn's doch nicht so wäre und er lebet …«

Der Fuhrknecht legte die schwere Schwielenhand entscheidend auf den Tisch. »Ich will dir sagen: sei froh, wenn's so ist, und er hat nicht Wind gekriegt und ist auf und davon, brühwarm zu den Gerichten –«

Sie griff sich ins graue Haar. »Heiland in deinem Himmel! Ich seh schon: keine Ruh mehr ist für mich auf der Welt, so nicht und so nicht – –«

»Ja; und noch will ich dir sagen: wenn's nicht schon ist – wenn – dann müßt's jetzt sein. Müsset's unter jeder Bedingung sein. Müsset er jetzt desto gewisser sterben.«

»Sprich nicht, Stermelz, ich bitt dich, sei still …«

»Nutzt nichts; nutzt gar nichts. Dann müsset er jetzt – –. Solange wir an ihn herankönnen; zuvor er an uns herankommt; oder – –. Ich sag dir's: Er oder wir.«

Sie schauderte. »Ich weiß ja, ich weiß ja, ich hab ja selbst – –«

In schwüler Sticknot lockerte sie den Kleidsaum um den fetten faltigen Hals. »Glaubst, ich tät gern – –? … Nur: ich hab ihn doch – –. Aber ich werd mich schon wieder finden, werd mich schon wieder finden.« Sie seufzte ab. »Werd mich schon wieder finden. Wenn's nur erst gewiß und vorüber wär.«

»Hoffentlich; hoffentlich. Er – oder wir. Oder wenn du dich jetzt lieber zu ihm schlägst: Ihr – oder ich. Da gibts nichts. Jeder wehrt sich. Weg müßt er, ohne Gnad und Bedenk, die er selber auch nicht kennt. Oder gekannt hat. Gekannt hat. Hoffentlich.«

Die Kerze knisterte, Schatten woben und wuchsen. In dumpfer Kammer droben auf knackender Bettstatt flüsterte es schwül von Lieb und Lüge; ein Hund bellte fern in atmender Nacht; schläfernd über klingenden Kies schlurfte der Sommerbach.

*

Der Wachtmeister setzte seinen Stutzen nicht wie sonst ab, auch den Helm mit dem Hahnfederbusch rückte er nur unmerklich, wie um besser über den eintragenden Bleistift in sein dickes verspecktes Schwarzbuch sehen zu können, aus der schweißglitzernden Stirn hinauf.

»Der Vermißte war also Ihr Sohn?«

»Jesus, ja, Herr Wachtmeister, mein Sohn, mein einziger, mein geliebter Sohn, was soll ich's nicht sagen, bin ja nicht die Einzige auf der Welt mit einem ledigen Witwenkind, Heiland in deinem Paradies – –«

»Sein eigentlicher Name?«

»Branko – – nun, und sonst wie ich.«

»Den Namen Ihres verstorbenen Mannes kann er nicht tragen. Ihr Mann ist gestorben, wann?«

»Jesus, Herr Wachtmeister wissen ja; das war damals, beim letzten großen Bosniakeneinbruch, in den vierziger Jahren noch, Gott in deinem Himmel, war das eine Schreckensnacht, siebzehn Jahr erst war ich damals alt, so jung hab ich geheiratet, war ja eigentlich mein Onkel, der Horvatitsch, hätt grad so gut mein Vater sein können – –«

»Und der Vermißte ist geboren?«

»Im – im zweiundsechziger Jahr.«

»Er heißt also?«

»Ja, na – also Katić.«

»Branko, das ist Branimir Katić. Ingenieur?«

»Ja, Herr Wachtmeister; ich hab ihn doch studieren lassen, für teures Geld und schwere Opfer; himmlischer Herrgott, man tut doch alles für seine Kinder, nicht wahr; man hofft, daß etwas Besseres – –«

»Sein Vater?«

»Der Herr Wachtmeister wissen doch.«

»Das ist ja auch in diesem Falle Nebensache. Ihr Sohn hat häufig hier verkehrt?«

»Freilich, wie sollt er nicht, hat ihm doch auch manches verbilligt, das Essen an Sonn- und Feiertagen, den Tabak, wie schon die studierten jungen Herren von heutzutag sind, das Zigarettel können sie nicht lassen, nun ja, eine Freud muß doch der Mensch haben, die Wäsche, und so. Der Herr Wachtmeister haben ihn selbst mehrmals gesehen, der Herr Wachtmeister erinnern sich vielleicht – –«

»Er war zum letzten Male hier am – –?«

»Am dreiundzwanzigsten Juni. Am Tag vor Johanni. Am Abend.«

»Ist geblieben bis – –?«

»Bis vielleicht eine Stunde vor Mitternacht. Oder eine halbe Stunde.«

»Hat die Richtung genommen nach – –?«

»Wie gewöhnlich, wie immer, Herr Wachtmeister, nach Stojdraga, zu seiner Arbeit.«

»Das ist ein weiter Weg.«

»Für einen jungen Menschen! … Er hat dann auch manchmal in den Baracken drunten übernachtet, in der Kantine oder in der Glashütte beim Betriebsleiter.«

»Was für ein Grund liegt vor, ihn für vermißt oder für verunglückt zu halten? Weshalb könnte er nicht verreist sein oder die Gegend verlassen haben?«

»Herr Wachtmeister: wo er die Straße hinauf genommen hat und nicht bei der Arbeit angetreten, nirgends zum Vorschein gekommen ist!«

»Hatte Ihr Sohn Feinde?«

»Herr Wachtmeister, das weiß ich nicht. Woher, frag ich, soll solch ein junger Mensch Feinde haben? Er hat doch niemand etwas zuleide getan.«

»Ihr Sohn soll sich viel mit Weibern abgegeben haben.«

»Jesus, Herr Wachtmeister, wie einer halt ist in diesen Jahren, frei nach der Schule. Auch nicht mehr und nicht weniger als ein anderer.«

»Es ist uns bekannt, daß er Mädchen und auch verehelichten Frauenzimmern nachgestellt und damit schon mehrfach Ärgernis erregt hat.«

»Mein Branko, Ärgernis erregt? … Das müsset doch ich zuerst wissen; zur Mutter kommen sie doch gewöhnlich … Aber da sieht man, wie die Leut schlecht sind; das ist der Neid; hat sich vielleicht eine grad ihn in den Kopf gesetzt, weil er doch studiert ist und ein gutes Fortkommen hat … Jesus, was sprech ich, wo er am End gar nicht mehr lebt! … Nein, was die Menschen schlecht sind und verleumderisch in ihrem Neid; mir ist's ja mein ganzes Leben lang auch so gegangen …«

»Es ist uns so bekannt,« wiederholte der Wachtmeister nüchtern und hartnäckig; »es könnte möglicherweise ein Racheakt vorliegen …«

»Rache, Maria, für was? Mein Branko hat doch niemand etwas getan?«

»Er ist mit Ihnen in gutem Einvernehmen gestanden?« fragte der Wachtmeister unvermittelt mit gedeckt aufglühendem Schwarzlicht in seinen dunklen ruhigen Augen.

»Mit mir? Heiland! Wo ich seine Mutter bin – oder, Gott in deiner Ewigkeit, war …«

»Es ist uns bekannt geworden, daß Sie öfters Streitigkeiten miteinander gehabt haben,« fuhr der Wachtmeister gleichmut-gewichtig fort; »und zwar heftige Streitigkeiten.«

Die Horvatitschka stieß zu. »Wer hat das gesagt?«

»Es ist uns berichtet worden; es ist beobachtet worden; Streitigkeiten sogar vor den Gästen.«

»Das ist eine Lüge; das ist der Neid von solchen Menschen, die sich bloß darüber ärgern, daß mein Branketz studiert und es zu was Höherem gebracht hat! … Wer hat das gesagt?«

»Wir haben es in Erfahrung gebracht.« Der Gendarm sah kurz aus seinen Einvermerken auf. »Der Vermißte hat Ihnen Vorhaltungen über seine Herkunft, über Ihren Lebenswandel und Ihr Geschäft gemacht?«

Die Alte rang nach Luft. »Was der Herr Wachtmeister nicht alles weiß! Mehr wie ich! … Vorhaltungen, mir? … Über mein Geschäft? … Über mein Geschäft mir Vorhaltungen machen? … Möcht den sehen, der das könnt. Mein Geschäft ist ehrlich. Was da nicht alles bekannt ist …« Sie lachte angstwutheiserig auf. »Beinah schon wie ein Verhör, wo es sich doch um meinen vermißten Sohn handelt. Ich bin eine arme alte Frau.«

Der Wachtmeister notierte gelassen mit schwerer Hand und mehrfach gelecktem Bleistift. »Sie unterhalten seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren ein nahes Verhältnis zu einem gewissen Jernej Stermelz, Fuhrknecht in der Oberen Glashütte. Derselbige pflegt häufig bei Ihnen zu übernachten.«

Die Horvatitschka, schwärzlich fahl und wieder sudrot, schlug die fetten Hände zusammen. »Was noch alles? … Gehört das her, ist hier der Beichtstuhl? … Eine arme alleinstehende Frau in dieser verlassenen Räuberwildnis hier, soll die ganz ohne jeden Schutz und ohne jede Freundschaft sein? … Der Herr Wachtmeister hat mir des öfteren die Ehre seines Gastbesuches erwiesen, aber heute muß ich mich über den Herrn Wachtmeister in all meinem Kummer sehr wundern.«

Jener blätterte unbewegt in seinem Buche zurück. »Es waren auch schon mehrmals Untersuchungen gegen Sie anhängig; einmal im Jahre – im Jahre achtzehnhundertneunundsechzig, das zweitemal im Jahre achtzehnhundertundvierundsiebzig.«

»Auch das wird ausgegraben! … was sonst weiter? …« Die Konfinka schwoll in Empörung. »Ist es mein Sohn, der vermißt wird, oder jemand anderem der seinige? … Kann ich für die Bosheit der Menschen, die lieber vor der eigenen Tür den Mist wegschaufeln sollten als vor meiner das bissel Staub rühren? … Bin ich vorbestraft, außer vielleicht wegen ein paar kleinen Zollgeschichten und Gewerbesachen, wie sie, mein himmlischer Herrgott, in jeder solchen Grenzwirtschaft vorkommen, Sekkaturen, Schikanen, denn der Mensch will leben, wenn er auch bloß eine alleinstehende schutzlose Frau ist! … Damals, wie der selige Horvatitsch angeschossen worden ist von den Bosniaken und ich beinahe gestorben bin vor Angst, wo war da die Gendarmerie mit ihren genauen Fragen, und wo waren die Gerichte, und wo ist die Entschädigung dafür, daß niemand zugegen gewesen zur Hilfe, für die man seine teuren Steuern zahlt? … Und jetzt, wo mir wieder schweres Unglück widerfahren ist, werd ich noch beleidigt und gekränkt und aufgeregt! … So, ja, geht man um mit einer alten verlassenen Witwe, die ihr ganzes Leben lang nichts getan hat als sich geschunden und gemartert …«

Der Wachtmeister ließ sich auf nichts ein. »Haben Sie selbst irgendwelchen Verdacht?«

»Ich red nichts mehr. Kein Wort mehr red ich; nur vor dem Gericht, wenn ich vernünftig und in Ordnung befragt werde. Es wird mir ja doch alles falsch ausgelegt. Nein, ich habe keinen Verdacht.«

»Besaß der Vermißte eine Schußwaffe?«

»Ich weiß nichts von einer solchen, vielleicht, daß er sich einmal einen Revolver gekauft hat wie so viele junge Leute der Art, Studenten und so … Ich weiß nichts.«

»Er war in nüchternem Zustande?«

»Ich hab ihn nie betrunken gesehen. Mein Branko war ein Herr, ein gebildeter Mensch.«

»Könnte er Selbstmord verübt haben?«

»Warum sollte er? Er und so was, was eine schwere Sünde ist! … Wo es ihm gut gegangen ist, wo er alles gehabt hat, was er nur wollte …«

»Man hat einen Schuß gehört in dieser Nacht?«

»Ich weiß, mehrere haben ihn vernommen.«

»Sie auch?«

»Ich hab schon geschlafen. Ich hab ein gutes Gewissen. Ich bin abends müd zum Umfallen. War auch viel zu weit droben im Tal, nach dem, was die anderen erzählen.«

»Haben Sie Schußwaffen im Hause?«

»Ich, was sollte ich damit? Ich geh nicht auf die Jagd. Ich bin kein Räuberhauptmann. Eine alte verrostete Flinte ist vielleicht noch da, die was dem seligen Horvatitsch gehört hat.«

»Ich werde später eine Untersuchung vornehmen.« Scharf beobachtete der Wachtmeister das Gesicht der Alten, allein nicht mit einem Lid zuckte sie; da war nichts oder nicht viel zu holen. »Der Vermißte soll sich stark als Herr in diesem Hause aufgespielt haben?« Jetzt würgte es sie.

»Woher denn wieder das? … Wo er doch einmal das meiste geerbt hätte, natürlich.«

»Er hat auch häufig größere Beträge von Ihnen verlangt und erhalten.«

»Ja, viel Geld verbraucht hat er, das ist wahr. Die Jugend, die sich ausleben will nach der harten Lehr und noch keine Ehrfurcht kennt vor dem harten Kreuzer.«

»An jenem Abend, hat er da wieder gefaßt und einkassiert gehabt? So vielleicht, daß es jemand gesehen oder gewußt hätte?«

»Nein, nichts.«

»Er hat aber damit gerechnet, das ist Ihnen bekannt.«

»Ich weiß von nichts dergleichen.«

»Sie waren am Tage vorher in Agram und haben dort einen namhaften Betrag behoben.«

»Da sieht man, was zusammengeredet wird, Herr Wachtmeister. In Agram war ich, aber kein Sechser! hab ich aus der Sparkassa genommen, ich bitte nur nachzufragen. Kein Sechserl. Nicht einmal in der Sparkassa gewesen bin ich. Ich hab eine Freundin besucht und mehrere andere Geschäfte besorgt bei der Gelegenheit.«

»Diese Freundin war eine frühere Kundin.«

»Ist das vielleicht auch schon verdächtig?«

»Die Frauensperson in Ihren Diensten ist eine Tochter des verstorbenen Glasbläsers Grabert?«

»Zu schaffen, Herr Wachtmeister, und was hätte die dabei zu tun?«

»Dieser Glasbläser ist in oder vor Ihrem Hause eines plötzlichen Todes verschieden?«

Die Horvatitschka griff sich lüftend an den Hals. »Soll ich den vielleicht umgebracht haben, den alten kranken halbnärrischen Menschen?«

»Die besagte Frauensperson hat sich einige Zeit hindurch unter falschem Namen bei Ihnen aufgehalten?«

»Unter geändertem Namen, wie Sie selbst ihn gehört haben, Herr Wachtmeister, aber mit ordnungsgemäßen, ungefälschten Papieren, ich möchte schon bitten. Meine Wirtschaft hier ist keine Hehlergrube und keine Diebshöhle, wenn es auch Leute gibt, die mich schlecht machen möchten. Nicht erkannt und nicht belästigt hat sie in ihrem Dienste hier sein wollen, das ist alles, und was den Vater angeht, so hat sie geglaubt, der wäre gut aufgehoben auf dem Schloß droben beim Herrn Grafen, und am besten sähe sie ihn gar nicht wieder, wo es doch nichts ändert und hilft und er sie seinerzeit selbst hineingestoßen hat ins Elend der Welt …«

Der Gendarm nickte kurz. »Rufen Sie die Person.« –

»Berta Grabert und nicht Ljubitza Jamnik: ich fordere Sie auf im Namen des Gesetzes: erzählen Sie, was Sie wissen.«

Jene, von vielen Behörden schon gehechelt und überstempelt, blieb unerschreckt.

»Ich weiß nichts. Der Herr Branko war an den beiden letzten Abenden hier. Das ist alles.«

»Allein?«

»Allein. Nur am Vorabend also, da war so ein Kroat hier, ein Arbeiter von der Straße, aber der hat sich gleich gedrückt.«

»Heißt, dieser Kroat –+?«

»Ein Primurz eigentlich, aus der Fiumaner Gegend, nach der Sprache. Aber Gott mir, daß ich den Namen nicht weiß.«

»Sie haben von diesem Schuß vernommen?«

»Ich habe ihn selbst gehört, den Widerhall, hoch droben im Tal. Aber ich kann mich auch geirrt haben. Es war die Nacht vor Johanni, Sonnwendnacht, da wird viel geschossen auf allen Bergen.«

»Die Stunde?«

»Lange nach Mitternacht. Gegen eins herum.«

»Der Vermißte war fortgegangen um –+?«

»Ich möchte sagen, um viertel auf Zwölf.«

»Man würde zu Fuße gehen von hier bis zu jener Stelle, wo Ihrem Vermuten nach der Schuß gefallen –+?«

»Höchstens eine halbe Stunde.«

»Sie kennen die Umgegend?«

»Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

»Der Vermißte, hat er Ihnen nachgestellt?«

Berta, nach einem blitzflüchtig gewechselten Blick, zuckte nachlässig die Achseln.

»Wie solche junge Herren in diesen Jahren schon sind.«

»Sie waren in Esseg, Warasdin, Csakathurn, Kanisza, Fiume?«

Berta fing den Stoß geschickt auf. »Der Herr Wachtmeister kann meinen Paß und meine sonstigen Papiere sehen.«

»Jener Kroat, war der oder ist der im Besitz einer Schußwaffe?«

»Das vermag ich wohl nicht zu sagen, Herr Wachtmeister.«

»Ihr Vater ist hier verschieden; er wollte Sie aufsuchen. Sie hatten einen anderen Namen angenommen?«

»Die Mutter und alle Geschwister waren im Elend gestorben, Herr Wachtmeister; ich mochte nicht von jedem daran erinnert sein. Konnte es ja auch nicht ändern und konnte meinem Vater nicht helfen.«

»Der Kroat oder Primurz, von dem Sie sprechen, wußte er etwas von dem Gelde?«

»Welchem Gelde?«

»Durch Sie zum Beispiel?«

»Mir ist da nichts bekannt.«

»Er wich dem Vermißten aus?«

»Er hat sich davongeschlichen, weil er als Arbeiter zu so später Stunde nicht wollte im Wirtshaus gesehen werden.«

»Es bestand eine Aufsässigkeit zwischen dem Vermißten und diesem – Ilija Schorman?«

Kein Zeichen verriet den Treffer. »Nicht, daß ich etwas solches wüßte.«

Der Wachtmeister brach plötzlich ab, klappte das Buch zu und versorgte es in der dienstlichen Brieftasche.

Langsam in seiner schweren Montur ging er mit dem Kameraden, dem Titular-Postenführer, der draußen bewachend gewartet, das staubgraue flimmernde Sommertal hinauf. Hinter ihm drein ballte die Horvatitschka heimlich die feiste Faust. Dem ein paar Gran Rattenzucker unter den Wein gemischt oder in den Kaffee, das würde dem Lande auch nicht schaden … Woher wußte der das alles, wie kam er zu diesen seinen plötzlichen, tückisch vorschnellenden und gleich auch noch unverschämt behauptenden Querfragen? … Die Gefahr war noch nicht vorüber; sie fing erst an; die Horvatitschka wünschte wütig, sie hätte nie oder sie hätte anders, in Ehren und Gesetzen gelebt. Verflucht ihrer seligen Mutter Leib, daß er sie in diese aufregende Welt geworfen; verflucht jene Schreckensnacht, die sie vorzeitig zur Witwe und zur Herrin ihrer selbst gemacht; verflucht diese Mannsbilder alle zusammen, die einem immer gleich auch was andrehen; verdammt diese ganze Einrichtung und das Dasein mit seinem Kampf und seinen Versuchungen, und alles miteinander! … Die Berta, ja, die hatte sich gut gehalten; aber sagen durfte man ihr's nicht; und auch sie wußte offenbar viel zu viel; und entfernen konnte man sie grad deswegen nicht. Alles das kriechende bohrende Menschengeziefer, dieses gierige Aasgewürm müßte man beseitigen und abschaffen, damit man einmal seine Ruhe fand. Gefangen war man in dieser stickigen Schwüle, wie eingeschnürt ringsher, nicht Rühren und Reden gab's, außer mit dem Stermelz, und noch das von nun an unter peinlichster Vorsicht, nicht zu häufig, hinter verpichten oder bei ganz offenen Türen. Und dabei für seine Gäste, für das lästige Zahlpack, ein freundliches sorgloses Gesicht haben wie immer, sich nicht abschmecken lassen, schämige Komödie spielen um den Vermißten und die halbeingestandene Mutterschaft … Und dabei wußte man nicht einmal, ob – – Die Horvatitschka würgte alles miteinander mit einem krampfigen schluchzigen Schluck in sich hinunter und weg, und stieg schwerfüßig in den kühlen Keller hinab. Es nutzte ja doch nichts. Vom Nachdenken wurde nichts anders, nichts besser. Es war zuviel. So viele Fäden und Knoten, das ließ sich nicht übersehen. Wie in einem selbstgewebten zähklebrigen Spinnennetz saß man, einverstrickt, eingespeichelt, wehrlos. Und diese Hitze. Und dieser Staub. Und überhaupt, dieser Sommer. Es war zuviel. – – – – – – – –

Gemerkt alles, merken sich lassen nichts, überlegte der Wachtmeister; glatte alte Viper, die noch in der Fanggabel sich ringelte, blähte und schnappte. Zu vermuten und zu verdächtigen genug; zu beweisen und wahrscheinlich auch zu finden sehr wenig. Aufgezuckt auf versuchte Reizungen wohl ein paarmal und giftig nach der stochernden Gerte gebissen; allein daraus wurde noch lange kein gerichtsbrauchbarer Akt. Etwas war nicht in Ordnung in diesem verrufenen Hause; einiges; vieles; wenn man da in tiefere Schichten und Schüttungen hinabschürfte! … Doch das gehörte jetzt noch nicht zur Sache. Zwar es hat der Gendarm seine Streifungen mit großer Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin zu verrichten, er hat auf jeden Lärm, Geschrei oder Hilferuf zu achten und nach Umständen sich in die bezügliche Gegend zu verfügen, er hat Wälder, Schluchten, Sand- und Schottergruben und sonstige Schlupfwinkel zu durchsuchen und bei der Rückkehr in der Regel einen anderen Weg einzuschlagen, er darf sich bei diesen Streifungen nicht an die Hauptstraßen binden, sondern er hat auch Nebenpfade, Fußsteige und mitunter ganz unbetretene Stelle zu begehen, er hat insbesondere auf einschichtig gelegene und übelberüchtigte Schänken sein Augenmerk zu richten, so schrieben die Paragraphen siebenundsechzig bis neunundsechzig der auswendig gelernten Instruktion vor, er hat aber auch laut Paragraph sechsundzwanzig, Absatz eins, bereits begangene Gesetzesübertretungen zu ermitteln, und dieses war vorderhand das nächste Ziel. Allzuviel gleicherzeit schadete dem Ganzen; jede Untersuchung wollte ihre Ordnung haben; von einem festen Fund aus konnte man ja dann die Rückspur durch jene Wälder und Schluchten, Sand- und Schottergruben und sonstige Schlupfwinkel, über Nebenpfade, Fußsteige und anher unbetretene Stellen bis in besagte einschichtig gelegene und übelberüchtigte Schänke verfolgen. Eines schön nach dem anderen.

*

Sagmeister Vidmar gab willig und ausführlich Auskunft; erzählte getreulich, was er zu wissen und auf seinen Eid nehmen zu können glaubte; führte die Gendarmen an die Stelle seines Rotfährtenfundes in der Klause zwischen Felsbruch und Wehr, und Primus Koschutnik, der eben bei der Säge Bloche gezeichnet und mit dem Meister nachbarverwandte Heimaterinnerungen getauscht, schloß sich neugierig an.

»In dieser Gegend irgendwo ist also der Schuß gefallen, den Sie vernommen haben?«

Vidmar kratzte sich betreten den verschwitzten Kopf. »Glauben, ja, möcht ich's, beschwören nicht, Herr Wachtmeister. War so verschlafen, daß ich mir nichts dabei gedacht hab, nicht einmal auf die Uhr geschaut. Die Nacht auf Johanni, da ist immer alles mögliche los, nicht wahr; ein Schuß halt, na – und hab mich auf die andre Seite gedreht und war weg.«

»Ich hab ihn auch gehört, den Schuß,« mischte sich Primus ein; »verschlafen war ich nicht, bin noch beim Feuer gehockt, das ich mir selbst im Berg droben angezündet hab auf Sonnwend; aber die genaue Zeit, die könnt ich nicht sagen.«

»Eine Stunde nach Mitternacht, wird behauptet,« bemerkte der Wachtmeister; »kann das stimmen?«

»Nein, das kann nicht stimmen,« erklärte Primus entschieden; »eine gute halbe Stund, dreiviertel Stund eher vor Mitternacht, so möcht ich eher meinen.«

Der Gendarm machte seine bedächtigen Eintragungen.

»In der Früh dann, wie ich nach dem Wehr geh, seh ich diese komischen Blutspritzer,« setzte der Sagmeister unaufgefordert fort; »auf dem Schotterhaufen hier zuerst, dann über die Straße weg, an den Bach, und jenseits hinauf in den Wald, dort so beiläufig, etwas wie eine Schleppe oder Schleife, als ob da jemand einen schweren Körper übers Laub hinaufgezerrt hätt. Wird wohl ein Stückel Reh gewildert oder von denen drüben geschossen worden sein, denk ich mir, und hab dann nicht weiter auf die Geschichte geachtet, die Zeit hat gedrängt, das Wetter schon schwer hereingehangen. Jetzt natürlich ist alles längst verwaschen und vertrocknet. Auch der Stein dort im Wasser, in der Mitte, war mit Blut gestreift, und da drüben im Schlämmsand hat man ganz deutlich die Spur von einem Fuß gesehen, von einer Opanke.«

Der Wachtmeister schrieb nach, Primus aber fuhr plötzlich auf, wie von einem erhellenden Lichtstrahl gestochen. »Opanke, von einer Opanke?«

»Freilich, von einer Opanke. Warum? Das ist nicht zu verwechseln.«

»Wie hat er ausgesehen, dieser Opankentritt?«

»Herrgott, wie? Wie ein anderer auch. Drüben die Kroaten, die tragen doch alle solche Opanken.«

Der Wachtmeister wurde aufmerksam. »Warum fragen Sie? Hat es damit etwas besonderes auf sich?«

»Natürlich hat es, verdammte Christenseel; wo ich so einem verfluchten verdächtigen Opankenfuß nachspür schon seit Wochen! Droben im Seloutz, im grauen Ton oder Lehm von einer Wildlecke hab ich ihn zum erstenmal gesehn, seh ihn heut noch vor meiner, rund und breit, und kein Mensch in der Näh, und die Fährte trotzdem nagelfrisch, vom selben Morgen, da wettet ich. Und dann noch ein paarmal an der Grenze; seither wird gewildert; Schüsse wie dieser, die fallen; einen angeluderten Bock hab ich auch gefunden und ins Schloß geliefert. Immer diese Opanke dabei, wie von einem Geist; das ist schon derselbe Kerl; aber der, wen ich den einmal abfaß, den Hund …«

Der Wachtmeister mahnte gütlich und vorschriftsmäßig ab. »Na na; hab zwar, in Ihrem Lande hier eigentlich nichts zu sagen; aber dem Gesetze vorgreifen darf man nirgends. Wär es nicht schad um Sie und Ihr Gewehr? … Also gewildert wird bei Ihnen, und Sie glauben, das hängt zusammen mit diesem Opankenträger?«

»Gebraten und gefressen will ich werden, wenns' nicht ist,« fluchte Koschutnik in Wut; »das Wild ist unvertraut seit damals, und weniger ist es auch geworden. Ein paar Stückeln fehlen mir. Ich kann doch nicht überall sein, Herrschaft noch einmal, verdammte Seele!«

Der Gendarm sah Primus nachdenklich aus schwarzen strengen Augen an. »Ich habe Ihnen einmal etwas zu verstehen gegeben; erinnern Sie sich?«

»Kann sein; ich weiß nicht.« Der Oberkrainer starrte plötzlich weg. »Wenn ich ihn derwischet, den Aaskerl, das Gescheid lasset ich ihm heraus und bindet ihn dran am nächsten Baum fest …«

Der Wachtmeister wurde mit einmal sehr ernst. »Ich habe Sie darauf hinzuweisen, daß solche Reden in meiner Gegenwart nicht zu führen sind.« Er milderte den scharfen Ton. »Ich meine: weil Sie sagen, man könne nicht überall sein. Sie müssen nur an richtiger Stelle suchen. Vielleicht sind Sie bereits schon auf warmer Fährte, und Sie ahnen es nicht. – Genug. Ihre krainischen Angelegenheiten gehen mich ja nichts an. Opanken gibt es allerdings viele auf der Welt. Ein besonderes Merkmal ist Ihnen nicht aufgefallen?«

»Ich versteh mich nicht drauf,« versetzte Primus unwillig; »das ist ja kein ehrlicher Schuh mit Nägeln und Haken, dieser krabatische schleichende Pantoffel.«

»Ihnen auch nicht?« fragte der Gendarm den Sagmeister.

»Nichts; es war ja auch über den Bach hinweg.«

»Dennoch gibt es Unterschiede,« belehrte der Wachtmeister; »aufgesetzte Flecke zum Beispiel, Nahtabdrücke und manchmal solche von den seitlichen Verzierungen und Flechtwulsten. Die Opanken aller Gegenden sind auch nicht einander gleich. Darauf ist also vorkommendenfalls zu achten. – Dort hinauf, sagen Sie, hat jene Schleppe oder Schleifbahn geführt?«

»Bitte, herzutreten, Herr Wachtmeister. Etwas sieht man noch jetzt davon. Es könnte aber auch ein geschossenes Stück Wild da heruntergerollt sein.«

»Das? Ah was, das ist überhaupt ein Wildwechsel und nichts anders,« begutachtete Koschutnik geringschätzig; »hab schon manchmal etwelche Stückeln hier herum abspringen oder da droben herumziehen sehn, hat mich immer darnach gejuckt, ein guter Bock ist dabei, wär schad, wann ihn die Krabaten kriegeten.«

»Jetzt könnt man's so meinen,« widersprach der Sagmeister; »jetzt ist das meiste verwaschen und verwischt. Damals jedenfalls, an dem Morgen, da hat's hergeschaut wie ein frisches Geschlepp, wie wenn einer ein Reh oder so was recht mit Müh hinter sich her hinaufgezerrt hätt, oder wie die Rutschen von einem verendet herunterwalzenden Vieh. Ein bißl was versteh ich ja auch.«

»Wildwechsel,« beharrte der Jäger.

»Wir wollen uns persönlich überzeugen,« entschied der Wachtmeister; »etwas anderes gibt es im Augenblick ja auch nicht zu tun.«

Schwerfällig in ihren harten Stiefeln und drückenden Riemen stiegen die Gendarmen den steilen mittäglich durchflimmerten Hochbuchenhang hinan; Vidmar begleitete, Primus trotzte verdrossen hinterdrein. Die verfluchten Menschen, was die sich um alles bekümmern; auch der noch; ließ man doch jedes Tier in Ruhe bei seiner gefundenen Paar … Neben einer unterwüchsigen Staude blieb der Wachtmeister keuchend stehen. »Hier, da könnte allerdings etwas gelegen haben oder verscharrt worden sein; die Streu ist frisch weggekratzt.«

Vidmar schmunzelte, Primus lachte schadenfroh auf. »Da hat ein Reh geplätzt.« Er sah sich befriedigt um. »Schaut überhaupt nach einem guten Stand aus; schöner Ausschuß nach allen Seiten.«

»Aber da, die Rinde von diesem Stämmchen ist offenbar von einem schweren vorbeigezerrten Körper gewaltsam abgescheuert worden.«

»Da hat ein Bock gefegt, Herr Wachtmeister, ein guter auch noch; den müsset man eigentlich einmal wegputzen, den Futterstand hat er ohnehin auf unserer Seiten, die Krabaten mit ihren rostigen Spritzröhren, die veraasen ihn doch bloß …«

Der Wachtmeister wischte sich mit großem rotgelbem Schnupftuch den beißenden Glitzerschweiß aus dem braunen Gesicht. »Und ich seh, jeder Gendarm müsset bereits eigentlich Jäger sein oder wenigstens was davon verstehen; in den Wäldern braucht man's.«

»Besser noch, jeder Jäger wär gleicherzeit Gendarm,« erwiderte Primus; »da gäb's allemal kurzen Prozeß und wenig Arrestanten und Lauferei zu den Gerichten, für die Füchs und die Totengräber bloß wär's ein Fressen …« Er untersuchte die Beschlachter und bückte sich plötzlich. »Hat der Herr Wachtmeister das verloren, den Bleistift? … Vielleicht herausgezogen mit dem Fazinettel Fazinettel, Gesichtstuch, Schnupftuch (facies, facie), häufig gebrauchtes, volkstümliches Lehnwort.

Der Gendarm griff nach dem Stück. »Mein Bleistift? Nein. Den hab ich. Der Ihre auch nicht, Herr Sägmeister? Dann haben wir es allerdings mit einem Funde zu tun.« Er untersuchte den zweizölligen braunen Stumpf. » ... ardtmuth No. 3 kann man gerade noch lesen. Merkwürdige dunkle Flecke. Das kann ein Rehbock jedenfalls bereits nicht verloren haben. Aber Ihre Augen, alle Achtung.« Sorgfältig eingewickelt verschwand das Stück in die dienstliche Brieftasche. »Anderseits doch nicht nur ein Wildweg, wie Sie sagten, wir müssen noch eine Strecke weiter forschen.«

Primus, durch das gespendete Lob gespornt und ausgesöhnt, suchte eifrig mit tiefer Nase. Gendarm sein, Jagd machen auf Menschen, eigentlich auch nicht so übel. Allein die Fährte, schwer zu halten, nur noch ungefähr zu erraten, querte weiter im Hang überm Bache. »Wohin kommen wir da?« fragte der Wachtmeister, nach längerem Klimmen und Rutschen unter neuen Schweißströmen eratmend.

»Grad zu unserem Holzstapelplatz und zur Straßentrasse,« erklärte der Sagmeister; »kenn mich zwar nicht aus auf dieser Seite, aber soviel ich seh, das hier ist die Bergnase, um die Wasser und Weg sich winden, die Bestände gehören zur Glashütte.« Er lauschte. »Man hört ja schon, bitte, das Hämmern und Bohren in den Felsen.«

Die Gendarmen nahmen die dunstenden Federhelme ab. »Ich glaube, so hat das jetzt keinen Zweck. Wegen des Leichnams, ich meine, wegen des Vermißten, wird eine regelrechte Streifung angeordnet und vorgenommen werden müssen. Der Täter, oder mit wem immer wir es hier zu tun haben, kann sich ebensogut auch nach einer anderen Richtung hin gewendet haben. Die Wälder sind groß.«

Langsam in wieder geordneter Würde stiegen die Hahnbefiederten zum flimmrigen Sommerbache hinunter; Koschutnik folgte widerwillig. Er hätte die Spur am liebsten über alle Berge bis nach Jaska jenseits verfolgt. Das wäre so ein Dienst, ja, nach seinem Geschmack; nur das eigene Gewehr und die eigene leichtfreie Tracht müßte man behalten, unterwegs jeden guten Bock schießen, jeden Kuß pflücken, die Nächte statt in dumpfer Kaserne bei hübschen warmwilligen Madeln oder hoch auf luftiger Trift unter den Sternen und Stimmen der Wälder verbringen, und am Ende der Fährte die Jagd mit einem sauberen Herztreffer beschließen dürfen …

Von drüben her klirrten die Meißel, klangen die Hämmer, rauschten und scharrten die Spaten; in gepreßte Vorstille des Sprengschusses hinein rumpelten aus der Grenzschlucht herüber dumpf die Rollwagen, schmetterten und polterten zuhauf die abgeriesten Klötze und Scheiter. Und dann ein schütterndes Andröhnen durch das Gebirg, Prall von einer unsichtbaren Wucht und die Halden hinunter rauchender Donnersturz; und wieder über den blassen Nachhall hin das Heulen eines Schaftes in der Riese, sein Aufbäumen und sein Niederkrach, Zusammenwimmeln, und von neuem Schlag und Schurf und schrilles Schaufeln am verqualmenden Gestein … Arbeit, Arbeit; Dienst, Dienst. Sie wurden aufgearbeitet und mußten dienen, diese alten stillen Berge und ihre Wälder.

*

Bedächtig und geschlossen in gewaffneten Würden wanderten die Gendarmen die glastwabernde Trasse hinan.

Abgängig? Ja; wie gemeldet, seit dem Tag vor Johanni; genauer: seit Johanni selbst. – Verdacht? Nein, keiner. – Seine Effekten? … Ja, droben in Stojdraga, im Diensthaus, das wir uns für die Dauer des Straßenbaues hier eingerichtet haben; soll später eine Art Touristenhaus werden. – Umgang mit Frauenzimmern? … Allerdings etwas viel. – Beliebt gewesen? … Wohl nicht besonders. – Der Wachtmeister zog sein Invigilierungsbuch. – Ilija Schorman? … Schorman? … Ja, könnte sein, alle die Namen hat man natürlich nicht auswendig im Kopfe. – Partieführer, he! … Einen gewissen – – halt! … Also, Partieführer, erst herkommen und Antwort stehn.

Schorman Ilija? … Natürlich; der dort mit der alten Militärmütze, am Hammer der. Fleißiger Arbeiter, man kann nichts Nachteiliges sagen, Gospon Bochmajster; kein Trinker; kein Raufer; starker Raucher, das wohl, und manchmal ein wenig verschlafen. Geht den anderen gerne aus dem Wege. Treibt sich viel in den Wäldern herum, an Feierabenden und Sonntagen und so, sucht Pilze und dergleichen. Brachte einmal auch Wildbret und Hörner von einem verreckten Rehbock, die paar Welschen und der dort, ein gewisser Rok Ban, ein Tschitsche, haben es gesehen und werden sich erinnern. Hat schon gestunken wie die Pest und von Würmern gewimmelt, das Zeug. Gehässigkeiten, Aufsässigkeiten mit dem Vermißten? Schon, wohl, ein paarmal; aber das war mit anderen auch, Gospon Bochmajster, ist nicht beliebt gewesen, der junge Mensch, hochmütig und voll Sekkatur … Der Wachtmeister notierte eifrig. Kennen oder erkennen Sie vielleicht gar diesen Bleistift? … Bleistift, nein, bitte, Gospon Bochmajster; solcher gibt es wohl viele, da könnte ich nichts sagen. Ob der Schorman hier gewesen in der Nacht auf Johanni? Könnt ich auch nicht sagen, Gospon Bochmajster; das wird nicht kontrolliert. – Also, diesen Schorman Ilija einmal herbringen … Schorman, he, antreten! Der Gospon Bochmajster hier hat mit dir zu reden!

Ilija folgte gelassen. Er hatte die Gendarmen kommen sehen, er wußte. Willig und bedächtig beantwortete er alle Vorfragen. Jetzt aber griff der Hahnbefiederte urplötzlich an unvermuteter Stelle zu.

»Wo sind die Rehbockhörner, die du einmal gefunden hast?«

Schorman blieb ohne Stocken bei schlichttreuer Wahrheit. »Gott mir, daß ich nicht weiß, wo die jetzt sein mögen. Ich habe sie verkauft, mir selbst tut es leid, sie waren schön.«

»Du weißt, daß jemand vermißt und gesucht wird, ein junger Herr Indženir?«

»Ich habe gehört.«

»Wieviel hat dir die Alte für die Hörner gegeben?«

Auch jetzt zeigte Ilija keine Überraschung. »Gott mir, daß ich das nicht mehr genau weiß; Tabak, der schon aufgeraucht ist, und einen Liter Wein.«

»An jenem Abend, da du dem Gesuchten begegnet bist, drunten in der Wirtschaft, hast du da wieder Hörner verkauft?«

»Gott mir, daß nein; dergleichen findet man nicht alle Tage. Das war vor vielen Wochen, damals, wie der Jäger den großen Vogel geschossen hat, an jenem Tage.«

»An jenem Tage, so?« Der Wachtmeister notierte. »Wie spät war das?«

»Was?«

»Wie du dich vor dem jungen Herrn Indženir aus der Wirtschaft weggedrückt hast?«

»Gott mir, daß ich das nicht mehr so genau weiß. Spät war es, es hat geblitzt.«

»Und was hat der Herr Indženir so spät da drunten gesucht und getrieben?«

»Gott mir, das kann ich nicht wissen.«

»Er hat etwas mit diesem Mädchen, wie heißt sie schon …?«

»Ich weiß es nicht.«

»Mit diesem Mädchen soll er eine Liebschaft gepflogen haben.«

Schorman zuckte nur die Achseln. »Es ist möglich; ja, es haben schon etwelche das gesagt; ich weiß es nicht.«

»Und was hast du drunten gesucht?«

»Ich habe Tabak geholt, wie gewöhnlich.«

»Warum dort? Ihr habt hier die Kantine.«

»Unten haben sie anderen, den kaiserlichen Tabak, der ist besser als der ungarische.«

»Und die Nacht darauf hast du dir gleich wieder Tabak geholt?«

Schorman widersprach nicht geradezu. »Gott mir, daß ich das nicht weiß. Aber es wird nicht sein; damals, war es, glaube ich, das letztemal; heut oder morgen muß ich wieder hingehen.«

»Gehst besser übermorgen. Morgen ist vielleicht der Jäger dort, bei der Ljubitza.«

War wohl eigentlich gegen die Instruktion; solche Fallen hat der Gendarm, Paragraph sechsundsiebzig, nicht zu stellen. Aber der Kerl war ja wie ein Block; einfach mit gleichgültig glatter Schwerfälligkeit entglitt er jedem aushebenden Griff.

»Es kann sein. Ich brauche ja nur Tabak.«

»Wenn also nicht drunten, wo dann warst du in der Nacht auf Johanni?«

»Wenn nicht drunten, dann nirgends; hier. Geschlafen werde ich haben, welche Nacht soll das gewesen sein?«

»Den Schuß also hast du nicht gehört?«

»Schuß? … Gott mir, daß ja, jetzt weiß ich, den habe ich gehört. Der Jäger, hab ich mir noch gedacht, und mich gewundert, wie und was man eigentlich in solcher Finsternis schießen kann.«

»Es war eine sehr finstere Nacht?«

»Gott mir, genau weiß ich das nicht. Jetzt erinnere ich mich, am frühen Morgen war ein Gewitter, der Donner hat mich geweckt, ich habe noch gedacht: wieder ein Schuß.«

»Du schlafst mit anderen zusammen?«

»Ja, in der Baracke. Darum hab ich diesen Schuß überhaupt gehört, weil mich der Nachbar, der Italiener, wegen Schnarchen grad angestoßen hat. Er ist dann eingeschlafen, und ich bin einige Zeit so halb wach gelegen.«

»So?« Der Wachtmeister trug die Aussage ein. »Ist er bei der Hand, dieser Italiener, wie heißt er?«

Angelo Danielis trat an und bezeugte die Angaben des Kameraden in allen Punkten. Kein Schlafen sei neben dem Röhrer, wie das Gatterwerk drunten am Bach, so ginge das bisweilen, ostia maledetta. Nein, dieser besonderen Nacht könne er sich nicht entsinnen; oder doch, ja, am folgenden Morgen habe ihn ein frühes Gewitter aufgeschreckt; Schuß aber, nein, den habe er nicht vernommen, im Traume vielleicht und dann vergessen. Ja, auch andere schon hätten sich schon über den Störer geärgert und beschwert, ostia maledetta; erzähle dann immer von Müdigkeit und schweren Träumen und Schmerz in den Schultern vom Hammer … Der Wachtmeister klappte sein Schwarzbuch zu; für heute war sein Tagewerk beendet.

»Du treibst dich viel in den Wäldern herum?« fragte er noch den teilnahmslos gewärtigen Schorman.

Der zuckte nach seiner Weise die Achseln. »Gott mir, was soll ich? Hier die ganzen Sonntage und Feiertage zu versitzen, das ist auch langweilig.«

»Bist denn nicht froh, dich ausruhen zu können nach der schweren Arbeit?«

»Gott mir, hier ist keine Ruhe,« versetzte Schorman; »da reden und schreien und singen alle, und ich verstehe nichts davon. Lieber gehe ich in den Wald und suche Pilze, und lege mich unter einen Baum schön ins Kühle und schlafe ein wenig.«

»Du bist verheiratet?«

Ilija nickte in nachlässiger Schwermut. »Gott mir, daß ich das bin. Viele Jahre schon; ich habe Kinder; darum muß ich arbeiten.«

»Der Gesuchte oder Vermißte, dieser junge Herr Indženir, wäre gerade dir besonders aufsässig gewesen?«

»Gott mir, es ist möglich,« gab der Morlak gleichmütig zu; »ich habe mir nichts daraus gemacht, ich habe es schon vergessen.«

»Warum eben dir?«

»Gott weiß es, ich nicht.«

»Wenn du so viel Pilze suchst und findest, was machst du damit? Kannst sie doch nicht selbst alle essen?«

»Gott mir, nun: ich verkaufe davon, ich tausche sie ein, gegen Tabak, gegen einen halben Liter Wein bei großem Durst; man spart etwas zum Lohn hinzu, man kann es gebrauchen.«

»Hast du denn von den Eigentümern, von den Kronsforstaufsehern oder von der gräflichen Herrschaft drüben eine Erlaubnis zum Betreten der Wälder und zum Schwämmebrocken?«

»Gott mir, wie, braucht man das?«

»Freilich braucht man das; ich muß dich im Namen des Gesetzes sogar ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß man das braucht, müßte dich eigentlich zur Anzeige bringen. Was auf eines anderen Grund und Boden wächst, ist nicht etwa darum schon herrenlos, weil dieser andere nicht und niemand es nutzt und nimmt. Du begehst da Diebstahl, verstanden.«

Schorman hob trüb verächtlich die Achseln. »Gott mir, nun gut, dann lasse ich es eben bleiben. Alle holen sich aus den Wäldern, was ihnen gefällt, Pilze, Beere, Holz, Vogeleier, sogar junge Hasen, wenn nicht einmal das von Gotteswegen für den armen Arbeiter frei ist, dann soll es von mir aus verfaulen, nun.«

Der Wachtmeister brach mit letztem bohrscharfen Blick, kurzem Hinnicken und dem gewohnten Gleitgriff an den Kolbenhals vorläufig ab. –

Der Oberingenieur sprach ihn an. »Wie kommen Sie gerade auf diesen harmlosen Burschen, das interessiert mich.«

Der Gendarm wahrte dienstliche Zurückhaltung. »Darüber darf ich keinerlei Auskunft erteilen.«

Jener wurde ärgerlich. »Schön, geht mich vielleicht nichts an. Aber ich habe mich inzwischen erkundigt: einer von unseren stillsten und gefügigsten Leuten. Stimmt, soweit ich mich jetzt erinnere, könnte ich selber ihm dieses Zeugnis ausstellen. Wir haben gefährlichere Kerle.«

»Das mag wohl alles so sein. Ich handle nach Instruktion.«

»Instruktion, inwiefern, woher?«

»Darüber herrscht Amtsgeheimnis. Ich darf nichts sagen. Ich werde jetzt noch die Effekten des Vermißten nach Vorschrift …«

»Gut; ich gebe Ihnen jemand mit.«

Langsam in geschlossenem wachsamen Gleichschritt marschierten die Hahnbefiederten weiter die Straße hinauf; hinter ihnen drein starrten stillhaltend die Arbeiter.

»Einer von uns soll verhaftet werden.«

»Einer von uns steht unter Verdacht.«

... Einer von uns hat ihn erschlagen … Dunkel lagerte es, wie Schattenhauch kühl verdüsternd schauerte es mit einemmal über Menschen, Genossen, ruhendem Werkgerät, weißblendendem Gefels, sommerglosenden Halden … Einer von uns hat ihn erschlagen …

Schorman, plötzlich vereinzelter, dunkel herausgehobener und gemiedener Mittelpunkt, schaute den Befiederten gleichgültig nach. Er hatte sie kommen sehen, nun sah er sie gehen, was wußten die? … Sie würden sich vielleicht noch wundern. Wenn sie ihn auch für dumm hielten. Mochten sie ihn bis aufs Nacktlebendige untersuchen, mochten sie all sein bißchen Habe durchwühlen … Bei ein paar geruhigen Zigaretten, gemach und verkauert in abseitiger Stille, ließ sich viel überlegen. Bis ins Kleinste. Wenn man auch nur ein armer stumpfsinniger Morlak, ein verachteter Primurz war aus Grischane zwischen dem gesegneten Vinodol und dem Sturmkanal …

Der Jäger also, der Jäger, der ihm damals den sicheren Bock unterm zielenden Korn weggeschossen! … Auch für den würde eines Nachts ein Eisen geschmiedet sein.

Duscha nur: daß der mit dem Hahnenhelm, der Schandar ihn an sie erinnert, das war das schlimmste, das einzige Schlimme. Mahnend und grau stieg das auf in ihm, weitentrückt das Haus mit der bogigen Reblaube, die Winternächte am Herd … Ja doch, ja, er arbeitete ja, er würde heimkehren, alles würde sein … Und dann erschien das Bild des Nebelbocks mit dem gleißenden Goldgehörn, und dann kreuzten Gedanken auf an das ferne Wis-kond-zin, und dann wirrte alles unbestimmt durcheinander und sog ihn in einen Wirbel hinab …

Selbst der Partieführer, in staunendes Nachstarren versunken, vergaß das gewöhnliche kirschbraune Heisergebrüll.

»Was hat der von dir wollen, der Schandar? … Hast gar eine Erbschaft gemacht, daß sie dich hier suchen?«

Schorman spuckte in die Hände.

»Er glaubt, daß ich es sein soll, der den, ich weiß den Namen nicht, umgebracht hat.«

»Du? Wie kommt er auf dich, Satan und Sau?«

»Das wissen Gotte und er; ich weiß es nicht.« Und Schorman rückte Mütze und Gurt zurecht, spuckte nochmals, nahm schwerfällig ergeben den Hammer wieder auf und schlug aus rundem Schulterschwung auf den erzklirrenden Bohrmeißel ein.

Wucht um Wucht; Strich für Strich; Zoll um Zoll; so verbrachte man die Stunden, den Tag, sein Geschick, so verstumpfte man nach außen, so war es das beste. Duscha; Ljubitza; der Jäger; der Nebelbock; Wis-kond-zin; das blaue Irrlicht: – vielleicht gelangte man doch irgendwie irgendwann irgendwo zu einer Erlösung von allem Übel und zum Ende aller Versuchungen, zur Heimat.

*

Droben hinter der Kehre in weitumspähendem Versteck wartete und wachte zurückgelassen der Postenführer; auf kürzenden Hirtensteigen steilquer durch Waldgestrüpp erreichte derweilen der Wachtmeister das kleine weißbunte Walachendorf, himmelsstill mit machtbreiter alter Slawenlinde zwischen den verkarsteten Senken und steingründigen zähen Lehmäckern der Höhe; umweidet von seinen getigerten Bergkühen und Ziegen und weißem Sommergewölk, weitumspreitet von unermeßlichen Fernen an gestaffeltem Gebirg und flimmerndem Gefild, schmelzblauem Gewässer und trautvernistetem Gesiedel bis an das Dunstgezack der Alpen gen Abend; nach der Steierlandschaft hinauf die geheimnisvollen Hochthrone des heiligen Chum und des Donati, überm fahlen Zagorien hinter der feierlich ruhenden Gora die räuberwilde Otschura mit ihren Pässen gegen die fieberheißen Brücher und Luche der Drau, der Zacken des verfallenden Zwingturmes von Sused und glastflammige Niederung bis hinab zum Hauch der bosnischen Goren und Planinen; Waldgeschlüft ohne Ende nach dem Inneren hinein, die dreihäuptige Pleschivitza, der schroffgieblige Oschtretz, Jeschmenischtsche und Tschemus, Lipovatz und Dragonosch, Javornik und Sveta Jera, der Gorianz, die Uskoken … Teufel, ja hier möchte man auch stationiert sein, dachte der Wachtmeister, das wär gewiß dienlicher und gesünder als das kanzlistische Versäuern drunten unter Klatsch und Dumpfspießerei des Städtels. Und das schmucke Geweib da in den Feldern bei geduldigem Behau und Behäufel, in den Hutungen beim Weidevieh, auf den verschnitzten Gängen und Austritten; sauber anzuschauen selbst die zigeunerisch gelbbraunen Althexen mit ihren blühweißen zurückgespändelten Kopftüchern, bestickten Hemden und feuerbuntvliesigen Schürzen; und wie erst die Jungen, deren Männer ohnehin zu größter Zahl drüben in Amerika, und gar die Dirnen mit dem Fall der rotdurchwobenen Flachflechten auf straffsaftiges volles Gebrüst … Da konnte man's schon begreifen; die hatten's gut, die Herren Ingenieure. Inbrünstig wischte sich der Wachtmeister den strömenden Schweiß unterm schwülen Federhelm heraus vom Kopfe, aus der gelockerten Zwangsmontur vom Halse. Aber dazu ist man ja Gendarm, allen Mitmenschen ein Vorbild unbeholfen bewaffneten Spießertums, geduldigen Ertragens aller vorgeschriebenen Last und Würgung zu sein, alle Menschen nach Möglichkeit und Instruktion unter Druck und Duck in übersichtlicher Spießerei zu erhalten … Von der großen Weitsicht in die Landschaft und erfrischender Nahsicht auf das weibliche Volk schritt der Wachtmeister gemessen an seine Pflicht.

Viel war nicht zu holen. Kleider, Wäsche, Briefe, damit sollte das Gericht verfahren; Papiere, Zeichnungen, Hefte, mit frechen geilen Kritzelfiguren geschmückt, auch daran mochten die beim Gericht sich dran erbauen, er war kein Polizeischnüffel; ein Bleistift unter übrigem, das genaue Gegenstück des Fundes, die gleiche Nummer, dieselbe Marke, der gleiche Verbiß, ein wertvoller Beleg; schmutziger Herrenkram, mit spitzestem Finger kaum anzufassen, merkwürdige, fetzige, schlecht gedruckte Bücher voll farbiger Unterstreichungen und Rufzeichen; anstößige Bilder, Photographien und Holzschnitte von nackten Frauenzimmern, pfui Teufel, zum Schämen und Ekeln, hier das in dieser gesunden reinen Luft – – aber der Wachtmeister wagte doch einen genaueren Blick und erinnerte sich angeregt der einstigen Kaserne. Dergleichen hatte es damals schon gegeben, als kostbare neiderregende vielumgeliehene Rarität, nur in solch feiner Ausführung noch nicht, die Leute machten Fortschritte. Im übrigen – nun ja, Mannsbilder sind wir am Ende alle … Und der Wachtmeister legte das zotige Zeug zum übrigen.

Die Briefe: ob da vielleicht doch ein Aufschluß oder wenigstens ein Wink …? Eigentlich war er dazu nicht befugt; oder war er es, nach Vorschrift über unverzügliche Nachforschung und die keinen Aufschub gestattenden Anordnungen der Sicherheitsbehörde im Wege der Vorerhebungen … Weibergeschmiere zumeist, das sah man dem Schreibsel schon von außen an; mißbilligend musterte der Wachtmeister die Klauen und Hahnenfüße auf fettigen und verknitterten, vergißmeinnichtblauen und rosafarbenen Bogen, tränenvertropft, starrend von Rufzeichen, Gedankenstrichen, doppelten und dreifachen aufgeregten Unterstreichungen – er selbst führte in bedächtiger Schwere die reine Hand eines genauen alten Kanzleisoldaten, Nachlässigkeit in der Form war ihm ein schärferer Dorn im Aug als ein fehlender Radschuh, ein fragwürdiger Ausweis oder sonst eine Läßlichkeit im Alltag obrigkeitlich geregelten Lebens. Dringende Zahlmahnungen von einem gewissen Wokurka Johann, Gold- und Silberwaren, von einem gewissen Hawelka Ottokar, bürgerlichem Herrenschneider, von einem gewissen Kalischer Siegfried, ungenannten Berufs; ein Versatzzettel über eine silberne Taschenuhr, längst verfallen; eine gerichtliche Vorladung sogar in Sachen Vaterschaft und zu gewährenden Unterhalts, jüngster Herschrift; Drohungen einer vielleicht damit zusammenhängenden und offenbar sehr gereizten Emmy, eine bewußte Geschichte anhängig zu machen; Verzweiflungsausbrüche einer Fanny über angetane Schmach und Schande; erbitterte Anklagen einer trotzdem liebenden Paula wegen zugefügter Krankheit; große und freudige Erwartungen einer getreuen Rosa im Hinblick auf den angekündigten ergiebigen Fischzug; zuversichtliches Hoffen einer Helene, daß man nach Antritt der erwähnten Erbschaft seinen Verpflichtungen und Versprechungen endlich nachkommen, sich als Mann von akademischen Ehren erweisen und es nicht wieder bei leeren Vorspiegelungen bewenden lassen werde; ein abgerissenes Blatt endlich, Bruchstück eines angefangenen und unterbrochenen oder verworfenen Briefes, in der Schrift der Hefte und sonstigen Notizen, mit der Mitteilung, daß das alte Luder, die alte Kröte nun wohl werde mit all ihrem Sündengeld herausrücken müssen, sie könne gar nicht anders, das Grundwasser aus den Kellern herauf stehe ihr bis ans Maul … Aus den Kellern herauf: unterstrichen. Kein Name, keine Anrede, keine Unterschrift, und doch kein Zweifel; drei- und viermal überlas der Wachtmeister den wichtigen Zettel, bevor er ihn nebst einigen anderen Papieren und einem Protokoll, unterfertigt vom begleitenden Partieaufseher und vom herbeigebetenen Popen, sorgsam in seine dienstliche Urkundentasche einschloß. Alle übrige Habnis wurde verschnürt und zusammen mit einem von den Zeugen genehmigten Verzeichnis in den gewölbten hölzernen Truhenkoffer eingesiegelt; eine vom Popen beigestellte Kerze lieferte das Wachs, der Boden einer Werndlpatrone mit seiner Prägung und seinem Kapselreif diente als amtliches Notpetschaft. Beklommen sah der bärtige geistliche Herr diesen ernsten und unheilkündenden Vornahmen zu.

»Joj, joj, ist ihm denn wirklich etwas zugestoßen?«

»Darüber kann ich noch nichts sagen.«

»Joj, joj, und vor zehn Tagen noch, damals –« Er besann sich, »Werde ich als Zeuge gehen müssen?«

»Seelsorger sind vom Zeugenzwang in der Untersuchungsinstanz befreit.«

»Joj, das ist gut, das ist gut. Nämlich – wie hat dieser, wie hat er schon geheißen, wie hat er lustig sein können, joj! … Nein, lustig, aber, no – alle haben wir – –«

»Er hat Gelage veranstaltet?«

Aufhellender Widerschein zog breit über das wirrbärtige Popengesicht.

»Weiber! … Musik, Zigeuner! … Wein, weißer Wein, wie heißt schon, viel Schaum oben, lauft wie Ameisen – Schampanjer! … Schampanjer! … Hier in Stojdraga, joj, joj! … Joj, joj, bis vier Uhr früh, damals an seinem Geburtstag …«

Der Wachtmeister überließ den geistlichen Hirten seinen Kämpfen zwischen Seligkeit und Reue und schloß die Erhebung ab.

Aber ein junges Frauenzimmer, das im Schatten der weitausladenden Linde gewartet, trat zaghaft auf ihn zu.

»Ist es wahr, daß dieser Herr – –«

Der Wachtmeister musterte das hübsche braune Mädchen, an Tracht und Kopfputz in seinem Stande kenntlich; schmuck fielen die flachen Zöpfe auf das busengeblähte bestickte Hemde herab.

»Man kann noch nichts sagen. Geht er dich irgendwie besonders an?«

Sie zupfte an ihren Flechten.

»Vielleicht schon.«

»Hast dich mit ihm eingelassen?«

Sie biß auf den Stiel eines abgerissenen Lindenblattes und warf es fort.

»Gibt's wohl etwas?«

Sie raufte sich ein anderes Blatt. »Er hat gesagt – –«

»Was hat er gesagt? Daß er dich heiraten wird, hat er vielleicht nicht gesagt?«

»Gelacht hat er. Und hat gemeint, es ist von einem anderen. Das ist aber nicht wahr. Und daß er eine Frau gut kennt, hat er gesagt, die das versteht, die das – – – nun, so …«

»Bedenk, was du sprichst; ich bin der Gendarm. Das ist verboten.«

»Von dieser, der Konfinka drunten, weiß es doch eine jede … Ich habe es selbst schon gewußt. Alle gehen zu ihr. Aber sie nimmt viel Geld. Ich bin arm. Er hat gesagt, für mich bekommt er's vielleicht umsonst. Er hat gesagt, er bringt es mir vielleicht, wenn sie ihn nicht vergiften oder totschlagen …«

Der Wachtmeister hatte längst zu notieren begonnen. »Das hat er gesagt?«

»Ja, und nun habe ich jeden Tag gewartet, und jetzt heißt es, daß er – –«

»Das hat er vor Zeugen gesagt?«

»Zeugen, wie? … Nein, zu mir.«

»Zu dir. Du heißt?«

»Dana.«

»Wie, Dana? Weiter.«

»Wir schreiben uns Severovitsch.«

»Und das von der Konfinka ist also dorfbekannt?«

»Ja, das heißt … Die Vidica …«

»Was für eine Vidica?«

»Vom Nachbar Draganovitsch die …«

»Was ist mit der?«

»Die hat auch … wie es so gekommen war … Aber sie hat viel Geld geben müssen und sie ist beinahe gestorben und noch jetzt krank …«

Der Gendarm sah aus seinem Buche auf.

»Du wirst das alles vielleicht vor dem Gericht wiederholen müssen. Weißt du, was das ist, das Gericht?«

»Ich weiß schon: wo man die Steuern zahlt und zu den Soldaten gerufen wird und eingesperrt wird wegen Schweineverkauf hinüber nach Krain.«

Der Wachtmeister trat endlich den Rückweg an, vor sich die gewisse Notwendigkeit noch vieler solch fünfmeiliger Hundstagsmärsche.

Das waren ja gute Geschichten; das würde zu tun geben; und dabei war der Vermißte überhaupt noch nicht gefunden, geschweige der Täter. Wenn der Kerl nicht am Ende nur vor all dem lästigen Weibergehänge ausgerückt war und lebte irgendwo ganz vergnügt und in neuen Freuden.

Der zurückgelassene Kamerad saß getreu auf seinem Posten; nichts, was Verdacht hätte erregen können. Unentwegt werkte der mit der alten Militärmütze am schweren Treibhammer; die glosenden Felsen klirrten, Kalkstaub kochte im prallen Nachmittag, säuerlicher Brodem von glitzerndem Brühschweiß dunstete.

Der Wachtmeister nahm Schorman vorsichtig beiseite.

»Du warst also in jener Nacht zu Hause, im Lager?«

»Gott mir, daß ja; ich habe es schon gesagt.«

»Gut, gut; dennoch wirst du dich jetzt untersuchen lassen.«

»Gott mir, daß gerne, warum nicht? Es ist nichts an mir.«

Aufmerksam besahen die Gendarmen das kleine blutbraune Weichselrohr mit der schmalen Silberspange; in der Heimat drunten gekauft, erklärte Ilija glaubhaft, sie nickten stumm, der Wachtmeister verglich noch den Verbiß mit jenem am gefundenen Bleistift, dann gab er die Spitze schweigend zurück. Über einem unscheinbaren Rostfleck im Hemde des Untersuchten schürzte er die Brauen, allein die verheilende Rißwunde am Arm des Hämmerers rechtfertigte die bedenkliche Spur. Auch seine Barschaft, sorglich ins rote Tuch eingeknotet, vermochte Schorman reinlich zu verantworten: soundso viel Wochenlohn, soundso viel etwa für Unterhalt und Sondergenüsse verausgabt, soundso lange schon in der Arbeit: es stimmte erträglich. Zwei Guldenzettel aber sonderte der Wachtmeister nach kurzer Prüfung von den übrigen ab; der Besitzer sah es verwundert und ängstlich.

»Weißt du, daß diese beiden falsch sind?«

»Gott mir, daß ich das nicht weiß; hätte ich sie sonst genommen?«

»Von wem hast du sie, erinnerst du dich zufällig?«

»Gott mir, daß ich mich erinnere, gerade an diese; die sind von der Wirtschaft drunten, für Pilze.«

»Für Pilze? … Du scheinst einen starken Handel mit solchen Pilzen zu treiben, du.«

Schorman hob die Schultern. »Gott mir, daß es so ist, und nicht anders.«

»Da mußt du ja bald eine ganze Fuhre von solchem Zeug geliefert haben.«

»Es ist von einigen Malen zusammen.«

»Ich denke, du tauschst gegen Tabak und Wein?«

»Etwas Geld kommt immer auch dazu. Fragt sie, die Frau, die wird es bestätigen.«

»Ja, bestätigen wird sie schon etwas.« Der Wachtmeister sah funkelnd scharf; Ilija hielt den Blick gleichmütig aus. »Also, auf alle Fälle, diese beiden Guldenzettel muß ich beschlagnahmen, und du wirst mir eine Bestätigung darüber unterschreiben.«

»Gott mir, schreiben, das kann ich nicht.«

»Dann wirst du vor einem Zeugen dein Handzeichen machen, ein Kreuz oder dergleichen.«

»Schade, Gott mir, wo ich's schwer erspart und verdient habe, schlimm für mich. Ich bin arm. Ich habe eine Frau und viele Kinder. Man hätt' einen anderen anschmieren können damit, so wie ich betrogen worden bin.«

»Das darf nicht sein.«

»Aber warum hat das dann sein dürfen, daß man mich armen Teufel angeschmiert hat?«

»Du weißt es jetzt, daß die Gulden falsch sind, und sobald du das weißt, wirst du durch Weitergabe strafbar.«

Schorman, die Hand wie bettelnd hingehöhlt, schüttelte verwundert den Kopf. »Gott mir, daß ich das nicht verstehe. Die Alte drunten hat es vielleicht selber gut gewußt, darum wird sie nicht gestraft, sondern ich ganz Unschuldiger?«

»Es ist so Vorschrift. Der, bei dem Falschgeld festgestellt wird, der verliert es. Die Gulden sind hiermit beschlagnahmt, damit basta, das weitere findet sich.« Der Wachtmeister wurde ungeduldig hart, »Vorwärts jetzt, daß wir noch dein Lausezeug in der Baracke drunten visitieren und jemand dort dein Handkrakel bezeugt. Ein Arbeiter kommt mit.«

Schorman knickte demütig ein. »Gott mir, nun so gut, gerne.«

Im Talgrund auf einem weit vorgerollten Steinblock der Halde saß wartend der Jäger. »Das hier hab ich noch gefunden.«

Verwundert betrachteten die Gendarmen die beiden unscheinbaren Weisstücke, einen bläulichen Guldenzettel, den zwei eingezogenen gleich, und einen gleichgültigen kleinen vierösigen Knopf aus schwarzblauem Blech, mit einem geringen Ausriß Stoffes daran … »Gefunden, wo?«

Primus lachte überlegen. »Dort, am Bach. Der Knopf hat im Sand beim Wasser gelegen, da, wie ich so hingeh, blitzt mir's auf einmal in die Augen, und der Guldenzettel war nicht weit davon in einem Dorngebüsch, als hätt ihn der Wind aufgehoben und drangespießt, wird auch wahrscheinlich so sein.«

»Sie werden uns später die Stelle zeigen. Sie haben eigens gesucht?«

»So, ja, ein wenig. Vielleicht könnt man noch mehr finden, wenn man genau schaut. Ein Tröpferl Schweiß auf Fichtenspreu ist schwerer zu ermerken, und doch muß man's entdecken, wenn man den Bock kriegen will.«

»Wie sind Sie dazu gekommen, gerade am Bache zu suchen?«

Koschutnik grinste vergnügt. »No ja: hab mir gedacht, wie's uns zu dumm geworden ist, wird's dem mit seiner Last, oder wie das schon zugegangen ist, auch zu dumm geworden sein.«

Schorman hörte geduckt, mit halbem Verstehen zu. Der Jäger, dieser verhaßte Hund, dieser junge Mensch mit dem Teufel in seinem Gewehr und in seinen Augen! … Die Frage des Wachtmeisters schreckte ihn rauh auf.

»Hier: hast du etwelches Geld verloren?«

»Gott mir, nein, weiter hab ich keins je besessen; wie sollte ich, ich hebe es immer sorgfältig auf. Ich bin arm.«

»Wie kommt es, daß dieser gefundene Guldenzettel da genau von derselben Sorte ist wie deine beiden, ein falscher?«

»Das weiß Gott allein; wie soll ich das wissen?«

Der Wachtmeister nickte gegen den Jäger hin. »Es laufen allerdings viele um; nehmen Sie selbst sich in acht. Auf der ungarischen Seite ist an der Stefanskrone ein Fehler, das schiefe Kreuz hängt falsch, und auf der österreichischen hat der Adler im linken Flügel um eine der großen Federn zu wenig. Es gibt noch andere Merkmale, aber diese sind die einfachsten und sichersten, bei einiger Übung erkennt man die Blüte sofort. Bis jetzt fehlt eine sichere Spur, aber vielleicht kriegt man eines Tages den Faden mit einem anderen Strick zusammen in die Hand … Du weißt also nichts von diesem Geldschein?«

»Gott mein Zeuge, erblinden will ich auf der Stelle: nichts.«

»Wir werden jetzt noch dein Zeug untersuchen.«

Sie gingen nach den Baracken; der Jäger blieb einstweilen zurück. Er hatte eine Wahrnehmung gemacht; tief wie über nach langem Fahnden und Spähen mühsam entdeckte Birschzeichen beugte er sich über die Stelle im Staube, wo der Morlak gestanden, über dessen runde, breit eingemuldete, hakenlose Spur. Dieser, mit der alten Soldatenmütze, der Kerl, den er schon einmal irgendwo gesehen? … Und dazu die Erzählung des Sagmeisters …

Nicht das geringste fand sich in des Primurzen armseliger Habnis. Ein Paar alter Opanken, ein paar grobe hänfene Hemden, ein zweiter Leibling, einige verknautschte Tabakpakete mit Restgekrümel, das war alles. Verdächtigkeiten genug, und doch bei all dem kein einziger solider vorschriftsmäßiger Verdacht; zögernd, mit letztem finsterem Rundblick über Lagerstätten, schweißdumpfen Kleiderkram, Koffertruhen und Schnappsäcke verließ der Wachtmeister die Baracke.

Daß die Schlafstelle des Morlaken der Türe die nächste, hatte er wohl bemerkt, auch daß diese Türe ob lastender Pferchschwüle nachts offen stehe, war ihm erzählt worden; die Bundschuhe aber mit ihren Spuren von feinem Schlämmsand, unter Kalkstaubkrusten verborgen im Nahtgeflecht und in der Narbung der Zierleiste, und mit dem eingeschwärzten Tränkfleck auf dem Vorfuß des linken Paarstückes gingen unbeachtet neben den Gendarmen her.

»Das ist der gräfliche Jäger von drüben, von Krain, da frag jetzt selbst, ob du so mir nichts dir nichts in den herrschaftlichen Wäldern herumlungern und alles nach Gefallen mitgehen lassen kannst, deine berühmten Pilze und Rehbockhörner und so weiter – und noch Geschäfte treiben mit dem Diebsgut – –«

Schorman wehrte sich. »Ich bin kein Dieb. Ich bin nur arm.«

»Kusch, wenn ich rede, verstanden! … Und noch Geschäfte treiben mit dem Diebsgut, drunten beim Konfin; ganz in der Ordnung, wenn's dir mit Falschgeld bezahlt wird. Da ist der Jäger, frag oder bitte.«

Koschutnik war aufgefahren. »Das tut der?«

»Sagt es selbst. Begründet damit seine merkwürdig häufigen Besuche da unten. Eine Weibergeschichte vielleicht auch – ich weiß nicht …«

Ilija wurde es schwül, er stotterte. »Ich – mir war es nicht bekannt – –«

»Rehbockhörner?« fragte Primus drohend ahnungsvoll.

»Ja, und angeblich schöne auch noch sollen es gewesen sein; die Alte hätte sie erschachert.«

»Von einem gefundenen Reh,« erklärte Schorman wider Ween erregt; »von einem krepierten – –«

Die Männer glühten einander düster erkennend an. Der Blick des Oberkrainers flirrte zu den Opanken hinab.

»Hab ich dich nicht schon einmal irgendwo gesehen?«

»Gott mir, es kann sein, ich weiß es nicht.«

»Lüg nicht, du Kujon, mit deinem ewigen Gottgeschwöre, sehr wohl weißt du das!« donnerte der Wachtmeister dazwischen; »hast erst vor ein paar Stunden einen bestimmten Tag danach angesagt: damals, wie der Herr Jäger hier die drei Meisterschüsse getan und den großen Raubvogel erlegt, eben auf den Tag hättst du der Konfinka, der Horvatitschka, der Wirtin halt, die Rehbockhörner abgelassen.«

»Ich habe den Herrn Jäger gesehen, kann ich aber wissen, ob er mich bemerkt hat?« erklärte der Morlak; »ich bin ein armer Teufel, mir geschieht Unrecht.«

»Nichts; ein ganz scheinheiliges Aas bist du, ins Loch gehörst du!« fauchte der Wachtmeister; »weiß Gott, was – –« Er begann und bezwang sich, rückte den schwüllastenden Helmhut, würgte und schwieg.

»Und hab ich nicht auch schon einmal deine Spur irgendwo gesehen?« fragte Koschutnik; »droben im Seloutz oberm Kalkgraben im Birnholz, im Lehm einer Naßgalle dort im Bestand, früh eines Morgens um Sonnenaufgang?«

Ilija wendete sich hilflos an den Postenführer. »Gott mir, daß ich nichts verstehe. Ich bin nicht von hier.«

Der Wachtmeister winkte dem Jäger ab. »Kommt nichts heraus dabei. Lieber aufpassen.«

Primus funkelte. »Das wird er schon sein, der Hund; derselbe, der immer auch an der Grenze herumsteigt mit seinen verdammten krabatischen Schleichpantoffeln. Den, wenn ich einmal abfaß! … Sagen Sie's ihm nur; wenn er mich schon kennt, dann soll er sich auch vor mir hüten.«

Der Wachtmeister drehte sich zum Morlaken. »Du hörst's.«

Schorman zuckte die Achseln. »Ich weiß und verstehe nichts. Nur, daß der Arme nirgends ein Recht hat auf die Gaben Gottes an alle. Gut, so werd ich also von diesen Gaben Gottes nicht mehr nehmen.«

»Red nicht, hier ist keine Kirche und kein Jahrmarkt! schnauzte der Gendarm; »scher dich, für diesmal.«

»Gut, gut; ich gehe schon.« Der Morlak nickte ein paarmal wie verloren vor sich hin, dann sammelte er sich und stieg gradwegs über die Geröllhalden und von verschüttetem Wildgestrauch überbuschten, viperig brutheißen Felsen in den Berg hinauf, weichen, einwärtsgewandten, karstgewohnt geschmeidigstolzen Schrittes. Von halber Höhe warf er einen geballten Blick nach dem Talgrund zurück; dann klomm er weiter, erreichte die Stufung der wimmelnd klirrenden und scharrenden Trasse und verschwand.

Primus führte nach der Stelle seines Fundes. Hier hatte der Knopf gelegen, dort im Dornicht der falsche Guldenvogel geflattert. Was dem Zufall vielleicht geglückt, versagte sich der geordneten Absicht; Streifung der Ufer zu dritt brachte nicht weiter auf der dunkel angedeuteten Fährte.

»Wenn Sie etwas ermitteln sollten, bitte ich um Meldung, wo nicht anders, durch Ihr krainisches Postenkommando,« sagte der Wachtmeister; »wir werden allerdings jetzt wohl öfter hier zu revieren haben. Und – dem Gesetze nicht vorgreifen; um Sie, der Sie mich nichts angehen und dem ich's darum sagen darf, tät es mir leid.«

Primus starrte aus der Talenge nach dem weiß eingesplittetten Band der Trasse und ihrem Klingen und Hämmern und Dröhnen. »Bei uns in den Bergen macht man's einfacher, verdammte Seel. Wenn so einer nimmer heimkommt, was liegt dran?«

»Der Mann hat Frau und Kinder, bedenken Sie; und denken Sie an sich selbst. Vor mir dürfen Sie so etwas schon gar nicht aussprechen.«

»Und wenn schon!« Koschutnik spuckte aus. »Wir Oberkrainer sind ehrlich; wir bringen einen um, aber wir sagen, was wir meinen.« –

Müd in schwerfälliger Strammheit marschierten die Gendarmen die gewundene Talstraße hin und her über den bräunlich rauschenden Grenzbach hinab. Das würde noch Arbeit geben mit dem angestochenen Schlangennest und diesem Vipernkönig von züngelnden Verdachten und Geschichten! … Meilen von Wegen und Meilen an vorschriftsmäßig geschriebenen Zeilen! … Der Wachtmeister überlegte seine nächsten dienstlichen Aufgaben; in der geordneten Reihenfolge seiner Gedanken zog er den schwarzblaublechernen Knopf aus der Urkundtasche, blieb stehen und beschaute Stoffrest und Prägung. Die Prägung: war ihm doch, als hätte er da vorhin mit erstem flüchtigem Blick unbewußt etwas irgendwie dunkel Bekanntes, ein schon einmal gehörtes Wort, einen schon einmal gesehenen Namen gelesen. Langsam im Schein der brennenden Nachmittagssonne entzifferte er die eingestanzte, verschabt angegoldete Umschrift um den Ösennabel: Ha – Ha-wel – Ha-wel-ka, Hawelka, Ot – Ot-to – Ot-to-kar, Hawelka Ottokar, Ottokar Hawelka … Hawelka Ottokar? … Wo begegnet? … Wo geschrieben gesehen, geschrieben, gestempelt, Ziffern dabei? … Er suchte in seinem Gedächtnis: aber natürlich! … Der bürgerliche Schneidermeister mit der unbezahlten Rechnung und den aufgeregt groben Mahnbriefen! … Herrgott. – –

Primus stand noch lange an der Wendung der Klause im Tal und starrte brennheiß nach dem Schüttern und Schürfen der Trasse hinauf. Der also, dieser dahergelaufene Welschkrabat oder was der Kerl schon war, so einer von da drunten wo halt, drittel Serb, drittel Katzelmacher, drittel Hund … Der also, der trug sie, die Opanke; und beim Konfin verkehrte er auch als Freund und Stammgast und wer wußte was noch; der hatte den Bock angeludert und vielleicht noch in anderen Revieren gewildert, der war's! … Man sah sie nicht von der Stelle aus, die alte blaue Militärmütze, tief in die Bergfalte hinein um den ersten Bug pochte und pickelte die Arbeit; wär sonst ein verdammt schönes Fernzentrum gewesen auf ihrer zweihundert Schritt, Tauf und Teufel – und wenn sie ihn deswegen gleich fürs Leben einkastelten, den anderen machten sie damit doch nicht wieder lebendig … Den andern … Andern: Andern bei was allem? …

Wucht um Wucht, Schlag auf Schlag, Schwung um Schwung; Schorman in betäubendem Frongehämmer ließ sich nichts anmerken, was wußte man? Er ganz allein wußte; Gott sei's gedankt und Jesu Christo die Ehre. Ließ sich viel überlegen bei solch sonnverträumter Zigarette, in schläfernder Ruhe und Inschau. Wenn sie ihn auch für stumpf hielten. Mochten sie. Was hatten jene gefunden? Nichts, Gott sei's gedankt und Christo die Ehre. Zwei falsche Guldenzettel hatten sie gefunden, und Gott sei's geklagt, daß man mit Kaisers Namen und Krone den Armen betrog; aber hatte er die gemacht? … Der Jäger! … Ilija schlug schwerer ein auf den Bohrmeißel. Der Jäger und die Ljubitza – wenn der andere sie auch anders genannt hatte … Der andere … Der Jäger und der verwunschene Bock, Nebelbock mit dem Goldgehörn … Ob der etwas wußte davon? … Und nun hatte er Witterung gekriegt durch den hundsverdammten Schandar … Nun würde er an der Grenze vorpassen  … Nun war's gefährlich … Nun war das aus … Nun blieb nichts übrig als – – – warum nicht, einer wie der andre – – –

*

Von heißflimmernder Karsthöhe herab schaute Duscha Schorman über den schmelzblauen glutflüssigen Sturmkanal voll brauner und gelber Friedenssegel; auf schwarzem Kopftuch lastete ihr schwank und breit der Marktkorb mit den eingeknoteten Groschen und einem kleinen Kraken darin, an der Hüfte spielte und flinkerte rastlos das unermüdete Strickzeug. Sieben Sechser hatte sie eingelöst für ihre wenigen Bündelchen Ölholz und die zwölf Schafkäselaibchen und die Binsenmulde voll sommerhauchender Weichseln; und dreie davon gleich wieder ausgeben müssen für den Kraken, aber wenn der erst richtig luftgedörrt und acht Stunden lang geklopft ins Öl überm Feuer kam, das gab leckere Stillung für zwei oder drei Wintertage. Vielleicht war dann auch ihr Ilija schon da und genoß mit von seinem Lieblingsgericht, das wäre schön. Ilija, wann kam ihr Ilija? … Gott allein wußte es; je nach Gottes Willen. Hoffentlich bald, und dann brachte er viel viel Geld, und sie hatten mitsammen fröhliche Tage bei Lauch und Schafkäse und vliesbockelndem Schlauchwein und ölgebratenem Fisch, und lange Nächte unterm dünnen Hochgeheul der Bora, und wenn er sich auch einmal betrank und sie mürb zerprügelte wie der Holzprack den Kraken, was lag daran, er war doch wieder bei ihr und hatte sie gerne … Sechs Paar fester Socken hatte sie ihm inzwischen gestrickt und ein paar neuer Bundschuhe zierlich zugerichtet und ein Hemde schmuck genäht und ausgestickt; daß er doch eine Freude und gleich etwas Gutes anzuziehen hatte, wenn er jahrmüd und zernutzt von seiner schweren Arbeit heimkehrte mit all dem vielen wacker erschundenen Geld, und für andere sieben oder acht Hemden Werg hatte sie inweilen auch aufgesponnen, so lange war er schon weg, wie lange noch würd' es währen? … Hartes Werk gewiß, das er verrichtete, ihr Armer, wer wußte wo? Er konnte ja nicht schreiben, sie konnte ohnehin nicht lesen; hatte gemeint, er würd ihr vielleicht einmal Nachricht geben durch irgendwen Kundigen, wäre damit zum Geistlichen gegangen, daß der's ihr ausdeutete, war aber am Ende gut auch so … In Staub und Glut mit der Spitzharke an splitterndem Gestein, Armer, der's mit freudlosem Frongerät so gut nicht hatte wie einst die Väter, die mit Rohr und Czakan auf Beutung ausgezogen wider den heidnischen Erbfeind oder gegen den schiffbrüchigen Venezianer, und davon gelebt … Eine Straße baute er über Berge so hoch wie der Velebit, eine Straße, auf der feine Herrschaften dann spazieren fahren würden, wie von Fiume hinauf nach Delnice und von Abbazia gegen den hohen Utschka … vielleicht gedachte er gerade jetzt ihrer wie sie seiner gedachte, in Liebe und Sorge und Sehnsucht, ihr Ilija, wenn er auch bisweilen hart zuschlug, aber das war ja sein Herrenrecht, immer doch ihr Ilija … Ob er wohl mit ihr den Badni Večer, den Heiligabend begehen würde, nach Väter Sitte an wintergrünbekränztem, mit Brot und Wein, mit Korn und Salz bestelltem Gottestisch beim Schwelfeuer weingetränkter Binsen: dachte er wie sie daran? … Betete doch an jedem heiligen Gottestage nach altem Brauch auf ihrem künftigen Grabe knieend um seine gesunde und bereicherte Wiederkunft … Und die braunen und die gelben Segel zogen nachmittagsstill über den Kanal, durch dessen enge Gasse im Spätherbst dann im dunklen Vorfrühling der schwere Scirocco wühlte; die schwarze Rauchfahne eines Dampfers verschwebte hinauf gegen den Quarner, über die Hügel des Vinodol, Golf und Meeresweiten her blaute im Ferndunst der hohe Utschka … Duscha erhob sich von kurzer Rast, das Strickwerk flinkerte, leichter Sommerwind flappte im Kopftuch; steil und aufrecht unter der Breitlast des Korbes, unter der Bürde ihrer Sorgen schritt sie auf rauhem Pfad durchs Glühgestein hinauf nach der spärlich umgrünten Hütte im Gefels, in den alltagverzehrenden Alltag, zum nimmerverlöschenden Nährfeuer, zur nimmerruhenden Spindel, zum nimmerfeiernden Webstuhl des Lebens …

Tief unter ihrem Herzen pochte es leise an, wie ein entsprungener, zum Tage aufdrängender Quell. Das war vom Februar, aus dem Monat der Lichtmeß und des heiligen Blasius, aus den Tagen des Abschieds, kaum daß sie vom Letzten, unter prügeln Geborenen, recht genesen und sich gereinigt … Aber ihr Ilija, ihr Herr hatte gewollt. Im Allerheiligenmond, im November um Martini herum würde es wohl kommen. – –

*

»Wird auch Zeit, daß dich wieder einmal um deine Scherben, Nelken und Rosmarin, bekümmerst,« sagte droben zu Sela in der Oberen Kanker die Witwe Kolenz zur Tochter; »hast dir früher nicht genug tun können damit, war immer ein Wesens, und jetzt meinst, weil du den Kopf hängst, könnten's die Blumen auch? … Gefällst mir überhaupt gar nicht seit letztem; brauchst eine Wallfahrt zur Wunschglocke vielleicht oder einen Kirchweihtanz?«

Mit einem unwilligen Seufzer ließ die Tochter vom Nägelstock ab.

»Was werd ich brauchen? Gar nichts brauch ich. Meinen Fried brauch ich.«

»Den kriegen die Mädels erst, wenn sie mit einem zusammen vom Hochzeitsstollen gegessen und die Brautpletschen aufgesetzt haben,« sagte die Mutter; »manche auch früher ohne das, aber das heißt nichts. Er wird schon kommen, na, wird die Zeit auch noch umgehen.«

»Der dumme Baron da von Egg, hätt er die Jagd nicht behalten können, daß man zusammengeblieben wär?«

»Deinen schönen Augen zulieb wohl? Na ja, recht hast schon: Jäger sind Jäger, leichte Leut, heut wird das geschossen, morgen dies, immer was andres.«

»Er nicht.«

»Ich sag dir so: kommt er, haltet er dir Wort, ist's gut, kriegst einen rechten Mann; wenn nicht, hast an ihm nichts verloren.«

»Wenn er bloß einmal schreiben wollet; er kann ja schreiben, und ich kann lesen.«

»Was sollet er dir schreiben, schau. Abends ist so eins müd, tags ist Arbeit.«

»Immer wird er schon nicht auf der Jagd sein.«

»Die Jagd ist auch nicht sein Dienst, was ich so verstanden hab. Er muß was lernen, Wald und Holz und diese Sachen, damit er später seine feste Stell kriegt.«

»Wie lang kann das noch dauern?«

»Was weiß ich? Nimm halt einen andern, wenn dir's Warten zu lang wird; den Gornik Florian, das wär gleich einer.«

»Den mag ich nicht. Was geht der mich an. Keinen anderen als ihn. Lieber geh ich in die Kanker.«

»Oho, so? … hast einen harten Kopf, aber das gehört sich; war selber auch nicht anders. Er wird schon kommen, er wird.«

»Jetzt ist's schon ein halbes Jahr und mehr.«

»Halbes Jahr! … Was ist ein ganzes Jahr, was sind zweie und dreie?«

»Ein Viertel schon viel und grad genug.«

»Ihr Jungen von heut, die ihr das Warten verlernt habt's! … Keine Geduld mehr, alles gleich am liebsten alser unreifer pflücken! … So setz dich hin und schreib an ihn; oder geh zur Gemeinde oder zum Herrn Pfarrer, daß er dir einen Brief aufsetzt.«

»Ich? … Wenn er's nicht tut, ich fang nicht an.«

»Dann ist die Lieb nicht weit her.«

»Weit weg ist sie. Wie lang tät man fahren?«

»Wirst wohl! … Das schlag dich gleich aus dem Kopf; das gibt's nicht. Ordnung und Ehr, die müssen bleiben. Dein Großvater, der war Samer Samer: Saumtiertreiber, Frächter., sechs Jahr hat die Mutter gewartet auf ihn, nichts gehört von ihm, nichts gesehen all die Zeit, da er mit seinem Hartriege Die Oberkrainer Samer und Frächter führten seit alters als Wanderstab immer einen besonders starken, keulenförmigen und beuligen Hartriegelstock. in der Welt herumgezogen ist, ist wiederkommen im siebenten Jahr mit schönen ersparten Zecchinen, sind glücklich worden.«

»Wenn sie nur jetzt da wären, selbe Zecchinen, als mein Kammergut; brauchet er niemand zu dienen, könnten wir gleich heiraten, tät ihm eine schöne Jagd kaufen.«

»Und drei Jahr darauf den Strick für euch beide zum Aufhängen. Nichts da, ein Mann muß arbeiten, und eine Frau zweimal. Aber was reden wir Dummheiten, die Wäsch ist zum Ableinen, im Garten das Kohlbeet ist zu jäten, Fisolen sind abzubrocken, Pflanzen sind zu gießen, hoffentlich kommt morgen ein Regen, die Berge stehen ganz nah. Weiter jetzt, weiter, warst ja immer fleißig und gescheit, arbeiten, immer arbeiten, damit verjagt man die bösen Gedanken wie Fliegen mit dem Durchzug …«

Polona folgte mit einem Seufzer, wann würde er kommen, wann wird es sein? … Nie noch hatte der Nägelstock so brennrotüppig geblüht, nie noch der Rosmarin einen solch starken Trieb geschoben wie in diesem heißen sehnsüchtigen Jahr. – –

*

Falsches Geld, wie, was? … Schon möglich, daß es durch ihre Hände gegangen … Konnte sie jeden dieser kaiserlichen und königlichen Lumpen wenden? … Da hätte man viel zu tun. Daran sollte vielleicht auch sie als Selbstbetrogene schuld sein? … Sah beinah schon so aus … wo war ihr Branko? Wo ihr Sohn? Den natürlich nicht gefunden? … Die Horvatitschka lachte heiser auf. Den Vermißten, Verunglückten, Erschlagenen natürlich nicht gefunden, woher denn, vom Täter wie von seinem Opfer fehlt natürlich jede Spur, aber zwei falsche Guldenzettel brachte man an und hielt sie ihr unter die Nase! … Ja ja, so ganz die löbliche Gendarmerie; zwei falsche Guldenfetzen, weil da wem was herausbröckeln könnt aus seiner Krone, die sind viel viel wichtiger als ein toter und ein in Trauer und Ungewißheit sich verzehrender Mensch! … Herr Gott na Jesus, so mochte er sich zwei andere solche Schmierlappen holen, der Kerl, der Morlak oder Primurz da, wenn der es schon so gewiß wußte, daß er die Blüte grad von ihr gekriegt und nicht vielleicht aus der hochwohllöblichen Regierungsbaukasse höchstselbst, haha! … Hörner, wie, was? Freilich hatte sie so ein paar Bockshörner gekauft von ihm, da in der Truhe lag der Kram, da, hier, mochten die Herrn Gendarmen das Zeugs nur mitnehmen, wenn sie sich um Gotteswillen nicht etwa verhoben daran! … Wütend klapperte die Horvatitschka die verschimpfierten Stangen auf den Tisch hin. Das war natürlich auch verboten und strafbar, das war ja auch so unendlich wichtig, während draußen im Wald wo einer lag, Würmern und Wölfen zum Fraß! … Mitgebracht hatte der Morlak die Stangen, angeblich gefunden, hatte sie vorgezeigt, und sie, na, hatte halt die Laune gehabt, ein feineres Besteck für noblere Gäste – oh ja, bei ihr sprachen bisweilen auch vornehme Herren ein, Gott sei dank, vornehme, einflußreiche und hohe Herren – ein feineres Extrabesteck für solche Ausnahmegäste daraus zurichten zu lassen, ewo, das war das Ganze! … Wahrscheinlich auch schon eine Todsünd und ein Kapitalverbrechen; viel dringlicher sowas als die Aufspürung einer Mordtat und die Auffindung einer Leiche … Unbeirrt unter hochgezogenen Dickbrauen machte der Wachtmeister seine Eintragungen. Kennen Sie diesen Bleistift? … Nein, woher soll ich den kennen, vielleicht auch von mir gestohlen oder gefälscht oder gehehlt oder geschmuggelt? … Kennen Sie diesen Knopf? … Jesus, woher soll ich den Knopf da kennen, kenn ich vielleicht alle Hosen im ganzen Land? … Kennen Sie den Hawelka Ottokar? … Hawelka was? Vielleicht auch ein Liebster von ihr? Vielleicht der Teilhaber an ihrer Falschmünzpresse? … Über was, die müden Herren Gendarmen sollten ruhig heimkehren und schlafen und ihre Gewehre und Monturknöpfe fein säuberlich und vorschriftsmäßig putzen; die Herren Gendarmen brauchte es da gar nicht, da machte lieber sie alte Frau sich auf; und sie, darauf möge man sich verlassen, wenn sie erst einmal sich aufmachte und suchte, sie würde finden … Der Wachtmeister setzte an, als wollte er noch etwas sagen,er besann und bezwang sich, klappte sein Buch zu, grüßte kalt und ging, gefolgt von seinem finster schweigsamen Begleiter. –

Das war es gewesen; und nun lastete stille Stickschwüle überm Tal, und die Konfinka hatte ihre Not mit sich selbst, mit ihren Nächten, mit jeder Stunde, mit jedem Schritt, mit jeder Stimme, mit jeder klappenden Tür, mit der ganzen Welt. – –

»Dich haben sie noch nicht abgefragt?« sagte sie zum Fuhrknecht, als sie wieder ein vertrautes Gespräch wagten, nicht hinter verschlossenen Türen diesmal, sondern im leeren Schankzimmer und am hellen unverdächtigen Tage – »dir sind sie, scheint's, noch nicht auf die Haut gerückt?«

Der Alte nickte. »Unterwegs. Zwischen Bregana und Samobor, grad dorten beim Podvercher Berg, dort haben sie mich gestellt. Ob ich was wisset? Nein. Den Schuß gehört hätt? Ja, einen Schuß schon, so einen Schuß, was ich so eigentlich mit dir hätt? Einen Stammplatz hinter deinem Ofen, was hätten sie viel wollen?«

»Sie wissen viel, du; viel. Weiß Gott, woher?«

Stermelz zuckte die Achseln. »Ohren, Zungen gibt's überall.«

»Und wie der mich geschraubt! … Immer was anderes, der Kreuz und Quer, und immer gleich mit zehn Fingern einem ins Gesicht. Das ist ein Gefährlicher. Auch daß der – na, der – jetzt sprech ich bald schon leichter von ihm – Streitereien mit mir gehabt hätt. Vom Geld und von allem. Ja du, und Geld nichts mehr von der verkehrten Stefanskron aus Agram. Das stinkt.«

»Ja; wäre der Fehler nicht, und nicht das andere; so eine Dummheit, jetzt machen sie richtige.«

»Nichts für die nächste Zeit, du. Nächste Zeit sag ich, weiß Gott, wie lang? … Was jetzt?«

»Was, nun? … Warten, wie's wird.«

»Woher nur der viele Wind kommt?«

»Briefe; Schreibereien.«

»Meinst? Von wem?«

»Von wem? … Von dem, der nicht mehr schreibt, weiß der Teufel, was der schon alles gesteckt hat. War höchste Zeit.«

»Meinst wirklich, er ist – –?«

Der Fuhrmann winkte erledigend ab. »Bloß: wie? … Und wohin? … Der war nicht blöd.«

»Die Sachen von ihm droben haben sie gleich versiegelt und beschlagnahmt. Gefallt mir gar nicht.«

»Gefallen tut mir vieles nicht, wir müssen froh sein, wenn – –; na … Das war ein Teufel, den wir uns da zusammen gebraut haben. Unser eigener Teufel.«

»Die Sachen gehören doch mir. Hab mich doch als die Mutter bekannt und bin die Erbin. Einen Knopf haben sie gefunden weiß nicht wo.«

»In den letzten Tagen ist auch gestreift worden, hab's gesehen. Sind überhaupt viel unterwegs jetzt.«

»Ich hab keinen bemerkt.«

»Freilich nicht hier vorm Haus auf offener Straße. Kommen von hinter herüber, bei Otruschevatz über die Berge herein. Leicht käm man nicht aus, wenn man wollet. Na ja, wenn man ernstlich wollet – unsereins – –«

»Das stinkt, du.«

Der Fuhrknecht schnalzte den zähen Speckfaden aus den Zähnen. »Tja – sehr gut tut's nicht riechen …«

»Meinst denn überhaupt, daß der – der Primurz – – oder ein anderer? …«

Stermelz schoß einen schnellen Stichblick nach der Alten hinüber. »Hätt ich's getan, ich saget dir's. Du denkst's am End. Hätt's schließlich. Wär vielleicht überhaupt das Gescheiteste gewesen.«

»Du hättst's fertig gebracht?«

»Leichter als hängen schon.«

»Weiß Gott, du, was braut?«

»Wetter. Nur: ob's einschlagt?«

»Das hinten drunten vielleicht doch wegschaffen?«

»Hast ein leeres Haus, daß du so fragst?«

»Freilich. Man denkt nicht …«

»Wann auch? … Nachts wohin ohne Licht? … Das ist nicht wie früher. Jetzt hast die Straßen vor der Tür.«

»Die vermaledeite, ja.«

»Und ein paar hundert Arbeiter in der Näh, nicht zu vergessen. Immer wer unterwegs, wie willst das abpassen? … Ohne Werkzeug so wie so nicht zu machen. Jemand ins Vertrauen ziehen? … Und dann, wenn sie nachschnüffleten, die frischen Spuren, Erd und Mörtel? … Liegen lassen. Abwarten. Nichts dergleichen tun …«

Schritte kamen, die Tür ging, das Gespräch sprang ab. – –

Nichts dergleichen tun, ja; einreden tat man sich's leicht, so am Tische, zu zweit, am hellichten Tage; betäubte sich auch in der neuen Angewöhnung der Klage, in der Wiederholung, in der Komödie … Aber wenn dann die dumpfen Nächte kamen, die schreckhaften Sommernächte voll raunender Stimmen und lauernder Augen, Fratzen, Schatten und Gegenwart! … War's nicht, als tappte jemand im Hause herum? … Da, ein bleiches Gesicht, das gegen die Scheiben gepreßt aus dem schwülen Dunkel drauß hereinspäht! … Schlurfte nicht da wer an der Mauer hintastend die Treppe herauf? … Wer geisterte da drunten im Keller herum, mit Schaben und Schürfen und Pochen, und jetzt klang es, als würden Taler und Dukaten gezählt, und jetzt wie ein Ächzen und Murmeln, und jetzt wie ein Gluckern und Gurgeln, wie von angezapftem Fasse oder steigender Flut … Hinuntergehen, jetzt, nachts, allein, allein mit der Kerze und dem eigenen wachsenden Schatten, irgendwem irgendwas, dem Unbekannten zu begegnen, hu, nein! … Und doch hatte die Horvatitschka in früheren Tagen ihres Grenzerinnenlebens ganz anderes gewagt und bestanden.

Schritte hallten durchs Tal die Straße herauf; klirrte das nicht wie von Bajonetten und Ketten? … Hufschlag klapperte näher, Räder rollten: der Armesünderkarren, auf dem man sie nach dem Gericht fahren würde, zwischen aufgepflanzten Seitengewehren nach Agram hinein auf die Burg? … Eine Faust gegen die Türe: im Namen des Gesetzes! … Und sie öffnete zitternd, und irgendein verspäteter Gast sprach auf einen halben Liter ein und holte sich sein Paket Tabak …

Wenn es nur schon ein Ende nähme damit, wenn man nur schon wüßte … Was konnte ihr eigentlich geschehen? … Was konnte man ihr beweisen? … Und sie beruhigte sich wieder. Aber woher jene dunkel warnenden Fragen? Woher all diese lauernde Wisserschaft? … Und der Schweiß brach ihr aus der Haut, ihr Blut stockte, sie richtete sich erstickt auf, zündete Licht an und starrte in die unheimlich belebte Tiefe der Schatten.

*

»Und überhaupt, wenn schon! … Sind wir verheiratet? … Heirat mich, dann darfst was reden.«

»Bist nicht mein Schatz? … Muß man gleich verheiratet sein zur Treue?«

»Narr, was verstehst du? Wenn du's so meinst, dann such dir eine Lenka oder Maritschka vom Dorf, eine fromme Unschuld.«

»Früher hast du ganz anders gesprochen.«

»Gar nichts hab ich gesprochen, noch versprochen. Gefallen hast mir, lieb hab ich dich gehabt, das ist noch jetzt grad so, also sei schon zufrieden.«

»Ja, ja: Lieb und Gefallen und alles mögliche, und dabei haltet sie's mit einem anderen; da soll man zufrieden sein. Bei mir geht das nicht zusamm.«

»Was weißt schon du, was alles in der Welt und im Leben zusammgeht.«

»Bei mir schon einmal nicht; und fertig.«

»So, bei dir schon einmal nicht. Und droben in deiner Heimat, da hast selber ein Mädel. Gut, auch fertig.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Niemand, ich sag dir's auf den Kopf und treff den Nagel, wie du auf der Scheiben; gleich springt das Mandel heraus.«

»Gar nicht wahr ist's.«

»Wird schon wahr sein.«

»Und wenn, das geht niemand was an. Das ist überhaupt aus. Das ist voramjähriger Schnee. Das ist überhaupt ganz was andres.«

»Freilich, bei einem Herrn Jäger ist das gleich ganz was andres. Für mich aber nicht; für mich ist's ganz dasselbe und noch mehr. Denn das Mädel willst heiraten, mit dem hast die Eh im Sinn, ich aber mit niemand, mit keinem.«

Primus verlor die Fassung, »Herrgottnosakrament, heirat ich halt dich.«

»Geh, geh, Krainer; weißt ja nicht, was du redst. Geh hinauf in die Wälder und kühl dich.«

»Und justament!« trotzte Primus; »ich heirat dich.«

»Weißt ja gar nicht, ob ich will.«

»Früher hast gesagt, möchtest mit mir gehn überallhin.«

»Da warst auch anders zu mir.«

»Was werd ich anders gewesen sein? … Ihr Weiber verdammten dreht einem ja das Wort auf der Zungen herum, daß man verrückt wird. Ein Mensch bist. Mit dem haltest's, so ist's. Mit so einem … Na … Ein Mensch bist, nix sonst.«

»Und du bist ein Narr, hast Augen? Schau den an und schau dich an.«

»Damit fängst mich nicht. Schwörst mir's?«

»Was wird ein Mensch um solche Dummheiten schwören …«

»Du kannst's nicht. Tätst falsch schwören. Du hast's mit dem; bekenn's.«

»Wenn du's schon sagst …«

Koschutnik brüllte auf. »Also doch! … Also wirklich … Also gibst es zu! … Sie gibt's zu, mir in die Stirn hinein! … Ein solches Mensch – – –«

»Schrei nicht, du Stiervieh! … Gar nichts geb ich zu.«

»Hast doch grad eben – –«

»Was hab ich grad eben? … Du hast's gesagt, nicht ich.«

»Und du nicht widersprochen.«

»Bald eine Stund lang, daß ich widersprech'; hilft ja doch nichts; laß ich dir halt deinen Willen, glaub halt, was du magst.«

Primus wühlte sich ins Haar. »Schwindlig könnt einem werden und schlecht. – Also: was ist jetzt wahr?«

»Schau, sekkier mir nicht. Sei doch nicht so dumm.«

»Ist einer dumm bei dir, wenn er die Wahrheit wissen möcht? … Du, ja, du machst einen dumm; ihr Weiber.«

»Geh halt ins Kloster, werd Pater, wenn du bloß gekommen bist, mich dahier zu quälen und zu ärgern, dann, bitt' dich, geh.«

»Geh auch.«

»Tust mir einen Gefallen.«

»Für immer.«

»Von mir aus.«

»Komm nimmer.«

»Werd's überstehen.«

»Glaub's.« Er lachte bitter. »Hast ja andre. Den andern. Aber wird dir noch leid tun. Wird dich gereuen. Auf dich fallt's. Wirst sehen.«

Sie zuckte verächtlich abschiebend die Achseln. »Mir tut gar nichts leid. Mich gereut nichts. Auf mich wird gar nichts fallen. Wem bin ich was schuldig?«

Er stand noch eine Weile, dann nahm er sich bei seinem Wort, warf im Zorn die Büchsflinte über und ging.

Draußen die reine tauduftende Mondkühle, ah. Wirklich, ein Narr, der man war: so als Lotter seine Nächte in Weibskammerschwüle zu vertaumeln. Und in vierzehn Tagen schon würden die Böcke sprengen, von Sankt Magdalenen bis auf Liebfrauen, Höhe und Blüte der Sommerszeit; da vergaß man dann all das Giftgezücht und Geluder da drunten …

Wälder rieselten und raunten unterm Mond; im klaren Nachtwind verschwebte letzter Abhauch der Maronenblüte, süß betörsam nicht mehr wie im ersten erwachenden Aufduft, so üppig sinnlich nicht wie in den Sonnwendtagen der Fülle, sondern fauligherb wie von Verwesung, krank und vergiftet … Die Nachtschwalben schwebten und schwippten, schnurrten und spannen ihr dunkles Schicksalslied; Geistergestalten aus Schein und Dunst zogen mit dem Jäger über die beglänzten Höhen; prasselnd und knackend in den Grund hinab setzte es mit dumpfem Bockssprung, Stimmen klagten aus der Tiefe, vom Tal die Hänge jenseits hinan und über die nebelnden Wiesen am Bache hinauf zuckte blaufahl das Irrlicht …

Und drei Tage später war er wieder bei ihr, und alles war gut und gesühnt; und aber zwei Tage drauf, bei unruhig und zerstreut versehenem Dienst, bohrte ihm aufs Frische der Giftstachel im Herzen, fraß Zweifel an seiner Seele, schwelte Sucht ihm im Blute, und er hätte alles miteinander, die ganze Welt und sich selbst in einer einzigen pechschweflichten Höllenflamme aufgehen lassen mögen.

*

Hochsommer flammte, der Kessel kochte, loh gloste das Gestein. Aus dem Staub der Straße, aus dem Staubgrün ihres fettfleischigen Krautes erblühte auf hohem Schafte einsam die Königskerze, still und schwefelgelb unter den dunkelbrandigen Gewittern der Jahreszeit.

Staub deckte die Wiesen, weiß in Staub schmachteten die Hecken; schmal plätscherte der Bach, die Wälder hingen, der Gatter stand. Staub verlöschte alles; alles, Spur wie Spannung, verlief sich in stickendem Staub.

Vermißt eben, nun, verschwunden, nicht aufzufinden; gehen doch auch andre Menschen verloren. Und von den Gendarmen hatte man ohnehin nie etwas anderes erwartet. Die in ihrer vorschriftsmäßigen Unbehilflichkeit, wenn man die nicht mit der Nase auf ein fertiges Aas stieß, von selber rochen sie bestimmt nichts.

Der Wachtmeister sogar sah das ein. Es hatte doch keinen Zweck. Streifungen in diesen Wäldern, diesen Bergen: alles recht schön auf dem Papier der Instruktion, aber solch Revier mit seinen Schluchten, Klüften, Höhlen, Trichtern, Dickichten ist größer als ein paar Buchseiten. Leichter, selbst da verloren zu gehen als einen Stummen zu finden: und wenn man fünf Nachbarposten zur Hilfe aufbot, es blieb, als sollte die ganze Save von Semirn bis nach Sissek hinauf abgetaucht werden nach einer versunkenen Nadel …

Fünfmal, sechsmal hatten sie vergeblich gestreift und gekreist, und dann entmutigt und verärgert aufgegeben, verging einem ja auch alle Lust zur Pflicht. Die Behörde schlief und wollte nicht geweckt sein; war taub und wollte nicht hören; blind und wollte nichts sehen. So schlief man eben auch, machte Ohren und Augen zu und versah stumpf seinen kleinen Alltagsdienst. Ohnehin das beste bei solcher Hitze mittwegs zum Siedepunkt, im Schatten. Um nichts und wieder nichts im Gesteil der Gebirge herumstolpern, eingeschnallt in seine verdammte schwerfällige Vorschriftsmäßigkeit; Dutzende von Seiten langer weißer Kanzleibogen mit sauberer Militärschrift bedecken und all den Aufwand schwülschläfernder Nachmittagsstunden dann doch geflissentlich beiseitegeschoben verstauben zu wissen: Esel, der man wäre, das nochmals zu tun und mit blödsinniger Pflichtübertriebenheit unangenehm aufzufallen.

Die vorgefundenen Briefe: für die Staatsanwaltschaft kein ausreichender Verdachtsgrund. Keine Namen genannt; es konnte sich um etwas ganz anderes, einen harmlosen Scherz handeln … Frühere Untersuchungen und Anrüchigkeiten: kein Grund zum Vorgehen … Gewerbsmäßige Kuppelei: nicht erwiesen … Engelmacherei, Abtrieb der Leibesfrucht: nicht erwiesen … Erpressung: nicht erwiesen … Gewerbsmäßiger Wucher: nicht erwiesen … Zeuginnen: wußten auf einmal von gar nichts … Überhaupt nichts erwiesen, außer dem einen, daß an dem ganzen Faß schon keiner zu zapfen, daß an die Horvatitschka keiner zu rühren sich traute. Die spritzte, daß man selber gleich über und über stank.

Da sollte man sich anstrengen und denen und der ganzen höhnenden Welt den Narren hermachen?

Hochsommerstaub überschichtete die Spur, und der Wachtmeister kehrte reuig zur schlichten unblutigen Kontrolle von Viehpässen zurück.

Für entgangene Gefälle wenigstens hatte der Staat auch in den Hundstagen immer noch ein scharfes Auge.

Für sich allein nur setzte er seine geheimen Nachforschungen, stillen Beobachtungen und Gedanken fort.

Der alten Zischviper den drüsigen Kopf samt Gebiß und Giftblasen zu zertreten, das wäre ein gutes Werk und nach all der mühsam ertragenen Frechheit ein gerechter Rachgenuß.

Mancher schon hatte es versucht, aber jeder noch, statt den Wurm unschädlich zu machen, war selbst in die Ferse gestochen worden.

Eines Tages auf Patroll im flimmerbrütendem Tale begegnete der Wachtmeister dem schlank und verhalten um die Wendungen hertrabenden Herrschaftsgespann; mit Griffschlag an den Kolben salutierte er dem von weitem schon an den hohen Eisenschimmeln und dem weißleuchtenden Breitbart erkannten Grafen.

»Ha, Herr Wachtmeister, schöne Geschichten, was man so hört. Nichts zu finden, nichts zu fahnden, nichts zu führten?«

Der Gendarm zuckte die Achseln unter den breit einschneidenden Riemen. »Bis jetzt bereits wenig, Herr Graf.«

»Keine Vermutungen?«

»Der Herr Graf kennen ja unsere Instruktion.«

»Ja, ja, richtig, gebundene Marschroute in allem. Na, ich an Ihrer Stelle, ich wüßte schon, wo anzufangen mit dem Suchen und aufzuhören mit dem Finden. Wahrscheinlich wissen Sie selber es aber auch.«

»Man hat so manches in Erfahrung gebracht, Herr Graf.«

»Und?«

»Herr Graf: ich bin bereits nur Gendarm; ich bin bereits weder der Staatsanwalt noch der Richter; so wenig bereits wie einer von den beeideten Jägern des Herrn Grafen der Herr Graf selber ist.«

Der alte Herr lächelte insgeheim über den üppigen Mißbrauch jenes Lieblingswortes aller deutschsprechenden Illyrier. »Die, lieber Wachtmeister, haben bereits oft mehr zu sagen als ich. Über ich verstehe schon; leider, wären Sie nicht der brave vorschriftsmäßige Gendarm, ich würde versprechen: tausend Gulden Prämie für einen gewissen Kopf – nicht daß er grad rollt oder aus der Schlinge hängt, darauf kaprizier' ich mich durchaus nicht, nur daß er einmal hinter den zu diesem Zweck längst geschmiedeten Gittern herausschauet. Das wär mir's wert. Mir.«

Der Wachtmeister schlug an den Kolben wie zu plötzlichem Abbruch und Fortsetzung seiner Patroll.

»Wenn einer von meinen Leuten Ihnen irgendwie nützlich sein kann, machen Sie ruhig Gebrauch von unserer Nachbarschaft,« erinnerte der Graf; »bin ja schließlich auf Ihrer Seite drüben auch begütert, also.«

Jener dankte dienstlich. »Befehl, Herr Graf. Einer hat mir bereits ein kleines Stück weiter verholfen. Dieser Oberkrainer.«

»Der? Aha. Ja, das ist so was für den.«

»Ein strammer Bursch, geweckt, scharf und wild; und ein großartiger Schütz bereits das, so einen gibt's bereits nicht unter tausenden.«

»So so; hat er Ihnen vielleicht etwas vorgeschossen?«

»Ja, uns allen bereits, einmal beim Konfin drunten gerade; aus einem funkelnagelneuen Gewehr, ist bereits auch ein Prachtstück.« Der Wachtmeister wurde gesprächig. »Einen Raubvogel, Geier oder Adler oder Falk, hoch in die Luft hinauf auf bereits vielleicht zweihunbert Schritte, mit der Kugel im Flug – also schon bereits großartig.«

Der Graf ließ sich nichts anmerken.

»So, beim Konfin drunten hat er die Vorstellung gegeben?«

»Ja, bereits; an einem Sonntag oder Feiertag einmal.«

»Mit oder ohne Tampus?«

»War bereits nichts davon zu bemerken. Ein wenig hitzig ist es hergegangen zwischen ihm und dem sogenannten Wehrmüller, wird dem Herrn Grafen bekannt sein, und dem Posthalter aus Jessenitz und so weiter; aber mit den drei Meisterschüssen hat er alsdann die Wette ausgetragen und gewonnen. Ist aber bereits vollkommen nüchtern geblieben und hat dann sogar den Austrunk schon bereits grob, möchte man sagen, abgeschlagen und ist gegangen.«

»So so; na, wenigstens etwas. Macht sich wohl viel beim Konfin da zu schaffen, der Bursch?«

Der Wachtmeister wiegte ein wenig bedenklich den Kopf unterm Federhelm, »Habe mir bereits mehrfach die Freiheit genommen, ihn vor diesem Hause zu warnen – aber nun – – die Jugend eben, ich bitte, Herr Graf; die Jugend, das Alleinsein in den Wäldern …«

Der Graf blinzelte, »Wein?«

Der Wachtmeister hob geheimnisvoll die dicken Brauen und schüttelte unmerklich den Kopf. »Weib.«

Der alte Graf schürzte die Stirn. »Die? von dem verstorbenen Glas-Grabert die?«

Der Wachtmeister nickte vertraulich. »Ein Luder, bereits.«

»Muß wohl sei. Hab's die längste Zeit nicht geahnt. Hab mir um das Frauenzimmer die Finger krumm geschrieben nach allen Weltrichtungen, auf das Gepenz vom todkranken Alten hin. Und dabei sitzt die ganz gemütlich hier in nächster Näh und kümmert sich einen Dreck um ihren Vater, der sich nach ihr das Herz aus dem Leib heraus bangt. War grad die Müh und die Aufregung wert: so eine – – na … Will nicht selber strafbar werden … Komm eben von dort, hab ihr den Nachlaß gebracht, hab sie mir angeschaut. Und Sie glauben – –?«

Der Gendarm zog ein ernsthaft vieldeutiges Gesicht. »Es hängt da bereits wohl manches zusammen.«

»Mit der Geschichte?«

»Ich darf nichts mitteilen, Herr Graf; aber was den Oberkrainer angeht, der hat damit bereits nichts zu schaffen, Herr Graf können beruhigt sein; nur so, mit dem Weibsbild, habe ihn aufmerksam gemacht, daß seine Besuche konnten zu seinem und zu des Herrn Grafen Schaden ausgenutzt werden …«

»Sie meinen: Lockvogel, Leimrute?«

»So etwas Ähnliches, bereits wohl, Herr Graf: es soll in dieser Sache ein verdächtiger Schuß gefallen sein, und wo ein Schuß fällt, da gibt es auch ein Gewehr. Zu erheben war bis jetzt bereits leider nichts hierzu Wesentliches; aber der Oberkrainer spricht selbst von einem Wilderer, und eine gewisse verdächtige Persönlichkeit scheint bereits der andere Liebhaber von der gedachten Weibsperson zu sein …«

»Straßenarbeiter?«

»Soviel werde ich vielleicht bereits zugeben dürfen, Herr Graf.« »Bestimmter verdacht?«

»Es sind Vermutungen vorhanden; aber darüber habe ich mich nicht zu äußern, Herr Graf. Der Herr Graf werden es vielleicht noch von anderer Seite erfahren.«

»Auch Weibergeschichten?«

»Es gibt bereits wohl keine Geschichten ohne Weiber, Herr Graf.«

»Sie sprechen ja rote ein Franzos; aber Sie haben recht. Na, guten Tag, Herr Wachtmeister; ich will nicht weiter Ihr Amtsgewissen beunruhigen. Tun Sie das Ihre.«

Der hohe Wagen rollte im Sommerstaube davon; der Gendarm unter seinem blitzenden Bajonett sah nachdenklich hinterdrein. Ja, der war von einer anderen Sorte als die versoffenen verbandelten Zwetschkenbarone drüben in Dolman und Kalpak, Attila und Szurka, diese falschen Madscharonen mit den Mastbäuchen voll Truthahn und Dincott und den langen Registern … So stellte man sich einen adligen Herrn, einen wahren Magnasch, einen Plemenitasch eigentlich vor …

Noch einmal diesen Störrkopf waschen? … überlegte derweilen der Graf, noch einmal diesen Oberkrainer Muckschädel in die Schultern zurechtstauchen? … hätte wahrscheinlich doch keinen Erfolg. Gibt schon so Strangschläger, denen man eher grad das untersagen müßt, was man von ihnen erreichen will, ohne daß sie eigentlich stützten und keilten; nur daß immer just das verbotene ihnen unbezwinglich gut riecht und schmeckt – soll ja ihr Stammvater Adam auch ein solcher gewesen sein … Und die Jugend, ja; und die Soldatenzeit im Blut, freilich; und der ganze Schlag, wie er nun einmal war mit seinen Vorzügen und Fehlern, altbayrischer Bluttrutz, durchglüht von welschem Jachfeuer und durchtränkt mit slawischer Gelehrigkeit und Liederwehmut … Gehen lassen, wie's ging; solange über seinen Dienst keine Klage, solange über seiner Gebarung kein verdacht, mochte er denn in Gottes Namen, wenn er schon durchaus nicht anders konnte. Nur, daß er ausgerechnet mit der hübsch ja, nichts dawider zu sagen, gestellt, vollholzig, wie's so ein Jäger wohl mag; aber nichts Gutes im Blick, Schlechtigkeit und Verderbtheit auf der Stirne, verlogene Lippen, eine schmutzige freche Verbrauchtheit unterm Schein der jungen Larve … Aber wie man schon als Sechziger sieht, und wie als Fünfundzwanziger; vergeblich, seine Jahre einem anderen aufpropfen zu wollen, gesättigte Kenntnis der heißhungrigen Neugier. Dauern nur konnte er einen, solch blühender, heller, gesunder Höhenbursch …

»Sie sind die langgesuchte Berta Grabert, die ich noch als unschuldiges kleines Mädel gekannt, drinnen in der alten Glashütte? … Ich bringe Ihnen also den Nachlaß Ihres verstorbenen Vaters; nicht der Mühe wert, die Gemeinde oder andere Behörden damit zu bemühen; überdies bin ich selbst der Bürgermeister. Mit diesem ernsthaften Spielzeug hier hat sich ihr armer Vater in seinen letzten Tagen beschäftigt; wurde in seiner Kammer unvollendet vorgefunden, vielleicht hat wenigstens das Andenken einen Wert für Sie.«

Und nicht einmal ein Widerschein von Scham war über ihr Gesicht gegangen, wie sie so frech und frank vor ihm stand; tat wenigstens nicht ekle Komödie spielen wie die Alte, war immerhin nicht verheuchelt in ihrer Gebranntheit und Gebrühtheit, auch etwas wert. Ohne Rührung, unter einem halben mitleidigen Lächeln, nahm sie den Kalvarienberg im Glasgehäus an sich und stellte ihn achtlos beiseit, mitten unter die fliegenumschwärmten Lachen des Schanktisches.

»Ja, der Vater. Er hat sich viel mit solchen Sachen beschäftigt. Er hat manchmal davon erzählt. Es war für ihn das beste so.«

»Allerdings, unter diesen Umständen. Ihrer hat er viel gedacht in seinen letzten Seiten; sehr viel …« Was sollte man da eigentlich sagen?

»Ja; ich war seit Jugend fort; man wird sich fremd durch Welt und Zeit, hab einmal gehört, er sei schwer krank; später geglaubt, er wär tot. Sonst war ich nicht hergekommen, hätte nichts ändern können an all dem; ihn nicht ernähren, allen zusammen nicht helfen …«

»Das will ich nicht gerade sagen. Aber, na – –«

»Die Geschichte mit der Glashütte eben, nicht wahr; die war das Unglück für alle …«

»Ja …«

Und dann hatte der Graf das frostig fruchtlose Gespräch mit einem Seufzer und nachlässigem Nicken kurz und kühl abgebrochen; die Alte, wie sie ihn mit tränenden Augen, schnapsrot und fett, in der Hoffnung auf teilnehmende Ansprache umknixte und umkreiste, würdigte er nicht einmal besonderen Grußes. Hinter ihm drein fuchtelte sie mit der Faust.

»Wirst schon auch noch einmal fallen und krepieren in deiner Hoffart!«

»Ein Herr, trotzdem,« sagte die Junge; »ich, wenn ich eine andere wär, bei dem wollet ich gleich Dienst nehmen.«

Die Horvatitschka flirrte sie bös an. »Da tätst dich aber stark täuschen. Der ist fromm und alt und kalt. Jetzt. Früher ja, so vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren, wie ich selber zwischen meinen Ostern und Pfingsten war … Da hätt er wohl was drum gegeben; mehr als eine lumpige Klafter Holz, einen ganzen Wald eher … Das ist's auch, was er mir nicht verzeihen kann …«

Die andere, in gedankenverlorenem Sonnenspiel mit der blinkenden Kalvarienflasche, lachte höhnisch unter schmal beiseiteschießendem Blick. »Wahrscheinlich; das wird's sein; sieht mir ganz darnach aus. Jedenfalls: so ist er mir lieber. Grad drum. Man ist's manchmal satt. Alles das miteinander. Möcht nichts als seinen Frieden. Dumm, dumm ist man.«

Sie dehnte die Arme und die volle Brust in wohligem bitterem Überdruß; eine Peitsche knallte, ein Gast rief nach Wein und Knaster. Vergessen und verlassen blieb des alten Grabert unvollendetes Passionswerk auf dem Wirtstische zurück. Eine Weile lang vergnügte sich der einfallende Strahl mit Petri Gockelhahn und Veronicae Schweißtuch als mit oft begrüßten Bekannten; dann kam der schwarzweiße Kater und schob und rückte das spieglige Gefäß mit spielerisch beiholendem Pfötchen zur Erde, hinter seiner gesträubten Flucht enttäuschten die herbeistürzenden Hühner sich an Christi hölzerner Bitternis, die Horvatitschka schalt auf die gefahrbringenden Scherben, und alles miteinander wurde hinweg zum Unrat gefegt.

*

Nach Revision und Rapport nahm der Graf den bangtrotzigen Primus beiseite.

»Hab einiges halbwegs Gutes, dafür aber noch viel mehr Schlechtes von dir gehört, du. Der Dienst ist vielleicht in Ordnung, aber der Mensch nicht; und wenn das einmal anfangt, dann reißt's auch auf der anderen Seite ein. Ich red nichts mehr, weil's umsonst ist. Bist selber alt genug zum Nachdenken. Treib's also weiter, wie's dich freut; aber bei der ersten Unregelmäßigkeit fliegst. Merk dir's.«

Koschutnik knetete wild am Wetterfilz. »Werd schon nicht.«

»Sagen alle, denken die meisten; und dann kommt's. Morgen gerutscht und sich noch einmal derfangen, übermorgen gefallen und sich das Genick gebrochen. Mir kann's ja gleich sein. Schöner Jäger, der gleich brühwarm mit der Abmahnung noch im Ohr und schönen Beteuerungen auf den Lippen hingeht und der besoffenen Metten im Wirtshaus einen Narren vorprahlt. Schon gut so; mach's nur weiter auf die Art, wirst's weit bringen. – Weißt nichts in dieser Sach?«

»Nichts als was ich dem Gendarmen erzählt hab.«

»Bist nicht am End irgendwie da hinein verwickelt?«

»Bei meiner getauften Christenseel, daß nein.«

»Und hast, hör ich, Verdacht auf einen Wildschützen?«

Der Oberkrainer berichtete, kurz und erbittert. »Man kann nicht überall sein.«

»Dazu ist man Jäger, mein Lieber, damit man überall ist; nur nicht im Wirtshaus bei nixnutzen Weibern.«

»Da spioniert man allerhand aus.«

»Und wird vor allem selber am schönsten ausspioniert. Ausreden, mein Lieber, nichts wie stinkende schielende Ausreden. Möcht wohl wissen, was du dort schon viel ausspioniert hättst. Derweil du dort luderst, ludert ein anderer deine Böck, und wenn du ja einmal wieder deine Böck hütest, hütet der das Weibsstück und macht dich zum Narren und Affen. So ist die Geschicht, verlaß dich drauf.« Der Graf trat an den Wagen. »Treiben sie schon?«

Primus in seiner Bestürzung mußte sich erst besinnen. »Noch nicht. Suchen sieht man schon etwelche.«

»Dann lieferst einen, bevor's recht angeht; nachher ist Ruh. Einen ganz starken Alten; den stärksten, den du weißt. Die anderen haben auch Aufträg; es ist eine Geweihausstellung in Agram, da möcht ich ein paar gute Stückeln hinschicken. Verdienen tust sie gewiß nicht, die Freud; aber du hast das beste Gewehr im Revier, das du auch nicht verdienst und das ich dir eigentlich am liebsten wegnehmet. Hast schon je vom Nebelbock was gehört?«

Koschutnik ersteifte in beschämtem Staunen. Und dabei hatte er gar nichts verraten wollen von seinem Geheimnis und seiner Begegnung, geschweige von seinem Vorhaben.

»Ja, der Einschicht da droben, der Voglenz, was der Köhler ist, der hat einmal so was dahergeredt. Hab's aber die längste Weil nicht geglaubt, bis – –«

Der Graf wartete lächelnd ab. »Bis …?«

Primus brach erglühend aus. »Bis ich ihn leibhaftiger gesehen hab. Mt Stangen so hoch – so – zwölf Zoll, fünfzehn Zoll – krumm wie vom Teufel die Hörner und dick wie mein Unterarm, bei all meiner armen Seligkeit, nicht zum glauben …«

»Allerdings, wie du's beschreibst; wo hast ihn getroffen?«

»Im Dren, einer Früh im Nebel, kaum hat's angetagt; aus dem aufgeschriebenen Wald ist er heraufgestiegen, auf einmal vor mir gestanden auf einer Kreuzweglichten im Dämmer – und weg war er wie ein Gesicht, wie ein Spuk, ohne Spur, ohne einen Laut – –«

Seltsam lachte der Graf. »Ja, so ist es immer schon erzählt worden, von allen. Wird schon etwas Wahres daran sein.«

Koschutnik in seiner Aufregung wurde fast vertraulich. »Der Herr Graf glaubt, wirklich? … Und daß es jedesmal was bedeutet?«

Der alte Herr zuckte die Achseln. »Weiß nicht; schieß ihn; probier's. Erlöst vielleicht ihn und dich selbst. Da war ein gewisser Stransky bei mir im Revierdienst, der hat geschworen auf ihn, und kein halbes Jahr später war er hin, hat sich mit Weibern versoffen, ist im Rausch einmal wo liegen geblieben durch eine kalte Herbstnacht, lungenkrank geworden, fertig … War da ein gewisser Riedel, ein Mordskerl von einem Jäger, aber die Weiber und der Wein, die haben ihn drangekriegt; was geschieht mit dem, fallt er nicht einmal im Torkel mit seinem Gewehr hin, stopft sich den Lauf mit Erden und achtet's nicht, kommt richtig auf den Nebelbock zu Schuß, und der Stutzen platzt und fetzt ihm die linken Finger wurzweg, Blutvergiftung, Brand, aus … War da ein gewisser Brosch, kein übler Mensch, zu scharf eher als zu laß, hat anfangs recht gut getan, nichts zu sagen; bekommt der eines Tages die verdammte Gifthütten von Konfin in Wind, nimmt die Kirrung an wie ein Bock die gewürzte Sulz, gewöhnt sich ein, trinkt, kartelt, menschert, macht Schulden, wird von der alten Kanalli gepreßt, stiehlt, hehlt, hilft, liefert … Geht eine Zeit so hin, da beginnt's zu stinken, zu pranzeln, der Boden wird heiß; na, und kommt zu dem allen dazu, daß ihm, dem Brosch, einer fahlen Früh, grad wie dir, wie er so vom Wirtshaus mit betäubtem Schädel durch dunklen Wald in Dienst tapert, auf einem Kreuzweg dieser Geisterbock erscheint; ein ganz gewöhnlicher starker Sechser vielleicht, am End gar nur ein Storren in der Dämmerung und riesengroß wachsend im inwendigen Nebel; aber na, kurz, er nimmt's für den, von dem er schon all die Schauergeschichten gehört hat, erschrickt bis in die Seel, sieht und spürt die Gendarmerie oder weiß Gott wen und was schon hinter sich: wird dir der Mensch nicht schwermütig, glaubt an die schlimme Vorbedeutung, und statt ehrlich zu bereuen und zu beichten und auf meine Verzeihung zu rechnen, geht er hin und schießt sich ein paar Tag später mit der Schrotladung den halben Kopf weg … Ja ja, mein Lieber, siehst; das war mit den dreien, und die sind nicht die einzigen; wird schon was dran sein, ganz so vertrottelt und verkohlt ist der Voglenz, der Brenner in der Einschicht droben nicht – nichts vielleicht als das böse Gewissen, dieser umgehende Höllenbock in der fahlen Geisterfrüh …«

Primus biß die Zähne zusammen und würgte. »Ich werd ihn schon derwischen; wenn er von Haut und Horn ist, derwisch ich und bring ich ihn – bei meiner armen getauften Christenseel.«

»Mit Fluchen einmal gewiß nicht; da erwischt's eher dich; solches Verschwören kommt aus dem Wirtshaus, und vom Wirtshaus her wird keiner einen Geist bannen und lösen und keiner sein eigenes schlechtes Gewissen zur Strecke bringen. Was Wahres ist gewiß dran. Ein hornalter Teufel eben, der seinen Stand und Wechsel nicht haltet, sich selten sehen laßt und der Welt aus dem Weg geht; und weil's solcher steinalter Urkampeln immer einmal welche gegeben hat in unseren Wäldern, meinen die Leut, abergläubische Jäger und Kunkelweiber hinterm Ofen, es wär allweil derselbe und sei so etwas wie verwunschen und verhext und gefeit und stürb nie; wird ja gewöhnlich gerne geglaubt sowas, hab auch gar nichts dagegen, Schreck und Gespenster sind gesund. Die letzten Male, was ich weiß, ist dieser oder ist so ein Nebelbock im Seloutz und da herum gesehen worden; grad von dem unglücklichen Stransky und dem Brosch. Schon möglich, daß dorten so einer spukt, der Seloutz bis zum Dren hinüber mit seinen Löchern und Kluften und dem Zuzug aus dem Kroatischen herüber war immer so eine Art Extrarevier für Geister und Räuber und allerhand. Na, werden ja sehen, welcher von euch den richtigen bringt. Patronen mußt noch haben; da geb ich dir auf alle Fäll drei dazu. Also schau, daß du ihm den Paß visierst: ist für dich bald sowas wie dein heimischer Zlatorog – erinnerst dich dabei vielleicht auch wieder einmal an die Huda Gouscha und die Stara Mat droben in deinen Bergen – oder an einen Ort genannt Sela in der Oberen Kanker und eine gewisse Polona … Tät dir auf keinen Fall schaden. Fertig, Stefan. Mit Gott.«

Sacht und schwank rollte der hohe Wagen aus dem breiten Graben in das gebahnte Tal hinaus; fern schon unterm grauen Felssprung zur Klause hinab vertrabten dumpf die Schimmel, und Primus stand immer noch verwühlt auf dem Fleck und stierte. Es war zuviel auf einmal, alles wild in Wirbeln durcheinander; angeschauert griff er sich ins verschwitzte Krausgelock. Könnt er sich nur zurechtfinden in all dem Schwindel, auffangen in dieser betäubenden Sturzfahrt Halden und Reißen hinunter …

Droben im Grabengrund polterten und holperten aus der Rauhschlucht herab die Rollwagen, pfiffen in der Riese die Schäfte, krachten und klotzten zuhauf die Scheiter; langsam, benommen, verloren kehrte Primus in den Alltag seines Dienstes zurück.

»Pazi – aufgepaßt! … Skoč – spring! …«

Um ein Haar wäre er von einem herunterschießenden, heulend aufbäumenden Schaft hingeschmettert worden und erlöst.

*

Still, stickstill war es geworden im hochsommerschwülen Tale.

Glutweiß stickte der Staub, schlaffschwül hingen die Wälder, hochgelb in steiler Stille blühte die Königskerze.

Stickstaub über der Spur, Löschstaub über allem Geschehenen, Staub über Akten und Fährten und Gedanken. Die Horvatitschka hatte gesiegt.

Nein, an sie wagten sie sich schon nicht heran. Wo sie hinbiß, da wuchs keine Haut mehr. Das wußten sie. Wußten viel, wußten vor allem aber auch, daß sie selber noch viel mehr, daß sie vielzuviel wußte.

Hätten es nur versuchen sollen, die Presvijetli's, die Illustrissimi und Spectabiles. Für jeden von ihnen war ein Knoten geschürzt beim Konfin, und eine Kerbe geschnitten. Sie versuchten es lieber nicht.

Allein die Horvatitschka wird ihres Sieges und ihres Friedens nicht froh. Denn da ist ein anderer, dem sie unterlegen, einer, der sie zur Ruhe nicht kommen läßt; die Lebendigen nur über Erden sind abgeschlagen, die Toten aber, die Inwendigen ringen und würgen unerbittlich weiter, und die Gealterte in der Not ihrer Nächte fühlt ihre Kräfte schwinden.

Dann schlurft es drauß die Treppe herauf, tastet und tappt über die Dielen, seufzt im finsteren Flur, schürft und wühlt und rasselt im Keller; Gesichter schauen hohl, lauern blaß und blutig aus der Nacht zu den Fenstern herein, Hände winken, Stimmen murmeln ums Haus, Schritte spüren, Augen spähen, Gestalten entwachsen den Schatten, Kälte schauert durch verschlossene Türen … Jesus, was ist das? … Wer ist das dort? … Ein stummer Mann mit einem Beil, der Henker? … Wer ist denn das, der da immerzu Laden aufzieht und Taler und Gulden zählt drunten in der Schankstube? … Eines Nachts, aus unruhigem Halbschlaf aufgeschreckt durch das Gefühl einer Gegenwart und einen Druck, sieht die Horvatitschka ein Wesen auf ihrem Bette sitzen, ein Menschengebild mit starrem grundlosem Blick und fahlem Antlitz, blutüberrieselt von der Schläfe herab … Branko! Branketz! … Du lebst, du bist da? … Branketz, Jesus, wo kommst du her, wo bist du gewesen, was ist das an deinem Kopf? … Der späte Gast aber starrt unbeweglich, und wie die Alte nach seinem verharschten Gesichte tastet, greift sie Mondschein und Luft durch ihn hindurch … Branketz, Heiland in deinem Reich, was ist, willst du Geld? … Nimm, nimm alles! … Seelenmessen? … Was schaust mich so grausig an? … Kommst mich holen? … Ich – ich hab dich doch gar nicht – – Christus nazarenischer, ich hab ihn doch gar nicht – – – – –

Eine Geduld, die man mit dem alten Luder haben muß; keine Nacht Ruh vor ihren Anfällen, zu keiner Stund ist man sicher vor ihren Einbildungen.

»Berta, Kind, wenn du mich ein bissel lieb hast, machst Licht und gehst hinunter nachsehen; es ist was im Haus, ich hör was herumkramen in der Schankstube, es klopft und scharrt wer im Keller …« … »Berta, Jesus du, ist der Jäger bei dir? … Wenn er doch gut sein wollet und nehmet sein Gewehr und schauet im Flur und über die Stiegen, es geht was um … Er ist nicht da? … Bertel, ich bitt dich, wirf was über und spring du hinunter, ich will's dir gern entgelten.« … »Berta! … Jesus, Berta! … Zu Hilfe, hilf, komm! … Geh, daß du nur da bist! Siehst ihn auf meinem Bett? Jag ihn weg; er will mich holen; gib ihm Geld; gib ihm alles, nur daß er geht …« »Berta, möchtest mir nicht das Opfer bringen und schlafetst bei mir über Nacht; kannst dich ja in mein Bett legen, ich will aufsitzen, nur daß ich nicht so ganz allein bin in der Finsternis …« … »Berta, schlafft? … Berta! … Geh, möchtest mir nicht eine Lieb erweisen, ich bitt dich! … Geh, schau, ermunter dich nur für eine Stund, eine kleine kurze Stund – kannst doch gewiß noch beten? … Bertel, komm, bet mit mir einen Rosenkranz und eine Litanei, hilf mir beten, bis der Hahn kräht, daß die Nacht wenigstens vergeht …«

Die Horvatitschka betete; hatte Jesus, Heiland, Gott nicht mehr im beteuerungsfertigen Munde nur: sie betete.

Sei uns gnädig, verschone uns, o Herr! … von allem Übel … von deinem Zorne … von einem jähen und unvorhergesehenen Tode … von den Nachstellungen des bösen Feindes … von dem ewigen Tode erlöse uns, o Herr! … Am Tage des Gerichts … Wir arme Sünder, wir bitten dich, erhöre uns! …

Schauerlich aus dem von trüber Weihekerze matt erhellten einsamen Grenzhause hallte die dumpfe Weiberlitanei in die schwüle schweigende Sommernacht. Leis um die herausgetrockneten Dürrsteine seines Rinnsals rieselte schläfernd der Bach; fern hinter den Bergen herauf fackelte stummes Wettergeleucht. – –

Manchmal unterm Gebet fährt die Horvatitschka wild auf.

»Wenn man sich selber vom Übel erlöst, kann das eine Sünd sein? … Oder vor den Nachstellungen eines bösen Feindes? … Bin ich schuld? … Immer soll ich Schuld haben, ich, eine arme alte verlassene kranke Frau! … Jesus, Berta, dort steht einer, siehst ihn? … Jag ihn weg! … Am Tage des Gerichtes … Was: Tag des Gerichtes? … Wo ist ein Kläger, daß Gericht sein soll? … Zu jedem Gericht gehört eine Klage? … Wer kann klagen, wer kann was beweisen? … Da, meine Hände sind rein! … Ich, ich bin die Klägerin, an der man sich versündigt hat! … Ja, der Himmel selbst sich versündigt hat! … Was hat er mich zur Witwe gemacht mit siebzehn Jahren und schutzlos hinausgestoßen in das Leben? … Gelt, Bertel, bleibst bei mir, graust dich doch nicht vor mir, schau, will ich auch bedenken in meinem Testament, wärst ja bald meine Tochter geworden … Jesus, hörst es, drunten dieses Scharren und KIappern  … Hörst nichts? … Am Tage des Gerichts … wir armen Sünder …«

*

Und schön dumm wär man, machte man davon keinen Gebrauch.

»Da gibt's Leut, die glauben sich ihren Frieden mit frommen Stiftungen erkaufen zu können, was soll das helfen? Was wissen die Klöster oder die Pfarreien? Besser, man erkauft sich ihn auf andre weise. Man kauft ihn.«

Die Horvatitschka schaute in bösem Mißtrauen.

»Was sprichst du da? … wer spricht von Kaufen?«

»Nun – so … Man stiftet Messen, Monstranzen, Almosen, Altäre. Aber es ist vielleicht vernünftiger, man kauft wirklich, wenn Gott schon allwissend ist – es gibt auch Menschen, die allerlei wissen …«

»Was weißt du? … Was willst du wissen? … Gar nichts gibt's da zu wissen, verstanden! … Spekulierst wohl auf Geld, oder wie?«

»Das tut jeder Mensch in der ganzen Welt. Nun – ich weiß ja wirklich nichts. Ich meine nur so, nicht wahr …«

Giftes genug für den ersten Stich.

Aber die Alte war noch lange nicht gänzlich erschüttert und zermürbt. Jede neue Gefahr weckte ihre Kräfte. Sie raffte sich zusammen, wurde argwöhnisch aufmerksam, härtete und verschloß ihre schwachen Stellen und bot fürs erste keine Blöße mehr. Berta hatte von nun an ihre Ruhe vor Gespenstern und längst entübtem Gebet.

Über Tag, unter den Gästen, in der Wirtschaft, bei Rechnung und Berechnung war die Horvatitschka ungemindert und ungebessert dieselbe mit all ihrem gewandtem Aufwand an Schwatzschwall und Schmeichelei, Öl, Vitriol und Tränen. Des Nachts aber vernahm die Junge aus der Stube drüben einsam stöhnendes Gemurmel, Selbstgespräche und schlurfend Wandern auf und nieder.

Sie dachte nach: nicht dumm zu sein, diesen Acker zu bestellen, diese Saat zu ernten, lohnte sich's wohl? … Blutgeld, das wahrscheinlich niemand Glück brachte: – und wenn man auch längst an nichts mehr glaubte, an keinen Gott und keine Güte, seinen Aberglauben und gerade den hatte man deshalb doch. Und schließlich, an dieser alten Fäulnis auch zu pressen und zu saugen, es widerte an; zuviel schon war in diesem Hause geschehen – selbst noch hineintreten in den Schlamm, verludert und versudelt, wie man schon war, nach Gold wühlen in all dem uralten tiefen Unrat, der da aus den Kellern herauf stockte, die Gelegenheit ausnutzen, bloß weil man durch Zufall und Laune für eine kurze Zeit hierher in den Heimatwinkel verschlagen worden …

Ja, wenn man umkehren könnte auf dem Weg, der dahin führen mußte, wo all solche Lebenswege endeten, in die Finsternis verachteten armen Alters oder irgendwohin ins Spittel, einmal irgendwo ins Wasser, in den Sumpf, ins letzte Elend … Wenn das Kind nicht wär; wenn man nicht alles verloren hätt, Lust und Hoffnung und jedes Gefühl und sich selber – eins nur nicht, die Gewohnheit des schmutzigen leichten faulen und dennoch so ekelschweren Gewerbs! … Ein paarmal schon hatte sie herauszukommen gesucht aus dem Morast; hatte sich als Gehilfin, als Kellnerin über Sommer aufs Land verdingt, um nur freien Himmel und Pflanzenkühle zu atmen, nachts zu schlafen, Ruhe und Regel zu finden in der Arbeit, sich auszulüften von all dem Rauch und Weindunst und Bocksgestank … Vergebens; die sie geworden, blieb sie überall, das Mannsvieh schnoberte ihre Witterung wie der Wolf das Aas, und ohne Männer konnte sie nicht leben, einen Mann nicht unversucht lassen … Immer dasselbe, ob man nun Aufwärterin war in irgendeinem Gulaschbeisel in Warasdin oder Csakalhurn oder Essegg oder hier, oder schlimmer … war ja auch alles gleich …

Alles eigentlich durch die tausendtodsündige alte Vettel da, die sie damals vom gläubigen Vater weg in jenen sogenannten Dienst verschachert … Und wenn man ihr ihren ganzen Schatz an brennendem Blutgeld, Tränengeld, Höllengeld ab- und auspreßte bis auf den letzten geprägten Rand, man bezahlte damit noch nicht sein verpfuschtes Leben … Ja, damit hatte es angefangen; war dann weitergegangen von Station zu Station; besser nicht dran zu denken … Obzwar alles gleichgültig; man verfault und wird von den Würmern gefressen so oder so … Und damals, als sie sich zum ersten Male freigemacht, da mußte sie so blöd und schwach sein, sich gleich richtig und rein zu verlieben und Mutter zu werden durch einen, der dann sie, die Verfemte, die Anbrüchige, wegstieß aus seinem Wege wie eine unterfaule Frucht, nach der man sich, durch die Oberseite getäuscht, im Vorübergehen gebückt … Ein fahrendes Frauenzimmer, wer wird da viel Rücksichten nehmen und Umstände machen? So eine, was kann die schon groß Ansprüche stellen, was beweisen? … Und mit dem Kinde die neue Bindung, der neue Zwang zum verhaßt gewohnten vergifteten Brot … Besser, nicht dran zu denken … Aber es war ja alles ganz gleichgültig. Dereinst verreckte man …

Dumm, dumm war man gewesen, schlecht war man geworden, verloren ist man und verfallen … Dumm? … Schlecht? … Verloren? … Was ändert das am letzten Ende? … So oder so, was dann wird und kommt und auch vergeht und versickert, ist doch Stank nur und Dreck …

Bis auf das blasse schwache Flämmchen heimlicher Sehnsucht dann und wann, ein bleiches flüchtiges Flackern in Tiefen der Verfinsterung.

Die Eltern, was hätte sie denen all das schreiben sollen, in ihr eigenes Elend hinein? … Da war's schon besser, man trug es für sich aus und blieb verschollen. Und wenn jene sie für tot hielten: ein paar versiegliche Tränen immer noch weniger bitter als die Wahrheit. Wahrheit, die sie wahrscheinlich doch nicht verstanden in ihrem dumpfen Tal. Und der Vater hier, hätte sie den jetzt aufsuchen sollen, ihm das Sterben schwer zu machen und das verlöschende Leben nicht heller? … Es war schon am besten so, wie es gekommen, für alle, für jene, die jetzt befreit unter ihren Kreuzen ruhten, für sie, die nun an keinen mehr zurückzudenken hatte. Nun war nur sie noch übrig von der ganzen Armut, und auch sie würde dereinst irgendwo irgendwie aufhören und ihre Ruhe haben …

Der Jäger? … Ihr Verhängnis, daß sie trotz allen Vorsätzen, trotz besserem Wissen nun einmal nicht sein konnte ohne so irgend etwas von Mann und Liebe. Kurze Zeit nur, übers erste Ausruhen hin hielt sie's aus, dann erwachte der Kitzel nach dem gewohnten Spiel, dann kam die Langeweile, kamen mit der Langeweile auch die flüchtigen Einbildungen von Glaube, Treue, Neigung, Heirat und Herd. Lichter, die verloschen, Worte, die verklangen; die Lüge nur blieb und der Überdruß und der Ekel. Was konnte man dafür, daß man so geworden, daß man heut anders aufstand als man gestern schlafen gegangen? Hält auch nicht der Sommer dem Frühling, nicht der Herbst dem Sommer, nicht die Asche dem Feuer, hält kein Tag dem anderen das Wort, was sollte der Mensch nicht wechseln, brennen und verschwelen? … Und schließlich, immer noch war man sein eigener Herr, zu nichts verpflichtet; die Horvatitschka, als sie ihr zufällig begegnet und sie angeworben, hatte ja nichts anderes gesucht als das, was sie war – nun, so eine, eine fahrende Hur.

Gern hatte sie ihn schon, den Jäger, und hübsch und stark und feurig war er; ihre runden Schultern, ihr Hals waren heimlich bedeckt von Malen seiner glühenden Bisse. Heiraten aber, wenn man's auch so hinredete, Heiraten ohne Vertrauen zur eigenen Treu und ohne Freud an sich selber: – wenn schon, dann einen anderen, schlechteren, älteren, unreinen, einen, der's verdiente. Wie den da zum Beispiel, den Vermißten, den Abgeschafften, den Bankert; das Geld hätte man ihm genommen und alles Recht, dazu war er gut, seine Einbildungen und seinen Platz, hätte ihn betrogen, bestohlen, getreten, mit allen Mitteln hinausgekränkt aus der Welt. Aber er hatte ja gar nicht wollen, das Schwein von einem Erpresser; was immer, ganz recht war es ihm widerfahren, wunderfein eingefädelt hatte das die teuflisch kuppelkluge alte Vettel, und sie, weil er solch ein Mißkerl und Satan, hatte noch wohlahnend dazu geholfen auf ihre Weis … Der andere, armer Teufel, der ihr gefallen in seiner schwerfälligen Dumpfheit und den sie mit ein paar heißen Worten und dem Geschenk einer Nacht verrückt gemacht, der war ihr mit all seinem gerechten Blut an den Händen der tausendliebere. Mocht er schon kommen und das Seine haben, der betörte Mannsnarr, und der Jäger auch, solange sie hier war im Tale … War ja doch alles gleich, ob die oder andere, Sand zu Sande, bald verweht und vergessen, irgendwie wird man doch verbraucht vom Leben … Bald verweht und vergessen, wie all das: dieser Sommer, die Horvatitschka, dies Haus, diese Station, diese Welt, das ganze Dasein –

*

»Und wenn auch: – doch fürcht ich mich, fürcht mich, Stermelz; er ist nicht tot, ist nicht tot, ich sag dir.«

»Was wird er's nicht sein? Unsinn; du siehst Gespenster.«

»Das ist's ja, Stermelz, das ist's ja, daß ich Gespenster seh. Er ist nicht tot, ich sag dir; er geht um. Ich werd verrückt.«

»Glaub, bist es schon.«

»Ja, ich bin's, Stermelz, weiß, daß ich's bin. Mein Kopf, mein Herz; keine Ruh, nirgends, zu keiner Stund. Hab manchmal Durst, trau mich nimmer in den Keller. Ich sag dir.«

»Und ich sag dir, daß es jetzt nichts gibt und daß es so das Beste ist. Das Einzige. Hättest es früher bedenken müssen. Was willst jetzt ändern am Geschehenen? Beicht halt, wennst magst.«

»Sprich's nur heraus: alte Bethauben, junge Hur. Kann's ja auch nicht ändern, daß es so ist mit mir. Ist über mich kommen, wie das alles zusamm. Seh ihn überall. Überall Tote, Stimmen, Hände. Schlaf keine Nacht. Vielleicht krepier ich bald. Wär das beste.«

Der Fuhrknecht lachte bös auf. »Wenn's dir um das ist? … Das hättst billiger haben können.«

»Liegt mir nichts mehr am Leben, sag dir. Nicht soviel. An nichts mehr was. Früher, ja –. Hab mir aus nichts bald was gemacht. Weißt ja. Das ist alles aus.«

»Scheinst mit anderen Worten ihn doch recht gern gehabt zu haben, den Schatz.«

»Unser Kind, Stermelz; mein Kind. Ist doch nicht irgendwer.«

»Schlimmer oft als irgendwer. Deins, ja; ich hab's nicht wollen. Du hast's wollen, wegen Aliment- und Schweiggeldschinden. Nun siehst die Ernte aus dem Samen.«

»Du redst auch schon bald so kalt und hart wie er.«

»Hast du wohl nie getan, wenn wer in deiner Gewalt sich gewunden und um Gnad und Geduld gefleht hat? … Nie hart und kalt gewesen, deine Hand, was, gegen eins deiner Opfer?«

»Stermelz! … Sprichst jetzt auch du so zu mir? … Wo ich sowieso schon bis übers Herz herauf in der Höll bin? … Ich arme verlassene alte Frau! … Ich arme alte Frau! … Und grad du wirfst mir's ins Gesicht! … Grad noch du!«

»Ich mach dir keinen Vorwurf. Ich sag nur. Unsinn aber überhaupt: wir haben ihn ja gar nicht umgebracht. Wir.«

»Aber es drauf angelegt, Stermelz. Es wollen.«

»Wollen … Wollen kann man bald was. Wenn man's nicht tut? … Er hätt ja nicht müssen, hat ihm niemand aufgetragen.«

»Es ist dasselbe. Wir haben's angestellt. Von uns kommt's. Wir waren's. Wir haben noch den hineingezogen in unsere Schuld und unglücklich gemacht für sein Leben.«

»Jetzt fließt die Bregana bergauf. Du redst von Schuld und was weiß ich und hast auf einmal ein Gewissen wie eine Terzialka Angehörige des dritten (Laien-)Ordens des Hl. Franziskus. … Ein bissel eine Gelegenheit haben wir geschafft und zugeschlagen hat das Brett, das ist alles.«

»Hast doch selber gesagt, sonst hättst du – –«

»Hätt auch, meiner Seel, ohne Muck und Zuck. Hab meinen Glauben an gewisse Sachen, wo's hingehört, aber ich seh keine solchen Gespenster. Ich selber mit dem Strick um den Hals bin mir das allerfurchtbarste Gespenst. Darum. Also. Der andere, der Primurz, hat sich der wieder einmal sehen lassen?«

»Vor ein paar Tagen, ja. Kurz nur. Hab mich vor ihm versteckt. Hab ihn nicht anschauen können.«

»Wisset man nur, was er mit ihm angefangen hat und wie. Man müsset's ihm doch auf eine Weis abnötigen. Was kann er uns viel? Nichts. Er aber hängt.«

»Nicht dran rühren, Stermelz, nicht rühren dran. Jetzt, wo's doch irgendwie geschehen ist mit unserem Willen und mit unserer Absicht, was wollen wir? Er kommt aus der Gegend, laß ihn von mir aus das Gewehr, das verdammte, behalten und mitnehmen – wenn er nur weg ist.«

»Es wär vielleicht gut; aber no, wie du meinst.«

»So mein ich: was haben wir davon? Wenn wir's auch wissen?«

»Das Finden, verstehst. Besser, daß wir finden, als daß eines Tages gefunden wird.«

Die Horvatitschka wehrte mit beiden Händen. »Nichts finden! Nichts will ich gefunden haben. Soll alles bleiben wie's ist.«

»Jetzt auf einmal. Früher hast du noch die Gendarmen gehetzt und gehienzt. Wie du meinst. Aber ich sag dir: dann wird eines Tags gefunden werden, was wir so noch auf die Seiten bringen könnten. Ob uns das dann lieber sein kann, ich weiß nicht.«

»Und ich will überhaupt nichts wissen. Nichts hören, nicht nachdenken, mich an nichts erinnern. Denk so den geschlagenen Tag nichts anderes, seh die ganze Nacht nichts andres vor meiner in der Finsternis, wie ich mich wehr' … Ich werd verrückt. Ich bin's schon, hast recht. Oh Jesus, Jesus … Fallt mir ein, du: – die spannt was.«

»Die Grabertische? … Wie sollt's nicht? … Drückt's gar schon auf?«

»Kleinweis. Einmal. So nur. Red nichts mehr seit dem davon zu ihr. Man kann sie nicht abschieben.«

»Das wär das Gefährlichste. Ja, schon, so …« Der Fuhrmannsdaumen knöchelte abknackend auf den Tisch. »Und dann ging's weiter, wo's nimmer still und einsam ist wie einst. Süße Komödie spielen muß man. Oder sich ganz dumm und steif stellen. Hat wohl er ihr was vermunkelt?«

»Man möcht's entnehmen.«

»Wird noch schwer werden, das alles. Weil's nicht so gekommen ist, wie ich gemeint hab, gleich an Ort und Stell oder wenigstens am ersten Abend, daß man Hand anlegen könnt an den Täter. Hast wohl auch du was zu erkennen geben?«

»Mag mir in meinen Ängsten was ausgefahren sein. Hab sie ein paarmal gebeten, daß sie nachschaut, daß sie bei mir schlaft, daß sie mit mir betet … Ja ja, ich bet, schau nur; ich, und tu beten! … Lach mich aus, ich lach selber … Rosenkranz, Litanei, stundenlang bis in grauen Morgen – – – Stermelz, was willst machen, wenn du nicht schlafen kannst und dir alles voll von Schritten und Stimmen im Haus, Gurgeln und Murmeln, als steiget schauerlich Grundwasser, blutiges Grundwasser! … Wenn du, ja, mit mir beten tätst statt einer Fremden; haben wir früher andres mitsamm getan, könnten wir jetzt einander helfen … Bin ja närrisch. Jesus, Jesus, daß es so hat kommen müssen mit ihm über uns! Gottes Straf, die man sich selber gemacht, geboren und großgenährt hat … Diese Straße, maledeite!«

Der Fuhrknecht nickte nach langem Schweigen. »Es wird noch schwer. Es wird noch kosten. Die Fuhr ist aus dem Gleis. Und du: gefährlich warst immer, gefährlich wie jetzt nie.«

Die Horvatitschka seufzte, in die Kerzenflamme verstarrt. »Alles so gekommen von einem zum anderen. Was war der Anfang? Hätten wir uns bloß damals zusammengetan und geheiratet. Wär vielleicht Fried.«

»Solcher, ja, wie die Toten ihn haben.«

Sie verstand nicht. »Besser solcher als gar keiner; wir haben nicht einmal den. Was hat's uns genützt? Unten schlaft das Geld, und man traut sich nie dran. Haben's verschoben und verschoben, und jetzt …«

Stermelz legte die schwere Zügelhand auf den Tisch. »Jetzt ist's zu spät.«

»Freilich zu spät. Für zwei, die ihr eigenes Kind umgebracht haben.«

»Sonst aber von diesem ihrem eigenen Kinde umgebracht worden wären … Und vielleicht, wahrscheinlich noch selber einand umgebracht hätten …«

Die Kerze knisterte; im Nachtwald draußen den Berg hinauf rauschte trocken blätternd der brennende Sommerwind.

*

In schmachtenden Nächten hie und da trügerisch flüchtig Wettergeleucht hinter den Bergen; und ein Tag in stahlblauer Strahlglut, in glosendem Felsglast, in brandigem Brodem, in stickendem Kalkstaub mörderischer, höllischer als der andere. Langsam sprengt und schürft sich die Straße um Schlucht, Riß und Graben die Talflanke hinan; der Kessel kocht; die Steine flammen.

Die Männer, schwarzgebrannt, blasenwund, nackt bis zum Gürtel, fallen um wie geschossen, den Karst, den Hammer, die Spitzharke in der Hand, und keine Drohung, kein Schlag, kein Fluchtritt erweckt sie aus ihrer Umnachtung.

»Anfangs waren's zu viele, bald werden's ihrer nicht halb genug sein,« klagt der rapportierende Partieführer; »wenn's so weiter geht – jeder dieser Tage nimmt ihrer zwei oder drei … Und Mißstimmung und Unruh ist auch unter ihnen.«

»Immer so grad in der Mitte, im Hochsommer, wenn sie den Stich kriegen,« knurrt verärgert der Oberingenieur; »Löhnungen oder Hitzferien am End?«

»Nicht einmal. Wegen dem da ist's, wegen dem Kerl, dem Primurzen, dem Schorman. Wollen nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten. Murren. Daß Unglück sein würde, solange er dabei ist. Daß etwas von ihm ausgehe, Blutgeruch, Aasgestank, was weiß ich. Daß er im Traum unheimliches Zeug redet, aufschreit, zwischen den Schlafenden herumgeistert. Mag keiner mehr im gleichen Raum mit ihm liegen. Daß er's wahrscheinlich doch gewesen wäre und müsset verhaftet werden, der Verdacht dürfet nicht so auf ihnen allen bleiben, duldeten sie nicht. Und er sollet abgeschafft werden, sonst würden sie ihn … Unsinn – –«

Der Oberingenieur macht böse Starraugen. »Das glaub ich, daß das Unsinn ist. Hitzblüten sind das. Was denn auf einmal? Was bildet sich das Gesindel ein? Möcht wohl nicht wissen, wie viele von denen selber schon was auf dem Kerbholz haben. Er?«

»Nichts zu tadeln. Arbeitet wie ein Ochs. Einer unsrer Zähesten. Ein Vieh. Fragt nach nichts. Geht aus dem Weg. Tät mir selber leid – –«

Der Oberingenieur schlägt flach auf die vorliegenden Profilkarten. »Also, da wird nichts draus. Da nachgeben, sich Vorschriften machen lassen, sich schwach zeigen, noch schöner, wohin käm man? … Das Nächste, daß die Herrschaften vielleicht meinen Kopf verlangen? … Die sollen sich schön um ihre eigenen Drecke scheren. Werden sich beruhigen, beim ersten kühlenden Regen. Der Primurz bleibt, Schluß; erweist sich etwas gegen ihn, so wird ihm schon das Maß genommen werden, von denen, die dazu berufen sind.«

»Ja, aber …« Der Partieführer stockt.

»Was da: aber? Nichts aber! Ich hab's gesagt, fertig.«

»Aber nur, mein ich – etwas stimmt doch nicht mit ihm. Hockt abseits. Gibt keinem ein Wort …«

»Soll er nicht? … Soll er da noch? …«

»Ja, aber – nur, ganz komisch … Ich weiß nicht … Und diese Reden im Schlaf; es haben viele gehört …«

»Sollen sie besser schnarchen, dann hören sie nicht. Wohl noch zu wenig Arbeit und Hitz? Mir scheint, ihr alle miteinander seid angebrannt. Soll da einer sich nicht wälzen und schwatzen. Noch ich tu's wahrscheinlich.«

»... schlagt immerzu wie mit einem Hammer wie auf einen Schädel ein und brüllt, man kann nicht alles verstehen … Schreit auf, daß ihn niemand finden, ihm niemand was nachweisen wird … Ruft alle möglichen Weibernamen, glaub gar, von dem Mensch da beim Konfin drunten den auch dazwischen. Erzählt was von einem goldenen Schlüssel zu unterirdischen Schätzen …«

»Herrgott, wen geht denn das alles etwas an … Wenn einer den ganzen lieben glühenden Tag nichts tut als hämmert und hämmert und hämmert, soll er da nicht im Traum weiterwerken? Und das Übrige … Hat vielleicht selber einen Stich von der Sonne. Zu verwundern wär's nicht.«

Der Partieführer hebt zweifelnd die Schulter. »Kann auch sein. Aber die es hören, deuten's anders. Ich mein, eines Tag's könnten sie am End – – – und es gäb noch Mord und Totschlag und Geschichten – – – Glauben eben alle, er wär's gewesen.«

»Soll sich doch schlagend ausgewiesen haben, denk ich?«

»Ja, schon. Aber doch – – man kann's nicht recht sagen, etwas geht ihm nach, es ist wie ein Schatten, es liegt in der Luft … Darum hab ich mir erlaubt …«

Der Oberingenieur läßt ungeduldig den Bleistift auf den Profilplänen wippen und stupfen … »Also, was, das Gered! … Den Kerl einmal vorführen!«

Und nun steht Schorman stumpf gelassen in der Kanzlei, breitoffen das Hemd über der tiefbraunrot gebrannten Brust, die Militärmütze mit dem Zigarettenstumpf im Falz demütig in den hammermüden Händen.

»Du bist das? … Schorman Ilija aus – – Grischane? Kenn ich, Grischane; dort zweigt die Straße ab nach der Lika hinauf. Also, du, wie ist das: deine Kameraden beschweren sich über dich. Bist ihnen unheimlich. Was weißt du von der Geschichte?«

»Von welcher Geschichte?«

»Nun – mit ihm, dem du in der Nacht den Schädel einhämmerst und den niemand finden soll? Wie ist das?«

»Gott mir, daß ich da nicht viel weiß. Es hat mich aufgeregt, ich träume davon.«

»Ich denke überhaupt, er ist erschossen worden und nicht erschlagen?«

»Gott wird es wissen; ich kann es nicht sagen.«

»Das aber von diesem Fund heute weißt du?«

»Gott mir, daß ich nichts von einem Fund weiß.«

»Und daß sich herausgestellt hat, daß er noch lebt.«

Ilija aber zuckt mit keinem Haar. »Gott mir, auch davon habe ich nichts gehört.«

»Ja. Und daß er so einiges gegen dich vorzubringen hat. Schon vorgebracht hat.«

»Boga mi, es ist möglich. Er war mir immer aufsässig. Wegen jeder Zigarette, wegen jeder versäumten Minute. Aber ich habe mich nicht viel darum bekümmert. War er der Herr?«

»Na, und wegen dem Frauenzimmer da drunten? … Wie seid ihr euch da gestanden?«

»Gott mir, nicht, ich weiß nicht. Wir haben nie über so etwas gesprochen, wie sollte ich?«

»Er hat aber noch viel mehr vorgebracht. Ich will dir sagen, was. Daß du es seist, der ihn angefallen, niedergeschossen oder geschlagen, irgendwohin verschleppt und für tot liegen gelassen hat.«

Herrgott, das verlogene Fangespiel, ist ja albern. Und der Primurz da hört alles gleichmütig an und rührt noch nicht einmal eine Braue.

»Gott mir, daß er das wird schwerlich behaupten können.«

»Warum nicht, wenn es wahr ist?«

»Boga mi, die Augen sollen mir ausrinnen, daß es nicht wahr ist.«

Der Oberingenieur bricht ab. Da hätte man sich an diesem felsenen karststarren Gemüt glücklich zuschanden, um sein Ansehen und seine Würde geredet.

»Es ist gut. Du kannst gehen. Ich habe nur einmal hören wollen. Was haben deine Kameraden eigentlich gegen dich?«

»Ich weiß nicht einmal, daß sie etwas gegen mich haben. Ich kümmere mich nicht viel.«

»Na ja, schön. Also abtreten.«

Und Ilija geht, wie er gekommen, gelassen, dumpf, gleichgültig, abgestumpft wie ein gehorsames müdes Tier.

Selber schön dumm, die ihn für so blöde hielten.

Das roch ja drei Segelstunden weit gegen die schärfste Bora. – –

Und nun hockt er wieder abseits in der grellen lähmenden Hochmittagsglut, saugt inbrünstig an seinem Rauchkraut und spinnt.

Er hätte vielleicht doch lieber nach Wis-kond-zin gehen sollen.

Dort zuckt kein Irrlicht. Dort gibt es keinen Nebelbock und keinen Peter Klepetz und keine Gespenster. Dort war alles anders.

Dort, hatte er gehört, durfte man ruhig irgendwen als unbequem niederschießen, und niemand fragte danach.

Und von dort, wenn man nicht wollte, gab es keine Rückkehr. Man blieb, man verschwand, man starb, kein Mensch kümmerte sich darum, keiner stocherte einem nach mit Bleistift und Bajonett, man begann ein neues Leben.

So hatte der Gevatter aus Klana ob Castua oft erzählt, gar schön und lockend zu vernehmen. Es mußte ein gutes Land sein, Wis-kond-zin.

Aber Rückkehr auch von hier, von jetzt gab es nicht.

Keine Rückkehr zu den Träumen und Plänen jener ersten schläfernd warmen Frühlingstage, zur stillen Freude an seinem bißchen mitgebrachter Heimat im Leibling, in den ziegenwollenen Socken, im Würzduft der blutbraunen silberumspangten Weichselspitze … Keine Rückkehr zum Heimgotteshaus mit der Bogenlaube davor und dem Wühlsturm draußen und dem geordneten Herdbehagen innen; keine zum Vinodol mit seinen gehegten Ölgärten und Rebenstaffeln in geschirmter Bucht drunten und droben der großen Sicht über den Wetterkanal nach Krk jenseits und dem wimpelschlagenden schwarzen Tuch seiner Duscha, zwischen den Schafen spinnend und strickend auf harrender steiniger Höhe … Nichts, nichts. Und keine Ruhe vor dem treibenden berauschten Verlangen nach ihr, der anderen; keine Ruhe und Rettung vor ihm, vor dem Schatten, vor dem Gespenst …

Nein, leben tut er gewiß nicht, da hatte der Gospon Indženir sich selbst in die gestellte Schlinge gelogen; mit solch zermalmten Schädel steht keiner auf aus dem begrabenden Schutt und redet. Und doch, ja, lebt er und verfolgt ihn durch Schlaf und Schicht, begleitet ihn zur Arbeit, steht vor ihm am Meißel, hebt sich totenbleich aus dem Brauen und Fließen zuckender Träume, und stets von Neuem muß er ihn mit wuchtendem Hammer erschlagen.

Stets von neuem: ganze ewige Nächte lang.

Da heult er manchmal auf aus seinen Schreckensgesichtern und seiner Wut über den Unsterblichen, und erwacht und weiß: jetzt haben die anderen ihn belauscht, verstanden, erraten.

Und er flucht manchmal wild zum Hammer, wenn er ihn im Schwung niederdröhnen läßt auf den Eisenschaft mit der Bohrklaue: Da, du Hund! … Krepier, du Schwein! … Verreck, du Vieh! … und stockt mit einmal, besinnt sich, ahnt, und erfröstelt unter heißströmendem Schweiß …

Und kann es doch nicht ändern.

Die Gendarmen, der Gospon Nadindženir, der Partieführer, die mochten ihn fragen soviel sie wollten, er blieb stumpf und unwissend. Aber ein anderer noch fragte ihn mit stummen, starren, bösen Allaugen: und dann schrie es wider seinen Willen mit fremder Stimme, war nicht zum Schweigen zu bringen und schreckte ihn mit drohendem Spukgebild.

Daß sie ihm mißtrauten, er merkte es längst. Sah und vernahm ihr Flüstern und Deuten hinter seinem Rücken und saß wehrlos abseits und wartete. Schon einmal Gottes Wille, daß es so hatte kommen müssen über ihn. Alles ist Gottes Wille.

Und sieht es immer wieder vor sich, wie er's damals in einer Stunde stillen Racheglühens ausgesponnen: die Talstraße zwischen dunkel ruhenden Hängen unter den Sommersternen, der lautrauschende Bach, der erwartete nahende Schritt, der Überfall und der tödliche Schmetterschlag …

Und all das Folgende, schaurig schwer aber gelungen und geglückt auf den Strich genau nach der Vorberechnung: wie so ein gelernter Herr Indženir seine Straße irgendwo ganz weit drunten anfangt, und um keinen Schritt fehl endet sie drei Wegstunden weit an ihrem bestimmten Ziel … Keine gute Erinnerung, aber was läge dran, wäre nicht diese inwendige Angst, heimlich stärker mit jedem Tag. Er hatte einen erschlagen; doch was wäre da viel dabei, wäre nicht diese stete Gegenwart um ihn her, die Last auf seiner Schulter, das Dunkel vor ihm, diese schwermütige Verlassenheit … Erschlagen: in Bosnien wird er so manchen, Besseren vielleicht, Bruder in Volk und Glauben, auf Befehl erschossen, im wühlenden Messerkampf der Straßen niedergestochen haben – was war der Unterschied? … Und überhaupt, so schwer nahm man das nicht in den Bergen, konnte ja dafür ebensogut selber umgebracht werden … Nur hier in der Fremde, gefangen in diesem Tale, hart angeschmiedet an die eiserne Arbeit, umstrickt von diesem zähen, unzerreißbaren Schicksalnetz – –

Finden würden sie ja doch nichts. Und wenn, nichts entdecken. Der Bock damals in der Schlinge, bei geringerer Hitze, wie war der schnell zerwest und zerfallen! … Und dann, Christo Dank, ein Schlag war kein Schuß. Nach einem Schusse aber suchten sie doch. Nach dem mit entwendetem Pulver vorbereiteten Sprengschuß, den er dann, nach verrichtetem Werk, gelöst, drunten in der Enge, wo es stark widerhallte. Er war nicht so dumm, er; war er auch bloß ein armer Teufel aus Grischane ob dem Vinodol. Es gab Leute, die wußten etwas von seinem Gewehr, von der Flinte mit dem kantigen Lauf, die sie selber ihm in die Hand gegeben; und es gab Leute, die ihm genau gesagt, wie er es machen mußte; und gab Leute, die den vernommenen Knall schon sich und anderen gedeutet, die dann am Fund gänzlich irre werden mußten. Nein, erschossen, wie sie alle glaubten und glauben sollten, hatte er keinen. Mochten sie weiter glauben; und wenn sie ihm das Leben zu heiß machten in der Haut, dann verhalf er selbst ihnen zur Entdeckung, er hatte sich's schon ausgedacht, wie, und dann mochten sie sehen und ihre Täuschung erkennen.

Aber sein Traumgerede, das, das: – sie ahnten ja, er selbst hatte es ihnen ja gesagt … Oder was hatte der Gospon Nadindženir gemeint mit seiner fängischen Frage? … Bei Nacht und Tag schreckte es einen auf aus der Ruhe, aus dem Vergessen … Wis-kond-zin, Wis-kond-zin; dort mußte Friede sein.

Das Gespenst, mit dem er unablässig kämpfen, ringen, sich würgen mußte, von den anderen beobachtet und belauscht! … Was in Wirklichkeit geschehen, das hatte kein Auge geschaut; wie es sich allnächtlich wiederholte, der Totschlag am Unsterblichen, das wurde offenbar. Und doch war er in all seiner Eile so vorsichtig gewesen, hatte nichts genommen, hatte das Buch selbst nicht liegen gelassen, das dem Toten über der Achsel aus der Tasche geglitten, hatte es aufgelesen und ihm sorglich wieder zugesteckt, das schwarze gehaßte Buch, in das jener bei Lebzeiten alle seine Niederträchtigkeiten geschrieben. Nur grad der falsche Geldzettel und der Knopf, die waren ihm entgangen. Hatte sich dann noch peinlich gewaschen, hatte das blutgetränkte Hemd unter einem schweren Stein im Bache geborgen und ein anderes schon vorbereitetes dafür angelegt, hatte die Opanken abgespült und die von Wildschweiß und Fett ohnehin starrende dunkle Hose einmal wenigstens abgeschwemmt; hatte endlich die Kameraden, wie er sie schlafend gelassen, in tiefem Schlafe wiedergefunden, während zu seinem Glücke ein zusammenbrauendes Gewitter den schwülen Morgen verdüsterte … Aber der, den er geborgen gewähnt, hing noch immer über seiner Schulter, und warf er ihn ab, so lebte er und er mußte ihn von neuem erschlagen, und war er tot, so lag er ihm felsschwer auf dem Rücken; und er schleppte an ihm durch die Ewigkeiten unruhiger stickschwüler Nächte, steile Himmelsgebirge in die Wolken empor, drei keuchende Schritte vor, zweie zurück, zweie vor und dreie zurück, durch hüfthohen Schnee, von Wölfen und Gendarmen gehetzt; gewundene Bergstraßen hinan ohne Ende, durch Abgründe von Wäldern nach dem Vinodol, nach der Heimhütte zu seiner Duscha, nach Tersat hinauf zu dem Hause Mariä über die aberhundert geknieten Gnadenstufen, immer mit dem kalten Leichnam um den Nacken, watend durch den wühlenden Wetterkanal hinüber nach Krk, durch unermeßliche Meere nach dem fernen Wis-kond-zin, Nacht für Nacht …

Warum eigentlich, warum hatte er ihn erschlagen?

Er wußte es selbst nicht mehr. Es hatte sein müssen. Es hatte ihn gezwungen. Es war über ihn gekommen, und nichts kommt und nichts geht ohne den Willen Gottes.

*

Ein paarmal seither schon war er drunten gewesen, bei ihr: spät im scheuen Dunkel auf Huschpfaden durch Busch und Wiesen gekommen, tief in einsamer Nacht an den Waldrändern zurück nach dem Lager geschlichen. Und der Erschlagene hing ihm weltenschwer über die Schulter, und das blaue Irrlicht schwebte vor ihm her durch den Grund.

»Ich weiß, du.«

»Was willst du wissen?«

»Alles. Aber ich verrat schon keinen, sei darum ruhig. Du hast's getan.«

»Gott mir, was soll ich getan haben?«

»Geh, geh, stell dich vor mir nicht, das kannst vor den Gendarmen. Gib's zu, dann darfst kommen; leugn' es ab, dann bleib weg. Ein ehrlicher Mörder, der graust mich nicht; nur ein Feigling.«

»Ich hab ihn nicht erschossen.«

»Dann anders. Das ist ja gleich. Aber du warst's, sorg dich nicht, daß ich das nicht glaub.«

»Und wenn, verflucht sei deine Mutter – –«

Sie hatte unheimlich aufgelacht. »Von mir aus; daß sie mich in diese Welt gesetzt hat … Das andre: wär noch nicht der dümmste und schlechteste Streich, den du gespielt. War ein Schwein, der, ein Schuft und Hund. Verdienen zwar die meisten nichts besseres. Und schließlich: werden wir doch alle umgebracht, so oder so …« – – –

Einmal, als er im Schein unwissender Unschuld zu früherer Stunde um Tabak eingesprochen, war die Alte wie gestochen vor ihm aufgefahren und schwerfällig davongehastet. Er erriet, und seither mied er den wachen Tag. – –

Aber ein andermal war er unter Drohungen abgewiesen worden.

»Heut nicht, troll dich. Morgen vielleicht, ein andermal.«

»Warum? Der Weg ist weit und gefährlich.«

»Dann bleib fort, wenn er dir zu weit ist und zu gefährlich. Glaubst, ich frag viel?«

»Aber damals …«

»Was damals, Narr? … Damals war eben damals, heut ist heut, und heut nicht.«

Sein Blut schlug an, er würgte, sein Herz ballte sich zur Faust.

»Erwartest wohl einen, den Jäger?«

»Was ging es dich an? Der Jäger hat noch keinen auf dem Gewissen. Du bist's nicht, der was da fordern könnt, verstehst?«

»Ich hab gar nichts –«

»Kommst jetzt wieder so, dann pack dich für alle Zeit, du.«

»Ich hab gar nichts zuzugeben.«

»Nein, gar nichts; grad in dem Atemzug, wo du was erzählst von gefährlichem Weg. Und das braucht's gar nicht, ich weiß. Hast's getan, wegen mir, wer sonst; er hat's verdient, war ein Schurk über hundert Mörder hinaus, hast den rechten getroffen; bin's dir nicht undankbar, geb dich nicht aus, aber sei du bescheiden und froh. Frag nicht, wie und wo, und wie du's angestellt und wo du ihn gelassen, wie eine andre tät, daß sie dich nachher doch verschwatzet; aber schau nur, daß dir nicht dasselbe geschieht und geh.«

Er schwieg, gebunden, geknebelt, gebrochen. Stand unschlußlang unter den schwülen Sommersternen bei den gespenstigen Weiden am Bach, das verloschene Haus zwischen den finsteren Waldhängen, die mattleuchtende Straße hinauf und hinunter im Aug. Nichts kam; trockener Brandwind blätterte, die jungen Eulen zischten im Dunkel, ein Stern zog in blauglimmender Bahn wie mit riesigem Schwefelspan von ungeheurer Hand über den Himmel gerissen, die Forelle sprang, Getier huschte, träumig über klingenden Kies klickerte der Bach. Später erwachte dumpfer Kerzenschein hinter einem der Fenster, ein Schatten wanderte, eintönig klagendes Gemurmel schwoll und fiel, wie von Gebeten einer Totenwacht. Der Jäger, war das der Jäger, war er bei ihr? … Blaß schauerte er das Tal herauf, der Hahn krähte; Ilija schauderte zusammen, löste sich mit einem Sterbeseufzer und ging, schwer unter der Last des Erschlagenen, und ihm voran geisterte blau das Irrlicht, hinter ihm in fahlem Dämmer wuchs riesig der Peter Klepetz aus den Wäldern. – –

Wis-kond-zin, Wis-kond-zin: wie kam man dorthin? … Dort vielleicht war Ruhe und Rettung; aus dieser Enge, aus seiner Armut, aus all diesen Schlingen und Netzen und verstrickten Geschicken, wie kam man dorthin, in die neue Welt mit ihrem neuen Leben?

*

Und kein Regen der fiel, keine Wolke die schattete, keine Kühlung die wehte; in schmachten Nächten nur das trügerische Wettergeleucht über den Bergen, und ein Tag in stahlblauer Strahlglut, in glosendem Glast, in stickendem Staub höllischer als der andre. Der Kessel kocht; die Steine flammen; Eisen in blasenwunden Händen, Flackergefels vor den Augen, die ganze Trasse, die ganze Welt sonnweißer blendender Erzfluß.

Und ein Unglück zum anderen, wie unter der Pest fallen die Leute. In den Baracken drunten, im verseuchten menschversumpften Grund braut Brodem, liegen neben den Sonngestochenen die Nervenfiebernden in dumpfem Dämmer, schauern die Malariakranken in Frostgluten, krümmen sich die Ruhrbefallenen in Krampf und Unflat … Eines wabernden Morgens, wie er mit geheilter Hand den Bohrmeißel dem Hammer darhielt und von Schlag zu Schlag wendete, ward Angelo Danielis von einer häßlichen Fliege tief und sengheiß in den wehrlos gestrafften Arm gestochen; mißfarben schwoll das Mal, das ganze erlahmende ertaubende Glied, am anderen Tage legte sich der Fiebergeschüttelte, am dritten Abende war er tot.

Schorman nur, hager und finster, werkte unentwegt und gefeit mit seiner dröhnklirrenden Hammerwucht wider den Berg: Prall um Prall, Strich um Strich, Zoll um Zoll … Nur an das Ende dieses Weges, an das Ziel dieser Straße, an das Heimathaus mit seiner Herdseele dachte er längst nicht mehr.

Blasch Furlan, der Küstenländer aus dem Ternovaner Wald, sollte an des Verstorbenen Stelle treten; er weigerte sich.

»Mit dem zusammen nicht; den meidet noch das Geschmeiß, oder es geht aus von ihm; das ist der Tod. Von dem kommt alles; das ist wie Aasgestank um ihn her …«

Der Partieführer, kirschbraun gebläht, selbst schon wirr vor Wut und Sorgen, bellte ihn heiser an. »Was, du wirst nicht, du Schwein, verflucht sei deine Hur von Mutter, reit dich der Teufel! … Gehorchen, augenblicklich, ja, bassama, sofort an den Meißel!«

Der Ternovaner hob drohend das Gerät. »Selber Schwein, verdammt sei deine eigene Geburt! … Der da ist das Schwein, der Leichenfresser oder was er ist, der Nachtvampyr! … Neben dem arbeit ich nicht, fertig, ich will nicht krepieren!«

»Was, du …? … Dich widersetzen? … Soll dich Christus der Herr, du Drecksau! … Antreten, marsch, oder – –«

Aber dunkel, bosglitzernd, hohläugig ballte sich's um den Partieführer mit dem gehobenen Stock.

»Recht hat er, das Nämliche sagen wir alle! … Von dem stinkt's! … der bringt Unglück! … wissen wir längst …«

»– mit dem Böhmen damals hat's angefangen –«

»– ja, und zwei oder drei Tag später ist der andre da verschwunden –«

»– um den wir alle in Verdacht stehen –«

»– wenn er auch ein Hund war, der Rotzbub, der hoffärtige Bankert, nichts anderes wert –«

»– macht nichts, umgebracht ist umgebracht, und der da hat's getan –«

»– Blut ist an dem, stinkendes Blut! …«

»– ja, und seither nichts als Krankheit und Tod und alles Mögliche –«

»– als wie eine Strafe, über uns alle verhängt, solange wir den unter uns dulden –«

»– keine Mauer haltet; kein Mörtel greift; keine Pölzung steht; Rutschungen ohne Regen, jetzt in der Dürre – –«

»– ja, und ich hab's gesehen, im Schlaf ist ihm ein schwarzes Tier aus dem Mund gekrochen und eilig hinaus in die Nacht; ein schwarzes haariges Tier wie eine geflügelte riesige Spinne, wie eine Fledermaus – –«

»– seine Seele, die auf Nachtjagd nach Opfern geht –«

»– und ich, ich hab's gesehen, wie er sein Brot gebrochen hat, war's ganz blutig innen – –«

»– ein Strigon ist er, ein Vampyr, ein Blut- und Seelenfresser –«

»– Leichenfresser, Gräberwolf –«

»– und so wird er den auch umgebracht haben –«

»– denn was schreit er immer so auf und stöhnt und knirscht im Schlaf, hä? … Was geistert er immer zur Nacht? … Redet im Traum von Seelen und von Begrabenen? … Was hat er keine ehrliche Ruhe?«

»– nie gehabt, eine solche; immer schon so abseits herumgestrichen und geheimes Wesen getrieben –«

»– weiß Gott, was dem alles schon nachgeht –«

»– was das überhaupt für einer ist? … Keiner wie wir; ein Besessener oder Verschriebener –«

»– einer mit einem Fluch oder einem Gespenst in sich, ein Strigon – –«

»Was ist denn da los? … was soll denn das heißen? … Seid's alle verrückt?« … Eine hartherrische Stimme donnerte gell den wildschwellenden Chor nieder, daß er schreckstaunend aufstummte. »Hat euch alle zusamm die Sonn gestochen oder der Skorpion, oder habt's Narrenpilze gefressen, oder wie oder was?« … Der Oberingenieur keilte sich in die weichende Rottung; sein blattriges Gesicht glühte, schweißblank blitzte der Blick. »Ist hier eine Skuptschina oder ein Mir oder ein Sobor oder was zu allen sieben grüngeschwänzten Teufeln, oder die Arbeit für gutes Geld, hä? … Was wollt's?«

Der Ternovaner trotzte vor, uneingeschüchtert, mit gefaßtem Bohrschaft, als wollte er den Meister vom Bau auf der Stelle niederschlagen.

»Daß ich mit dem nicht arbeiten mag und nicht arbeiten werd: – damit hat's angefangen.«

»– wir alle nicht!«

»– keiner von uns!«

»– deswegen, wir erklären's gerad, weil er uns –«

Der Ingenieur funkelte die Runde ab. »Kusch! … Einer spricht! … So: und warum nicht?«

Mattio Grander der Istrianer aus Gologoritza nahm ernsthaft entschieden das Wort. »Es ist so: wir alle haben es beraten und beschlossen: der da, Strigon oder was er ist mit seiner Verdächtigkeit und seinem bösen Blick, er wird entlassen und fortgeschickt, oder wir insgesamt, bei Kreuz und Blut, legen die Arbeit nieder.«

»– ja, oder wir selber besorgen ihm den Paß …«

»– ja, in die Ewigkeit …«

»– tun ihm, wie man's dem Strigon machen muß: einmal tot und begraben, wird ihm noch ein Pfahl durchs Herz getrieben, sonst geht er weiter um – –«

Wutgeschwellt zum Bersten stand der niedergeschriene Partieführer, verbissen ohnmächtig der Oberingenieur, düster, fahl unter tiefem Sonnenbrand, wie teilnahmslos mit hangendem Hammer und doch an allen Fibern bebend Schorman im geschlossenen werkeisenstarrenden Ring.

»Ja – oder wir legen einfach die Arbeit nieder, gehen, und der mag bleiben. Mit einem solchen, Mörder oder Werwolf, haben wir keine und wollen wir keine Gemeinschaft.«

Der Bauleiter zögerte, als überhörte er hochmütig, daß eine Forderung gestellt worden. Ein Ende aber mußte gemacht werden; besser ein Opfer und eine Ungerechtigkeit, besser selbst eine Schwäche als Unruhe und Stillstand. Wie aus eigen mitgebrachtem Entschluß hob er streng den Kopf gegen den Beschuldigten. »Pack dich und deine Sachen, laß dich auszahlen, sieh, daß du fortkommst.«

Schorman stand taub, wie verwurzelt. Der Ternovaner in seinem Haß versetzte ihm einen Stoß vor die Brust.

»Fort mit dir, hast's nicht gehört! … Schwein! … Verheirateter, der sich nicht einmal schämt … Muß auch eine sein, die sich mit dir einlaßt … Nach einem wie du möcht man schon nicht …«

Da, in einem Erzittern über und über, die Augen abgrundschwarz in schmutziger Blässe, erwachte der Beleidigte.

Jähauf schwang es ihm den Hammer; Herzen stockten, Stickstarre lähmte: – im nächsten Augenblick mußte der Angreifer hinklotzen wie ein Baum oder in seinem Zurückweichen hintüberstraucheln über die Steilskarpe, in Geröll und Geklipp aufschmettern und zerschellt mit Haldenschutt hinabfahren zum Grund.

Aber plötzlich, noch vor erstem Schrei und Begreifen fiel unsichtbare Gewalt in den wuchtgewaffneten Arm.

Ilija Schorman hielt an, wie horchend stand er die Ewigkeit eines gepreßten Herzschlags lang mit erhobenem Tod in Fäusten: dann war's, als würde er aufgelöst in einen brechenden Seufzer, er taumelte verloschen ab, lehnte den Zweihänder sorgfältig und leise gegen das Gestein, nahm noch seinen fortgehängten Leibling auf und schwankte betäubt hinweg, die glosende Trasse hinunter.

Hinter ihm blieb verstörtes Schweigen.

»Was gafft ihr? … Was glotzt ihr?« Ermutigt schwang der Rottenführer den gebietenden Rundhaken. »Glaubt ihr, ihr werdet fürs Maulaffen und Stieren und Blödsinnigsein von der Regierung gezahlt, ja bassama teremtete, verflucht seien eure Mütter! … Weiter, weiter, fleißig, fleißig, daß die Zeit eingebracht wird, daß wir vorwärts kommen mit der Straße, ihr Satansbrut, daß wir nicht noch hier festwachsen und krepieren in diesen verdammten Bergen, sollen euch alle Heiligen, daß einmal für mich und den Gospon Nadindženir ein End ist mit euch Büffeln, mit euch Hundsföttern, mög euch die Muttergottes; anpacken, zugreifen, vorwärts, los, los! …« – – – – – –

Langsam, in dumpfer ungelöschter Nachschwüle, ordnete sich die Arbeit. Ein anderer trat an den Hammer, ein anderer hielt den klauenden Meißel: – Prall um Prall, Strich um Strich, Zoll um Zoll: daß am Ende eine Straße würde aus all dem Schurf und Bruch und Brand und Schweiß, ein Heerweg für Gedeih und Verderb, für Gewinn und Verlust, aus dieser Bergwildnis hinüber bis an die großen Gleiszüge nach den Städten, Fabriken, Ämtern und Kasernen, durch Urwald, Hochland, Sumpf und flimmernde Fruchtniederung bis ans allvereinende, allentzweiende Meer …

Eine Weile lang sahen sie ihn drunten auf einem Stein der Halde sitzen, die alte blaue Soldatenmütze, den Rauch seiner Zigarette, den Blink der Knöpfe an seinem Leibling – –

Und dann war er mit einmal verschwunden.


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