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I

Mit strengväterlichem Wohlgefallen sah der alte Graf auf den bildsauberen Burschen, der da in seiner schmucken knappen Heimattracht schlank vor ihm stand und den Wetterfilz mit dem Hahnenspiel in unsicheren Händen drehte.

»Du heißt?«

»Koschutnik Primus.«

»Primus Koschutnik. Das klingt nach den Bergen und schmeckt stark nach blutiger Kirchweih. Bist natürlich ein Oberkrainer, was sonst?«

»Jawohl; aus Zirklach am Zayerfeld.«

»Aus Zirklach am Zayerfeld, das auch noch? Da gehörst schon einmal nicht zu den Zahmsten, wie ich euch kenn. Wie alt?«

»Dreiundsechziger Jahrgang.«

»Also vierundzwanzig. Gedient?«

»Jawohl, drei Jahre, bei den Siebzehnern.«

»Und warst früher beim Herrn Baron auf Egg in Verwendung? Als Hilfsjäger oder Jägerbursch oder so?«

»Jawohl, zweieinhalb Jahr.«

»Ha, und wie geht und steht alles da oben? … Der Herr Baron, reitet er noch manchmal auf seinem kleinen Rappen in die Berge?«

»Nein, bitte, jetzt gar nicht mehr. Seit was er damals den Fuß gebrochen hat –«

»Ist ja wahr. Aber der Martin, der Florian, der alte Mohor, die sind noch immer auf dem Posten?«

»Freilich, und lassen den Herrn Grafen alleruntertänigst grüßen. Nur der alte Mohor, dem fallt das Steigen und Schnaufen schon ein wenig schwer; begeht jetzt mehr den Park und die untere Wirtschaft.«

»Ja, der muß jetzt bald seine Achtzig haben. Aber warum gehst du eigentlich selber nicht wieder nach Egg? Da hättest du's nah zur Heimat.«

»Ich würde; aber der Herr Baron hat doch inzwischen die große Pachtjagd aufgegeben. Da braucht er nimmer so viele Leut.«

»So, so. Jagd, das ist dir am Ganzen wohl die Hauptsach?«

Der Bursch zuckte die Achseln. »Wär schon nicht. Möcht auch sonst was lernen.«

»Und deswegen kommst jetzt zu mir?«

»Der Herr Baron hat mir's geraten. Und er hat gesagt, daß er – –«

»Ja, ja, er hat mir alles geschrieben. Da liegt der Brief. Aber nun, du, erzähl mal ein wenig: was hat dich eigentlich zu meinem Herrn Schwager in Dienst gebracht? Wie ist das zugegangen?«

Primus würgte an seinem Hut.

»War da nicht irgend so eine Geschichte mit einem Gamsbock? Mir scheint, ich hab da so was läuten g'hört.«

Koschutnik sah starr nach dem weißen Porzellanofen in der Ecke, »Wenn's der Herr Graf sowieso schon weiß.« Er ballte die braune Faust. »Aber schuld dran war der andre, soll mich der Teufel holen. Und heimgezahlt hab ich's ihm auch, bei meiner Christenseel. Und noch einmal kriegt er's von mir.«

»Halt, halt! … Schuld hat ja natürlich immer der andere, der grad nicht da ist. Wie heißt denn der?«

»Franz; und Gorenz tut er sich schreiben. Auch einer aus Zirklach. Der Fallot, der Feigling.«

»Na, na; hol nur nicht gleich deinen Dolch aus dem Stiefelschaft. Ich bin nicht der Franz, und dort hinterm Ofen steht er auch nicht. Also mit dem zusammen bist losgegangen?«

»Ja. Wie's so ist. Daß man halt den Mädeln seine Schneid zeigt.«

»Freilich; wohin käm sonst die Welt, nicht wahr? Und da also habts einen Gamsbock geschossen?«

»Zweie; einen auf Allerheiligen Vorabend, den anderen auf Martini. Weil doch jeder seinen Bart hat haben wollen. Und alle beide ich. Der Franz, der hätt ja keinen gekriegt, seiner Lebtag nicht. Der kann nichts, möcht sich grad nur prahlen und blähen, drum hat er mich dazu beredet …« Primus Koschutnik geriet in Eifer; seine welschen Augen funkelten.

»Aber du, du kannst's? Woher denn du?«

»Was der Bruder von meiner Mutter ist, Tschinkowetz schreibt er sich, der ist drüben in Ferlach bei den Büchsenmachern. Da war ich einmal dreiviertel Jahr in Lehr.«

»Aber was andres als schießen hast nicht gelernt?«

»Doch: Patronen laden.«

»Das ist freilich eine schwere Kunst. Und warum bist denn nicht dabei geblieben?«

»Es war so langweilig. Auf unserer Krainer Seiten herüben ist's viel schöner als drüben im Kärntnischen. Dort hört der Winter ja gar nicht auf.«

»Ha, nun erzähl weiter. Wie war das mit dem Martinibock?«

»Ja, der! … Durchgejuckt ist der unter uns, hinter einem anderen, einem vierjährigen her, daß der Schnee nur so geraucht hat, schwarz wie dem Teufel sein Roß, der leibhaftige Satan … Peklo heißt man's auch grad dort, die Höll, und Hudo Govscha den ganzen Kessel unterm Grat; ist auch ein böses Loch …«

Der Graf winkte ab. »Kenn's, kenn dort jede Runse und Rachel. Schaut man hinunter in die Höll, so geht's dann links den Steig um zwei Schneiden herum in den roten Graben – und rechts hinein zur Stara Mat, zur Großmutter, da hat immer das ganze Geißenvolk mit der Jugend gestanden. Und grad gegenüber hat man den Kozjak, auf dem waren die ganz starken Alten zuhaus, mit Krucken so dick und Bärten so lang, die Hauptkerl'n, die richtigen Pechböck …«

»Genau, ganz genau so ist heut noch alles! … Jesus, daß der gnädige Herr Graf das so gut weiß wie ich selbst!« Der ganze junge Jägermensch erstrahlte vor Entzücken; Herr und Knecht, ein paar Herzschläge lang waren sie ihresgleichen in Urborntiefe der Leidenschaft … »Und grad vom Kozjak her gegen den roten Graben hinüber hat er auch den anderen gesprengt, der schwarze pelzige Teufel! … Grad nur so gewubbert hat der Bart auf ihm, wie eine Walze ist er daherkommen … Franz, sag ich, laß mich, den triffst ja doch deiner Lebtag nicht, sag ich, und reiß ihm die Büchsflinten weg – was ja sowieso die meinige war, vom Onkel aus Ferlach halt das Meisterstück, vierhunderter Expreß, schießt scharf auf den Fleck – und das Herz in mir schlagt mir auch bis in Mund hinauf: Philipp-Jakob, Philipp-Jakob, wie eine Glocken am Kirchtag – aber dann, auf einige hundertzehn Schritt, grad vor die Schneid hat er doch ein' Stutzer gemacht, und da – – –«

Über vorgestreckten Arm hin zielte Primus nach dem altertümlich geschnitzten Hirschkopf ob der Tapetentür; vor aufglühender Erinnerung war alles andre hinweggeschmolzen … Der Graf lächelte, aber seine Stimme klang ernüchternd streng.

»Ein großes Heldenstück halt, so hinterm Stein heraus einen brunftnärrischen Gams niederknallen; bild dir nur ja recht viel drauf ein. Na, und dann?«

Koschutnik erwachte aus seiner Begeisterung, Hölle und Heimat versank, beschämt stand er auf fremdem Boden vor seinem erhofften neuen Herrn. »Ja, und dann, dann haben sie uns halt gefaßt.«

»So kommt's, mein Lieber. Euch alle beide?«

»Nur mich; wo ich doch den Bock gebuckelt hab im tiefen Neuschnee. Der Franz, der Hund, der hat sich's freilich leicht gemacht, der ist schön davon. Der Feigling.«

»Ah, du meinst, deinen Bock hätt er wohl schleppen und noch für dich sich einsperren lassen sollen? … Und weiter?«

»Dann haben sie mich halt zum Herrn Baron aufs Schloß geführt.«

»Und der hat dich zur Belohnung zum Jagdgehilfen gemacht.«

»Ja, wie ich ihm alles so gesagt hab.«

»Ja, so ist er schon; und das ist deine Geschichte.« Der Graf sah in den Brief, der offen vor ihm lag. »Lügen wenigstens tust nicht, das seh ich. Was du da erzählst, das hab ich nämlich schon gewußt, hier steht's. Und da steht auch, daß der Herr Baron im ganzen nicht unzufrieden war mit dir. Aber ihr Oberkrainer, grad ihr da von Zirklach und Nacklaß und aus der Gegend, ihr seid halt so verdammt heiße Burschen.«

Primus zuckte wehrlos die Achseln.

»Ja ja, das seit ihr schon. Bei euch muß Sonn- und Feiertag so rot sein wie im Kalender. Und du bist wahrscheinlich nicht grad die große Ausnahm.«

Der Oberkrainer starrte verzagt auf seine Stiefelkappen hinab.

»Hast wohl auch schon mit dem Gericht das Deinige gehabt?«

»Ja, aber das war eine große Ungerechtigkeit.«

»Selbstverständlich, wie ist denn das gekommen?«

»Halt so: wie ich schon im Dienst war und einmal auf Kirchweih, hat der Franz gegen mich aufgewixt und mich gehienzt. Da hab ich dann auch die Feder auf Schneid gesetzt und die Händ aus der Hosen gezogen.«

»Nicht vielleicht noch für einen Gulden Stahl mit? …. Wie viele hast denn gestochen?«

»Drei oder vier; wo ihrer gleich einiger zwölfe waren gegen mich! Die hat der Franz angestellt gehabt, der Heimtück.«

»Gegen ihrer weniger hätt'st dich erwehrt?«

»Das glaub ich! Haben mich auch so nicht untergekriegt, die Rotzer, die!«

»Bist wohl stark wie der Brentajäger, was?«

Der Oberkrainer lächelte stolz.

»Einen geladenen Heuwagen, bitte, rück ich mit einer Hand von der Stell. Zwei alte Zentner heb ich mit einem Arm bis zum Gürtel. Der Martin und der Florian und der alte Mohor sind Zeugen, und viele beim Regiment.«

»Wend es immer gut an, mein Lieber. Aber sitzen hast trotz allem müssen?«

»Sechs Wochen. War mir arg langzeit nach Bergen und Wald. Aber später hab ich's ihm heimgezahlt, dem Feigling dem, dem Stänker.«

»Wie hast denn das angefangen?«

»Gewildert hat er, und da hab ich ihm eins hinaufgebrannt, daß er's nicht wieder vergißt. Sechs Wochen lang ist er auf der Bauchseiten gelegen und hat doch nichts verlauten lassen, hat schon gewußt, warum.«

»Das ist gut.« Der Graf unterdrückte sein Lächeln und brach das Verhör plötzlich ab. »Lassen wir die alten Geschichten, bist jetzt Soldat gewesen, wirst dir die ersten Hörndln hoffentlich abgestoßen haben. Will's halt in Gottesnamen mit dir versuchen, Primus. Du möchtest was lernen, etwas, was dich vorwärtsbringt?«

»Jawohl, bitte: was man so zum Waldhüter braucht, hab ich mir gedacht.«

»Das wär nicht so schwer. Spekulierst wohl auf eine feste Anstellung?«

Der Bursch sah verlegen zur Seite.

»Wenn das ging – im Ternowaner Wald vielleicht oder auf dem Karst oder in der Wochein – oder beim Herrn Fürstbischof in Oberburg oder auch hier – daß ich dann mit der Zeit heiraten könnt …«

Der Graf lachte auf. »Oho, dahinaus! … Hast denn gar schon eine, auf die du spitzt?«

Primus zupfte am Nahtwulst seiner straffen schwarzen Lederhose. »Haben tät ich sie schon …«

»Wo denn? Wie heißt sie denn, die Deinigte?«

»Polona; und ist auch aus der Gegend, aus Sela in der oberen Kanker.«

»So so. Na, das gefallt mir. Eure Mädeln droben, die halten noch was auf sich, die werden alle tüchtige saubere Frauen. Werden halt sehen. Wenn du gut tust, bringst es zu was und magst nicht grad hier bleiben, kann ich mich vielleicht für dich verwenden. Wenn! … Und jetzt hör zu. Eins verstehst doch jedenfalls als Oberkrainer: Holzriesen einrichten, instandhalten und auskehren?«

»O ja, das schon, das. Droben im Krvavetz – wenn der Herr Graf sich erinnert – haben wir auch für den Herrn Baron geriest. Da war ein Hauptriese, gut ihre siebenhundert Meter lang, und ein paar kleinere daneben. Kenn mich auch bei der Rollbahn ein wenig aus.«

»Schön. Mehr braucht's gar nicht für den Anfang. Die Sach ist die: da bauen sie jetzt eine neue Straße hier durch die Berge, das Bregana-Tal hinauf, und dann über Stojdraga und Kalje und Sichelburg nach der kroatischen Seite hinunter, nach Jaska und Karlstadt. Ein gutes Stück ist schon fertig, seit zwei, drei Jahren, bis zur Landesgrenze, die mit der unsrigen zusammenlauft; hat sich auch schon gesetzt, solang haben sie mit dem weiteren gewartet, das kommt grad recht. Da kann ich ein paar uralte Bestände abholzen, die Straße gibt ihnen den Anfall, bringt und macht Käufer, früher war dortheraus keine Fracht; Buchen gehen als Scheiter, Eichen als Dauben und Bahnschweller. Aber die mit ihrer Straße packen jetzt den Berg hinauf gegen Stojdraga an und werden auch viel von uns brauchen; der Oberingenieur war erst gestern wieder bei mir; haben da einige drei-vierhundert Arbeiter zusammengetrommelt, denen bauen sie im Tal drunten Baracken, die Bretter und Balken liefern wir. Und dann, was so zu den Pölzungen benötigt wird und zu Gerüsten für die Skarpenmaurer und zum Kalkbrennen, alles das. Und ganz hinten im Tal die alte Glashütte, die seit fünfundzwanzig Jahren stillgestanden hat, nimmt auch wieder den Betrieb auf; weil die Zufuhr von Sand, wie sie ihn da brauchen, jetzt anders leicht geht als damals, dreißigmal herüber und hinüber durch den Bach. Da muß viel ausgebessert werden, die Blasböden, die Dächer und so; also auch dorthin Lieferung genug, und dazu das Brennholz, jährlich einige zweihundert Klafter, und die Pottasche. Zum Bretterschneiden hab ich an der Bregana schon einen kleinen Venezianergatter aufstellen lassen. – Also, und deine Arbeit an alledem wird die sein: Aufsicht bei den Holzern – sind auch etwelche Oberkrainer dabei –; dann die Auf- und Auskehr bei den Riesen und bei der Rollbahn durch die Gabrowitza-Schlucht hinunter zum Stapelplatz; und drittens scharfer Wachtdienst an den Grenzen, da wird sich jetzt viel Gesindel herumtreiben. Der Bogulin, der dort Revierjäger ist, kann auch nicht alles machen und hat nicht zwanzig Augen und Füß. Dem wirst du also vorderhand als Aushilf beigestellt; verstanden?«

Koschutnik stand stramm. »Jawohl.«

»Grad dieses Revier ist hübsch groß, an die elfhundert Joch, und dazu kommt sein Anteil an der gepachteten Gemeindejagd. Hat alles zusammen eine ungeschickte lange Form und ist eine bucklige Welt, grabenauf und -unter; da kann's einer allein schwer schaffen. Gleich jetzt im Frühling laß ich eine ordentliche feste Holzhütte bauen; Stüberl und Küchenflur, das wird dir wohl genug sein. Nicht hinunter an den Stapelplatz, wo jeder dein Kommen und Gehen sieht und sich darnach einrichten kann – sondern hinauf in den Berg, wo du weites Umhören und Schauen hast, nahbei einer guten Quelle und zu den Riesen und Schlägen nicht mehr als eine halbe Stunde. Hätt sonst einen anderen aufgenommen und hingesetzt. Alleinhausen schreckt dich hoffentlich nicht?«

Primus lächelte. »Wird mich schon vielleicht nicht der böse Geist holen.«

»Nun ja, ihr Oberkrainer habt doch euren Glauben an so mancherlei, drum frag ich. Sieh nur zu, daß er dich nicht abkragelt, der böse Geist; auf Jägerseelen hat er's besonders scharf, und am liebsten erscheint er in Weibsgestalt. – Im Winter dann, wenn's gar zu hart und öd wird, könnt man dich ja beim Bogulin oder beim Mutzelbauern für zwei, drei Monate einlegen. Das ergibt sich alles. Und was den Dienst angeht, der teilt sich mit der Gewöhnung von selber ein. Lesen, schreiben und rechnen kannst?«

»Jawohl.«

»Na also. Das bissel Kubieren und Vermessen lernst am besten gleich auf dem Stapelplatz drunten vom Oberförster. Ich sag's ihm schon, daß er dich vornimmt. Helle Köpf habt ihr ja, ihr vom Oberland. Und dann in den nächsten Jahren kommen nacheinander die Aufforstungen auf den großen Schlägen. Zuerst wird Lein hineingebaut; macht ihr das auch so?«

»Jawohl, mit recht altem starkem Boden, damit er ausmagert. Dann bauen wir Haiden, Hirse, Korn; auch Erdäpfel und Fisolen, wo es nicht zu steil ist.«

»Na, schau, kennst's ja; wär auch nicht schlecht, ein Oberkrainer Bursch! Da kannst dich bald recht gut ausbilden, wenn du fleißig bei der Sach bist und läufst nicht nach Weibern und Wein.«

Koschutnik schwieg bedrückt.

»Das ist nämlich bei euch Jägern immer die große Gefahr und leider so oft der Verderb. Drum muß ein Jäger arbeiten, nicht unterm Baum lauern, wo er sich faule Gedanken ansitzt. Verstanden?«

»Jawohl …«

»Löhnung kriegst für den Anfang sechs Gulden und Zubuß für deinen Unterhalt. Frei Holz, das versteht sich von selbst. Schußgeld: drei Gulden für den Wolf, zwei für den Luchs, einen für die Wildkatz; achtzig Kreuzer für den Fuchs, Dachs, Otter und Marder, dreißig Kreuzer für den Habicht, zehn für den Sperber. Aber vieles Herumknallen im Revier hab ich nicht gern, wohlgemerkt.«

»Ja, bitte.«

»Adler, Uhu und die großen Raben, wo du sie antriffst, werden geschont. Laß sie da und dort ihren Hasen schlagen, das macht uns nicht ärmer; es sind ihrer schon wenige, und Gott hat alle Tiere erschaffen, nicht grad nur die uns gut schmecken. Auch von Jungfüchsen und säugenden Fähen will ich keine Lunten sehen. Sowas ist nicht ehrliche Jagd mehr sondern Schinderei. Mit unserm Gebrauch von Wald und Welt müssen wir vor dem Schöpfer bestehen können …« Der Graf hielt inne, als besänne er sich plötzlich auf Jugend und Unverstand des anderen. »Wenn du's verdienst, darfst du dann an der Grenz einen oder den anderen alten Bock für die Küche schießen. Aber bild dir nur nicht ein, daß Pulver und Blei an deinem Beruf die Hauptsach sind. Das Wild schön zusammenhalten, sparen und schützen, das macht den Jäger; nicht das Gewehr auf dem Rücken oder die Schneidfeder auf dem Hut, das kann sich ein jeder zulegen. – Und ja, was ich noch hab sagen wollen: Wilderern scharf aufpassen, Schlingenlegern das elende Handwerk legen – aber ihnen nicht gleich im Eifer den Buckel vollpelzen, bloß weil man selber nicht mehr dazugehört … Sicher vor Anfechtung ist kein Mensch auf der Welt; und wie das tut, wenn man statt Strafe einen guten einsichtigen Herrn findet, das weißt aus dir selbst.«

Der Oberkrainer, blutrot vor Scham, schaute ganz wirr auf sein zerknittertes Hütl hinab.

»Ich halt dir's nicht vor als dein Richter, der bin ich nicht; aber nimm dir's nur ruhig zu Herzen und erinner dich manchmal dran, das kann nicht schaden. – So. Sei brav. Geh Weibern und Wirten aus dem Weg. Mach der Empfehlung von meinem Herrn Schwager und deiner Heimat Ehr. Denk fleißig an deine Polona droben, da hab ich nichts dagegen, und daß du sie vielleicht schon über anderthalb Jahr oder zweie heiraten kannst, hängt bei dir, verstanden.«

Der Bursch verneigte sich befangen, trat vor und suchte des Grafen Hand zum Kuß. »Jawohl. Und ich bedank mich auch schönstens.«

»Schon gut, schon gut. Jetzt geh. Dort unterm Hirschkopf ist die Tür. Geh in die Küch hinunter, meld dich als Kostgänger, kannst am Lakaientisch essen und beim krummen Kropatschek, dem Schloßjäger drunten im Försterhäusel schlafen, da stehen ein paar leere Betten. Sag's halt in der Küch, daß die Lenka, die Wäscherin, dir ein paar grobe Leintücher herausgibt. Morgen ist sowieso Kanzleitag, da laß ich dich rufen und überweis dich dem Oberförster und dem Bogulin. – Gute Nacht.«

Primus Koschutnik war gegangen, der Graf saß und sann über lampenbeschienenen Akten.

Seltsames Volk, diese Krainer aus dem schicksalsreichen Oberland, wo die Wasser, Sprachen und Himmel an der uralten Handelsstraße sich scheiden: – ein Schlag von besonderem Gut und Guß, zusammengeschmolzen aus bayrischem Stiertrotz einstiger Freisinger Bischofsmannen, slawischer Seele und welschem schwarzglutigen Weinblut … Wie lange würde er's aushalten? … Wie wird er tun? … So viele schon waren dem Grafen durch den Dienst gegangen, und kaum einer unter zwölfen, der nicht schließlich irgendeiner Versuchung erlag … wär schad um den, wenn er auch untergraben würde, wie jetzt durch Dampf, Handel und Politik überhaupt alle Treue, die ganze Ordnung, jedes gesunde Verhältnis … Und er selbst mußte gar noch dazu helfen, mit Bahnschwellern, mit Brettern zu Arbeitsbaracken, mit Brennholz für die Industrie, mit Steuern über Steuern! … Geht eben allen so, kein Stemmen gegen den Strom und sein entfesseltes Gefäll – lebt jeder Mensch beinahe nur dazu, mit seinem verzweifelten Kampf den Erben das Leben noch zu verschlimmern … Der alte Herr seufzte auf und vertiefte sich in die Zustellung der K. K. Bezirkshauptmannschaft Gurkfeld Zahl 752/C/35/II, vermittels welcher er laut § 359 lit. b B.G.B. und im Sinne der Verordnung des L.P.O. § 48 vom 26. April 1869 R.G.Bl. Nr. 269 sowie gemäß M. E. vom 18. November 1872 R.B.Bl. Nr. 321 aufgefordert wurde, bei Strafe von 25 fl. Ö. W. binnen zehn Tagen vom Datum der Zustellung an gerechnet, die in seinem dem Grundstücke 1955/b Kat. Gem. Tschadesch laut Gr. B.-Vermerk Bl. 573 bzw. Bl. 495 dienenden Grundstücke 1241/c befindliche hölzerne Feldbrücke vermittels Einziehung eines neuen Balkens servitutspflichtig instandzusetzen. – – –

Drunter aber das Gesind in Küche, Stube und Stall hatte auf diesen Abend Garnes zum Spinnen und Hecheln genug.

Einen Zweimetzensack Weizenmehl hatte der Neue dem Hausknecht Andreas und dem alten Mischko, wie sie sich an der abgeladenen Last keuchend und dunstend die Küchentreppe hinaufschleppten, ganz ohne weiters abgenommen, frisch aufgeschwungen und leicht wie ein Ränzel hinter der voranleuchtenden Magdlampe her nach dem Speisegewölbe getragen; und der Franza, der Leutköchin, hatte er zum Gruß gleich die auffälligsten Polsterungen betätschelt, und wie er im Kessel die haidenen Kässtruckeln gurgeln und walzen gesehen, hatte er gesagt, solche Vögel äß er schon gern und womöglich recht abgeschmalzen, aber das allerliebste sei ihm halt doch eine ausgewachsene fette Jungwachtel im eigenen Speck; und dann ließ er, das übermütige Federhütel auf Kurasch, einen heißen Juchezer hören und gleich darauf die Strophe von einem sehnsüchtigen Alpenlied voll Rosmarin, Nelken, Mondschein, Heimweh und Gottesmutter Maria: – und so firnenrein klang seine Stimme im verrauchten Breitgewölb, daß Quirl und Sterzspachtel bezaubert stillestunden, das gräfliche Bechamel sträflich anbrannte, und selbst die alte Urscha, die Ober- und Herrschaftsköchin, auf Einspruch und Schelte vergaß.

Ja, das waren andre Kerle, diese Oberkrainer, dachte die üppige Franza, die in ihren Lenzen und Sommern doch schon so manches Mannsbild bestanden; und wie die ehrsame Lenka, die Wäscherin, vorgerückt und untadelhaft, droben vor dem ungetümen Linnenschrank auf dem Flur dem Jäger seine Lailachen vorgab, zogen mit eins die Schatten längst überwundner Anwandlungen durch ihr tugendliches Gemüt.

*

»Du heißt?«

»Schorman Ilija.«

»Schorman Ilija. – Woher?«

»Aus Grischane am Vinodol.«

»Alt?«

»Das weiß ich nicht, Gott mir. Damals gegen die Bosniaken, das war gerad mein letztes Soldatenjahr.«

Der Partieführer rechnete nach. »Der Bosniakenkrieg, wann war der schon?«

»Achtundsiebzig!« rief es aus dem lauchdunstenden Hauf; »achtundsiebzig, ich hab's nicht vergessen, Teufel mir und Gott. Bei Jajce die Kugel, die mir so ein Komitadsch aufgebrannt hat, die spür ich noch am Jüngsten Tag.«

Die bretterne Bude erdröhnte vor rauhem Mannsgewieher.

»Ruhe!« brüllte der Partieführer; »reit euch der Satan, wer kann denn da denken und schreiben?« Er wandte sich gegen den Morlaken. »Hast du keine Scheine, Ausweise?«

Schorman sann schwerfällig nach. »Doch, weil ich ja eigentlich nach Amirika hab gehn wollen. Aber dann hab ich gemeint, daß – –«

»Für das hab ich keine Zeit, was du gemeint und gewollt hast, verflucht sei deine Mutter!« unterbrach der andre in grober Ungeduld; »gib schon her, daß wir weiter kommen, es warten noch viele.«

»Gut, gut, ich will ja, ich werde.« Umständlich grub der Morlak aus Innentiefe des blauen Leiblings ein dünnes Bündel schweißzerfressener Papiere, sorgfältig eingeschlagen ins rote Jahrmarktstuch. »Das ist alles.«

Der Partieführer sah hinein. »Da steht's ja: geboren 1854. Kannst wohl nicht lesen?«

»Nein.«

»Schreiben also auch nicht?«

»Gott die Ehre: nein.«

»Auch recht. Dann also machst du hier ein Kreuz, hier!« Er wies der ängstlich plump gehorsamen Hand die Stelle, führte sie und befreite sie wieder vom ungewohnten Gerät. »Das bedeutet soviel als: daß du die Bedingungen gehört und verstanden, daß du die Arbeit genommen und dich verpflichtet hast.«

»Ja, ich danke; so hab ich's auch gemeint.«

»Halts Maul und paß auf. Das wenigstens wirst wissen, wann Sankt Mattheis ist?«

»Wie sollt ich nicht? … Der ist drei Wochen nach dem heiligen Blasius, und der fallt auf den Tag nach Lichtmeß.«

»Richtig. Also auf den Tag, auf den vierundzwanzigsten Februar bist du wie alle anderen gestellt, hier! … Verstanden? … Man muß es jedem von euch Büffeln besonders sagen, hier, verstanden, am vierundzwanzigsten Februar! … Gut, fertig, abtreten! … Der Nächste! … Du heißt?« –

Und nun hockte man hier zwischen fremden Bergen und Baracken im ermattend heißen Märzsonnenschein, stierte stumpf vor sich hin in den Glast, kaute wehmütig zur Zwiebel sein saures Maisbrot und gedachte der fernen Heimat überm Morlakkenkanal, wo stahlhell von den Höhen die Bora niederfegt, drunten das grüne Meer sich vom Lande wegkrümmt und drüben die hohen Klippen von Krk fern und frostklar überm salzweißen Saum der Sturmflut ragen.

Ja, eigentlich hatte er nach Amirika gewollt. Dort sollte man so viel verdienen. Von einem aus Klana ob Castua drüben hatte er gehört, daß er nach drei Jahren gleich ganze sechshundert Gulden aus Amirika mitgebracht. Sechshundert Gulden, nicht auszudenken, wie viel das war und wie weit das vorhielt. Drei Joch Grund konnte man dafür kaufen und eine Kuh dazu, und immer noch blieb Geld übrig fürs ganze Leben.

Aber Amirika war so weit, und er kannte sich bei diesen Dingen nicht aus. Vier Wochen lang sollte man da hinüber fahren über das Wasser, und dann noch drei Tage weiter hinein bis zu der Gegend, wo die Wälder gefällt und ungeheure Strecken gerodet wurden, Wis-kond-zin hatte der Gevatter aus Klana jenes Land genannt, er hatte sich's genau gemerkt, und es sei größer als ganz Ungarn mit Kroatien zusammengenommen, die Flüsse doppelt so breit wie der Morlakkenkanal, die Seen dreimal wie die ganze Adria, die Bäume höher als der Domglockenturm von Krk …

Allein, wenn das alles so gewiß war, wie daß einst die Engel das Haus Jesu zur Rast auf Tersat ob Reka niedergesetzt, doch zweifelte er vor dem Wagnis zurück, und von der Kanzlei des Agenten, der Arbeiter für Amirika warb, wendete er sich lieber nach der Baracke des Partieführers, der zum nahen Straßenbau an der Weißkrainergrenze Mannschaft suchte.

Freilich, soviel verdiente er hier nicht wie dort in Wis-kon-dzin, fünfzig Kreuzer nur auf den Tag, aber auch das war schon ein Segen, vom Monat blieben ihm gewiß sechs Gulden, und kehrte er dann im Herbst nach Abbruch der Arbeit heim zu seiner Duscha, so brachte er wenigstens fünfzig Forinten eingefaltet im Leibling mit: Geldes Überfluß für einen behaglichen Winter und noch drüberhinaus ein runder Spargroschen auf schlimmere Zeit und höhere Pläne.

Und so sollte das weiter fortgehen, drei, vier Jahre lang, bis sie droben irgendwo in den Bergen mit der anderen entgegenarbeitenden Partie zusammenstießen: – hartes Mühen durch Frühling und Staubsommerglut bis in die grauen kurzen Tage der Allerseelenregen, aber auch immer einmal ein Wiedersehen und Ausruhen am heimischen Hüttenherd, lange Adventnächte auf warmem Ehelager, und zum Schluß ein Schatz von hundert harten Gulden, mit denen man sich doch ein klein wenig aufbessern, ein halb Joch Nährheimat hinzukaufen, das alte schwammige Dach verjüngen, der Duscha einen neuen Webstuhl setzen und zu all dem sich gehörig Zeit lassen konnte … So hatte er sich's ausgerechnet.

So hatte er sich's überschlagen, und ordentlich geborgen, abgebeichtet und gerettet kam er sich vor, als er aus der Baracke des Partiewerbers trat und draußen wieder das Meer mit seinen Segeln und Rauchfahnen, drüben über den Lorbeerhainen des Buchtwinkels den Schnee des hohen Utschka, hoch über Hafen und Heimat das alte Bergkloster der Franziskaner zum wundertätigen Hause der heiligen Familie sah: – nun brauchte er nicht nach Amirika und dem fernen fremden Wis-kond-zin, aus dem es sobald keine Rückkehr gab und keinen jährlichen Winterurlaub bei seiner Duscha; nun blieb er hier unter Brüdern, deren Sprache er verstand, und jedesmal mit dem heiligen Martin zog er die durchgescheuerten Opanken von den müden Füßen, während draußen die alte Bora flach übers Gestein pfiff oder der Jug, der Scirocco, groß und dunkel in Wolken und Wassern wühlte … Das war doch etwas anderes, und besser.

Eines nur hatte Ilija damals vorübergehend beunruhigt: ob mit dem empfangenen Handgeld die hundert Gnadenstufen nach der Klosterkirche von Tersat hinaufzuknieen und der heiligen Gottesmutter zum Dank für die Eingebung eine Wachskerze zu opfern; ob er stracks die neun Wegstunden nach Hause wandern, oder das seltene Fest und den neuen Anfang in rotem Istrianer feiern solle. Nach kurzer Überlegung entschloß er sich zum Versuch eines Ausgleichs zwischen all diesen widerstreitenden Wünschen und Pflichten. Angehend die hundert Gnadenstufen und die Wachskerzen zwar, so begnügte er sich mit Bewältigung jener, Darbringung dieser in bloßen Gedanken und guter Meinung; Heiland und Gottesmutter im Himmel, was hatten die von eines armen Teufels Verzicht auf andere, lebenswichtigere Dinge! … Desto leichter mußten jene beiden weiteren Unternehmungen miteinander zu verbinden sein. Allein auch das erwies sich als undurchführbar. Der Abend sank, nach Grischane zu seinem Kreuz und Elend kam man immer noch früh genug, aber sobald nicht wieder zu solchem Portolaner und solcher Seligkeit. Drei Tage später erst fand Ilija Schorman am letzten Ende der letzten Wegstation über mehr als tausend gestolperter Stufen herauf seine Hüttentür, und weil er vom Handgeld keinen Groschen mehr, dafür aber einen Kopf voll Amboßgedröhn, Zangen und feuriger Kohlen und den zwingenden Wunsch nach erleichternder Mitteilung dieser Empfindungen besaß, prügelte er gleich zum Gruß die fleißig arbeitende Duscha braun und blau, schmetterte sie in eine Ecke und haute sich sodann mit einem Fluch aufs Lager, um vierzig Stunden in einem Strich und Zug wie tot zu verschlafen.

Als er endlich erwachte und mit dickem Schädel und tauben Beinen nachttrunken aus dem Bette hing, sah er verwirrten Blickes vieles geschehen.

Dort vor dem Herdfeuer saß die Duscha und nährte aus voller brauner Brust das Kleinste, das sie derweilen in aller Stille und Verängstung geboren, um dann gleich weiter an die Hausarbeit zu gehen; ein paar neugestrickter buntwollener Socken hatte sie ihm auch hingelegt, auf der Truhe standen hellbraun die starken Opanken, die sie gerade in diesen letzten Tagen ausgesteppt und zierlich vollendet, und der angenehme Duft von frischgebackenen Maisfladen, von ölgeschmalzten braunen Bohnen und gebratenem Fisch erfüllte die Hütte mit traulicher Stimmung, des Herrn Herz aber mit reuiger Versöhnlichkeit. War doch ein braves Frauenzimmer, seine Duscha, so fleißig und geduldig unter ihrem unabänderlichen Ehelos, Arbeit, Gebären und Geprügeltwerden … Was, was wollen wir, was? Gottes Wille schon einmal so, daß die Weiber Kinder kriegen, daß sie die Schwächeren sind und zu gehorchen haben, daß sie sich schinden und plagen müssen, während wir Männer unseren Heldenmut stärken! … Wozu sonst wären sie Weiber, Gott mir, wenn nicht zum Schaffen, Beschlafen, Kreißen und Verdroschenwerden? … Aber die Duscha war gut, sie hatte Verstand, sie brauchte die Keile, sonst glaubte sie nicht an seine Liebe. Es war nun schon einmal so. –

Und nun hockte man hier in der prallen Märzensonne; zwischen Brettern, Baracken und fremden Bergen, käute schwermütig an seinem täglichen Brot und vergrübelte sich in stumpfes Heimweh.

Eigentlich doch ein Jammersal, Gott mir, daß man sich so um seine paar Jahre Fraß und Frett und das verdammte notwendige Geld mit Stein und Staub abrackern mußte! … Seine Duscha war vielleicht grad heut mit einer Last Käse, Eiern und Spanbündeln hinunter auf den Markt gegangen, jetzt eben stieg sie im warmen Blütenhauch der Weichseln den heißfelsigen Mittagsweg hinan, weit unter sich das Meer mit seinen gelben Segeln, auf dem Kopf mit ein paar Steinen beschwert den geleerten Korb, im zusammengeschlagenen Tuche den Erlös, an der Hüfte das unermüdliche Strickzeug oder den Spinnrocken … Oder es fuhr dort durch den Morlakkenkanal der Scirocco mit tiefaufwühlender Wucht hin, hoch sprang und schäumte die verdunkelte Flut, und die Klippen von Krk standen auf einmal ganz nah in düsterblauer Feuchte … War doch ein Elend, so einsam in der Fremde, fern von Weib und heim um den verfluchten Blutgroschen sich abschwielen müssen, an einer Straße, die einen gar nichts anging und anderen diente, den Herren dieser Wälder, der Glashütte drin im Tal, den Frächtern und Wirtshäusern! … Ja, natürlich, die gosponi Indscheniri, die Herren Ingenieure, die hatten sich's leicht und angenehm gemacht, die wohnten schön luftig im hohen Stojdraga droben im Hause, das sie sich auf Staatskosten da hingebaut, mitten unter den hübschen Walachinnen, deren Männer, Väter und Brüder fast alle in Amerika waren, vielleicht gerade in jenem Lande Wis-kond-zin – denen ging schon nichts ab, nicht Wein, nicht Weib, nicht Tabak, die führten ein Leben, bei Gott, wie die Siebenschläfer im Herbst. Aber so einer wie er, wie all die fremden Schicksalsbrüder, Kroaten, Slowaken, Tschitschen aus Mune und Covedo drüben, Furlaner aus dem Küstenland – was hatte er, was hatten sie davon? … Horn an den Händen, Kalkstaub in den Augen, Durst in der Gurgel, dann und wann einen Sonntag und einen gnädig betäubenden Rausch … Was, was wollen wir, was? … Gottes Wille schon einmal so. Das ist das Leben …

Und dann war die Straße fertig und kam anderen zugut, und sie gingen auseinander, sahen sich nie wieder, die sie hier mitsammen gefront, gelitten und entbehrt – gerade wie damals im bosnischen Krieg, der auch nicht ihnen gedient … Aber was was wollen wir Menschen, was? … Scheint schon einmal Gottes Wille so zu sein. Das ist die Welt …

Ilija Schorman hatte sein Mahl beendet; aufrülpsend kramte er aus der Tasche des übergehängten Rockes ein verknutschtes Paket von billigem schwarzem Ungartabak und aus der Weste ein zerknittertes Zigarettenpapier. Zärtlich glättete er das feine Blättchen zwischen den harten Fingern, behutsam andächtig klaubte er aus dem verbröselten Kraut die letzten besten Fasern in die gefalzte Bucht. Dann holte er, die fertig gerollte Zigarette hinterm Ohr, aus der Brust seines Leiblings noch eine Spitze von seidig blutbraunem geäugtem Sankt-Lucienholz, darüber ein dünnes Silberreifchen gezogen. In Senj drunten auf dem Markt hatte er das Ding für fünfundvierzig Kreuzer erhandelt, jetzt war es ihm nicht für zwei Forinten feil. Leise rieb er an der Rinde, inbrünstig sog er den Würzgeruch ein. Das war die Heimat, in heißer Klippensonne blühten die türkischen Weichseln, über den Kanal zogen die Fischersegel, zwischen Ölbaumhainen und Eichengebüsch im Fels schimmerten die Rocken der Hirtinnen …

An vorsichtig ausgedampftem Schwefelspan setzte er die Zigarette endlich in Glut. Dreizehner- oder gar Siebzehnertabak, Boga mi, der war besser; aber wer konnte sich den immer kaufen? Mit solch einem Paket zu sieben Kreuzern wirtschaftete er vier Tage, das war jedesmal eine Ersparnis von wenigstens sechs Kreuzern und machte im Monat schon etwas aus. War doch schließlich alles für die Duscha und das bißchen Heimat – das Einzige, was man als armer Teufel besitzt, und selbst das nicht in Ruh und Fried … So hockte er und rauchte und starrte hinüber nach der Halde, auf der die Eidechsen sich frühlingsmatt sonnten. Die hatten's gut.

Gott ja, so möcht man in Ewigkeit sitzen und träumen und qualmen und braten, nichts tun und abwarten, was die nächste Stunde, der nächste Tag an Wunder oder Gelegenheit bringt … Hie und da ein Weib, ein Rausch, ein wildes Lied – – und dann wieder dämmern und spinnen und brüten und schläfern: wäre die Not nicht und das Brot und die Frau und der Winter und die Nacht … So ist alles miteinander eine einzige Müh und Sorge von einem Jahr aufs andre; nie, daß man einmal alle Glieder strecken und alles Kümmern lassen könnt … Und sterben, Boga mi, muß man deshalb doch, grad so als ob man nichts getan; und ist man erst einmal tot, wozu dann war all das gewesen? …

» Hajt, hajt – auf, auf, vorwärts, los! … Jedan proč, na djelo, na djelo – ein Uhr vorüber, an die Arbeit, los, an die Arbeit!« Die ausgebrüllte Stimme des Partieführers hallte durch das Tal. » Žurite se, muži – sputet euch, Kerls, der Teufel hat euch erfunden und gemacht, glaubt ihr, die Regierung zahlt euch das schöne Geld für Rauchen und Gaffen und Gähnen, oder was glaubt ihr eigentlich? … Verflucht seien eure Mütter, ja bassama teremtete!« … Kessel klirrten, Gegenflüche gröhlten, in feindseligem Gehorsam kletterte das aufgestörte Arbeitsvolk die Halden hinan zur geschwungenen Trasse. Ilija Schorman erhob sich gelassen vom vorgekerbten Dachbalken, auf dem er gekauert, versorgte die halbaufgebrannte Zigarette, sparsam gelöscht, im Falz der alten Militärmütze, rückte Gürtel und Hosenboden zurecht, spuckte in Gottesnamen aus, nahm den abgehängten Rock unter den Arm und folgte dumpf den anderen ins verhaßte Schicksal. Im Grunde der Schlucht klangen die Äxte der Bauzimmerleute, aus dem gelben Felsbruch des Berges herab klirrte eintönig erzen der Schlägel auf die geschlämmte Bohrmeißelstange.

*

Ja, die Straße, die Straße brachte es, brachte es nun schon zum andernmal in täglich tropfenden Groschen, in sonntäglich hagelnden Gulden; aber seit der verfluchte Kerl, der Oberkrainer dagewesen und sein Mal in eichener Platte hinterlassen, faßte die kleine Stube nicht mehr das Drittel der Gäste, und Mutter Horvatitschka, die Konfin-Wirtin, schöpfte und scheffelte mit Kannen.

An kostspielige und gewagte Neuerungen dachte sie deshalb noch lange nicht. Seit länger als fünfzig Jahren, länger denn sie drin im hinteren Graben die Glashütte gebaut und anbei in der weiten Talbucht die seichte Kohle gefunden, stand das einsame Haus am Grenzbach waldumdüstert unter den feuchten Felsen, und an Zuspruch hatte es ihm in all den Zeiten nie gänzlich gefehlt.

Keiner der gräflichen Jäger, Holzhauer und Knechte, keiner der ärarischen Waldhüter, der österreichischen wie der ungarischen Gendarmen, der ausgedörrten Glasbläser, der staubigen Fuhrleute, der müden Markt- und Kirchgänger aus den Bergdörfern, der an den dreizehn Stufen zur Pergola, sommers an der grünschattig felsgekühlten Laube vorübergegangen wäre.

Hier saß sich's gemütlicher als drunten an der großen Heerstraße, hier waren sie alle nahe dem Endziel ihres Tagewerks, hier fand sich immer Gelegenheit zu einem irgendwie nützlichen, sei es geführten, sei's erlauschten Gespräch. Förster und Häuer, Bauern und Frächter rechneten mit der Konfin-Wirtschaft wie mit einem unausweichlichen Hindernis, einer unwiderstehlichen Versuchung, einem unabänderlichen Schicksal, und richteten sich danach ein.

Selbst als die seichte geringe Kohle nach kurzem Abbau ausließ und der Betrieb der Glashütte wegen allzu beschwerlicher Sand- und Proviantzufuhr geschlossen wurde, ging das Geschäft weiter seinen stillen verläßlichen Gang, was immer im Kreislauf dieser Welt das Bett der Talenge hinauf und hinunter staute und schwemmte, mußte durch die Reusen und Fluder der Mutter Horvatitschka strömen, ließ von seinen silbernen Fischen zurück und trieb mit an ihrem Mühlwerk.

Hier bekam der ärarische Waldhüter allemal sein Päckel des weit begehrteren Tabaks der österreichischen Regie, und auch der gestrenge ungarische Gendarm in Hahnfederbusch und Karabiner und der grüne Finanzer mit dem Werndlstutzen nahmen es mit den zufälligen siebzehn Schritten hüben statt drüben und mit der Gebarung der erkenntlichen mannskundigen Wittib nicht allzugenau.

Hier konnte der kroatische Lugar oder Wilddieb ohne besonderen Schein, der Krainer Jäger oder Raubschütz ohne viele Umwege jeder sein Pfund Schießpulver gegen mäßiges Aufgeld freihändig kaufen, hier ward auf heißer Heimkehr vom Samoborer Markt manch zäh hinausgezögerter Nachhandel um die Tigerkuh oder die Koppel schwarzgesattelter Lauferschweine geschlossen, mit Schlag und Spucke gesiegelt und bis in den goldenen Abend hinein begossen; hier in verschwiegenem Hinterstübel oder im grünen Dämmer der Laube manch eine heimliche Lieferung aus den gräflichen Forsten von Mokritz vermittelt, beredet und abgeglichen; unter diesem Dach, auf diesen Bänken hatte manche durstige Ehrlichkeit den Anfang vom Ende genommen, in den trüben Gläsern auf diesem Tische war mancher gute Vorsatz ertrunken, und selbst das Gerücht dunkler Ereignisse, Verruf und Blutgeruch umwitterten das einsam gelegene Haus.

Aber die Horvatitschka kannte keine Gespensterfurcht. Die hatte sie sich früh abgewöhnt, nachdem Eisen und Blei einer Schreckensnacht sie jung zur Witwe gemacht: so geschehen damals in den vierziger Jahren, als die Bosniaken mit Steinschloßgewehr und Handschar zum letztenmal von der Kulpa herauf durch die Uskokenberge bis ins Gurkfeld hinaus raubten, razzten, würgten und brannten.

Von Rude drüben im Tal der Gradna, wo sie den Pfarrer gräßlich mißhandelt, waren sie über Otruschevatz in die Breganaschlucht hereingestiegen, und das erste Haus, darauf ihr Paß sie führte, war gerade die Konfin-Wirtschaft am sommernachtrauschenden Bach.

Dem ahnungslos öffnenden Horvatitsch schossen sie eine Pistolenkugel durch den Arm, und zur Strafe für seinen Wehschrei schnitten sie ihm Nase und Ohren ab, der unbedacht zu Hilfe eilenden Magd Brüste und Finger. Aber vor der einfachen List der jungen Frau, die sich in ihrer Kammer verrammelt und durchs Giebelfenster hinaus wie halblaut mit irgendwelchen vermeintlich versteckten oder nahenden Grenzsoldaten sprach, ergriffen sie bestürzt und eilig die Flucht, über die Bregana und jenseits den rauhen Felssteig hinan gegen die morgendlich erbleichende Waldhöhe des Seloutz.

Die Horvatitschka erzählte die Geschichte jedem, der sie haben wollte, ausführlich, anschaulich, getreu und ohne übertriebene Gemütsbewegung. Die arme Magd sei noch in derselben Frühe gestorben, Petar Horvatitsch, ihr Mann, noch im gleichen Sommer. Und dann hatte sie nicht wieder geheiratet.

Bei den Gründen dieser Unterlassung hörte ihre Mitteilsamkeit auf. Es waren gute Gründe.

Die Horvatitschka hatte bald herausgefunden, daß eine junge hübsche Witwe in einem abgelegenen Hause mitunter mehr Schutz genieße als eine Ehefrau, und daß mit diesem Vorteil mancher andere zweckmäßig zu verbinden. Geschäft und Nebengeschäft begannen zu blühen, die furchtbaren Bosniaken kehrten nicht wieder, und der berühmte Räuberhauptmann Taditsch, als er einmal vorsprach, erzeigte sich als galanter Gast, der ohne Handeln mit dem Dukaten beglich, wofür andre den Gulden wendeten. Kurz, die Wirtschaft zum Konfin, allgemein so benannt nach ihrer Lage am Confinium, der Grenze, kam jetzt erst, unter menschenkundiger Führung, in Schwung, Ruf und Betrieb.

Ja, sogar Herren von Rang und Macht, Illustrissimi und Spectabiles verschmähten es nicht, sich von der molligen Frau Wirtin eine Maß alten roten Heiligenkreuzers kredenzen und sie selbst beträchtliche Gnade vor ihren gestrengen Augen finden zu lassen. Der Staatsforstinspektor, der Landmesser, der Direktor der Glashütte, der Bergrat, die Hauptleute und Feldwebel der detachierten Kompagnien, die Grundablösungs- und Gerichtskommissarii, der Samoborer Fiskal, sie alle kehrten hier ein und schlugen bei längerem Aufenthalt – als wie solcher ihnen nach Aufnahme des Sachbestandes fast immer erforderlich schien – in der Gaststube, so die weitblickende Horvatitschka nach längerer Praxis für dergleichen Fälle eingerichtet, ihr Nachtquartier auf.

Allein diese Ehrungen, wie erfreulich sie auch und vornehmlich wie nutzbar, machten die kluge Wittib keineswegs hoffärtig und wählerisch.

Wie sechs Werktage einen Sonntag, so machten sechs Zehner oder zehn Sechser einen Gulden und ihrer sechs Forinten einen güldenen Zecchin; wer den nützlichen Waldhüter nicht ehrte, war des gewaltigen Stuhlrichters nicht wert, und die Hauptsache bei all dem blieb ja doch die Stimmung, die Nachfrage, die Knüpfung möglichst vieler Fäden zum Netz, in dem immer wieder etwas hangen und zappeln blieb.

Grad so ein Gräflicher, war er einmal in die Maschen gegangen, warf mit der Zeit mehr silbriger Schuppen ab als der noch so hohe und freigebige aber seltene Gast. Rausch sorgte für Durst, Durst für neuen Rausch, und hatte man ein schwaches Mannsbild erst so weit, so ergab sich aus Druck, Kreide und gebotener Gelegenheit alles Übrige.

Man mußte es nur verstehen, und die Horvatitschka verstand sich darauf. Auch darauf, sich selbst von jedem Verdacht der Urschuld und Mitschuld immer wieder reinzuflennen. Unangreifbar stand sie da in der Glorie der armen verleumdeten Witwe, was konnte sie dafür, wenn die Mannsböcke hinter ihr her waren wie von Sinnen? … Was dafür, wenn gerad ihre Wirtschaft so gut und gerne besucht wurde? … Konnte sie jeden Handel überwachen, der sich da beim Weine anspann? … War sie zur Hüterin ihrer Gäste bestellt? … Aber natürlich, es gab Neider, die ihr das bißchen Blühens im Geschäft nicht gönnten, gerade weil sie ein schutzloses Frauenzimmer war, der jeder etwas anhängen zu dürfen meinte – oh, sie wußte es, sie kannte sie, ihre Feinde! … In Wahrheit kannte sie sehr wohl ihre Freunde, Stuhlrichter und Fiskal, von denen keiner es gewagt hätte, durch übertriebenen Gerechtigkeitssinn eine Probe auf die Grenzen ihrer Verschwiegenheit und die Bedeutung ihrer Drohungen zu machen. Waldhüter und Jagdgehilfen wurden mit Schand und Strafe entlassen, sie aber nahm zu an Jahren, Erfahrung, irdischen Gütern und gefälliger Rundung.

Ein- und das andremal ereignete es sich freilich, daß ihre Allbeliebtheit unerwünscht ausartete, sich zu Rebmessern und Sichelaxtklingen, Krug- und Flaschenscherben verschärfte, und das nachtstillrauschende Waldtal vom Kampfgeheul brunftheiserer Mannsstimmen schreckhaft erscholl. Dann sahen die Gäste des nächsten Tages frischgescheuerte Flecken auf Diele und Treppe, und ein seltsam dumpfer Dunst wie von nasser Erde und Tod stockte im einsamen Haus.

Man fragte nicht. Die Horvatitschka wußte ohnehin für jede Frage eine schlangenglatte Antwort. Aber ein grüner Zollwächter, der früher nur allzuoft auf diesen Bänken gesessen, war eines Tages verschwunden und blieb es; ein Aufseher der Kronforsten, noch vor kurzem häufiger Gast, kehrte eines Herbstes nicht wieder vom Reviergang zurück. Ja selbst die Spur eines wandernden Kesselflickers, eines Zigeuners vom Stamm der Kotlaren, der schon durch den schweren Schmuck seiner Marientheresientaler überall aufgefallen, eines späten Februarabends ins Tal hineingegangen und nirgends wieder zum Vorschein gekommen, wollte das Gerücht gerade nur bis zum Konfin verfolgen können. Mehr wurde nicht daraus, halbstundenweit hinunter das nächste Dorf, eine Stunde hinauf im hintersten Talwinkel die Glashütte, ringsum die steilen stummen Berge mit ihren geschlossenen Wäldern … Niemand klagte, niemand richtete, Durst und Bedarf blieben dieselben, und mit dem Rest wurde die Horvatitschka schon allein fertig.

Das Gerücht wußte noch mehr von ihr. Nicht nur von ihr, sondern auch von ihren beiden Kindern, einem Sohn und einer hoffnungsvollen Tochter, die sie irgendwo heimlich und städtisch fein erziehen ließ, und von deren unglücklichen Vätern, adeligen Herren, Plemenitaschi aus der Samoborer Nachbarschaft, die stillklingende Buße ihrer Sünden der öffentlichen Anfechtung und dem Nachhall in ihrer innersten Häuslichkeit unbedingt vorzogen. Trotzdem genoß die Horvatitschka den Ruf einer verläßlichen und kundigen Ratgeberin in manchen Fragen weiblicher Not, und mußte man auch mit der Zähigkeit und dem Nachdruck ihrer fortlaufenden Ansprüche rechnen, es blieb ihre Hilfe und die Durchschlagskraft ihrer Bittertränklein doch begehrt und berühmt bis weit hinein in die Berge, bis ferne hinaus ins Feld. Es war ein dunkles, einsames, vielseitiges Haus, die Wirtschaft zum Konfin.

Als dann die Wittib zu den Jahren gekommen war, deren fortschreitende Wirkung die Blüte ihres Gewerbs unnachsichtlich bedrohte, staunten all die alten und neuen Gäste über die unerwartet weitverzweigte Verwandtschaft der alleinstehenden schutzlosen Frau, über die erfreuliche Anzahl hübscher, gefälliger, dienstfertiger Nichten, die zur Erholung oder als bedauernswerte Waisen oder zur Erlernung des Wirtshaushalts hier Aufenthalt nahmen und die abnehmenden Kräfte der Mutter Horvatitschka mit ihrer Jugend erfolgreich ersetzten.

Jedes zweite oder dritte Jahr brachte eine andere solche Nichte, diese hieß Bogitza und die nächste Slawitza und die dritte Doritza und die vierte Zoritza, und wenn sie untereinander auch keine Familienähnlichkeit zeigten, so besaßen sie doch alle eine gewisse gemeinsame Anziehungs- und Verwandlungskraft, machten den Wein flüssig, den sauren süß, den schwachen stark, und ganz leere Tage sah der Konfin kaum fünfmal im Monat.

Und dann kam die Straße, und die Mutter Horvatitschka, breitbehäbig, vertrauenswürdig angegraut, seufzte über ihren dahingewelkten Sommer. In ihren dreißiger Jahren, ja damals hätte das sein müssen! … Die hübschen jungen Herren Ingenieure! Mütterliche Verliebtheit verschmolz mit aufwallenden Erinnerungen; solch einer war nächstens auch ihr Branko, ihr Sohn, für den sie solange gescharrt und geschraubt, damit er etwas Besseres, etwas Feines werde, ein vornehmer Domine illustrissime oder spectabilis, wie die von der Regierung einander nannten … Und dann der ganze Troß, die welschen Maurer mit den heißen Augen und kecken Zähnen, die steirischen Zimmermeister mit den breiten roten Bärten bis zum knarrenden Lederschurz, die mancherlei Vorarbeiter und Werkführer, und die stattlichen Herren aus Samobor und Agram – soviel ansehnlicher Mannheit, was jetzt alles in der Felskühle ihrer Laube verkehrte! … Aber der Zuspruch wenigstens war kein geringerer als er im üppigsten Erntesommer ihres Witttums hätte sein können, und unter solchen Zeichen berief die umsichtige Hausmutter gleich zwei ihrer zahlreichen hübschen Nichten zu sich in Küche und Kammer.

Der Konfin wurde zum Hauptquartier der ganzen großen Bewegung. Von der unteren Talklause, wo der kieselbraune Bach die drei Mühlen trieb, wälzte sich die Straße mit Sprengschüssen, Meißelschlägen, Axthall, Eisengeklirr, Gebrüll, Staub, Kalkdunst und knarrenden Achsen den Grund herauf gegen das Haus heran. Die wilden Waldberge, einst so still, dann und wann nur aus ruhendem Grünen und Glühen, Schatten und Schlummern ihrer Jahreszeiten geweckt vom Peitschenknall des einsam frühen Glasfuhrmanns, vom Schuß des gräflichen Jägers, vom rauhen Schreckgebrüll des Rehbocks, schütterten unter fortwährendem Getös und Prall zwischen Menschen, Gestein und Metall. Aber der Mutter Horvatitschka klang es lieblich ins kluge Gemüt, und als die Arbeit monatelang dicht unter ihrer Pergola hin an der Krümmung um die weit vorspringende Klinge des Seloutz hämmerte, brach, dröhnte und stampfte, konnte sie behaglich draußen im mittagheißen Staube stehen und der schweißtreibenden Mühsal tiefbefriedigt zuschauen. Ja, ja, das machte Durst! … Ja, ja, das bringt Gäste und Geld! … Ja, ja, soviel Mannsvolkes, das macht das Land warm, dem können der liebe Gott und seine Pfarrer das Blut nicht verbieten! … Und die Räder liefen, und Groschen und Gulden häuften sich aus drei emsigen Mühlgängen in den Schatz.

Sie schütteten auch im nächsten Jahre noch, als das fortschreitende Werk mit seinem hundertstimmigen Lärm sich hinter Gängen und Buchten in die Schattentiefe des verengten Grabens verloren hatte; die zwanzig oder vierzig Minuten Wegs zu Wein und Weib nahm jeder gerne auf sich. Aber dann hatte die Straße an der Gabrowitza-Schlucht den Anfang des nächsten Abschnitts, die Stelle des schwierigen Aufstiegs zu den fernen Bergdörfern und Staatsforsten erreicht; Maurer und Zimmermeister, Ingenieure und Steinschläger zogen zum gastlichen Tale hinaus, der Forellenbach rauschte friedlich unter neuen Brücken, und es wurde für längere Zeit still.

Und nun war sie zum zweitenmale da, die Straße. Weiter oben, aber das machte nichts aus. Wenn sie auch diesmal bei den Baracken eine Kantine einrichteten: – nach dem Wein ganz allein geht solch Mannsvolk schon nicht, die Horvatitschka kannte die Welt und ihr tiefstes Geheimnis … Und dazu jetzt noch die neueröffnete Glashütte mit ihrer Arbeit, und die gräfliche Säge und der ganze Holzbetrieb! … Das gab Staub und Späne und schaffte volle Sonntage.

Die Ingenieure freilich, die hatten sich in Stojdraga droben bei den hübschen Wlachinnen einquartiert, die wußten schon, wo man reife Birnen schüttelt und der Teufel seine Seelen holt. Aber die waren schließlich auch nicht das ganze und einzige Fett auf der Suppe, und etwas von den Herrenleuten fiel immer noch für den Konfin ab, wär nicht schlecht! … Dafür hatte sie jetzt den Sagmeister und seine Knechte, und die Glasführer und die Holzer, und der neue gräfliche Jäger, der zählte allein schon für zehn …

Jesus von Nazareth, war das ein Kerl! … Ja, wenn sie noch wäre, die sie vor dreißig Jahren gewesen! … Ordentlich heiß ward der Horvatitschka bei dem Gedanken, und in ihre Augen trat es wie trüber Dunst … Mußte der Muskeln haben, und dabei sah man's seiner straffen Schlankheit auf den ersten Blick gar nicht so an! … Und wie der schon den Hut verwegen über die Augen herein trug, und das Gewehr und die Lederhosen, alles ganz anders wie die anderen; und gar wenn er droben auf dem Seloutz steil überm Tal mit mondklarer Stimme eins seiner sehnsüchtigen Heimatlieder sang, dann hätt man gleich losweinen und sterben mögen vor lauter Trauer, Schönheit und Seligkeit … Ganz verliebt war die Mutter Horvatitschka in den Burschen, verliebt wie nur je in ihren weiblichsten Zeiten, und jeden Tag schaute sie die Krümmung der bergschattigen Straße und den felsigen Bosniakensteig in die ergrünenden Frühlingswälder hinauf, ob es ihn, den Starken und Schönen, den Stolzen und Seltenen, nicht doch noch einmal hertrug … War ihm das so übel bekommen, damals? Hielt er sich für zu gut? Traute er sich nicht? Man würde ihn schon einwiegen, gewöhnen, zähmen. Wie so viele vor ihm; wie jeden.

Allein der Oberkrainer, ein einzigmal erst gesehen und nicht wieder, blieb hartnäckig aus, ging grußlos drüben vorüber, mied die Gegend, verschmähte die Kirrung. Und damit hatte es seine gewiesenen Wege.

*

Brüllvoll war am Ostermontag damals die Wirtschaft gewesen, als Primus Koschutnik, die Flinte lässig-schräg überm Kreuz, vom Kanzleitag im Schloß den langen langweiligen Talweg herauf und vorbei kam und grad nur aus Neugier und heimatlicher Gewohnheit auf eine alte Maß Heiligenkreuzer einsprach.

Eine Maß Osterwein für vierzehn Kreuzer: was liegt daran? …

Drinnen in der Stube saßen die furlanischen Maurer aus Cividal und San Daniel bei ihrer Briscola; die Karten klatschten, Asse, Dreier und Flüche flogen, die Stimmung war einladend und so festlich gespannt, wie Primus es von roten Tagen des Zayerfelds und seiner Berge nicht anders kannte. Eine Weile lauerte er von ferne, dann setzte er sich heran.

Gleich hatte er das Spiel, dem er schon ein paarmal in Terwisch und Pontebba droben zugeschaut, von neuem begriffen. Der Kitzel erwachte, mit dem Heiligenkreuzer stiegen ihm noch andre Geister zu Kopf. Jagen sehn und selber nicht schießen, das ging über seine Kraft. Bald war er mit von der Partie, und seine Asse und Dreier kleschten noch einmal so breit auf als die der Furlaner.

Es ging um Geld: einen Sechser die Runde. Für zwei Sechser gab es schon eine Maß vom berühmten roten Vipernsteiner. Für zwei Sechser kriegte man ein Packel Tabak von der zweitbesten Sorte und noch sieben Kreuzer heraus. Für einen Sechser hatte man schon Pulver, Blei, Pfropf und Hülsen zu zwei feinen Patronen. Für einen Sechser gab es beim Krämer in Bregana drunten sechs Semmeln. Ein Sechser war viel Geld.

Die Furlaner hatten Blicke gewechselt. Der Oberkrainer, der Erbfeind! … Die Zeichen sah Primus nicht. Nur das sah er, daß er mit den gewissesten Karten verlor, nachdem er von Anfang ganz wohlgefällig gewonnen, einen Gulden beinah, Rauchkraut immerhin auf einen guten Monat. Die angehäuften Sechser schmolzen Schlag auf Schlag hinweg, er wußte gar nicht, wie das zuging, und jetzt riß das schon zum drittenmal in seine eigene schmale Tasche ein, Teufels Blitz du! … Das mußte eingebracht werden, bei allen getauften Christenseelen, und wenn er gleich bis Allerheiligen hier saß und kartete! … Die Schleuse war geborsten, hoch wogte die Flut, zog ihn mit und wirbelte ihm überm Kopf zusammen.

Nun hatte er schon den siebenten Sechser aus Eigenem zugebüßt, und das mit Händen voll Assen, Dreiern und Königen und Heiraten! … Aber da, was war denn das? Den Herz-Dreier hatte der Gegner auf sein As vorhin nicht herausbekannt, und trumpfte ihm jetzt eben damit sein Pik-As tückisch unter der Nase weg! … Ah, das gab's aber denn doch nicht, den hatte der Hundsfott nicht eben erst abgezogen, die Karte mit der eingerissenen Ecke war vorher schon in seinem Spiel … Primus, in plötzlichem Verdacht, blickte wild um, gewahrte einen anderen Furlaner hinter sich und wie der seinen Arm grad einzog und mit betretenen Fingern am Rockkragen nestelte. So also, das war's! … Der jache Zorn schoß ihm schwarz ins Blut und vor die Augen; die Hand fuhr nach dem Stiefelschaft, mit offenem Stilet herauf über den Tisch.

» Purkleta Buraba laschka, neb'sch ti men' goufow! … Verdammte Kanaille welsche, wirst mich nicht bemogeln …« Und nieder blitzte der Stich und nagelte den anderen mit der verräterischen Herz-Drei und dem abgetrumpften As zusammen an die eichene Platte.

Totenfahle Stille. Mit einem Griff hatte Koschutnik alle Münzen eingescharrt. » Oštia maledetta! …« Betäubend brach der Sturm los. Die Mutter Horvatitschka stand staunend in der Tür.

Koschutnik, blaß bis unter Haar und Hut, wurzelte wie ein Baum. Zu fünfen, zu sechsen waren sie an ihm, eine Traube von schäumendem Haß, wie Köter jaffend und schnappend am wetzenden Keiler.

Die Enge erzitterte unter Gebrüll und Gestampf und schleifender trampelnder Wut. Scherben klirrten, Wein verströmte. Andre Gäste kamen von außen herauf und sahen zu. Die Horvatitschka bebte vor wollüstig neugieriger Furcht; noch nahm sie nicht Partei.

Ein Ruf, kroatisch, vom offenen Flur her: » Var' se, Krajinec, imado kosture – aufgepaßt, Krainer, Messer!«

Mit seinem eigenen Knicker gingen sie ihm an den Leib.

Jetzt und jetzt mußte er blutend unter ihnen zusammenbrechen.

Die Horvatitschka, an alles gewöhnt, auf alles gefaßt, überlegte schon das weitere.

Was konnte sie dafür? … Was hatte sich der ins Spiel ihrer Gäste hineinmischen müssen? …

Aber jener mitten im keuchenden Gewühl lachte bloß wild auf. » Pa naj! … Magar! … von mir aus; wenn schon –«

Und da flog einer aufheulend unter die Ofenbank und blieb liegen.

Und den zweiten schleuderte dieselbe furchtbare Gewalt aus dem kreiselnden Schwarm hinaus gegen die Wand, daß er im Sturz die Uhr an den Ketten mit herabriß; weg in die fernste Ecke prallte das unschädliche Stilet.

Und der Dritte löste sich aus dem Knäuel und schlenkerte und hielt sich die im Gelenk ausgedrehte Hand mit den gebrochenen Fingern, die dem Genossen die verräterischen Zeichen gespielt.

So, nur mehr drei; Koschutnik kriegte Luft und Lust. Noch hatten sie scheinbar nicht genug. Vom Flur her Gelächter, Gejohl, hissender Anhuß. Einer versuchte dem Oberkrainer auszustoßen; dafür knickte er von schwerem Bauchtritt voll getroffen stöhnend vornüber. Die letzten wichen. Aber der gestaute Schwall in Tür und Gang sperrte ihnen die Flucht. Fletschend und hilflos, mit weißen falschen Augen wendeten sie sich nochmals gegen den Feind. Der lachte bloß auf. »Nein, das ist nicht recht, daß sie euch nicht im Spalier hinauslassen, wartet, ich will euch helfen.« Und langte sich mit zwei Schritten den nächsten, hob ihn mit einem Griff aus, schwang ihn an Kragen und Bund hochauf, schüttelte ihn ein paarmal, schob ihn Kopf voran wie einen Brotlaib durchs offenstehende Fenster, daß er drunten unter die geleerten Tische und Bänke niederfiel und warf ihm nach das zusammengeraffte Spielgeld aus der Tasche; den letzten, den mit der durchbohrten Hand, ließ er seinen eigenen Weg finden. Breitgespreizt in seinen straffen gemsledernen Hosen stand er da, um sich, unter Uhr und Ofenbank, die gekrümmten Opfer.

» Le no sem, če ma še kir kurajžo! … her mit dem, der da noch Kurasch hat! …«

Aber da rührte sich nichts. Dem gegenüber hatte man schon sobald nicht Kurasch. Wie Wasser aus dem Fell, weiß Gott, so hatte er die Übermacht abgeschüttelt. Dergleichen war im Konfin noch nicht gesehen worden, und die Mutter Horvatitschka und der alte Glasfrächter Stermelz, ihr treuester Kunde, die wußten immerhin etwas von allerhand Sonntagen zu erzählen.

Primus Koschutnik trat an den Tisch, wo Karten in blutgestriemten Weinlachen schwammen.

»Und damit ihr für allemal wißt, was ein Oberkrainer ist – da!« Er hob die Faust und schmetterte sie mit den Knöcheln auf die Platte nieder, daß das Haus bis in den Keller hinein erdröhnte. »Das laß ich euch zum Andenken an den Primus Koschutnik aus Zirklach.«

Alles drängte um den Tisch. Da standen in eichenem Holz nebeneinander klar und rund drei eingetiefte Male, am schwächsten das linke, am deutlichsten das mittlere: das Siegel einer wahrhaft eisernen, einer tödlichen Hand. –

Unter Spott und Schimpf zogen die drei übel zugerichteten Welschen ab. Selbst die Horvatitschka als Wirtin stellte sich erbost gegen sie: ein starker Mann hatte bei ihr stets gehäuftes Maß. »Was, was werdet ihr, was wollt ihr? … Gar nichts werdet ihr, gar nichts habt ihr da zu wollen, ich werde und will! … Glaubt ihr vielleicht, ich brauch euch und euer Falschspiel da herin in meinem Hause, oder was glaubt ihr eigentlich? … Durch euer verfluchtes Spiel ist alles gekommen, der ganze Schaden, der eure und der meine, und morgen bei eurem Ingenieur werd ich euch dafür belangen, für den meinigen, das werd ich, da verlaßt euch drauf! … Anzeigen werd ich euch, wie ihr den Krainer habt betrügen wollen! … Sechs gegen einen, daß ihr euch nicht schämt! … Ganz recht ist euch geschehn, und noch viel zu wenig! … Scham und Schande!« Sie spuckte aus, ihr gewaltiger Busen wogte, mit eingespreizten Armen verfolgte sie den Abmarsch der Geschlagenen, deren heisere Drohungen, Racheschwüre und Segenswünsche lange noch feig über den rauschenden Bach im Talbug hergellten und mit dem Gegenhohn der zurückgebliebenen Zeugen ihrer Niederlage zusammenhallten, bis der Trupp endlich hinterm nächsten Bergsprung verschwand.

Primus hatte gehen wollen; das gab's nicht, das durfte er der Konfin und seinen Bewunderern nicht antun, freigehalten sich selbst mitzufeiern, das konnte er nimmermehr ausschlagen. Die Horvatitschka selber trug ihm einen Schtefan, einen Doppelliter vom roten Vipernsteiner auf. Alle einsprechenden Gäste bekamen die Geschichte breit zu hören, das eingeknöchelte Mal im Tische ausführlich zu bestaunen. Koschutnik durfte prahlen nach junger Seelenlust und trinken hoch über Verstand und Durst. Er zeigte, wie man aus dicken Gläsern Scharten beißt, zertrümmerte große runde Bachkiesel auf einen Schlag, zerbrach Hufeisen und trieb zweizöllige Drahtstifte mit nacktem Ballen der Faustkante in jedwedes Holz. Gegen Abend verließen ihn nicht so sehr die Kräfte als Maß und Sinn für deren Nutzanwendung. Er kniff die Julika, die derzeitige Hausnichte, daß sie schrie, schwenkte sie zur allgemeinen Einsicht hoch in die Luft, tatschte die Mutter Horvatitschka aufs breitwürdige Matronengesäß, daß sie wollüstig aufjuchte, und erwachte anderen herben Frühlingsmorgens frierend und dumpf droben in halber Höhe des Bosniakensteigs auf harten Wurzeln neben dem felsigen Pfad.

Gespenstisches Gebüsch wuchs aus der Dämmerung, ein riesiger Geisterhase huschte still durch die verkrüppelten Stämme, drunten im Dunkel des Talschoßes rauschte die Bregana, die Peitsche des einsamen Fuhrmanns knallte, von fernen erbleichenden Hochweilern herüber krähte der erste Hahn.

*

Das berühmte Knöchelmal im Tische machte dem Konfin volle Abende und Sonntage. Die Kunde sprach sich herum, jeder wollte selbst hören, sehen, fühlen, und verweilte. Nur gerade der starke Oberkrainer selbst, so heiß die Horvatitschka in ihrer späten Verliebnis und allerhand geheimen Nebenwünschen nach ihm ausschaute, kam fürs erste nicht wieder. Manchmal zog sein Abendgesang verhallend über die Höhen; und Tal und Straße und Wein und Wasser gingen auch ohne ihn weiter ihren Gang.

*

Der Kanzleitag mit seinen Zetteln, Listen, langwierigen Gegenverrechnungen und Audienzen war zu Ende. Die letzten vom zäh bittstelligen Bauernvolk setzten die runden Hüte auf und trampelten dumpf die hohle Holztreppe hinab, um drunten im Schloßhof für alle Fälle doch noch auf einen anderen Entschluß, eine gnädige Laune des hohen Herrn, eine erfolgreiche Aussprache unter vier Augen, irgendeinen glücklichen Zufall zu warten. Der Oberförster wuchtete die Bücher zu, schloß Laden und Kasse ab, die Revierjäger griffen nach ihren weggehängten Gewehren und Taschen, der alte Graf erhob sich.

»Also dabei bleibt's. Klaubscheine werden dies Jahr nicht ausgegeben. Der Schluß ist immer der, daß unser eigenes Waldbeerenobst in Agram und Samobor drunten auf dem Markt steht, und wir selber kriegen den Rest. Das ärgert einen mehr, als die paar Groschen wert sind, und das Wild bekommt auf die Art auch einmal Ruh vor den ewigen Weibern. – Auch keine Graszettel, die Leut können von der bequemen Sense nicht lassen, und die Jungfichteln werden geköpft. Wo's notwendig ist, laßt ihr selbst für euch die Kulturen aussicheln, verstanden! Für jeden, den ich mit Waldheu betret oder über den ich was dergleichen für erwiesen erfahr, gibt's zwei Gulden Abzug. – Jelinek: die dreißig Sack Schmiedekohle nicht vergessen, die der Zuban aus dem Gaj liefern soll; jetzt ist die beste Zeit. – Ja also, und wenn der Kronfeld morgen kommt und will die Eichen vom Breitenstein durchaus nicht anders als am Stamm kaufen, dann kriegt er sie eben nicht, früher, wie's nicht gegangen ist, hat er sie geklötzt nach Bregana hinaus an die Heerstraße haben wollen; jetzt, wo wir extra die Riesen und Rollbahn gebaut haben, wo die Straße soweit fertig ist und drunten der Venezianer lauft, jetzt möcht er sie vom Stamm nehmen, selber frachten, uns allerhand abmäkeln und an Astholz und Gerbrinde schön verdienen, das gibt's nicht. Dann kriegt sie eben ein anderer, der Karas oder der Spitzer; ich hab das satt. – Na, Bogulin, wie macht sich das böhmische Waldkorn droben auf der Ravnitza jetzt im zweiten Jahr? Und der Lein am Gendarm-Riegel hinauf, kommt er gut? Na, ist recht; schau mir's einmal an. – Bock, wohlgemerkt, wird mir jetzt vorderhand keiner geschossen, bevor ich's ansag; es war ein scharfer Winter, die Wölfe haben arg gehaust. Peter, bei dir im Drenouß müßten ein paar alte Lackeln stehn. – Na also; denn gut für heut; Schluß, mit Gott.« Der Graf ließ all die feuchten Schnauzküsse der Jägerei über seine Hand ergehen. »Du, Koschutnik, gehst mit mir.«

Blaß und still schlich der arme Sünder hinter seinem Herrn drein. Er hatte das Wetter heraufziehn sehen; ganz kurz und kalt hatte der Graf am Morgen seinen Gruß abgefertigt und ihn dann keines weiteren Worts gewürdigt. Die Türe des kahlen Kanzleigewölbes schloß sich, der krumme Kropatschek pfiff durch den dünngespitzten blonden Schnurrbart und klatschte sich auf die belederten Schenkel, der alte Johann Jelinek zog vielsagend die kantigen Schultern hoch und kniff flimmrig das listige Aug über der priemgeschwollenen Backe, der lange Bogulin kraute sich bedeutsam hinterm buschigen Ohr, der schwarze Peter ließ einen Schnalzlaut vernehmen, rieb das Schwefelholz an der Stiefelsohle an und zielte über das Anpaffen der Pfeife hinweg dem Oberkrainer einen hinterhältigen Blick nach, und selbst Oberförster Swoboda erwies seinem Stab die Ehre und Gnade eines gemessen einverständlichen, kalten Lächelns. Sie alle, außer dem langen Bogulin, waren Tschechen, eine gehässig geschlossene Landsmannschaft. Der da, der Neue, der Günstling, der kriegte jetzt sein Frühstück …

Und nun stand er heißgesenkten Kopfes und hämmernden Herzens auf demselben Dielengeviert, das er vor zwei Monaten ängstlich bestarrt und getreten, knitterte und knickte seinen Filz, sah weder Hirschkopf noch Porzellanofen noch irgend etwas in dieser Welt und erwartete sein Gericht.

»Das kannst dir wohl denken, warum ich dich mitbefohlen hab?«

Primus schwieg.

»Wunderschöne Geschichten, die man da von dir zu hören kriegt. Wenn das der Anfang sein soll, dann möcht ich das End gleich lieber nicht wissen.«

Koschutnik betrachtete stumm seine Stiefelspitzen.

»Hab dich mitkommen lassen, damit dir Scham und Schand vor den anderen erspart bleibt; deiner Jugend zulieb. Daß du Weibern und Wirtshäusern aus dem Weg gehen sollst, hab ich dir's damals nicht gesagt? Da hast es jetzt! Du wirst sitzen müssen, mein Lieber; und vorbestraft wegen Gewalt und Körperverletzung bist auch schon. Das sieht schlimm aus.«

»Wenn mich die anderen betrogen haben und gleich zu sechsen über mich hergefallen sind.«

»Immer die anderen! Selber ist man natürlich nie schuld an was. Hast denn erst hineingehen müssen zu den anderen? Kann denn ein junger Mensch nicht leben ohne den verdammten Wein?«

Der Oberkrämer zuckte hilflos die Achseln.

»Ich weiß selbst nicht, wie das über mich gekommen ist.«

»Ach geh! Ein Mensch, ein Mann, ein Jäger muß wissen, was er tut und laßt. Komm mir nur nicht auf die Art. Herrgott, ist denn der Wald nicht schöner als so ein verrauchtes, stinkendes Wirtshaus voller besoffener Leut?«

Primus überlegte. »Es war mir halt langweilig nach der Heimat. Da sind die großen Dörfer, da ist am Sonntag immer was los.«

»Ja, dann, mein Lieber, hältst auch gleich dort bleiben müssen. Dann bist zum Jäger nicht zu gebrauchen, zu meinem schon einmal nicht. Da kannst gleich auf der Stell gehn, und dem Herrn Baron in Egg werd ich's auch schreiben und mich bei ihm bedanken für den Raufer und Säufer, den er mir da aufgehängt hat.«

Das klang bös, und die folgende Pause, lang und bang wie Buße im Fegefeuer, brachte über den gequälten Filz schwere Prüfungen.

Der Graf räusperte sich.

»Deine Polona droben in der oberen Kanker, die wird auch eine Freud haben an solch einem Burschen zum künftigen Mann. Da könnts grau und tot werden, eh ihr heiratets. Ein Jäger, der mit welchen Maurergesellen kartelt und anderen für den gezahlten Wein den starken Affen macht! … Da kann deine Polona stolz sein auf dich, da kriegt sie was Rechts! … Und ich hab mir auch etwas Besseres erwartet von dir, wie du dich zuerst präsentiert hast.«

Koschutnik in seiner Scham und Knickung war gar nicht mehr auf der Welt. Daß der gute Herr Graf sich noch an all das so genau erinnerte, an seine Polona, an Sela in der oberen Kanker, wo ihr Rosmarinstock im Fenster grünte und ihr Nägelbusch über das Blumengatter herab in Feuerblüte brannte! … Der alte Herr Graf, der doch ganz andere Sachen im Kopf behalten mußte – und diesen gnädigen Herrn hatte er um eine Maß Heiligenkreuzers und einen lausigen Herz-Dreier so schwer gekränkt, eines solchen Herrn Gunst verspielt, verrauft, vertrunken! … Am liebsten und leichtesten hätte der bärenstarke Bursch vom Fleck weg losgeheult, in seiner Kehle zitterte der heiße Aufstieg, er schluckte gewaltsam.

»Ich will noch einmal ein Einsehen mit deiner Jugend haben, Primus …« Primus sagte er wieder, Primus, nicht bloß Koschutnik wie vorhin in der ersten Strenge; niemals noch hatte ihm der Name seines gemarterten Schutzheiligen so glockenrein und sonntagshell geklungen … »Mit deiner Jugend und mit deiner Heimat, in Gottesnamen. Ihr Oberkrainer habt's Kieselköpf, gleich springt das Feuer heraus. Will's also versuchen, ob du wenigstens ein halbes Jahr lang in einem Strich gut tun kannst. Aber das sag ich dir: kommt mir wieder so etwas vor, dann darfst auf der Stell packen und gehen. Einen Ludrian, der sich Feiertags mit Straßenarbeitern einlaßt, statt daß er grad da auf Wald und Wild doppelt acht hat, einen solchen brauch ich nicht zum Jäger.«

Koschutnik fand keine Antwort; an den geduldigen Hut nur drückte und würgte er all seine Gefühle aus.

»Natürlich, wenn dir jetzt das Gericht über den Hals kommt, da kann ich nichts dagegen machen, das mußt dir selber zuschreiben, mußt's halt ausfressen, vom Spund zum Loch, das ist ein kurzer Weg. Hast denn wenigstens Zeugen dafür, daß Katzelmacher dich haben um deine paar Groschen betrügen wollen?«

»Das wissen alle.«

»Wissen! … Wissen tun sie's freilich. Aber hast welche, die's beschwören? … Da fangt die Druckerei an. Da kennst die Sorte Leut schlecht.«

»Sonst hätt ich doch nicht dreingestochen.«

»Ein schöner Beweis! … Und dann, die Horvatitschka, die alte Giftkrot und Kindsmörderin war bei mir. Grad schlecht hat sie nicht geredet gegen dich, dazu hat sie vor mir schon nicht die Kurasch; ist ja auch verliebt in jedes Mannsbild, die alte Vettel. Aber Verlaß auf ihre Zunge ist nicht, außer der Rauferei nachher wird sie nichts gesehen haben wollen und mit den Arbeitern droben sich's schon gar nicht verderben, wo sie jetzt von denen schöpft und schröpft. Hat da ein großes Geschrei angestellt wegen des Schadens, den ihr gerissen und gestoßen hättet; muß ja ganz anständig sein, Uhr, Fensterscheiben, Stühle, der Ofen angeblich eingerannt, Heiligenbilder, Lampe, Flaschen, Gläser, was weiß ich, die Hälfte ist ja doch zusammengelogen. Hab ihr halt in Gottesnamen zwei Gulden auf deinen Anteil und für dich gegeben, damit eine Ruh ist. Die werden dir jetzt abgezogen, jeden Monat ein halber Gulden, verstanden.«

»Jawohl, bitt schön.« Seinen ganzen Lohn hätte Primus willig hingeopfert für's bloße Dableiben und verzeihen. Er wurde gesprächig. »Aber davon hat die Horvatitschka, oder wie sich schon schreibt, zu mir nichts gesagt. Mich ins Gesicht hat sie noch belobt, und einen Doppelliter hat sie spendiert und gemeint, ich sollt nur ja recht bald und oft wiederkommen.«

»Ja, ja, das glaub ich; so ist sie. Primus, nimm dich vor dem alten Weibsbild in acht. Ich kann das Luder auf den Tod nicht ausstehen, die dicke Viper unterm Felsen, die Straßenspinne. Hat schon manchen in die Ferse gestochen, daß er dran verfault ist, hat mir schon manchen braven Kerl weggefangen, eingeschleimt und vergiftet. Kann aber nichts gegen sie machen, kann ihr den Kopf nicht zertreten, sie sitzt über der Grenze auf der anderen Seite; sonst gäb's von mir aus schon längst keinen Konfin …« Der Graf wandte sich gegen den leise eintretenden alten Diener. »Ja, ja, Simon, gleich, ich komme schon; die Herrschaften sollen sich nur derweilen zu Tisch setzen … Also vor der ihren Betrieb und Wesen hüt dich, ich sag dir's noch einmal. In das verrufene Haus gehört kein anständiger ehrlicher Jäger. Ich duld's einfach nicht; ich verbiet's. Denk nur an die Deinige, die du einmal heiraten willst; die säh's auch nicht gern.«

Primus sah verlegen an sich heran; irgend etwas drückte ihm aufs Herz und drängte deutlich gegen die Lippen.

»Weiß schon, was du denkst und sagen möchtest: wenn du deine Polona erst hättst, da wär's anders.«

Der Oberkrainer sah froh überrascht auf. »Ja, wirklich, grad das hab ich gemeint.«

»Schön, glaub dir's. Heirat gibt Halt. Aber das muß erst verdient werden. So mir nichts dir nichts wird nicht Hochzeit gemacht, bloß damit der Herr Kurzweil und keine Versuchungen hat. Erst heißt's: ein verläßlicher Mann sein, sich erweisen und bestehen. – Ja, und dann war auch der Oberingenieur da, in einer anderen Sache, aber zum Schluß hat er dich eingetunkt, vier Leut hättst ihm auf ein paar Wochen arbeitsunfähig gemacht, zweie lägen in Agram drunten im Spital, der, den du in den Bauch getreten hast und der mit den gebrochenen, Fingern …«

»Ich hab mich erwehren müssen. Und mit denselbigen Fingern hat der Hundsfott den anderen meine Karten angezeigt.«

»Erwehren hättst dich gar nicht müssen ohne eigenen Angriff. Du warst's, der die anderen gegen dich aufgebracht hat. Und von der ihrem Falschspiel wärst um ein paar Gröscheln ärmer geworden, hätt dir zur Straf gar nichts geschadet, aber nicht arbeitsunfähig. Die Leut können nicht verdienen, Krankenhaus und Doktorkosten kommen dazu – wie wird jetzt das?«

Ja, das klang freilich bös. Koschutnik sah Ersparnis, Glück und Ehe wieder einmal in weiter Ferne davonschwimmen. Der Graf stand hinterm Schreibtisch hervor auf.

»Ich will dir's sagen, wie's wird. Für diesmal wird's noch so, daß ich dem Herrn Oberingenieur im Guten bedeutet hab: wenn er, der Oberingenieur, an Sonn- und Feiertagen seinen Werkleuten Wirtshaus, Spiel, Trunk, Holzdiebstahl und Schlingerei verbieten will und kann, dann würd auch ich meinen Jägern aufpassen. Wird die Straßenbauleitung für meinen zerdroschenen oder abgestochenen Forstgehilfen aufkommen? Fallt ihr ja gar nicht im Traum ein. Also. Du bist zwar noch lange nicht Forstgehilf, bild dir nur das nicht ein, aber in meinen Diensten stehst du, und das Wahrscheinliche war doch, daß die dich untergekriegt und fürs Leben zugerichtet hätten – –«

»Oh, ich bitt, solche schon nicht; auch ihrer zwölfe nicht.«

»Halt den Mund! … Erstens wenn ich red, zweitens, wenn du gar nicht gefragt bist, und drittens, weil man nichts verschreien soll. Auch den Stärksten kann's werfen, auch er findet seinen Meister, manchmal in einem viel Schwächeren, von dem er's gar nicht denkt, wie oft in einem Weibsbild! … Prahl mit den Baumstämmen, die du allein in die Reißen zwingst, prahl mit Zweimännerarbeit, prahl mit Dienst und Pflichterfüllung, aber prahl nicht mit Balgereien und Gewaltstückeln beim Wein. Wanns dich schon durchaus austoben mußt, dazu findst an einem fleißigen Werktag beim Holzen und Wegbau und Grenzbelauf früh und spät Gelegenheit genug, da kannst dich krachmüd rackern. Ein kluger Mensch haltet seine Kräfte überhaupt geheim, ein gescheiter Jäger erst recht. – Und damit ist die Geschichte für jetzt erledigt. Nimm dich zusammen. Sieh zu, daß du dich auf dich selber verlassen kannst. – Und noch eins: nimm dich vor den Böhmacken ein bißel in acht. Kannst viel von ihnen lernen, es sind ausgezeichnete Diener, akkurat und sauber bei der Arbeit, flink und geschickt, aber allen Menschen feind und neid außer sich selbst und untereinand; eben so ihre verdorbene Art. – Jetzt geh. Nein, nicht die Handschleckerei. Das kann jeder Hund. Bist du wirklich dankbar und ergeben, so zeig's auf andre Weis'. Denk an deine Polona. Hinter dir, unterm Hirschkopf ist die Tür. Mit Gott.«

Der Rapport war zu Ende. Nachdenklich schritt der Graf durch das braune Dunkel der Zwischentreppe und die breite grüne Halle hinüber nach dem Speisesaal, hinter dessen Flügeltüren schon Silber und Kristall der Herrschaftstafel klirrten.

– Wieder einer, den der alte Weibssatan angeködert hatte, der eines Tages doch ins klebrige Netz lief und geliefert war … Aber gleich nächstens einmal sprach er mit dem Obergespan und seiner Exzellenz dem Banus selbst; irgendeinen Weg, ein Mittel mußte es doch geben, der Kanaille das Schandgewerb endgültig zu legen. Solch verdammte Vettel in ihrer Gifthütte, und war tatsächlich instand, ein ganzes Tal, eine ganze Straße, ein ganze kleine Welt zu verpesten.

*

Der Oberkrainer fand den vorausgegangenen Bogulin auf der grauverwitterten Steinbank vor der Schloßbrücke, wo jener im Schatten des virginischen Wacholderbaumes mit geruhsamer Pfeife teilnahmsvoll seiner harrte.

Jäger und Gehilfe, gemeinsam vereinzelt gegen die Überzahl der Tschechen, hatten sich gut aufeinander eingewöhnt; dem Bogulin wär's ehrlich leid gewesen um den hübschen versprechenden Burschen, der ihm soviel Wege und Arbeit abnahm, um den täglichen Gefährten, den Landsmann. Er hob sein Rohr aus dem wetterfarbnen tabakblondgeschimmelten Harzbart.

»Na? Hast's kriegt, dein Frühstück?«

Primus strahlte. »Fest ausgezankt bin ich worden, und zwei Gulden Abzug. Aber ich kann bleiben.«

Der Bärtige nickte. »Ja, gut ist er und gerecht. Wahr, was wahr ist. Hat mir ohne Ursach noch kein böses Wort gegeben.« Er stand auf. »So gehn wir halt.«

Einmal auf dem Heckenpfade die Hügel hinan durch die mittäglichen Frühlingfelder wandte er sich nach seinem Begleiter um; seine blauen Augen lachten. »Da werden sich aber die Böhmen schön ärgern. Die haben sich schon gefreut.«

Beim Kreuz unterm Mutzelbauern trennten sie sich, der Oberkrainer nach seiner Hütte, der Revierjäger nach dem Forsthaus. Bogulin reichte dem Landsmann die schwere harte Hand.

»Mußt dich eben ein bissel zurückhalten,« sagte er gutmütig; »manchmal, meiner Seel, hat man ja seinen Durst – aber das geht vorbei, und hinterdrein kommt so nichts als Verdruß. Sei halt g'scheit.« Zwölf Schritte weiter drehte er sich noch einmal herum. »Bei meinem Lehrherrn im Bachern droben, beim Grafen Mensdorff, da hättst meiner Treu ein andres Trinkgeld kriegt. Der hat dir aufspielen können, der war dir anders hantig, heut noch g'spür ich's, ujeh …« Er rieb sich wie wehleidig Ohr und Rücken, setzte seinen Knaster umständlich in Brand und stieg dann heimlich lachend, vor sich hin mit bartumknisterter Pfeife nickend, seines Wegs zur felsigen Quellkühle des Lasanergrabens hinab. –

Als jetzt Primus, endlich allein mit seiner Erleichterung, in die frühlingsangrünende Waldstille trat, ging ihm dieser Tag erst richtig frei und hell auf.

Die Welt war wieder einmal neu, der geflammte Bussard im Himmelsblau freute einen und die goldbraun sonnende Viper in der Halde, die fleißig angeleckte Sulze unter der überhangenden Hornbuche und der frische Aufwurf vor der Dachsburg im Fels, der hackende Specht hoch droben im Hang am moderbleichen Storren und der heimgekehrte Kuckucksruf in Grün und Blüh …

Überstanden. Alles gut und vorbei. Und der alte Graf solch angenehmer Herr. Und im übrigen wollte er schon Vorsätze fassen, sich zusammennehmen, das machte er zum zweitenmal nicht, gewiß nicht, bestimmt nicht, fiel ihm gar nicht ein, es war ja nur die Neugierde gewesen …

Und das Gericht konnte ihn einstweilen gern haben.

Er stieß einen gelljuchenden Bergschrei aus, daß es aus blauer Taltiefe der Bregana widerhallte, daß der Kuckuck verstummte, der Specht metallen schwirrend davonbolzte, und der graue Hauptbock, der nah dem Weg in hummelsummender Anemonenblüte des flimmerigen Stangenholzes gesessen und über Fege- und Haarungssorgen mittäglich eingenickt, erschrocken aufrumpelte und in baßdröhnenden dumpfen Fluchten zum schützenden Tanndunkel der Katzenschlucht hinunter absprang.

*

Kaum gedankt hatte der Graf dem Gruß der süß knicksenden, weinrotselig lächelnden Horvatitschka, als er im Frühlingsstaub der Talstraße, dem braunblinkernden Forellenbach entgegen, am Konfin vorüberfuhr.

Sie glättete Schürze und Maske, sah dem vornehm dumpf entrollenden Wagen erbittert nach und ballte die fleischige Faust.

Sie kannte ihn gut, ihren gefährlichsten, ihren offensten, geschworensten Feind.

Als reicher Herr so neidisch zu sein und einer armen alleinstehenden Frau ihr bißchen mühsamen Erwerbs zu mißgönnen! … Als ein Hochbürtiger auf ragendem Turmschloß so kleinlich zu sein und sich um Sorgen und Sammeln einer vereinsamten Witwe in stillentlegenem Waldwirtshaus gehäßig zu bekümmern! … Alles nur, weil die Jäger halt so gerne bei ihr verkehrten und ihr dafür hie und da, mein Gott! … eine Kleinigkeit im stillen zugutekommen ließen.

Als ob in den Mokritzer Wäldern nicht hunderttausende von Klaftern Holz stünden! … was lag da an ihrer zehn oder zwölf, an einer Kastanie zu Stallgerüst und Dachbalken da, einer Eiche zu neuem Türstock und Faßgeschirr dort? … Mit solch geiziger Genauigkeit machte man sich keine Freunde.

War denn nicht überhaupt alles ein Zufall in der Welt? … Ein Zufall, daß der dort der Erbgraf geworden und nicht ein armer Drittelgütler in den Bergen, sie die Wirtin zum Konfin und nicht irgendeine glänzende Baroneß oder Komteß auf hoher Burg? … Ja, wäre er ein anderer gewesen, leutselig und zugänglich wie die Gospodine auf der kroatischen Seite, die Plemenitaschi von Bregana und Blagowo, wie die Herren Stuhlrichter und Feldmesser und Illustrissimi und Gespane: aber immer schon hatte er hochmütig und kalt über sie hinweggesehen, auch damals in ihren verlockendsten Frühsommerzeiten, und wie gerne sie sich vor ihren Gästen in abweichenden Andeutungen gefiel – – »Ja, wie ich noch jung, in meinen besten Jahren war, da wären dem auch hundert und dreihundert Klafter Holz nicht zuviel gewesen, das kann er mir nie verzeihen …« – man hörte es geduldig an und glaubte es zu ihrem tiefen Verdrusse doch nicht so ganz … Zwischen den Plemenitaschi, den Zwetschkenbaronen in den Kurien, und dem Mokritzer Grafen bestand dennoch ein gewisser landkundiger Unterschied.

Der gehaßte Wagen mit den hohen Grauschimmeln verschwand drüben hinterm Bergsprung, und die Horvatitschka wendete sich ihrem Tagewerk zu.

Sie hatte heut überhaupt ihren ärger mit Welt und Menschen; dieser Morgen war mit dem linken Fuß voran ins Land getreten.

Die Julika, das unverschämte Mensch: hatte sich hier dick und voll gefressen, hatte einige siebzig Gulden zusammenverdient – redete das Stücke jetzt nicht auf einmal allerhand verrücktes Zeug daher von Genughaben und Langeweile, wollte von heut über zwei Wochen gehen, wo anders unterkommen und heiraten! … Und dabei hatte sie es hie so gut gehabt – trotzdem sie beinah täglich Glas und Geschirr zertöppert, der Trampel, das mußte natürlich abgezogen werden! – hatte es gut gehabt, war fett und rund geworden – wenn man da bedachte, wie zerhadert und ausgehungert sie gekommen, und jetzt strotzte alles nur so an ihr, ja, das ist dann der Dank von solchen Leuten! … Sonst war sie ja nicht uneben gewesen, die Julika, hatte dem Mannsvolk gefallen und soweit auch ganz geschickt und willig aufgewartet … Aber die Horvatitschka war es gewohnt, ihre Nichten bei Bedarf nach eigener Wahl und wirtschaftlicher Einsicht zu wechseln; so etwas, daß eine mitten aus blühendstem Frühlingsbetrieb heraus aufsagte, war ihr denn doch noch nicht vorgekommen. Nun, mochte sie, desto besser; die Straße wieder in Gang, da konnte eine Neuheit nicht schaden. Halten wollte sie die Schlampe schon nicht, das konnte sie gar nicht, das Luder wurde frech und bedrohlich. Da machte sie schon lieber scharfen Schluß und sah sich in ihrer erstaunlich ausgebreiteten Verwandtschaft nach einer frischen, nutzbringenden, leistungsfähigen Nichte um.

*

Hinauf im Talgrund am Schluß eines breiteren Bodens zwischen den auseinandertretenden steildunklen Bergwaldhängen heulte und pfiff fleißig der kleine Venezianer.

Die Aufstellung war nicht schwierig gewesen. Gerade hier am Boden herab hatte die Bregana starkes krummes Gefäll, das ein bewehrter Fluder aufnahm und abschneidend durch das kleine Talbecken hinweg nach dessen unterer Enge führte. Nur in den Hundswochen der Hochsommertrocknis, im Juli und bis in die zweite Hälfte des August mußte das Werk ruhen; jetzt im wettrigen April lief das mittelschlächtige Rad wie eine Turbine, und der dreiblättrige Gatter durchfraß in emsigem Strampeln auf und nieder Klotz um Klotz.

Selbst die Bergrehe hatten sich an das heulende Ungetüm bald gewöhnt und äugten des Abends von den frisch aufgrünenden Hochschlägen verwundert auf Lärm und Bewegung der Tiefe hinab.

Nur der steinalte Sagenbock vom Nußgraben konnte sich mit der befremdlichen Sache nicht aussöhnen. In diesem Frühling fegte er seine neunte Krone, rauhgeperlt, wuchtschwer, knorrig, jedseits zu vier Sprossen verreckt; dergleichen Störung war ihm in all seinen bewegten Tagen nicht vorgekommen, und er hatte schon die Wölfe im tiefen Krustenschnee glühäugig hinter sich hecheln hören, er trug ein Postenkorn eingenarbt in der Keule, die Kugel des krummen Kropatschek war ihm einmal hohl durch den Ziemer gefahren … Nein, mit diesem unaufhörlichen Menschengetös da drunten konnte er sich nicht befreunden; mochten es die Jüngeren, die brachten es vielleicht fertig – er war zu gries und grau und hatte seine Erfahrungen, hatte seine Narben, die ihn vor drohendem Wettersturz empfindlich an die Torheiten grünerer Tage gemahnten … Nur manchmal, lange nach verlöschender Dämmerung, wenn im Grunde der vertraute Bach allein noch rauschte, zog er über die Bergkante in die Hänge herein; aber lange vor Tau und Tag machte er sich schon wieder auf die breiten stumpfen Schalen, schmälte noch einmal bös gegen das unfriedsame Menschenwerk hinab und wechselte dann gespenstisch leis im bleichen Frühgrau immer höher und höher hinan, bis er in den Steckenschlägen und dornig verstrickten Dickungen des Seloutz, seines neuen Einstandes und Altenteils verschwand.

Hier gab es für gewöhnlich einen einzigen Menschen, den halbwilden Voglenz, den einsam hausenden Köhler; den besuchte er zuweilen bei seinem Meiler oder vor seinem borkenen Schlupfdach unterm brandhohlen Kastanienbaum; den kannte er, der tat ihm schon nichts, der war seinesgleichen.

*

Der Graf war ausgestiegen; prüfend und schätzend schritt er an den wüsten Halden der abgeriesten, an den geordneten Wällen der schon sortierten und markierten Klötzer vorbei durch die luftlockeren Stapel und Stöße der Bretter; nachdenklich sah er dem rastlosen Fraß der blauschimmernden Stahlzähne zu. Seine Wälder! … Es schnitt ihm hinein in die innerste Seele. Seine Wälder, seine Welt, die das allmächtige Metall, die das kalte Eisen dieser Zeit unersättlich, unerbittlich verschlang! … Die gehauenen Stämme, blitzgezeichnet, eisklüftig, moosbeschorft wetterseits: das sind wir selbst, langsam gewachsen Ring um Ring aus Muttertiefen der Heimaterde, die wir in Kreislauf und Tausch mit neuer Laubkrume bestellt und mit nachkommenden Geschlechtern befruchtet … Das sind wir selbst, die der verschärfte Druck neuer Strömung auf mühlwerkgetriebnem Richtwagen Zoll für Zoll gegen die Klinge heranrückt, Strich um Strich, bis unsere überlebte Form nutzbar zerfällt … Alles ein Gleichnis, und hilft uns doch alles nichts, wir müssen, wir müssen, müssen! … Der Menschen sind viele geworden, sie brauchen Ordnung in Haß und Enge, Ordnung kostet Geld, man nimmt's vom Lebendigen! …

Bretter, was sind doch Bretter allein schon proletarisch und würdelos: – Bretter, Bretterbuden, Baracken, Kantinen, umzäunte Bauplätze in öder ziegelrotheißer Arbeitervorstadt … Und dieser widerliche, händlerische Holzmehlgeruch, ganz anders wirksam hier als in kleiner Werkstadt, ein Geruch nach Raubbau, Waldmord, Güterschlachtung, Industrie, Gemeinheit, Betrug … Der Graf wandte sich gegen den begleitenden Sagmeister, den er zum geheimen Verdruß des Oberförsters Swoboda statt aus dem Böhmerwald aus dem Oberen Sanntal her verschrieben. »Vidmar, ja, daß ich's nicht vergeß – also daß mir das Sagmehl ja nicht in den Bach verworfen wird. Erstens wegen den Forellen, und zweitens laß ich's alle paar Wochen abholen zu Streu und Dung. – Gut, und zum Schuppen suchen Sie sich eben Kastanienpfosten und Sparren aus; wir stellen ihn einfach auf vier Steine, genau wie sonst eine Heuharfe, das ist das einfachste und billigste, kann dann unter Umständen versetzt werden und zu was anderem dienen …« Er sann nach. »Ich will Ihnen was sagen; kommen Sie noch einmal mit. Die Eichenklötzer hier, die sind noch nicht verkauft? Sind nicht am End dem Kronfeld seine? Ha, und wenn schon, wär auch kein Unglück, der Herr über mein Holz bin schließlich ich. Gut: also diesen da – und den – den – den da – den hier – die beiden – haben Sie Ihren Blaustift bei der Hand? Also anmarkieren! – diesen – die dreie da – noch den, daß ein Dutzend voll wird – schön, also diese zwölf Klötzer versägen Sie mir, heut einmal, morgen einmal, wenn grad nichts Besseres zu tun ist, auf Anderthalbzöller. Was wird das geben? Warten Sie, das wird geben – nach meiner Schätzung – etwa hundertfunfzig Stück Anderthalbzöller zu drei Metern, dreihundert zu eins funfzig: und im Durchschnitt sagen wir funfzig breit, sind hundertfunfzig laufende Meter – sechs mal acht ist achtundvierzig, neunmal acht sind zweiundsiebzig, zusammen hundertzwanzig Meter, bleiben dreißig Meter gleich sechzig Bretter zu eins funfzig lang übrig, macht neunzig Meter Länge – – das gibt grad schön die Vertäfelung zu zwei Zimmern samt Oberborden, bleibt wahrscheinlich noch eine Kleinigkeit übrig … Also, diese zwölf Klötzer, nicht wahr, wenn einmal nichts wichtigeres vorgeht; muß nicht alles Schweller und Daube und Kufe werden; ich erleb's ja dann wohl nicht mehr, bis solche Eiche ablagert! … Addio, Vidmar. Wie gefallt's Ihnen überhaupt hier? … Ja, freilich, Ihre Sulzbacher Alpen, die kann ich Ihnen nicht herbauen … Na gut, im Spätherbst und Winter will ich Sie hie und da auf Jagd mitgehen lassen, damit Sie mir nicht tiefsinnig werden da herin. Wie ist's denn, bezieht die Straßenbauleitung laufend Bauholz und Schnitt? … Na, ich ich werd's ja gleich selber sehen und hören, ich fahr weiter hinauf, Inspektionstag … Ja, die Arbeiter, da ist freilich aller Herren Länder Gesindel darunter, man muß die Augen schon offen halten … Fertig, Stefan; weiter!«

Nein, es mußte nicht alles Bahnschweller und Daube und Kufe werden, nicht alles schnöd zu Markte gehen; etwas wollte er doch behalten aus seinen Wäldern, aus seiner sterbenden Welt. Und wenn er's auch nicht mehr erlebte, die Enkel dann hörten vielleicht in langen Winternächten noch schlimmerer Zeit die braune Täfelung knacken und seufzen, und sie wußten: das sind Großvaters zwölf Eichen aus dem Bärengraben an der Bregana, gewachsen unterm Türkenmond, unter Prinz Eugen und Maria Theresia, geschlagen und versägt in den Jahren des Straßenbaues, anno Domini achtzehnhundertundsoundsoviel. – –

Die Straße klirrte und rauchte, hämmerte, bohrte, dröhnte. Es roch nach Staub, nach Feuerstein, nach Pulver und Zündschnur, nach frischen Baracken, nach Teeröl, nach grobem Tabak, nach Schweiß und ungelüfteten armen Kleidern.

Drunten im gewundenen Rasengrunde zwischen den steilen Gängen nistete das bretterne Arbeiterdorf mit seinen drohend herausgereckten Rauchrohren, mit seinen Wäscheleinen, blaugewürfelten Hemden und Abfallhaufen von Asche, Fäulnis, Blech und Bruch.

Manche hatten Weib und Kind mitgebracht. Zerlumpte Brut spielte mit Fettpapier am sonndunstglitzernden, von erstem Laubschleier schwebzart überflorten Bach; hohle schmierige Frauen zankten sich säugend von Schwelle zu Schwelle; in der Tür der Kantine stand übernächtig, mit der Haarnadel in den zerfressenen Zähnen stochernd, eine schlampige Kellnerin.

Wie doch Menschenarbeit, es sei denn die altheilige des Bauern, die Landschaft, die feierlich reine Natur gleich schändet und wie mit Fremdkörpern verschwärt, dachte der Graf. Das Tal hinauf war nicht mehr sein eigen Gebiet, es gehörte der Glashütte, und dennoch widerte das Bild ihn bitter an: die Rasentrift unter hochschäftigem lichtflimmernden Buchenhang und wildblühendem Berggebüsch, wo sonst einsames Weidevieh in still grüngoldner Spätsommervesper geglockt und gerauft, wo er selbst noch als junger Weidmann den Bären gejagt, mit einem Male entstellt und mißtönig gellend bevölkert … Mein Himmel, auch diese waren geboren, hungerten, rangen, kämpften mit Mensch und Gott um Sonne und Brot, halfen sich mit irgendeiner stumpfen Hoffnung, lebten in irgendeinem Wahn, glaubten sich vermehren zu müssen …

Aber eines Tages würde auch das vorüber und vergessen sein, gnädiges Unkraut bedeckte Schlacke und Schorf, und dann stiegen die feingliedrigen Wlachinnen in ihren durchflochtenen Brustzöpfen, spangengerafften stärksteifen Spitzentüchern und goldbunten Fransenschürzen auf weißer klarer Bergstraße zu den Märkten der Täler hinab. Was da brach und bohrte, klirrte und kleinerte, das Werk brachte entrückten armen Mitmenschen, brachte den rauhen Dörfern der Wildnis eine Besserung und Erleichterung ihres Daseins, eine vermeinte; darum mußte all die Häßlichkeit und Verstümmelung sein.

Langsam schritt der Graf die Trasse hinan, die sich schon bis zur Einkehr in den ersten Seitengraben emporgearbeitet, hinter ihm her kreuzten und weilten neugierige Blicke, schlug scheues Geflüster zusammen. »Der Graf von Mokritz …« Ilija Schorman legte den Zweihänder fort, holte die angerauchte Zigarette hinterm Falz der zurückgestülpten Militärmütze vor und steckte sie auf ein paar Züge in Brand, um besser denken und staunen zu können. Das war also ein Graf! … Ja, so einer, der brauchte sich freilich nicht in Gottes heißer Sonne von früh bis spät mit Stein und Staub herumzuschlagen, der brauchte auch nicht nach Wis-kond-zin zu gehen, der hatte tausendmal mehr als er bedurfte durch bloßen Zufall der Geburt … Was, was wollen wir, was? … Die Einen werden Grafen, die's gar nie ganz aufzehren können, die Anderen arme Fretter, die ihr Leblang nicht herauskommen aus Arbeit und Not; die Einen müssen weit nach Wis-kond-zin wandern, um glücklich zu werden, die Anderen sind versorgt schon im Mutterleib … Schon einmal Gottes Wille so … Die heisergebrüllte Stimme des Partieführers, der gerade noch vor dem Grafen tief den Hut gezogen, weckte ihn aus seinen Träumen. »Was stehst? … Was gaffst? … hast noch keinen solchen Grafen gesehen? … Kriegst du dein schönes teures Geld, um zu arbeiten oder um Grafen anzuschauen, ja bassama teremtete! … Glaubst du vielleicht, so ein Graf hat nicht genau so den Hintern unterm Rücken wie ich und du, und macht nicht genau so die Knie krumm, wenn er muß, haha! … Alloh, weiter, fleißig, fleißig, fürs Glotzen und Maulsperren wirst du nicht bezahlt, verflucht sei deine Mutter! … An den Hammer! …« Und wieder prallten die geduldschweren Dröhnschläge auf die Bohrmeißelstange im ausgeschlämmten Sprengloch.

Der leitende Ingenieur, gerade zugegen, empfing den hohen Besuch mit untertäniger Beredsamkeit, erklärte, zeigte, führte; leidenschaftlicher Jäger, hoffte er die Öde dieser Kampagne durch Abschuß eines herrschaftlichen Bockes angenehm unterbrechen zu können. Allein der Graf hörte kaum auf das beflissene Geschwätz. Er sah dem herabprasselnden Schutt nach, der sich zu tödlichen Sturzhalden über die zum letzten Male anknospenden Wildrosen, die üppig wuchernden Nachtschatten im Hange ergoß. Eine einzige solche Blüte mit ihren Wundern, war sie nicht mehr und echter und besser als alles, was Menschheit je ersonnen und erwirkt? … Da drunten im Gestrüpp, das ganze alte Tal herauf hatten früher in schwülen Hochfrühlingsnächten die Nachtigallen geschlagen wie so stimmungsvoll nirgendwo in der ganzen Landschaft; noch vor wenigen Jahren war man an solchen Abenden mit seinen Gästen vom Schloß aus hereingefahren oder auf die mondüberschauerten Waldhöhen gestiegen, sie den Zauber der allgegenwärtig in aufduftender Tiefe hinschmelzenden Kantilenen erleben zu lassen. Die Sängerinnen des Tales draußen waren schon seit dem ersten Straßenbau seltener geworden; in diesem Mai würde auch hier drunten in den verschütteten Rosen und Geißblattranken keine mehr ihre inbrünstig dunkle Wonneklage anstimmen. Götter und Geister flohen vor dem sündenfälligen Menschen und seinem Werk.

Der Ingenieur hatte zwei seiner Leute herangewinkt und stellte sie dem Grafen vor. »Francesco Bianchi, der Angenagelte – hier!« Er hob dem welschen die glatt vernarbende Hand hoch, »wieder arbeitsfähig, wenn schon in sehr beschränktem Maß. – Niccolo Castis, dessen Kopf und Nasenbein auch einiges zu erzählen wissen. Ich meine nur: damit Herr Graf sich von der Richtigkeit der Geschichte überzeugen können.«.

»Ich habe nie daran gezweifelt. Aber, nicht wahr, für die Bärenkräfte meines Jägers kann ich so wenig wie zum Beispiel Sie für die gegebene Veranlassung. Ich an Stelle der Leute da hätte lieber geschwiegen.« Der alte Herr sah die beiden Furlaner scharf an, zog die Geldtasche und gab jedem einen Silbergulden, »hier; kein Schmerzensgeld, sondern eine Erinnerung. Die Santa Madonna im Munde und die falsche Karte in der Hand, wie geht das zusammen?« Er richtete sich an Castis, einen hochgewachsenen flachbrüstigen Menschen mit starkem, buschig überhangendem Schnurrbart, »woher?«

In den Augen des Friaulers erglänzte ein frohes Licht, aus seinem Schnurrbart lachten breite gesunde Zähne. » Da Codroipo, Schinjur.«

»Aus Codroipo, wo ich die berühmte uralte Gruft besucht habe, in der keine Leiche verwest? Kenn ich gut, Codroipo. – Und Ihr?«

Francesco Bianchi, rötlichblond, breit und knotig, blinzelte scheel aus schmalen weißen Augen zum fremden Padron auf, der mit einmal so überraschend echt Furlan sprach.

» Da Cividal.«

»Aus Cividale, so, so. In Cividale lebt der ehrenwerte Herr Dottore Podrecca, ein gelehrter Mann. Seht, ich kenne eure ganze schöne Heimat, bin oft dort gewesen, ich liebe euer Land und seine Leute.« Der Graf legte seine Hand flüchtig auf die Schulter des Castis. »Und das tut mir leid und wundert mich, daß ihr, als Enkel der Serenissima, herkommt, um schlechtes Beispiel und Ärgernis zu geben. Beim Spiel betrügen wie ein kroatischer Viehhändler, wie ein krainischer Flößer, ist das eurer würdig? Ihr müßt zeigen, daß ihr Künstler und Meister seid, Edelleute gegen unser Volk hier. Furlanische Muradori haben die Gänge und Hallen unserer starken Schlösser unzerstörbar gewölbt, sie haben Dome und Palazzi gebaut zu einer Zeit, da man bei uns keine zwei Balken recht zu fügen wußte. Ein furlanischer Artista ist etwas Besseres als ein slawischer Barbar; si vede, capesce? Das dürft ihr nicht vergessen, ihr müßt euch zu gut fühlen, ihr, die ihr mit eurer Polenta das Beispiel vornehmer Enthaltsamkeit gebt. Und gar bei einem Wein, mit dem man in eurer Heimat nicht einmal ein Faß ausschwenken würde.« Er wendete sich wieder zum erstaunten Ingenieur. »Vielleicht hilft's? Bei Kindern, bei den meisten Menschen ist der Stolz der Hebelpunkt. – Ja, was ich noch sagen wollte: ich sehe dort am Felsen einige Rollen Draht lehnen. Lieber Herr Oberingenieur, wenn Sie ein klein bißchen darauf achten wollten, daß von ebensolchem und wahrscheinlich eben diesem Draht in meinen Wäldern nicht gleich ganze Hektometer als Schlingen gefunden werden, wie jetzt an so manchem Montag! Ich wäre Ihnen wirklich aufrichtig dankbar. Und nun für heute Adieu. Es war mir sehr interessant. Nach dem Vergnügen die Arbeit; erst noch ein Besuch in der Glashütte, dann habe ich meine eigenen hochtechnischen Anlagen zu inspizieren. Nun, und in Stojdraga droben im neuen Hause lebt sich's angenehm? Ja, es ist da eine prachtvolle Aussicht, man freut sich über jeden neuen Morgen, es kann einem bei aller Einsamkeit nie langweilig werden … Nein, nein, bemühen Sie sich nicht, bleiben Sie ruhig bei Ihren Leuten, ich finde schon allein hinunter, – wirklich. Auf Wiedersehen: und Glückauf – oder wie soll man da sagen – zur Arbeit.«

Der Graf winkle noch einmal und ging; die Furlaner sahen ihm in scheuer Bewunderung nach, der Oberingenieur verbiß seinen heimlichen Ärger. Gewiß, die Aussicht da droben im Quartier war wunderschön, die Weiblichkeit auch ganz annehmbar: – aber ein starker Bock zum Abschuß wäre ihm lieber gewesen als alle guten Wünsche … Ein hochmütiger Herr das: man mußte eben mit ihm auszukommen suchen, die Bauleitung war in vielen Dingen auf ihn angewiesen! … Da drunten fuhr der Wagen langsam durch das Barackendorf weiter hinein nach der alten Glashütte.

Wieder hätte Ilija Schorman gerne den Stummel aus dem Falz der Militärmütze vorgeholt, um besser denken und nachschauen zu können; allein bei ihm stand rot, mit drohend geschwollener Schläfenader, der Partieführer, und so hämmerte er in geduldigem Gleichmaß weiter drauflos auf die gedrehte Bohrklaue, Wucht um Wucht, Prall um Prall, daß es ihm bis in die Schultern hinein dröhnte.

*

Die alte Glashütte nistete zwischen Wald und Fels ganz hinten im innersten Tal, wo es sich schloß und zur ansteigenden Wildschlucht verfinsterte.

Wie fast überall in Landschluchten seiner Heimat hatte das zarte, geheimnisvoll kristallkeusche Kunstgewerb sich vor Staub und Grelle der Heerstraßen in die Tiefe kühldämmernder Berge zurückgezogen: sehr zum Schaden dessen, der einst zu besserer Nutzung seiner unbringbaren Forsten das einsame Werk gebaut und daran durch andernötigen Zuschuß soviel eingebüßt, daß der Betrieb nach kurzer Blüte dahinwelkte und nach längerem Kranken und Stocken schließlich erlosch.

Denn die Höhen, die den Ofenbrand und die Pottasche in Überfluß trugen und gaben, boten weder Absatz noch Flußsand noch das lebendige tägliche Brot. Auf rohem Gleis, durch Dutzende von Bachfurten mußte die Ware vor das Tal hinaus und fünf Meilen weit bis Agram, mußten Sand und Proviant mühsam hereingeschafft werden. So wurden ganze Wälder ohne allen Sinn und Gewinn durch die Esse gejagt, und das Ende war klangloser Zusammenbruch.

Immer schon hatte der Graf sich mit dem Gedanken des Ankaufs getragen; ihn erbarmte des verfallenden Werkes, es erbarmte ihn noch mehr der böhmischen Glasbläser, die mit hohlen Weibern und pilzbleicher Kinderbrut da hinten in stockfeuchtem Grund ein dumpfes Schattendasein weiterführten.

Einst voller Hoffnungen in die Fremde gekommen, hatten sie das sinkende Schiff, hatten sie später in träger Schwermut die trotz allem irgendwie liebgewordene Stätte nicht verlassen wollen, und der bedrängte Besitzer war es froh, ihnen an Stelle unaufbringlicher Lohnrückstände die Gebäude zur Bewohnung und Aufsicht geben zu können.

So fristeten und fretteten sie nun schon ins zweite Geschlecht, heirateten untereinander und mehrten sich, ein Volk im Volke, heimatlos und ohne rechten Glauben an irgendeine Erlösung.

Die Männer gingen auf Arbeit, wo sie sich gerade fand, in ihrer Not selbst hinauf nach den Hochdörfern zu den kroatischen Bauern, oder über die Berge hinweg nach Landstraß und dem reichen Sankt Barthelmä im Oberen Gurkfeld; allein ihre ausgeblasene Brustschwäche, ihre unheimliche Moderblässe, ihr bissiger laugenscharfer Verstand machte sie, die wie aus der Unterwelt zu den Menschen heraufgestiegen, unbeliebt, die gutmütigen Kroaten schenkten ihnen manchmal einen Keil von ihrem Maisbrot oder eine Kiepe ihrer mühselig dem strengen Rotlehm abgerungenen Kukuruzfrucht, drüben die hartherzigen krainischen Pferdehändler aber wiesen ihnen das Zauntor, und schließlich war der Graf von Mokritz der einzige, der sie hie und da bei leichter Forstkultur, bei der Ernte oder über die Woche in Park und Speicher beschäftigte. Die Frauen blieben meist im düsteren Tal und warteten der winzigen lichtlosen Gemüsegärtchen zwischen Fels und Bach, deren späte ungare Frucht oft ein einziger jäher Gewitterregen verschwemmte; von den Kindern zog manches hinaus in neue Fremde und Ferne, nahm Dienste, kam zu Sonne und Brot oder Schaden und Verderb … Und die Jahreszeiten zogen ihre Kreise überm einsamen Grund, und Fachwerk, Dachgestühl und Blasebühnen der aufgelassenen Hütte vermorschten.

Was er mit diesen Leuten eigentlich hätte anfangen, wie sie versorgen und ihrem traurigen Zustand ein Ende bereiten sollen, das wußte der Graf freilich selbst nicht. Er haßte eingenistete Industrieen und ihren Raupenfraß, aber gerade die Glasbrennerei, romantisch, ehrwürdig, von mancher Sage verklärt, nahm er von seiner Abneigung aus: – und Menschen mit ihrer Sehnsucht, Menschen mit ihrem Trieb und Teil waren diese Unglücklichen auch, waren sie erst recht. Nun aber doppelt und dreifach.

Neues Elend brach vernichtend über sie herein. Einem Mangel waren sie zum Opfer gefallen; jetzt nach Jahren und Jahrzehnten stumpfen Harrens und Hoffens nahm die Abhilfe ihnen den letzten Halt.

Die Straße, die damals gefehlt, die Straße war gekommen und hatte das Tal erschlossen; die wertlose Hüttenruine fand plötzlich Anwärter und in einer Agramer Gesellschaft eine neue Herrin von Mut und Mitteln, stark genug zu gründlichem Wiederaufbau, hart genug, auf den Ruhm übertriebener Rücksicht zu verzichten.

Was sollte man mit den alten verlernten Leuten auch beginnen? … War man ihnen vielleicht verpflichtet? … Hier herein gehörten frische, gesunde Kräfte; und überhaupt, wenn schon, dann wurde der ganze Betrieb von Fundament und vornherein auf eine andere, neuzeitliche, wirtschaftliche Grundlage gestellt. Glasbläserei, recht schön, in Ehren, aber woran verdient wird, das ist heute das Preßglas. Also. Die eintreffenden Arbeiter mit ihren Familien brauchten Platz. Sollte man Umbau und Eröffnung auf Jahre hinaus verschieben, nur um dieses Volk in seinen Moderlöchern zu schonen? Ihm am Ende gar irgendwohin Paläste bauen, nur damit es gnädigst die Stelle räumte? … Und die Verkäufer, Erben des einstigen Eigners und Gründers, fühlten sich gleichfalls zu keinerlei Ablösung geneigt und verbunden. Lieber Gott, jahrzehntelang hatten diese lästigen Menschen umsonst gewohnt und den Boden ausgenutzt; war das etwa nicht genug? … Was waren sie damals nicht fortgezogen, ihrem Brot und Gewerb nach? … Ihre eigene Schuld! … So hatte der Graf den ganzen Jammer vernommen und verstanden, und nun wollte er selbst nach der Wirklichkeit und der Möglichkeit irgendeiner Abhilfe sehen.

Er fand Zimmerleute und Maurer an beginnender Arbeit. Werkmeister mit wichtigen Zollstäben schritten an den Gebäuden herum, sahen nach den Giebeln, zur geborstenen Esse hinauf, schüttelten die Köpfe, schrieben und rechneten. In einer Bucht wurde Mörtel geknetet; da und dort standen aufgeschichtete Backsteinmauern, Äxte klangen, Ziegelbruch bedeckte das ganze Hüttengehöft. In schwarzen Türhöhlen standen Weiber mit gedunsenen Bäuchen, krummbeinige Kinder am Rock, und schauten den drohenden Vorbereitungen finster zu; andere harkten mit verbissen gespielter, selbstbetäubender Gleichgültigkeit, als würden durch all den Umsturz ihre Rechte nicht im geringsten berührt, in den winzigen, roh mit Reisig umsteckten Gemüsegärtchen, die sich unter der nördlichen Berghalde, mit abgeschwemmtem Humus und feinzerschlämmtem Rotlehm angereichert, verstreut hinreihten; wieder andere weiften und wanden ärmliche Wäsche am Bach. Mit den Werkmeistern verhandelte ein städtisch gekleideter Herr; er sah sich nach dem langsam einfahrenden Wagen um und trat auf ein zugeflüstertes Wort höflich grüßend heran. Der Graf stieg aus.

»Herr Direktor – – wenn ich nicht irre …«

»Zu dienän: Stejskal ist majn Namä, Direktor Stejskal aus Agram – odär ajgentlich Smichow in Bähmen. Där Herr Graf aus Mokritz, mit däm ich Ähre habä, nicht wahr?«

»Stimmt, Herr Direktor. Freut mich sehr. Nun, es wird also wirklich Ernst?«

»Wie sich Herr Graf sähn; im Herbst hoffen wir bärajts den Bätrieb äröffnän zu könnän. Dort das Bauholz, bittä schän, das Herr Graf selbst uns gäliefert hat. Wir hoffen sich auf angänähme Nachbarschaft und färnerä gäschäftliche Värbindung.«

»Eben. Darum bin ich hauptsächlich gekommen, Herr Direktor, als Nachbar zum Nachbarn. – Herr Direktor, diese armen Leute – kann man da gar nichts machen?«

Der Direktor zuckte händereibend die Achseln; seine Höflichkeit ließ um einige Teilstriche nach.

»Tja, Härr Graf, was soll ajn Mensch da sagän? … Es ist schwär, es ist natierlich uns selbst pajnlich – aber was soll ajn Mensch da anfangän? … Die Lajte, Härr Graf, waren rechtzajtig värständigt; es ist ihnen gäkündigt wurden. Wir kennän sich nicht Ricksicht nähmän zu unseräm Schadän, Härr Graf werdän verstähn …«

»Ja, gewiß; das sah ich selber ja auch ein. Mein Vorschlag, Herr Direktor, wäre darum der: daß wir, Ihre Gesellschaft und ich, uns verständigen und irgendwie zu augenblicklicher Nothilfe zusammensteuern. Zum Beispiel, ich stelle einen Bauplatz zur Verfügung, weiter draußen im Tal, wo es Luft und Licht gibt und die Leute sich ein paar Kohlköpfe ziehen können; ich liefere außerdem das Werkholz, und Sie mit Ihren Arbeitern errichten da schnell einige halbwegs anständige Baracken … Ich meine, das kann Sie die Welt nicht kosten, mich auch nicht, und wir beide erkaufen uns damit wenigstens ein halbes gutes Gewissen …«

Wieder zuckte Direktor Stejskal mit großen gelben Zähnen lächelnd und händereibend die Achseln.

»Härr Graf: ich bin bloß Angestelltär der Gäsellschaft, lajtender Direktor; ich kann nicht entschajden. Ich wärdä, wenn sich Härr Graf wünschen, selbstvärständlich den Plan von Härrn Grafen der Gäsellschaft vorlegen; aber – –« Er brach ab und begann mit veränderter, vertraulich gedämpfter Stimme. »Härr Graf, ich möchte, wenn ich so unbeschajden sajn darf, selbst abratän; es sind, wenn Härr Graf erlaubt, Lajse im Pelz.«

»Eigentlich Ihre Landsleute, Herr Direktor.«

»Härr Graf, Landslajte?« Der andere lächelte mit noch größeren und gelberen Zähnen. »So wie diese sind sich alle Estrajcher majnä Landslajte. Ich bin aus Smichow baj Prag, diese sind sich aus Erz- und Riesängäbirge. Und – ich bin bloß Angestelltär der Gäsellschaft, lajtender Direktor, ich kann nicht entschajden.«

»Freilich, freilich. – Ja: wenn Sie also so gut sein wollen und mein Angebot den Herren drin vortragen? … Das heißt – ich kann's schließlich auch selber hinschreiben …« Der Graf brach plötzlich und wie zerstreut ab; hier war ja jeder Augenblick, jeder blutwarme Herzschlag verloren. »Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben, Herr Direktor, will nicht weiter stören … Ja, vor drei Jahren noch, da war ich drauf und dran, den ganzen Schutt da für einen Spott zu kaufen; damals hab ich mir's überlegt, heut tut mir's ehrlich leid … Nein, nein, machen Sie sich nicht die Mühe …« Er kehrte um und ging langsam zum Wagen hinaus, der vor dem verwahrlosten, unkrautüberwucherten Zaun mit sorglich eingedeckten stampfenden Schimmeln wartete. –

Bei ihnen, im Gespräch mit dem wortkargen breiten Stefan, stand der alte Grabert, einer der sudetischen Glasbläser, erdfahl, zerlumpt, mit hohlen, gierig flackrigen Augen und wie räudig verwildertem welkem Bart. Fast ohne Gruß trat er an den Grafen heran; in seiner eingesunkenen Brust keuchte und würgte die Aufregung.

»Ja, Sie sind's, Vater Grabert? … Ich hätt' Sie bald nicht erkannt …«

Der Glasbläser winkte mit ungeduldig ringender Gebärde, zu Wort und Atem zu kommen.

»Man ist auch nicht mehr zu erkennen, Herr Graf – – man ist überhaupt kein Mensch mehr – –« Der Schleim in ihm röhrte auf und unterbrach ihn.

»Grabert, ich war grad wegen euch allen drin beim Direktor. Das sieht schlimm aus.«

Der Alte stand und ballte die Faust gegen die mühsam arbeitenden Rippen, als könnte er das Rasseln und Brodeln ersticken, den Feind da drinnen erdrosseln. Seine Lippen zitterten.

»Was soll aus uns werden, Herr Graf, was soll aus uns nun – –« Er spuckte endlich aus und sank erschöpft zusammen.

»Ich hab mein möglichstes versucht, Vater Grabert; hier gibt's kein Bleiben, soviel ist einmal klar. Aber irgend etwas wird sich schon finden. Nur den Mut nicht verlieren, Alter, nur hoffen und vertrauen, weiß Gott, vielleicht ist's am besten grad so.«

Der Kranke starrte mit schwer schöpfendem Gebläs verloren ins Leere, irgendwohin in eine inwendige Ferne jenseits aller Berge und Bangnisse. Langsam schüttelte er den mageren, mit dünnem grindigem Haar bestandenen Kopf.

»Herr Graf – hoffen? … Vertrauen? … Was haben wir gehofft und vertraut! … Nein; das allerbeste, das einzige, das wär drunten, ganz ganz drunten, einen Klafter tief unter allem Elend dahier …« Wieder kochte es blasig in ihm auf. »Wenn's nicht wegen – wegen der Berta wär … Wenn's nicht wegen ihr wär, der Berta – –« Er kam nicht weiter.

»Sprechen Sie nicht so viel, Vater Grabert, regen Sie sich nicht auf, es strengt Sie an. Ich erinnere mich. Ihre Älteste – oder Zweitälteste, nicht? … Vor einigen sieben oder acht Jahren irgendwohin, nach Agram in Dienst gegangen?«

Der Glasbläser kam zu Wort. »Die einzige! … einzige, letzte, Herr Graf! … Die anderen sind alle – –« Er deutete nach den Bergen, wohin man sie getragen, auf rauhen Felspfaden und durch die Wälder nach dem kleinen Ödkirchhof zu Sankt Jakob. »Alle, vor zwei Jahren auch noch die Alte. Das beste. Die haben's gut. Die waren gescheit … Und von ihr – von der Berta weiß ich seit sechs Jahren weniger noch als von den Toten da droben. Nichts seit sechs Jahren! … Nicht wo, nicht wie, nicht was, nicht einmal ob sie überhaupt noch lebt. Nichts. Kein Wort, kein Brief, keine Nachricht. Vielleicht auch schon – –. Wünsch ihr's … Was liegt einem da noch viel am heut oder morgen? …« Er hüstelte ein bitteres Lachen. »Wenn da nicht eine kleine schwache Hoffnung wär …«

Der Graf überlegte.

»Ich will Ihnen was sagen, Vater Grabert. Heut hab ich nicht so viel Zeit als Sie brauchen. In ein paar Minuten zwischen Pferd und Wagen lassen sich solche Dinge nicht in Ruhe besprechen und überdenken. Aber morgen, vielleicht so gegen mittag, schick ich Ihnen einen Einspänner herein, der bringt Sie nach dem Schloß. Dort findet sich derweilen schon eine Kammer und ein warmer Löffel, und weiter werden wir ja sehen. Euch alle kann ich nicht so mir nichts dir nichts aufnehmen, natürlich …« Er dämpfte mit einem Seitenblick die Stimme. »Das gäb böses Blut unter meinen eigenen Leuten … Aber Sie sind der Bedürftigste, mit Ihnen mach ich einen Anfang und eine Ausnahme. So, das ist also für jetzt erledigt. Und dann noch eins, Vater Grabert. Ihren Verstand haben Sie noch immer klar beisammen, nicht wahr. Also setzen Sie sich heut abend oder jetzt gleich mit den anderen hin und schreibt mir auf einen Zettel alle eure Heimatsgemeinden, Pfarren und politischen Bezirke auf. Diesen Zettel bringen Sie mir morgen mit, verstanden? Das ist das erste, was ich brauche, wenn ich etwas für euch tun soll.«

Der Alte schaute aus todbang flehenden Augen zu seinem Beschützer auf. Stoßweis blies der Atem aus seinen Lungen, der dürre Brustkorb fiel jedesmal mit einem Ruck ein.

»Herr Graf, wenn ich doch wenigstens sagen könnte, was ich sagen möchte … Man hat das Hoffen verlernt, man hat das Danken verlernt, man hat das Glauben und Beten verlernt, man hat seinen Gott verloren – –«

»Vater Grabert, so sollten Sie nicht reden. Das sieht Ihnen nicht ähnlich.«

»Ähnlich oder nicht, Herr Graf, wer sieht da sich selber noch ähnlich? … Wenn die Kirchen so weit aus dem Tal waren, drei, vier, fünf Stunden! … Wer hat da können zur Messe gehen? … Seit bald zwölf Jahren hab ich keine gehört, hab ich nicht gebeichtet, haben sich Sünd und Gift in mir gesammelt … Und die da droben, die Wlachen in Stojdraga, wo's noch am nächsten hin gewesen wär, die mit ihrer spanischen Wand vorm Altar und ihrem russischen Pomiluj haben keine Religion, das ist nichts für einen Christenmenschen.«

Der Graf schüttelte ernst den Kopf. »Nein, nein, Vater Grabert. So ist das nicht. Derselbe Gott ist überall, in jeder Hütte und jeder Kirche, wo man ihn nur in sich selber mitbringt. Aber das gehört nicht her.« Er legte dem Alten die Hand auf die Schulter. »Kommen Sie nur schön zu mir aufs Schloß, da findet sich alles, auch der Beichtvater, auch die heilige Messe, auch der Friede, den Sie nötig haben.«

Der Kranke stand mit inbrünstig verrungenen Händen. Seine bebenden Lippen murmelten.

»Es ist ja nur wegen der Berta. Nur wegen ihr – wenn sie auf dieser Welt ist – daß ich noch ein klein wenig leben und warten möchte.«

»Auch das vielleicht, wenn's geht, auch das, Vater Grabert.« Der Graf stieg ein. »Wir wollen sehen. Und vergessen Sie mir nicht den Zettel, gelt? – Fertig, Stefan; nach der Gabrowitza. – Morgen mittag holt Sie der Einspänner, dabei bleibt's. Und denken Sie dran: Heimatsgemeinde – politischer Bezirk – Pfarre! … Es ist für euch alle.«

*

Der Wagen rollte langsam durchs gebüschige Engtal davon, wieder auf das Barackendorf zu. Manche der herumlungernden Glashütter grüßten den Herrn, der ihnen schon mehr als einmal Brot und Verdienst gegeben. Aber die Weiber sahen ihm finster nach und drohten mit böser Krallenfaust. Auch so einer von den Reichen, in sicherem Überfluß geboren, die nichts von Sorge und Elend wissen! … Der Graf war froh, als er wieder das reine Rauschen seiner Waldwasser, die kernharzigen gesunden Baßflüche seiner Holzknechte, das Poltern der Scheiter, den Juchschrei des Oberkrainers auf dem halsbrecherisch durch felsigen Wildgraben herunterrasenden Rollwagen vernahm.

*

Es gehörte Mut dazu. Ein Durchbruch an morscher Stelle, ein Aussprung, und man lag im Gestein unter nachschmetternden Klötzen begraben, und die Polona in Sela droben in der Oberen Kanker mochte ihren Rosmarin mit witwenbräutlichem Salzwasser gießen.

Die Längsschnitte gehälfteter, eng aneinander verklammerter, auf starken Böcken ruhender Stämme bildeten durchlaufend das Gleis; seitlich durchgesteckte Hölzer wehrten dem Aussprung, ein weit geschwungener Bremsberg fing die Wucht des Gefälles auf. Unter den breitgespreizten Jochen glitzerte goldbraun der Bach.

Für gewöhnlich überließ man die sorgsam befrachteten Wagen einfach ihrem Lauf und Schicksal. Zu viert oder fünft ließen Holzknechte und Jäger sich wohl einmal vorsichtig die gewundene Schlucht hinabrollen; mit der schweren Ladung im Rücken unternahm keiner ohne Not die gefährliche Reise.

Aber dem Oberkrainer paßte sowas grad. Mehrmals schon hatte er mit dem gelungenen Wagstück geprahlt. Der Herr Graf, der eben da drunten zwei Schimmel lang zum Holzplatz hereinkam, sollte den Primus Koschutnik auf seiner Rutsche sehen. Er schwang sich auf, dahin jagte und eckte rumpelnd die schwindlige Fahrt, mit hellem Juchzer schoß er aus der Dämmerung des Grabens heraus und grad von der Höhe des Bremsberges herab sprang er zwei Klafter tief seinem Herrn vor die Füße.

Er erntete nicht das erwartete Lob. »Primus, Primus, gedienter Soldat, Gefreiter, und willst noch immer nicht gescheit werden!«

Der Holzmeister, Florian Gogulja aus Sankt Oswald im Oberland, der eben stämmig dabei stand, legte sich sachkundig ins Mittel.

»Bis sie heiraten, Herr Graf, sind alle bei uns solche Reißteufeln. Haben sie erst einmal den Obersatan bei sich im Haus, dann werden sie klein und klug.«

Der Graf lachte herzlich. »So, also da müsset'st du deine Polona kriegen, damit du dir nicht Bein und Genick brichst? … Wennst so weitermachst, kanns lange warten.«

Koschutnik drehte wieder einmal am gezogenen Hütl. »Mir g'schieht schon nix.«

»Was meinst jetzt, das Heiraten und das Halsbrechen?« neckte gutmütig der Holzmeister; »wart, bis du's eine erst kennst, nachher kommt dir's andre vor wie die reine Himmelfahrt.«

Der Oberkrainer warf dem Landsmann einen wütenden Blick zu; aber der alte Graf drohte mit erhobenem Finger.

»Man soll nichts verreden, Primus, ich hab dich schon einmal verwarnt. Auch den Stärksten findet's und packt's und wirft's. – Alsdann, Gogulja, wie wir's besprochen haben; achtzig Klafter Scheit stellen Sie für die Herrschaft – oder sagen wir meinetwegen lieber gleich hundert. Wenn's dann grad so gegen Frühjahr bei weichen Wegen ausgeht, das ist immer zuwider. Die Treibhäuser fressen viel. Alles Buche und Weißbuche; und dazu einige dreihundert hainbuchene Wurzelkloben, Museln, die geben aus und sind mir für die großen Kachelöfen das liebste, brennen schön langsam bei großer Hitz. Sie haben gute fünfzehn Wochen Zeit, von Großfrauentag an laß ich's holen, bis zum Oktober sind wir hübsch fertig mit der Abfuhr. Jetzt mit der Straße zum Tal hinaus ist das ja die reine Spielerei gegen früher …«

Die Frühlingssonne zog ihren Bogen über die Berge voll Kuckuckruf und heimlicher Blüte; mit dem aufhauchenden Würzduft des Waldkrauts mischte sich der strenge Werkgeruch geschundenen Holzes. In der gefachten Kunstriese rauschten die Stämme, nebenan in der roh durch den Steilhang geschlagenen Reiße sprangen die schweren Grobscheiter, überschlugen sich im Anprall gegen vorklippendes Gestein und krachten herab auf die mit jedem Wurf und Sturz wachsende Halde … Uralte Hochbestände, deren Wipfel noch den türkischen Mordbrandschein im Süd hinter den schwül brauenden Eichensümpfen der Militärgrenze und den großen napoleonischen Kometen gesehen, um die man sich mit dem hitzigen Kaiser Franz Joseph, mit den achtundvierziger Bauern, mit den Herren von der Servituten-Ablösungs-Kommission herumgeschlagen, wanderten zerstückt als Rümpfe und Glieder zu Tal und auf der neuen Straße hinaus zu den marktenden Menschen ins allverschlingende Tiefland …

Einmal mußte es sein, einmal mußte der Wuchs auch dieser entrückten Höhen sich verjüngen, auch diese weltvergessene Landschaft sich erneuern. Von denselben, denen er in seiner Not ihre Rechte genommen und das Eigen zur schwer erträglichen Last gemacht, erpreßte der unersättliche Staat weiter und weiter seinen steigenden Lebensunterhalt; woher sollte man's zaubern? … Um uneingelöster Versprechen und schleppender Verwaltung willen hatte die Wirtschaft jahrzehntelang ruhen, stehende Schätze verfallen lassen müssen; die Servitut der unbefriedigten Dörfer hemmte den geregelten Betrieb. Nun die Arbeit der schwerfälligen Kommission erledigt, dem Bauern sein Holz zum Wüsten und Femmeln zugemessen, die Forsten der Herrschaft von Dienstbarkeiten gereinigt, sollten weitgreifende Einschläge alles Versäumte nachholen, den angemorschten Waldkörper gesundschneiden, Licht und Luft und Raum für neue Aufzucht und einen neuen wohlberechneten Anfang schaffen; Vernunft befahl es, die Zukunft mahnte, romantische Rücksicht und Empfindsamkeit hatten keinen Platz mehr in dieser engen gierigen Zeit … Und doch tat es dem Grafen bitter leid um jeden einzelnen dieser ehrwürdigen geheiligten Alten, unter deren Dach noch der Ahn mit Steinschloßbüchse und Hatzrüd den Bären gejagt, in deren Kronen so viele Wetter gewühlt, in deren Ästen so viele Stürme geharft, in deren Faser die Fröste so vieler abgrundtiefer Rauhnächte gestarrt, die unbeirrt im Kreise der Jahreszeiten so viel Wandel und Wahn der Welt überdauert und nun im Tode ihm mit der Frucht ihres stillgetreuen geduldigen Wachstums dienten. Es war eine späte gerechte Ernte, die er da nahm, die Natur selbst gebot Eingriff und Wechsel; und doch kam er sich wie ein schamloser Ausbeuter vor, wie ein Kirchenschänder, ein Dieb an Schöpfung und Gott …

Er hatte den Wagen entlassen; auf langsamem Heimweg über die Frühlingsberge besuchte er die abgeschmorten Kahlhiebe, den Waldroggen vom Vorjahr und die Leinsaat, die neue Aufforstung, wo über emsigen Bücken und Beugen weiblicher Kopftuchvölker beherrschend des bärtigen Bogulin geruhsame Pfeife qualmte, die Pflanzschulen, in denen hellwimmelnd die hoffnungsvolle Fichtenkindschaft trieb, die Zukunft, das kommende Geschlecht, auch schon der Axt, dem Keil, der Säge, dem Numerierschlägel, dem Gatter, der Dienstbarkeit geweiht … Der Oberkrainer mußte ihn begleiten; schweigend und schier zum Wundern stetig stieg der rüstige alte Herr durch Schattenfeuchte der Schluchten, durch das Flimmern der Stangenhölzer unter zartem Laubflor, durch die warmaufduftenden buntblütigen Sonnwiesenhalden, den frisch wuchernden Erdbeerwuchs der abgesengten schwarzgründigen Schläge voran.

Da und dort standen grau und rupfig dunkeläugige Rehe und hielten mißtrauisch staunend mit querem Kiefer im Käuen inne; am Erlenschuß im lückigen Lohdengeheg scheuerte mit erboster Hingabe ein starker Bock seine ausgereifte Krone; hoch in seliger Lenzvesper schwamm auf lichtgeflammten ruhigen Breitschwingen der Schlangenadler, die ersten Turteltauben gurrten, vielstimmig in Hang und Hag rief der mitteilsame Kuckuck seine glückliche Heimkehr aus … Scheinbar nichts als Friede und Liebe, dachte der Graf, der Mensch allein wütet und würgt, und wo er zu geben vortäuscht, da nimmt er, und was er verschont, das schützt er tückisch zu eigenem Nutz … Aber der große schöne Vogel da droben greift, mordet und frißt auch die Natter, die glitzernde Natter dort auf besonntem Stein überfällt und verschlingt den braunen Taufrosch, der Frosch schluckt die Spinne, die stille Spinne in klebrigem Netz fängt die leisschwebende Raupenfliege, die Raupenfliege vermehrt sich todbringend in der Nonne, die Nonne vernichtet aller Heimat, den Wald … Und was der Kuckuck so fröhlich besingt, ist nicht Fried und Frühling, sondern die Paarung und das schmackhafte Kerbgetier; und dem Bock da drüben am Erlenschuß ist der Hornzack nicht zur Schönzier gewachsen, sondern zum Kampf um Liebe und Leben, Art und Eigen … Alles ein webend Kreisen von Not und Wehr, Genuß und Leid, Macht und Übermacht; ein Spirallauf von Jägern und Gejagten, Fressern und Gefressenen, Hunger und Stillung, Wunsch und Wille, Wahn und Weh: – Wirbel aus einer Ewigkeit in die andere, in all deren Mitte unerreichbar, unbegreiflich das große Geheimnis strahlt und wirkt … Wozu? … Einmal, auf steilem, freiem Hügelfirst, aus dessen treibendem Buschwerk eine altgewaltige Buche hochschäftig einsam in fernes Verblauen der Landschaft hinausspähte, wandte der Graf sich nach seinem Begleiter um.

»Nun, Primus, nun zeig, was du schon alles weißt. Warum wohl hab ich den einzelnen Baum da stehen lassen?«

Der junge Mensch dachte kurz nach.

» Mende na spomen – vielleicht zur Erinnerung?«

Der alte Herr nickte ihm überrascht und erfreut zu.

»Schau einer, hast's wirklich getroffen. Ja, zum Gedächtnis. Man schont solche Hauptbäume wohl auch als Überhälter, in der Hoffnung auf weiteren Zuwachs, und als Samenväter; aber das taugt nicht viel. Warum?«

Primus überlegte. »Die Buche steht jetzt ganz offen im Wind; wenn der Sturm sie wirft, richtet sie um sich her Schaden an.«

»Richtig; ganz gut. Ja, und gewöhnlich werden solche Überhälter schnell und stark von Pilz und Ungeziefer befallen; so bringen sie nur Gefahr und Verlust. Merk dir das gleich; man muß an jedem Beispiel lernen. Der Baum ist nicht einzeln und frei im Wetter aufgewachsen; da wär er's gewohnt, wär anders gebildet, wäre fest auch gegen Schwamm und Fraß. So aber fehlt ihm nun der Schutz seiner Brüder. Mit den Wäldern ist's in vielen Dingen genau wie mit den Wenschen. Als Jäger und Förster kann man gescheiter werden als irgend ein Schreiber drin in der Stadt. – Trotzdem hab ich den da verschont; mag er stehen so lang er will und kann, als ein Wahrzeichen. Wie bist du drauf gekommen?«

Der Oberkrainer sah seinen Herrn scheu zutraulich an. »Weil ich schon so oft grad unter dem Baum gesessen hab; weil ihn besonders gern leiden mag.«

Der Graf lächelte. »So, und warum das?«

Koschutnik wurde verlegen.

»Man sieht von hier aus die Heimat, die Planinen, das Hochgebirg; manchmal ganz nah und klar wie zum Hingehn und Rufen, an reinen Abenden, wenn die Sonne untergegangen ist. Den Grintoutz, den Jeloutz, die Ojstritza – bisweilen sogar den Triglav …«

Dem Grafen stieg's heimlich auf; er kannte den schönen Ausblick, kannte jeden einzelnen der fernen Zacken vor brandigem Abendrot. So gehen in einem Mitmenschen menschliche Dinge vor, man hält ihn scharf in der Pflicht und ahnt nichts von seinen Rechten … »Hast wohl Heimweh, wie?«

Primus spielte mit einem abgerauften Grashalm.

»Nicht grad das … Nur hie und da ist mir halt ein wenig zeitlang – nach den Planinen und so – und eben überhaupt …= Er biß den alten fahlen Grashalm entzwei. »Ob man von dorther vielleicht auch die Buche hier erkennen kann, denk ich zuweilen; weiß Gott …«

Der Graf verstand. »Das glaub ich wohl nicht. Weit genug sieht man sie freilich; noch von Dugoselo drunten, zwei Stunden hinter Agram, und von der Zeridovka zwischen Odra und Kulpa. Drum hab ich sie ja gespart, grad die hier. – Na, verdien dir's halt schön langsam, Primus; ohne Schule und Lehre ist nichts.«

Als zarter glühvioletter Duft nur zeichnete sich das Hochgebirg über blaue Waldhöhen herauf gegen den blendenden Himmelsrand: rechts der schartige Wall der Steiner Alpen, westlicher in einsamer Größe der sagenumwitterte Steilgipfel, in dessen Halden der Zlatorog weidete, in dessen inwendigen Kristallhallen der begrabene dreihäuptige Slawengott schlief … Mit Gewalt riß der Graf sich los vom oft genossenen Bild und erweckt schweifenden Gedanken. »So. Jetzt gehen wir miteinander noch zu dir hinab, weil's schon ein Weg ist. Will sehen, wie du's hast und wie du da haust. Dann ist's genug für heut.«

Die kleine Blockhütte lag schon halb im Vesperschatten der Waldbucht unter abendgoldner Wiesenhalde, in deren Frühlingsgras still die grauen Rehe ästen. Drunten in kühl aufhauchendem Grund klang leis der kalte Quell, grad überm strohernen Dachfirst in sprossender Eichenkrone sang inbrünstig die verzückte Amsel ihre rein abgesetzten langhinschwellenden Strophen. Erdherber Laubruch und Blütenduft aus dem Hag, Gottes Gartenland rings, kein fremder Herdrauch, soweit der Blick über Schluchten und Gräben in die eindunkelnden Tiefen der Berge strich – konnte man's schöner und freier und gesünder finden auf Erden? … Primus schloß auf und ließ den Herrn vorantreten: zwei Gelasse nur, Herdflur und Stube, genug zu eines Menschen Bedarf und wahrem Glück. Und sauber und behaglich war es da; im Gewölb unterm Ofen lag sorgsam vorgekliebtes Holz, im maßholdernen Hackblock stak die Sichelaxt, auf grobgezimmertem Bord stand etwelcher tönerner Eßrat, drin im Stübel hatte der Oberkrainer sich gar ein paar bunte Heiligenbilder übers Eck gehängt. Mit heimlich gerührtem Neid betrachtete der Graf diese winzige sorglose reine Welt; wer hatte es in Wahrheit besser, er auf weitläufigem Schloß inmitten lastender Güter, oder dieser Bursch da, dem zu vollkommenem Frieden ja nichts fehlte als die müde Weisheit herbstlicher Erfüllung, die beseligende Erkenntnis aller Eitelkeiten, Reife und Heimweh einer übersättigten Kultur … Warum nicht hingehen, all seinen Besitz an irgendwelche andere Narren verkaufen, das Geld unter die Armen verteilen und seine Tage mit Gott irgendwo in der Wildnis verbringen, bei Wasser und hartem Brot, aber frei und leicht! … Warum nicht, warum nicht gleich morgen? … Warum eine selbstaufgeladne Bürde tragen, unter der man seufzt? … Was begnügen nicht alle sich in erlösender Einfalt, was macht man sich seine paar Stunden zwischen Geburt und Tod künstlich gar so schwer? … Er trat wieder vor die Hütte und setzte sich zu kurzer Abendrast auf die einfache Bank, die Koschutnik aus einem mitgenommenen Sägebrett und zwei eingerammten Pfählen zurechtgeschlagen, »Hast's ordentlich hier, hast pflegliche Liebe zum Heim, das ist recht. Aber wie gut daß dir's geht, Kerl, das weißt ja gar nicht.«

Der junge Mensch wurde ganz rot vor schämigem Stolz.

»Ja, es ist recht schön hier …« In seinem Blick ging ein Leuchten auf. »Wenn die Rehe da droben über die Wiese ziehen, das macht mir halt am meisten Kurzweil. Ein starker Bock mit so hohen Stangen« – er zeigte an seinem Unterarm ein unwahrscheinliches Maß an – »ist auch dabei. Der kommt immer zuletzt, ganz spät erst, wenn's schon dunkelt.«

»Nun also. Und einer, der das alles täglich um sich hat, braucht der je aus sogenannter langer Weil ins Wirtshaus zu laufen, frag ich? Ist dort die Luft vielleicht besser, gibt's da was zu holen und zu lernen? Nun gar in der schlampigen diebischen Weiberwirtschaft! … Gibt ja schließlich noch anderswo einen Liter gegen den Sonntagsdurst; wenn's schon durchaus sein muß. Muß aber gar nicht sein.«

Primus ließ all die Ermahnungen über seinen gesenkten Kopf ergehen; wenn der alte Herr, Gott vergelt ihm all seine Güte, nur nicht immer von dem hätt anfangen wollen! … Dem mit seinen Jahren tat freilich nichts mehr weh! … Nach einer Weile wagte er eine eigene Frage. »Und wie wird das jetzt mit dem Gericht?«

»Das mußt selber am besten wissen. Hast keine Ladung gekriegt?«

Der Bursch strahlte auf. »Ich schon nicht. Ich hab nichts gehört und gesehn.«

»Freu dich nur nicht zu früh. Wer weiß, am End liegt's schon beim Oberförster drunten in der Kanzlei.« Der Graf erhob sich und nahm seinen Krückstock zur Hand. »Es wird spät. Jetzt muß ich gehen. Schön ist's da heroben bei dir. Tät gleich mit dir tauschen.« Er zeigte mit der Zwinge in den Berg. »Der da droben, dort am Salweidenboschen, das ist wohl der Bock, den du meinst.«

Der Oberkrainer juchzte beinahe los. »Jesus, was der Graf noch für Augen haben! … Der ist's schon; wie dem die Stangen lang und krumm überm Kopf stehn!«

»Ja, na, er geht grad an. Ein Dreijähriger, als Bock so ungefähr in deinem Alter, ein Prahler und Blender, der noch nicht recht weiß wohin mit seiner Kraft. Aber hier in der Kammer wird nichts geschossen, mein Lieber. Einmal vielleicht an der Grenze, im Seloutz drüben oder am wlachischen Kreuz. Wenn du's verdienst, wohlgemerkt. – So, mit Gott, gute Nacht, halt dich brav.«

Koschutnik überlegte. »Soll ich den Herrn Grafen noch ein Stück bringen? Es finstert.«

Der alte Herr lächelte. »Nein, nein, bleib nur, koch dir was, geh zeitig schlafen, steh früh auf. In meinen Wäldern kenn ich mich aus, hab grad hier herum den Bären gejagt, da war deine Mutter noch nicht geboren. Und die Gespenster, Čatež, Volkodlak und Vedometz, die tun mir schon nichts; jungen Menschen nur sind sie allerstund um den Weg. Wahr dich ihrer und wehr dich.«

*

Langsam stieg der Graf zwischen dämmerndem Holz und Wiesenhalde in den kühl verschattenden Graben hinab. Einmal noch sah er zurück; einsam vor rotgoldnem Abendbrand stand fern auf luftiger Hochwacht die Buche, die letzte der fallenden alten Wälder, Mal unwiderruflich abgelaufener Zeit. Mochte sie grünen und rauschen und saften und samen, solange Natur selbst es ihr gab, solange des allgestaltigen Allgestalters Allgegenwart in ihr war und durch sie in Blüte und Laub und Frucht und Wiederkehr sich offenbarte; mochte sie sich noch kreisender Jahre erfreuen, unschuldig da sein, Wolken und Wind atmen und eines stillen Todes sterben, wie ein müder Recke, der als einziger übriggeblieben von seiner Schar – oder in Sturm und Blitz zum Vater eingehen wie ein greis über sein Volk hinausgewachsener Held, ein Halbgott …

Der Frühlingsmond stieg rot aus sprossenden Wipfeln herauf; ein Reh sprang dumpf mit rauhem Schrecklaut ab, der Kauz schwebte düster über den Grund. Rastlos Leben webte und brach und spann im Gezweig und raschelndem Laub, sehnsüchtige Stimmen riefen aus der Tiefe, Geister spähten und streuten ums Haus: drinnen aber vor loderndem Herdbrand saß einsam ein junger Jägerbursch, dachte an die Planinen, an silberschauernde Firnen und späten Turmglockenschlag der Heimat, an brünstige Schleichwege den rauschenden Schmelzbach hinaus und an den treibenden Rosmarinstock in einem Fenster zu Sela in der Oberen Kanker.


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