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52. Nikolas Poussin: Schlafende Venus von Satyrn belauscht 17. Jahrhundert. Nationalgalerie, London

Das Lebensgesetz der Kunst

Wir haben die Fragen, was unter dem Lebensgesetze der Kunst zu verstehen ist, oben (S. 3) folgendermaßen umschrieben: Was ist der Hauptinhalt der Kunst? Was erfüllt und belebt sie? In was besteht ihr Feuer? Welches Element ist es, das derart in der Kunst wirkt, daß nicht nur die Zeitgenossen davon elektrisiert und fortgerissen werden, sondern daß es seiner Form, in die es gebannt ist, ein wahrhaft ewiges Leben zu verleihen vermag?

Die Antwort, die wir auf diese Fragen geben wollen, wollen wir hier gleich an die Spitze stellen und dann erst die Begründung folgen lassen. Unsere Antwort lautet: Dieser Hauptinhalt der Kunst, dieses Feuer, dieses Element, mit einem Wort, das Wesen der Kunst ist: die Sinnlichkeit. Kunst ist Sinnlichkeit. Und zwar Sinnlichkeit in potenziertester Form. Kunst ist Form gewordene, sichtbar gewordene Sinnlichkeit, und sie ist zugleich die höchste und edelste Form der Sinnlichkeit.

Um den Beweis für diese Bestimmung des Wesens der Kunst zu führen, muß man zu den Urquellen des Lebens hinabsteigen und von da ausgehen.

Der Urquell alles Lebendigen ist das in allen Teilen der organisierten Materie wirkende Gesetz der Fortpflanzung. Die Biologie nennt die Fortpflanzung die Urfunktion der organischen Materie. Es ist das ewige Gesetz des Lebens überhaupt, Grundlage und Zweck. »Hunger und Liebe« lautet die bekannte Formel; in dieser Formulierung ist aber eigentlich die Logik auf den Kopf gestellt, sie muß umgekehrt lauten: Liebe und Hunger. Sich fortpflanzen ist die Tendenz jedes Lebewesens; die Zelle ist von dem Drang erfüllt, sich zu teilen. Das ist die Urtendenz; wiederaufzuerstehen, fortzuleben in womöglich noch höher organisierter Gestalt, ist die Tendenz und das bewußte Streben des auf der höchsten Stufe der organischen Entwicklung stehenden Lebewesens, des Kulturmenschen. Erst aus der Erfüllung dieser Tendenz, die Kraft hierzu zu haben, erwächst die Notwendigkeit des Stoffwechsels, der ergänzenden Nahrungsaufnahme – die Notwendigkeit der Feuerung der Maschine. So erst steht die Logik auf den Füßen. Denn nicht daß die Maschine Kohle verzehrt, ist ihr Zweck – um einen simplen Vergleich anzuwenden –, sondern daß die Kohle sich in Dampf, in Bewegung umsetzt. Da die Tendenz der Fortpflanzung die Ur- und Hauptfunktion der organischen Materie ist, so muß beim tierischen Lebewesen die Maschine in ihrer primitivsten Entwicklungsform nur Apparat zur Erneuerung für verausgabte Kraft sein, und die Entwicklung muß beim tierischen Lebewesen logisch mit dem Magen einsetzen: Die Qualle ist nur Magen. Aber nicht nur von der Qualle zum Menschen ist ein gerader Weg, sondern auch logischerweise darüber hinaus zu dessen erhabensten ideologischen Verklärungen. Denn Erscheinungen der organischen Welt sind alle nur Teile dieser Urfunktion und unterscheiden sich nur durch die höhere Stufenfolge ihrer Entwicklung.

Zu diesem »Allen« gehört auch die Kunst: Kunst ist ein Teil dieser Urfunktion, sie ist Sinnlichkeit selbst, und zwar betätigte Sinnlichkeit. Das ist der eine und erste Teil dessen, was hier zu erweisen ist.

Das Wesen und der Inhalt der Fortpflanzung ist auf allen Stufen der Entwicklung das Schöpferische. Neues zu schaffen ist das Prinzip, der geheime Wille, der auf den höheren Sprossen der Stufenleiter der Entwicklung zum bewußten Willen wird. Der wirkliche Kulturmensch erfüllt das Gesetz des Lebens mit vollem Bewußtsein, und seine gesamten Lebensinteressen sind im letzten Grunde nichts anderes als das Streben, das Geschehen dieses Gesetzes in seinen Formen und in seinen Ergebnissen zu veredeln.

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53. H. S. Beham: Kleopatra Deutscher Kupferstich. 1529

Rein mechanisch wirkt dieses Gesetz nur im Anfange, nur auf den Unterstufen der tierischen Entwicklung. Aber wenn wir auch heute noch nicht zu bestimmen vermögen, wo die Schwelle des Bewußtseins zum ersten Male betreten wird, so können wir doch unbedingt die zahlreichen Ausstrahlungen der belebten Materie in ihrem inneren Zusammenhange mit diesem Lebensgesetz erkennen. Wir können feststellen, daß nicht nur alle physischen, sondern auch der gesamte Komplex der geistigen Errungenschaften diesem Lebensgesetz untergeordnet sind, und daß sie nicht nur in den Dienst dieser Kraft gestellt werden, sondern daß sie tatsächlich Teile dieser Kraft selbst sind; es sind nichts anderes als direkte Ausstrahlungen des Zeugungsvermögens, des Schöpferischen auf einer höheren Stufenfolge der Entwicklung. Darum kann auch die höchste seelische Ausstrahlung der menschlichen Psyche, die Kunst, gar nichts anderes sein als betätigte Sinnlichkeit, wie sie andererseits die höchste Form der Sinnlichkeit ist. Betätigung der Sinnlichkeit und schöpferisch sind sich deckende Begriffe. Das Schöpferische im künstlerischen Schaffen ist daher Betätigung des immanenten Lebensgesetzes in seiner höchsten Form. Wo die Kunst aber das ist – und auch nur dort und auch nur darum –, da wird sie auch lebendig, denn sie kristallisiert damit das einzig Ewige, das es gibt: Das Gesetz des Lebens, die Urkraft, die immer nur die Formen ändert.

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54. A. Carraci: Susanna und die beiden Greise. Kupferstich. 16. Jahrhundert

Für diese Behauptung, daß die Kunst nicht nur im Dienste dieser Kraft steht, sondern daß sie einen Teil dieser Kraft selbst darstellt, einen Teil, den sie auf einer bestimmten Höhe der organischen Fortbildung entwickelt, dafür gibt es einen ganz einfachen Beweis. Dieser Beweis besteht in der Tatsache, daß jede Beeinträchtigung der physischen Zeugungskraft stets das künstlerische Produktionsvermögen im gleichen Maß einschränkt, und daß die völlige Vernichtung der Zeugungskraft dasselbe überhaupt ausschaltet. Beweise für diese Tatsache wären zweifelsohne leicht aufzubringen. Und zwar nicht nur aus der Geschichte der Menschheit könnten diese Beweise geliefert werden, sondern jeder Naturforscher vermöchte aus der Tierwelt zahlreiche Beweise zu erbringen, wie die künstlerischen Betätigungen, die hier unbewußt im Dienste der Erfüllung des drängenden Lebensgesetzes geschehen – man denke nur an die Entwicklung des Gesanges der Vögel in der Paarungszeit oder an das buntere oder schönere Fell des Männchens –, verschwinden oder ausbleiben, wenn die Zeugungskraft gefährdet oder vernichtet wird; Experimente in dieser Richtung haben dies längst bestätigt. Hier kann jedoch der Hinweis genügen, daß es in der Geschichte aller Künste nicht ein einziges schöpferisches Kunstwerk gibt, das von einem Kastraten herrührte, oder umgekehrt: Es gibt nicht einen einzigen schöpferischen Künstler, der ein Kastrat gewesen wäre. Wer dies bestreitet, möge uns ein solches Kunstwerk oder einen solchen Künstler nennen.

In diesem Zusammenhang ergeben sich zwei Schlußfolgerungen. Die eine geht dahin: Die Bedingnis der Aktivität für das Vermögen zur künstlerisch schöpferischen Gestaltungskraft gibt uns vielleicht auch den Schlüssel dafür, warum der Frau, deren Anteil an der Erfüllung des Lebensgesetzes in der Passivität besteht, die kunst schöpferische Gestaltungskraft gänzlich versagt ist. Die künstlerische Tätigkeit der Frau ist im ganzen und Großen ausschließlich nachschaffend. Es gibt keine einzige neuschöpferische Komponistin, keine einzige Schöpferin eines philosophischen Systems, keine einzige schöpferisch gewesene Malerin. Man wendet demgegenüber nun meist ein, daß die stete Vernachlässigung und Unterdrückung der Frau verhindert habe, diese Fähigkeiten bei ihr auszubilden; das ist aber die billigste Phrase. Die Töchter der englischen Bourgeoisie genießen seit Jahrhunderten alle Möglichkeiten geistiger Ausbildung, – aber wo sind die weiblichen Genies Englands? Die Söhne des Proletariats aller Länder sind immer unterdrückt gewesen und es waren ihnen alle Möglichkeiten geistiger Ausbildung versagt und doch erstanden gerade aus diesen Unterschichten der Gesellschaft die allerpotentesten Gehirne: Spinoza, Goya, Daumier, Fichte und Dutzend andere sind Proletariersöhne gewesen Die andere Schlußfolgerung ist die Einsicht, die sich uns auf diesem Weg in die zwingenden Notwendigkeiten des künstlerischen Stoffkreises erschließt. Stellt man sich nämlich auf den hier entwickelten Standpunkt, so erklärt sich schon daraus, daß es eine innere Notwendigkeit ist, warum der nackte menschliche Körper immer das höchste künstlerische Problem zu allen Zeiten gewesen ist und warum auch die gewaltigsten Schöpfungen der Kunst gerade hierin gipfeln: Praxiteles, Tizian, Michelangelo, Rubens, Rembrandt, Rodin. Ebenso erklärt sich daraus, daß in den größten Erfüllungsepochen des Kunstschaffens Kunst und Nachbildung der menschlichen Nacktheit synonyme Begriffe sein müssen. Das Geheimnis der Sache ist dieses: In der Nachbildung des nackten menschlichen Körpers erfüllt die Kunst ihr Lebensgesetz am präzisesten, denn der Mensch ist in seiner Körperlichkeit das reifste Ergebnis der sinnlichen Erscheinungswelt, er ist die Sinnlichkeit in ihrer vollendetsten Form …

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55. Agostino Carraci: Der lüsterne Faun. Italienischer Kupferstich. 16. Jahrhundert

Lautet der erste Satz, der hier zu erweisen war: Kunst ist Sinnlichkeit selbst, so lautet der zweite: Kunst ist niemals etwas anderes als Nachschaffen des Sinnlichen.

Die Fortpflanzung ist, wie gesagt, die Urfunktion der organischen Materie. Diese Urfunktion bleibt aber auch ständig ihre Hauptfunktion, sie ist das Wesentliche jeder Erscheinung durch alle ihre Entwicklungsetappen hindurch. Alles Lebendige ist Gestalt gewordene Sinnlichkeit und nur die höhere oder tiefere Ordnung innerhalb des Organischen unterscheidet; einheitlich ist stets das Geheimnis des Lebens, das darin waltende Gesetz. Das Leben, ob es nun in Pflanze, Tier oder Mensch tätig, ist in seinem Wesen nachzubilden, das ist aber der innere Sinn der Kunst, ihr Zweck. Und die große Aufgabe der Kunst ist: Sie soll und will des Lebens Inhalt möglichst restlos erschöpfen. Das Leben in seinen tiefsten Tiefen, also der innere Vorgang des Lebens, muß in den dargestellten Organismen offenbar werden, muß in Erscheinung treten, und die Linien, die bildnerischen Mittel wollen und sollen eigentlich nur der Form gewordene innere Vorgang des Lebens sein.

Indem die Kunst diese innere Bestimmung zu erfüllen trachtet, rückt ganz von selbst das als ein Hauptproblem in den Vordergrund, was den besonderen Gegenstand dieser Arbeit bildet: Die künstlerische Behandlung des Erotischen. Erotik ist betätigte Sinnlichkeit, Sinnlichkeit in Aktion, es ist die ihr letztes Gesetz erfüllende Sinnlichkeit. Gerade darum aber ist die Erotik auch der wichtigste Teil des Sinnlichen und in ihrem bewußten Geschehen zugleich auch naturnotwendig ihre höchste, ja sogar ihre erhabenste Form. Aber auch das Gegenteil. Die Erotik entfesselt im Menschen die stärksten und die andauerndsten Leidenschaften, sie löst alles Große und Ewige aus, was im Menschen lebt und wirkt, sie entfesselt aber auch alles Niedere und Infame, dessen die entartete menschliche Psyche fähig ist. Indem nun die Kunst ihre Aufgabe, des Lebens Inhalt zu erschöpfen, erfüllt, ist es unvermeidlich, daß das Erotische nicht nur am Anfang jeder Kunst steht, sondern daß es auch auf allen ihren Etappen dominieren muß, und geradezu am wenigsten verwunderlich ist es, daß die höchsten Gipfelhöhen, die bis jetzt von der Kunst erstiegen wurden, zugleich von den glühendsten Farben der Erotik beleuchtet sind. Da aber die Kunst noch außerdem dem Drange folgt, alles, was sie darstellt, aufs Höchste zu steigern, so folgt schließlich aus dieser Tendenz von selbst die Darstellung der Erotik in ihren letzten Offenbarungen.

Diese innere Notwendigkeit der künstlerischen Behandlung des Erotischen hat man gewiß immer geahnt, und ist darum auch längst von aller Welt anerkannt, denn selbst der Philister plappert heute ohne allzu lauten Protest die dafür geprägte Formel nach, daß es ohne Sinnlichkeit überhaupt keine Kunst gäbe. Aber damit ist natürlich nicht gesagt, daß er davon auch dieselben Konsequenzen ableitet, die wir daraus ziehen.

Nicht weniger wichtig ist die äußere Notwendigkeit, die den schaffenden Künstler zur künstlerischen Darstellung erotischer Szenen führt. Gilt die innere Notwendigkeit für das gesamte künstlerische Schaffen, also auch für die Literatur und für die Musik, so ist die äußere Notwendigkeit ein Gesetz, dem nur die sogenannten bildenden oder objektiven Künste, Bildhauerei und Malerei, unterworfen sind. Dieses Gesetz beruht auf der Erkenntnis, daß es innerhalb der Erscheinungswelt keine wunderbarere Manifestation gibt als die organische Materie im Stadium ihrer erotischen Expansion. Und zwar gilt das von ihrem Gesamtkomplex. Die Pflanze blüht und duftet, sie öffnet ihre Blüte und strebt lechzend der Befruchtung entgegen, ein unbewußter erotischer Rausch. Das Gefieder der Vögel leuchtet und strahlt nie herrlicher, ihr Gesang ist nie wonniger und entzückender als in der Paarungszeit. Nichts Gewaltigeres gibt es, als ein großes, starkes Tier im Stadium der Brunst, kein Schauspiel ist grandioser als dessen Liebeswut. Man schaue den Hengst, wenn er vor Aufregung die Nüstern bläht, mit dem Schweif den Boden fegt und jeder Muskel zum Zerreißen gespannt ist; man schaue den röhrenden Hirsch, dieses Urbild von Kraft und Eleganz. Aber auch bei der gesamten niederen Tierwelt offenbart sich der Liebesdrang in seiner Art nicht weniger schön. Was aber von der Pflanzen- und Tierwelt gilt, gilt in noch ungleich höherem Maße vom Menschen, weil bei ihm außerdem alle jene geistigen und seelischen Errungenschaften, die ihn über das Tier emporheben, in diesem Stadium ihre höchste Entfaltung erleben. Die Liebe macht jeden Menschen in einem höheren Sinne schön. Und schön in seiner höchsten Steigerung ist vor allem die Erfüllung des Lebensgesetzes in seiner expansierenden Auslösung. Es gibt nichts Wunderbareres als die Verschlingung zweier menschlicher Körper, und zwar zweier Körper verschiedenen Geschlechtes in der Reife der Entwicklung und in der Ekstase der sexuellen Erregung. Energie, Kraft, Größe, Harmonie – alles triumphiert hier. Darum ergeben sich aber auch hieraus die schönsten künstlerischen Linien; es gibt keine herrlichere, keine künstlerisch schönere Bewegung. Und daß es so ist, daß der Mensch im Stadium der erotischen Expansion die wunderbarste Manifestation der Erscheinungswelt darstellt, ist ebenfalls eine logische Notwendigkeit, denn in diesen Momenten seines Daseins wandelt der Mensch, das vollendetste Ergebnis der organischen Entwicklung, eben gleichfalls auf den höchsten Höhen seiner natürlichen Bestimmung. Im Höhepunkte der schöpferischen Lebensbejahung durch den Menschen sind zweifellos die Grenzen des Erhabenen. Zu den Grenzen strebt aber gemäß der schon genannten Tendenz der Kunst, alles aufs Höchste zu steigern, jeder große Künstler und jedes große Kunstzeitalter. (Bild 16/17, 30-36, 40, 43, 45, 48, 51, 56 usw.) –

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56. Liebespaare. Anonymer italienischer Kupferstich. 17. Jahrhundert.

Ist es eine logische Folgerichtigkeit des ersten Satzes – Kunst ist Sinnlichkeit selbst –, daß in jeder aufsteigenden Kunstperiode, in jedem wirklichen Blütezeitalter der Kunst das Nackte das oberste Problem in dem Schaffen der meisten Künstler ist und darum vorherrscht, so folgert aus dem zweiten Satze mit ebensolcher Notwendigkeit, daß in jenen Zeiten, in denen die Zeitmoral der Kunst gestattete, sich schrankenlos auszuleben, auch die Behandlung direkt erotischer Motive eines der ernsthaftesten künstlerischen Probleme wurde. Solche Zeitalter waren vor allem die Antike und in der neueren Zeit die Renaissance. Dieses Bestreben konnte aber auch in anderen Zeiten nicht völlig unterdrückt werden, wenn auch die Moralgesetze überall diesen Akt mit dem züchtigen Schleier der Scham verhüllt haben und seine Verhüllung als oberstes Gesetz der öffentlichen Sittlichkeit proklamierten. Die Kunst erfüllte trotzdem stets ihre Tendenz, und zwar geschah oder geschieht es dann stets auf die Weise, daß sie wohl die direkte Darstellung umgeht, aber auf Umwegen so nahe wie möglich an das Ziel heranzukommen strebt. Bediente man sich in früheren Kunstepochen zu diesem Zweck in erster Linie des Symbols, – man denke nur an die Verwendung der griechischen Göttersagen und von ihnen wiederum an Jupiter in seinen verschiedenen Metamorphosen, – so geht unsere Gegenwart direkt aufs Ziel los, und sie hat dabei eine Reihe wahrer Wunderwerke geschaffen. Zum Beweis genügt es, den einzigen Namen Rodin zu nennen. Natürlich beschränkte man sich bei dieser direkten Darstellung nur auf die Bewegung, auf die große Linie (Bild 98 u. 99).

Selbstverständlich hat sich die Kunst mit dieser letzteren Einschränkung niemals völlig Genüge getan und nur gegenüber der weiten Öffentlichkeit diese Konzession gemacht. Starke Künstlernaturen haben ohne Ausnahme und zu allen Zeiten bis in die Gegenwart herein an der direkten Darstellung erotischer Szenen, der intimsten Darstellung des Geschlechtsaktes, ihre Kraft gemessen und ihren Kraftüberschwang ausgetobt, trotzdem das Wenigste davon Ruhm und Reichtum eingetragen hat, weil es meistens in den eigenen Mappen verborgen bleiben mußte. Gewiß nicht alle Künstler beschäftigten sich mit diesem Problem aus reiner künstlerischer Begeisterung, im Gegenteil, die meisten sogar aus bloßer Freude und aus strotzendem Behagen am Stoff, und ebenso aus Lust, die herrschende Moral zu brüskieren, und wäre dies nur im Kreise der Vertrauten. Aber hier ist es vielleicht angebracht, eine für diese Arbeit unerläßliche Bemerkung einzuschalten: Es kann jemand strotzend von Sinnlichkeit sein, mit vollen Zügen und mit Behagen die Freuden der Wollust genießen und, an den Maßstäben ernster Sittlichkeit gemessen, doch eine bewundernswerte Erscheinung sein. Diese beiden Dinge schließen einander nicht nur nicht aus, sondern sie sind sogar Voraussetzung einer ganzen und großen Persönlichkeit. Freilich muß hier gleich hinzugesetzt werden, daß man durch die Freude am Erotischen allein noch lange nicht eine respektable Persönlichkeit wird; aber ebenso sicher ist, daß aus den Reihen jener, »die sich nie mit so etwas abgegeben haben«, niemals die ganz Großen hervorgegangen sind. Schon aus dem einen Grunde nicht: Größe ohne Kühnheit gibt es nicht.

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57. Francesco Furini: Lot und seine Töchter. Prado, Madrid.

 

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Wenn Kunst nichts anderes als betätigte und nachgebildete Sinnlichkeit ist, dann muß sie auf den Beschauer auch stets sinnlich im allgemeinen wirken. Und sogar direkt sinnlich erregend in geschlechtlichem Sinne, wenn es sich um erotische Motive handelt. Denn es ist bekanntlich eine von der Sinnlichkeit untrennbare Eigentümlichkeit, daß sie ansteckt, wenn sie zu einem normalen Menschen in einer seiner Kultur entsprechenden Weise spricht. Und das ist auch unsere Überzeugung. Wir behaupten: Die sinnliche Wirkung künstlerisch gestalteter erotischer Motive auf den Beschauer ist ganz zweifellos. Und wir behaupten außerdem: Gerade diese Wirkung ist einer der wichtigsten Maßstäbe für ihre Qualität; je intensiver diese Wirkung ist, um so größer ist die künstlerische Qualität. Auch das ist eine innere und untrennbare Notwendigkeit.

Die sinnlich erregende Wirkung des künstlerisch gestalteten erotischen Motives muß mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, und zwar deshalb, weil eine lasterhafte Prüderie – jene Prüderie, die Sinnlichkeit und vor allem Erregung der Sinnlichkeit ohne jeden Vorbehalt für »Sünde« erklärt – zu allen Zeiten eine ganz grauenhafte Verwüstung in den Begriffen angerichtet hat. Die unumschränkte Herrschaft dieser lasterhaften Prüderie im öffentlichen Leben hat schließlich zu einer derartigen Heuchelei geführt, daß heute selbst ein Teil der klügsten Köpfe an eine These glaubt, die nur aus der Not geboren wurde und im Grund nichts anderes als eine Konzession an die allmächtige Prüderie ist. Diese Konzession, die allmählich zum Glaubenssatze geworden ist, besteht darin, daß man zwar die sinnliche Wirkung der bildlichen Darstellung im allgemeinen zugibt, jedoch beim großen Kunstwerke bestreitet. Dieses soll nicht sinnlich wirken, auch wenn es ein direkt erotisches Motiv behandelt, und die Ausschaltung der erotisch erregenden Wirkung auf den Beschauer soll durch die hohe künstlerische Form der Lösung des Motives zustande kommen.

Wir behaupten demgegenüber: Diese Scheidung und diese Logik sind unsinnig, weil das gerade Gegenteil die innere Logik der Kunst ist. Indem der Künstler die Tiefe seines Problems auszuschöpfen sich müht, will er die Lebenswahrheit, die absolute Echtheit erzielen. Echtheit faßt aber niemals nur die äußere Umrißlinie einer Erscheinung in sich, sondern vor allem den Inhalt, den ganzen Komplex des Seelischen, Physischen und Geistigen, den der betreffende Vorgang birgt und umspannt. Die Form ist niemals bloß ihrer selbst wegen da, sondern stets des Inhaltes wegen. Die künstlerische Impression soll das Wesen, die Seele der Sache im Geiste des Beschauers plastisch rekonstruieren. Und der Beschauer soll das Dargestellte persönlich mitleben, erleben und weiterleben – das fordert man von ihm auf Schritt und Tritt in der Kunst. Und man wertet diese Macht, den Beschauer zum Mitleben zu zwingen, als oberstes Vermögen beim Künstler; je größer die suggestive Wirkung seiner Schöpfungen ist, um so höher stellt man ihn. Das heißt: Man ist so logisch, alles dies als das Wesen der Kunst zu bezeichnen, zu fordern und als Maßstab anzulegen, solange es sich um indifferente Gegenstände in der Kunst handelt, um Porträts, Naturstimmungen usw. Jedoch gegenüber der künstlerischen Darstellung erotischer Motive, da schlägt die allgemeine Logik jäh in das Gegenteil um. Da sieht man plötzlich nur Form, vergißt, daß es für das erotisch Gemeinste ebenso eine hohe künstlerische Lösung gibt wie für die Darstellung irgendeines Ideales, die, statt den Eindruck auf den Beschauer herabzumindern, diesen aufs höchste pointiert und steigert. Gegenüber der Erotik in der Kunst soll der Beschauer mit einem Male ganz unpersönlich werden, aufhören, ein Wesen zu sein, in dem ebenfalls die Gesetze des Lebens kreisen. Nun das ist eben die Konzession an die Prüderie; der Verzicht auf den Intellekt. Denn was für ein Porträt oder für irgendein anderes indifferentes Motiv Geltung hat und Gesetz ist, gilt auch für die künstlerische Behandlung der Erotik. Wie man die Majestät des Hochwaldes vor einer starken künstlerischen Nachbildung in ihrer ganzen Wucht und Erhabenheit beim Schauen miterlebt, so erlebt man auf Grund des vorhin geschilderten Wesens der Kunst auch vor einem künstlerisch gestalteten erotischen Motiv dessen Schauer und dessen Schwüle.

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58. Peter Paul Rubens: Der Eremit und die schlafende Angelika. 17. Jahrhundert. Kaiserliche Gemäldegalerie, Wien

Von derselben negativen Qualität sind die Beweise, die die Vertreter der Ansicht der nicht erotischen Wirkung eines großen Kunstwerkes ausgeklügelt haben. Diese verweisen nämlich stets auf die berühmten Meisterwerke der Antike und der Renaissance. Und zwar mit dem Trick, daß sie sich mit Emphase in die Brust werfen und die Schicksalsfrage stellen: »Wo ist der Schweinehund, der angesichts dieser oder jener klassischen Venus, dieser oder jener klassischen Liebesszene auf sinnliche Gedanken kommt, an das Menschliche, das Allzumenschliche denkt und nicht bloß ästhetisch sich begeistert.« Natürlich meldet sich niemals dieser Schweinehund. Was aber rein gar nichts beweist, und sogar dann nichts beweisen würde, wenn jedermann sogar mit dem ehrlichsten Gewissen behaupten könnte, daß er vor diesen Werken auf keinerlei sinnliche Gedanken komme. Denn dieser Beweis hat ein sehr großes Loch. Damit wäre nämlich gar nichts Positives erwiesen, sondern höchstens etwas Halbes. Und dieses Halbe bestünde darin, daß diese Bilder eben heute nicht mehr sinnlich auf den Beschauer wirken. Nicht aber wäre erwiesen, daß diese Werke auch zu ihrer Entstehungszeit den Beschauer sinnlich indifferent gelassen haben. Und darauf kommt es doch einzig und allein an.

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59. Aldegräver. Kupferstich. 16 Jahrhundert

Wenn man an diese Frage herantritt, darf man nie übersehen, was wir schon oben in der Einleitung sagten, daß jede Zeit und auch jede persönliche Entwicklungsphase des einzelnen ihr spezifisch sinnliches Empfinden hat, dem ganz bestimmte Reizmittel entsprechen. Daraus folgt nichts anderes, als daß jede Zeit, jede Klasse und jedes Alter anders reagiert. Die Verschiedenartigkeit des sinnlichen Empfindens der einzelnen Geschichtsepochen läßt sich an nichts deutlicher als an der Entwicklung des direkt Pornographischen in Literatur und Kunst nachweisen. Die Geschichte des Pornographischen erweist – und eine Reihe Dokumente aus dem zweiten Teile dieses Buches wird dies belegen –, daß Dinge und Darstellungen, die im 17. Jahrhunderte die Lüsternheit auf äußerste entfachten, nicht nur die Sinne der Menschen des 19. Jahrhunderts, sondern auch schon die der Menschen des 18. nicht mehr zu irritieren vermocht haben. Die gleichen Unterschiede ergibt, was ja auch alle Welt weiß, eine Nachprüfung der Reize, auf die der Jüngling, der Mann und der Greis reagieren. Und nicht minder große Unterschiede ergibt ein Vergleich zwischen den verschiedenen Klassen, dem Bauern, dem Kleinbürger und dem hochentwickelten Großstädter. Was den einen in einen wahren Rausch versetzt, läßt die Sinne des anderen nicht selten völlig unberührt, so daß er Sinn und Zweck überhaupt nicht ahnt; gerade »das Beste« entgeht ihm, denn die intensivste Manifestationsform der erotischen Sinnlichkeit besteht eben nicht immer in der allgemein verständlichen Handgreiflichkeit. Grob, derb, eindeutig, primitiv setzt die geschichtliche Entwicklung der erotischen Reizmittel ein, schrittweise werden diese Mittel verfeinert; sie werden in gleicher Weise komplizierter, in der die Kultur zu raffinierteren Genußformen führt. Mit der zunehmenden Verfeinerung verliert das Gröbere in gleicher Folge seine ehemalige erotische Reizwirkung. Wenn man diese Entwicklung der erotischen Reizmittel untersucht, so ergibt sich dabei auch die Tatsache, daß sie sich auf alle Gebiete erstreckt, also nicht nur für das Leben in seiner Wirklichkeit, sondern vor allem auch für seinen künstlerischen Abguß. Daraus folgt aber nichts anderes, als daß die Art der Darstellung einer Venus oder einer Liebesszene, die der Antike und der Renaissance eigen war, heute nicht bloß gemeinhin nicht mehr erotisch wirkt, sondern überhaupt nicht mehr erotisch wirken kann. Freilich ist hier gleich eine Einschränkung zu machen: Das Gesagte hat nur gegenüber dem hochentwickelten Kulturmenschen reifen Alters unbedingte Geltung, primitive Klassen und frühe Altersstufen, die der beginnenden Reife, empfinden wesentlich anders beim Anblicke dieser klassischen Kunstdokumente, sie empfinden diese Werke heute noch häufig tatsächlich erotisch.

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60. Peter Paul Rubens: Diana mit Nymphen von Satyrn überfallen Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin

Nun und dieselbe sinnliche Empfindung vor diesen Werken hatten auch die Zeitgenossen, und zwar die Zeitgenossen in ihrer Allgemeinheit. Das läßt sich auch an einer Reihe nachprüfbarer Dokumente nicht allzu schwer erweisen. Beim Altertume genügt es, auf die wunderbare Pygmalionsage zu verweisen. Diese ist im letzten Grunde nichts anderes als eine feinsinnige Verherrlichung der sinnlichen Wirkung, die das Kunstwerk auf den Beschauer ausübt. Bei der Pygmalionsage ist nämlich wohl zu beachten, daß sie ursprünglich gar nicht rein der schöpferischen Phantasie des Dichters entsprungen ist, sondern daß in ihr nur die Wirklichkeit, die täglich zu beobachtende maßlose Begeisterung gegenüber bestimmten großen Kunstwerken ideologisiert ist. In der klassischen Literatur findet sich eine ganze Reihe Hinweise darauf, daß besonders Aphroditedarstellungen, wie z. B. die berühmte knidische Venus des jüngeren Praxiteles, ebenso die Venus Kallipygos (Bild 7), nicht selten eine direkte erotische Verliebtheit bei den zeitgenössischen Beschauern ausgelöst haben.

Ähnliche Wirkungen kann man von Renaissancewerken feststellen. Und zwar selbst von solchen, die nicht einmal die irdische Liebe zum Gegenstande haben. Richard Muther teilt irgendwo einmal mit, daß auf der Rückseite der Madonna von Castelfranco des Giorgione von zeitgenössischer Hand der Vers geschrieben ist: »Liebe Cäcilie, komm, eile dich, es wartet dein Giorgio!« Diese Inschrift dünkt uns gleich beweiskräftig, ob sie von einem Beschauer oder von dem Schöpfer des Bildes selbst herrührt. Stammt sie von einem Beschauer, so erweist sie, welch starke erotische Gefühle selbst Muttergottesbilder bei den Beschauern ausgelöst haben, stammt sie aber von Giorgio, so begründet sie diese Wirkung noch außerdem, denn sie läßt dann ahnen, von welchen Gefühlen erfüllt der Maler seine Madonna gemalt hat; daß ihm die Jungfrau Maria als etwas ganz anderes vor seiner Phantasie stand, als wie ein entmaterialisierter Gottesbegriff.

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61. A. Carraci: Die Toilette der Venus Kupferstich 16. Jahrhundert

Ein anderer Beweis, und zwar einer für die sinnlich-erotische Wirkung nackter Darstellungen der weiblichen Schönheit, ist folgender. Die alte Münchner Pinakothek besitzt zwei Darstellungen der Lukrezia, beide in ähnlicher Pose und beide vor allem im selben Format; die eine ist von Albrecht Dürer, die andere von Lukas Cranach. Während die Dürersche Lukrezia, abgesehen von einem schmalen Tuchstreifen, der quer über den Schoß geht, völlig nackt ist, ist die Cranachsche Lukrezia ziemlich bekleidet, so daß nur die Beine von den Knieen abwärts und ein kleiner Teil des Oberkörpers entblößt zu sehen sind. Wenn man nun nach der Geschichte dieser beiden Bilder forscht, so macht man eine sehr interessante Entdeckung: Beide Bilder waren einst zu gleicher Zeit im Besitze der bayerischen Kurfürsten, und mit dem einen wurde das andere – kaschiert. Und zwar das Dürersche mit dem Cranachschen. Die Dürersche Lukrezia war ehedem in einen Kasten eingelassen, zu dem die Cranachsche Lukrezia den kaschierenden Deckel bildete. Das beweist nichts anderes, als daß die nackte weibliche Darstellung Dürers zu der damaligen Zeit als sinnlich erregend empfunden wurde, und man sie darum so unterbrachte, daß man sie willkürlich den Blicken entziehen konnte. Wenn man sich hierbei vergegenwärtigt, daß nach unseren Begriffen die Dürersche Lukrezia an Langeweile kaum etwas zu wünschen übrigläßt, und dies also nicht gehindert hat, daß die betreffende Zeit sich an dem Bild aufregte, so folgt daraus mit zwingender Notwendigkeit, daß zu jenen Zeiten mitunter sogar schon das Nackte allein in künstlerischer Darstellung als sinnlich erregend angesehen und empfunden wurde (Bild 38 und 39). Und das ist nach unserer Meinung auch tatsächlich der Fall gewesen. Zum Schlusse sei noch bemerkt, daß die Geschichte des Dürerschen Bildes überdies auch die Wandlung der sinnlichen Reizwirkungen belegt; heute würde zweifellos das halbverhüllte Bild von Lukas Cranach als das sinnlichere bezeichnet werden.

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62. Jordaens: Susanna und die beiden Greise 17. Jahrhundert. Museum in Brüssel

Mit der Ausrede, daß große Kunst unter keinen Umständen sinnlich erregend auf den Beschauer wirke, kommt man also nicht durch. Man muß darum dieses Problem von einer anderen Seite angreifen, und man kann es nur von der Seite angreifen, daß man davon ausgeht, zu fragen: Welche Art Sinnlichkeit ist der allgemeinen Kulturentwicklung förderlich und darum berechtigt, und welche nicht? Natürlich ist damit auch schon von vornherein der Kreis derer gezogen, mit denen man überhaupt über diese Frage diskutieren kann. Diskutieren kann man darüber mit den Leuten, die auf dem Standpunkte stehen, daß Sinnlichkeit an sich etwas Normales und darum etwas Gesundes ist. Nicht diskutieren läßt sich dagegen mit jenen Leuten, die in jeder Art Sinnlichkeit eine Sünde, die Wurzel alles Übels, und in der Erregung der Sinnlichkeit gar das größte aller Verbrechen erblicken.

Für diejenigen, für die die Sinnlichkeit nicht die Wurzel alles Übels ist, sondern viel häufiger eine der Wurzeln des Großen und Größten, wird immer nur die Tendenz entscheidend sein, in der sich die Sinnlichkeit bewegt. Und darum muß die Antwort auf die Frage: welche Art Sinnlichkeit ist berechtigt? lauten: Berechtigt sind alle jene Formen des sinnlichen Gebarens, in denen das Schöpferische dieses Lebensgesetzes sich offenbart, denn sie sind es, die den Menschen in seiner Entwicklung nach vorwärts und darum auch nach oben tragen. Nicht berechtigt und darum verwerflich sind dagegen jene Formen, die diesen obersten Trieb zum bloßen Mittel raffinierter Genußsucht herabwürdigen.

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Der verliebte Schafer. Von Peter Paul Rubens

Daraus ergibt sich denn auch die Antwort auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein Recht auf die künstlerische Darstellung des Erotischen begründen läßt. Diese Antwort lautet: Die Darstellung des Erotischen ist statthaft, und zwar in den kühnsten Gestaltungen, wenn künstlerisch das Stoffliche derart gemeistert ist, daß das gemein Sinnliche aufgelöst und völlig überwunden wird, so daß nur das große waltende Gesetz, die schöpferische Kraft, sich offenbart und triumphiert. Unter dieser Voraussetzung kann man sogar von einem ewigen Recht auf Darstellung des Erotischen reden. Gewiß hat es ganze Zeitalter gegeben, die dieses Recht nicht anerkannten, und auch in solchen, die es anerkannten, gab es stets Richtungen, die dieses Recht energisch bestritten haben. Aber man lasse sich nicht irreführen: dies waren weder Zeitalter, noch Volksteile, die eine geläutertere Sittlichkeit zum Ausdrucke brachten, sondern ohne jede Ausnahme offenbarte sich in ihnen Stagnation und schöpferische Ohnmacht, die sich hämisch und augenverdrehend an der Potenz zu rächen suchten. Denn der Ohnmächtige erblickt im Starken stets einen Ankläger, und darum haßt er ihn.

Stellt man sich auf diesen Standpunkt, so braucht einen auch die Tatsache nicht mehr zu irritieren, daß der ästhetisch ungeschulte und unempfängliche Mensch in der Kunst stets den Inhalt und nie die Form sieht, weshalb z. B. für den kulturlosen Bauern selbst die Aphrodite des Praxiteles niemals etwas anderes als »ein nacktes Frauenzimmer« ist. Die Konsequenz kann dann nicht mehr zur Verhüllung der künstlerischen Nacktheit weisen, sondern immer nur zu jener kulturellen Tätigkeit, die dahin zielt, jeden, der Menschenantlitz trägt, so hoch zu heben, daß er des Großen bewußt zu werden vermag, das der Mensch als Gipfel der organischen Entwicklung darstellt.

 

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Das Lebensgesetz der Kunst ist zweifellos ewig und unwandelbar. Darum gibt es auch keine einzige historische Epoche der Kulturmenschheit, in deren Kunst das erotische Element fehlte, ja es gibt nicht einmal eine einzige, in der es nicht eine sehr große Rolle spielte. Aus dem gleichen Grunde kann man auch in einem gewissen Sinne von einem ehernen Bestand an erotischen Motiven reden. Gewiß ist gerade die Erotik ein unerschöpfliches Gebiet, aber die Zahl der Grundmotive ist darum doch relativ beschränkt, so daß die Mehrzahl derselben tatsächlich schon in der Antike künstlerisch gestaltet wurde. Die Erweiterung, so ungeheuer diese ist, besteht fast nur in der Variation und in der Ausgestaltung der verschiedenen Grundmotive. Gerade die Richtung aber, in der ein ewiges Grundmotiv in einer bestimmten Zeit variiert wurde und weiter, welche Motive jeweils mit Vorliebe ausgewählt wurden, ist das wichtige, das, wovon das geschichtliche Urteil ausgehen muß. Denn schon bei einem oberflächlichen Blick in die Museen und in die Kupferstichkabinette kommt einem zum Bewußtsein, daß hierin die tiefgehendsten und entscheidendsten Unterschiede vorhanden sind. Man sieht, daß in immer wieder neuer Weise das Erotische sich künstlerisch manifestiert, aber wenn es in der einen Epoche imponierend, anmutend und begeisternd auftritt, so in der anderen beklemmend, abstoßend und Ekel erregend. Da aber eben gerade dieses Wie das einzig Entscheidende für die Bewertung ist, so kommt es nun darauf an, festzustellen, welche Faktoren es sind, die die jeweiligen Formen bestimmen.

Die Antwort auf diese Frage lautet: Da es niemals eine Kunst an sich gibt, die losgelöst wäre von den historischen Bedingnissen ihrer Zeit, sondern immer nur eine Klassenkunst, so müssen diese Formen getreu dem Auf und Nieder einer jeden herrschenden Klassenbewegung folgen. Diese ist das Richtunggebende, und darum muß das Erotische in der Kunst mit einer siegreichen Klassenbewegung heroisch werden, es muß analog deren Entwicklung spielerisch, es muß in gleicher Weise mit dieser spekulativer Selbstzweck werden.

So verworren deshalb die Linien auch in jeder einzelnen Kunstepoche durcheinander laufen, die Wirrnis ist eben doch nur scheinbar und immer nur so lange vorhanden, solange man die bestimmenden Gesetze nicht kennt. Von dem Augenblick an, wo man diese kennt und anwendet, offenbaren sich einem überall und sofort die typischen Linien. Für das Zufällige ergibt sich die Notwendigkeit, und die innere Einheit wird überall augenfällig.

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63. Peter Paul Rubens: Brustbild von Helene Fourment, der zweiten Frau des Künstlers 17. Jahrhundert, kaiserliche Gemäldegalerie, Wien

Da dieselbe letzte Einheitlichkeit der Kultur, die jedem Einzelzeitalter eigentümlich ist, auch im Gesamtbilde der kulturellen Entwicklung vorhanden ist, so entsprechen derselben Phase des gesellschaftlichen Seins stets dieselben Linien im künstlerischen »Wie und Was«. An jedem siegreichen Aufstieg einer neuen Zeit dominiert z. B. stets die Kühnheit im Erotischen, ein keckes skrupelloses Unbeachtetseinlassen aller hergebrachten Traditionen; und immer auch bekommt in solchen Zeiten das Erotische einen heroischen Stil. Es tritt uns als die alles beherrschende Naturgewalt entgegen, als das elementare Gesetz des Lebens, dem hoch und nieder untertan sind. Ich solchen Zeiten macht sich der Künstler nicht die geringste Skrupel, selbst das Intimste einfach als Bewegungsmotiv aufzufassen. Die Linien, die er beim geschlechtlichen Erfüllen entdeckt, gestaltet er mit derselben Ungeniertheit, mit der er dem harmlosesten Form gibt. Als Beispiel denke man hier nur an jenen Rembrandtschen Kupfer, den die Prüderie gewöhnlich unter dem Titel »Das französische Bett« rubriziert (Bild 66; vergl. auch 64 u. 65). Diese innere Selbstverständlichkeit ist nicht der letzte Grund, warum uns mitunter selbst das Verwegenste, das in solchen Zeiten entsteht, imponiert.

Ebenso gleichartig ist natürlich auch der gesamte weitere Verlauf, d. h. ebenso analog in der prinzipiellen Kongruenz. Um nur den Schlußakkord, den Gegenpol des revolutionären Anstieges einer Epoche zu nennen: Überall in der Geschichte begegnet man beim Abstieg und Ausklang einer bestimmten Klassenherrschaft einer sublimeren künstlerischen Gestaltung. Aber die Kraft und die Größe sind in solchen Phasen der Entwicklung stets ausgeschaltet, und darum vermögen die erotischen Kunstwerke, die diesen Zeiten entstammen, zwar nicht selten höchste Bewunderung ob der delikaten künstlerischen Gestaltung zu erwecken, aber im höheren Sinne zu imponieren und Ehrfurcht zu erwecken, das vermögen sie niemals. Man denke hier nur an Boucher (s. Beilage) oder Beardsley.

 

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Ehe wir nun dazu übergehen, diese verschiedenen Formen und Phasen des Erotischen in der ernsten Kunst an den großen Linien der Kunstentwicklung historisch in ihrer Bedingtheit zu prüfen und zu belegen, müssen wir erst noch einige orientierende Bemerkungen über den Umfang und die Begrenztheit des vorhandenen Belegmaterials voranschicken.

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64. Rembrandt: Die Verliebten und der schlafende Hirte. Radierung

Das Lebensgesetz der Kunst als solches historisch zu belegen, ist sehr leicht; denn es steht dafür selbst in den kleinsten Galerien das reichste Material zur Verfügung, und man hat daher nur die Mühe, aus der Überfülle das Charakteristische und Ausreichende auszuwählen. Daß wir bei unseren Ausführungen in erster Linie auf die großen Meister und die anerkannten Kunstwerke der Kunstgeschichte Bezug nehmen, bedarf keiner weiteren Begründung. Ein anderes Ding aber ist es mit der Vorführung und dem Hinweis auf Kunstwerke direkt erotischen Charakters. Hier ist die sich ergebende Aufgabe schon deshalb komplizierter, weil das vorhandene Material begreiflicherweise ungleich weniger reichhaltig und vor allem viel schwerer zugänglich ist. Man darf niemals übersehen, daß Prüderie und Heuchelei zwar auf allen geistigen Gebieten ganz furchtbar in dem Erbe unserer Väter gehaust haben, nirgends aber so fanatisch wie gerade auf dem Gebiete des erotischen Bildes. Jedes erotische Bild, das beim Öffnen alter Mappen und Schränke zum Vorschein kam, war in Gefahr, gänzlich vernichtet, zum mindesten unauffindbar beiseite geräumt zu werden. Die Besitzer glaubten sich durch den Besitz zu kompromittieren; Erben fürchteten für sich und für den Spender; und vor allem die öffentlichen Sammlungen trugen allen Vorurteilen Rechnung und lehnten geflissentlich den Erwerb solcher Stücke ab. Fanden sich aber in ihren alten Beständen anstößige Stücke, die den Gesetzen der herrschenden öffentlichen Sittlichkeit allzusehr widersprachen, so wurden diese Sachen in den meisten Fällen ausgeschaltet und still beiseite gepackt. Immer und immer wurden in privaten und öffentlichen Sammlungen und Galerien moralische Säuberungen vorgenommen. Das begreifliche Resultat von alledem ist, daß das Beste und Bedeutsamste dadurch unwiederbringlich verloren gegangen ist.

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65. Rembrandt: Joseph und die Potiphar. Radierung

Um von diesem Vandalismus einen ungefähren Begriff zu geben, seien hier einige charakteristische Beispiele, wie der Moralkoller sich in den verschiedenen Zeiten betätigte, angeführt. Von den berühmten sechzehn erotischen Bildern, die Giulio Romano um 1520 herum im Auftrage Leos X. gemalt hat, ist heute keine Spur mehr vorhanden, und ebenso unauffindbar sind die Stiche geworden, die Raimondi danach gemacht hat. Im Marburger Staatsarchiv soll sich noch ein Exemplar dieser Stiche befinden, aber dieses ist auch heute noch und zwar selbst für königliche Museumsbeamte unerreichbar. Das Schloß von Fontainebleau war ehemals unter den Medicis von unten bis oben voll von erotischen Bildern, Darstellungen, Skulpturen, Fresken, Intarsien usw.; auf Möbeln, Tischplatten, Geräten, Wandbehängen, selbst an Türschlössern und Eisengittern befanden sich erotische Darstellungen. Vergeblich wird man heute dort nach nennenswerten Spuren dieser erotischen Orgie suchen, die sozusagen vom tiefsten Keller bis zum Dachfirste durch fast jedes Gelaß tobte. Man kennt heute nur noch eine Anzahl Skizzen und Vorlagen, die als l'Art de Fontainebleau ein bestimmtes erotisches Genre kennzeichnen (Bild 72). Vernichtet ist weiter die berühmte erotische Gemäldeserie, mit der Boucher auf Befehl Ludwigs XV. das Boudoir der Marquise von Pompadour ausgemalt hat: Die Entwicklung einer Liebschaft mit allerlei pikanten Wechselfällen, zärtlichen Präludien, intimen Duos, stürmischen Erfüllungen usw. Diese berühmte Gemäldefolge ist noch zugrunde gegangen, nachdem sie längst alle Stürme der Revolution, die napoleonischen Kriege, kurz beinahe das ganze 19. Jahrhundert überdauert hatte. Gerade der Untergang dieser wichtigen Kunst- und Kulturdokumente ist bezeichnend für den wahnsinnigen Vernichtungskrieg, der wider das Erotische in der Kunst in blödester Verblendung geführt wird. Vom letzten Besitzer, einem berühmten englischen Sammler, nach Amerika verkauft, wurde dem »gemeinen« Werke der Eingang in Amerika von der Zollbehörde verwehrt, und so mußte die Sendung nach England zurückexpediert werden. Aber so etwas konnte auch das moralische Albion offiziell nicht über seine Zollgrenzen lassen, also wurde die Sendung konfisziert, und das Fazit war: dasselbe Schicksal, das allen konfiszierten Gütern in England zuteil wird, – »die Pfeife der Königin wurde damit gestopft«, d. h. die Bilder wurden verbrannt. Nur etwas hat sich in diesem Falle doch erhalten: einige photographische Aufnahmen, die glücklicherweise in die Hände von Sammlern gelangt sind (s. Beilagen). Von einer gewissen Achtung vor der Kunst – vielleicht aber auch bloß vor ihrem Geldwerte! – zeugt es noch, wenn erotische Kunstwerke nur teilweise vernichtet wurden und man sich auf die Zerstörung des sündigen Teiles beschränkt hat. Gerade dieses Verfahren ist besonders häufig geübt worden. Ein ebenfalls klassisches Beispiel dafür haben wir in dem herrlichen Gemälde von Paolo Veronese, »Das verliebte Paar«, das heute in der Münchner Alten Pinakothek hängt. Dieses Bild repräsentiert in seinem heutigen Zustande (Bild 37) nur einen Ausschnitt aus einem ehemals sehr großen Gemälde; weggeschnitten ist die untere sündige Hälfte, die zärtlichen Liebesspiele, die der brünstige Faun im Schoß der verliebten Nymphe treibt. Ausnahmsweise kann man hier an der Hand einer frühen Kopie des Originales heute noch feststellen, wie das Bild vor seiner Zerstörung ungefähr ausgesehen hat. Aber solche Möglichkeiten sind nur seltene Ausnahmen, sonst muß man sich meistens mit der Konstatierung begnügen, daß die entscheidenden Partien zerstört worden sind, und kann an den Rest des Bildes nur spekulative Kombinationen knüpfen.

In dieser Weise könnte man Bogen füllen, und gerade die Leporelloliste, die auf die Verständnislosigkeit der Gegenwart käme, wäre nicht klein. Es ist also kein Wunder, daß die Quellen hinsichtlich dessen, wie weit man zuzeiten in der Kühnheit der künstlerischen Darstellung direkt erotischer Motive gegangen ist, etwas dürftig fließen.

Diese Erfahrungen darf man niemals aus den Augen lassen, wenn man an die Prüfung der Erotik in der ernsten Kunst herantritt, und vor allem darf man sich durch das fast vollständige Fehlen charakteristischer Stücke in den öffentlichen Sammlungen nicht zu falschen Schlußfolgerungen verleiten lassen, sondern muß auf alle Fälle in die verschiedenen Privatsammlungen einzudringen suchen. Gelingt einem dies, dann ist man freilich nicht wenig verblüfft ob dem, was offiziell nicht existiert. Wäre es auch übertrieben, zu sagen, daß dank der Privatsammler uns reichlich genug übriggeblieben ist, um zu einem wohlbegründeten Urteile gelangen zu können, so muß man doch erklären, daß das, was im Privatbesitze sich heute noch befindet, uns wenigstens in den Stand setzt, ungefähre Vorstellungen zu bekommen, und beweiskräftige Schlüsse zu ziehen.

 

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66. Rembrandt: »Das französische Bett«. Radierung

In welcher Weise die in dem Abschnitte »Die Naturgeschichte der Kunst« präzisierten Faktoren das jeweilige Wesen des Erotischen in der Kunst bestimmten, soll hier natürlich nur an einigen Hauptetappen der Kunstentwicklung ausführlicher geschildert und demonstriert werden, und zwar am klassischen Rittertum, an der Renaissance und am Rokoko.

 

Altertum. Das klassische Altertum ist für die Geschichte der erotischen Kunst schon deshalb ein unerschöpfliches Gebiet, weil hier infolge verschiedener Umstände das gesamte Kunstschaffen geradezu eine ununterbrochene Beweiskette für das Gesetz, daß Kunst Sinnlichkeit ist, darstellt. Um nur einen Punkt zu nennen, so weiß z. B. jedermann, daß für das Altertum Kunst und Nacktheit stets synonyme Begriffe waren.

Weiter kommt in Betracht, daß das Altertum nicht nur eine einzige Entwicklungsphase zeigt, sondern geradezu alle Seiten. Denn es ist ja eine Kultur, die nicht nur eine Etappe der historischen Entwicklung aufweist, sondern die den ganzen Kreislauf des historischen Auf und Nieder umfaßt: Anfang, Höhe und Ende. Aus diesem Grunde vermöchte man allein an der Hand des Altertumes alles das nachzuweisen, was wir durch die verschiedenen Epochen der Kunstentwicklung belegen wollen. Man vermöchte dies überdies um so leichter, als es kaum eine andere Epoche gibt, aus der uns ein ähnlich reichhaltiges Material an ausgesprochen erotischen künstlerischen Darstellungen zur Verfügung steht. Nirgends so wie beim Altertume häuft sich heute noch in ähnlicher Unerschöpflichkeit das Material von Tag zu Tag. Wo der Spaten ansetzt, fördert er auch auf diesem Gebiete neue Belegstücke zutage, ganz gleich, ob man in Ägypten, in Griechenland oder in Italien den alten Schutt wegräumt, um die große Vergangenheit auszuschachten. Aus diesem Grunde findet sich auch heute selbst in jeder größeren Privatsammlung eine Reihe von beachtenswerten Werken: Bronzen, Terrakotten, Vasen, Münzen, Gemmen, Fresken, Marmorskulpturen usw., insgesamt ein unerschöpflicher Reichtum an verblüffenden Motiven und künstlerisch starker Gestaltungskraft. Nach den erotischen Schöpfungen der Alten sucht man aber auch in öffentlichen Sammlungen nicht vergeblich. Manche besitzen sogar umfangreiche und besondere Abteilungen oder Schränke dafür, wie das Museo nazionale in Neapel und das Vatikanische Museum in Rom. –

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67. Degeldu: Der belohnte Kuß. 17. Jahrhundert. Brüsseler Museum

Haben wir in dem Umstand, daß in Griechenland die Städtebildung überaus früh einsetzte und die gesamte griechische Kultur ausschließlich auf der Stadt, der Polis, beruhte – man war nicht Grieche, sondern man war vor allem Athener, Spartaner, Thebaner usw. – die Ursache, daß dort die Möglichkeiten zur Entstehung der Kunst am reichsten gegeben waren, haben wir weiter in der ebenso früh wie intensiv einsehenden Klassenscheidung nicht minder starke Antriebskräfte zur ungehemmten Entwicklung der vorhandenen Tendenzen, so haben wir drittens in dem Umstand, daß die griechische Kultur sich vorwiegend auf der Sklaverei aufbaute, so daß Bürger und Genießer gleichbedeutend ist, die Erklärung dafür, daß das Lebensgesetz der Kunst sich hier geradezu rein und kristallklar durchsetzte. Keinerlei Hemmung gab es hier, denn auch das Klima, das im Norden stets verwischend wirkte, wurde in Griechenland zu einem unterstützenden Moment. Unter allen diesen Voraussetzungen konnte und mußte die griechische Kunst in jeder Linie und in jeder Schöpfung nichts anderes sein als die künstlerische Kristallisation des Begriffes Sinnlichkeit. Und das war sie denn auch, Personifikation des Sinnlichen und nur des Sinnlichen. (Bild 5.)

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68. Jean Molenaer: Das Gefühl. 1637. Haager Gemäldegalerie

Wenn man aber die Formen dieser Kunst gewordenen Sinnlichkeit im einzelnen untersucht, so kann es einem ebensowenig entgehen, daß sie ohne Ausnahme stets ein prägnanter Ausdruck des jeweiligen gesellschaftlichen Seins sind. Im 5. Jahrhundert erreichte die Städtekultur in Griechenland bekanntlich ihre höchste Blüte. Die Demokratie überwand damals die Aristokratie, enorme Kräfte, die seither gebunden gewesen waren, wurden entfesselt, und diese freigewordenen Kräfte meisterten die persische Invasion. Es war die Zeit des grandiosen historischen Anstieges des Griechentumes, seine revolutionäre Epoche. Im Anschluß daran erstand darum logischerweise auch sein größtes Kunstzeitalter. Form wurde das Große, das Erhabene, denn die großen Schicksalsstunden des Perserkrieges hatten ein Heldengeschlecht gefunden. Was vordem Sage schien, ist Wirklichkeit gewesen, die man selbst miterlebt hat. Die Zeit, die jetzt dem Heroenzeitalter seine adäquate künstlerische Form gab, ideologisierte darum eigentlich nur sich selbst. Weil sie selbst die Kraft besessen hatte, die Traditionen des sagenhaften Heldenzeitalters zu erfüllen, darum erlebten die obersten Figuren, die höchsten Götter aus dem homerischen Sagenschatz ihre grandioseste und strahlendste Wiedergeburt im Marmor. Phidias meißelte Athene, die streitbare Athene, die eben den Sieg verliehen hat, er meißelte die Riesenstatue des Zeus – und beide Schöpfungen wurden das höchste künstlerische Wunder, weil sie die Offenbarung einer Zeit sind, die infolge der in ihr wirkenden Kräfte im letzten Grunde gleich groß ist.

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Bacchusfest. Kupferstich von La Fage

Der Darstellung des Erotisch-Sinnlichen mußte in dieser Zeit folgerichtig derselbe Stil eignen. Und er eignete ihr auch, auch sie ist heroisiert. Die Erotik ist in dieser Epoche stets emporgesteigert zum Göttlichen, zu der schöpferischen Urkraft. Dieses offenbaren alle Statuen der Aphrodite, des Apoll usw., die aus jener ersten Blüteperiode der griechischen Kunst stammen. Alle diese Schöpfungen sind ausnahmslos reine, kristallklare Verkörperungen der edelsten Auffassung des Begriffes Sinnlichkeit.

Im 4. Jahrhundert war die revolutionäre Periode in der Geschichte Griechenlands allmählich überwunden, so daß es von da ab ständig bergab ging. Die innere Selbstzerfleischung, die aus der föderativen Organisation Griechenlands hervorging, unterstützte den Ansturm von außen, dem man schließlich unterlag. Hand in Hand mit dem Verebben der revolutionären Antriebskräfte verschwand in gleicher Weise der heroische Stil. Im Leben entwickelte sich jetzt das spielerische Genießen, zu dem die wirtschaftliche Blüte die weitesten Möglichkeiten bot. Die Kunst konnte infolgedessen in dieser Zeit ebenfalls nichts anders als spielerisches Genießen atmen und ausstrahlen. Freilich auf Grund der vorhin geschilderten Größe in höchster Vollendung. Reizte in dem vorhergegangenen Heroenzeitalter jede Sache in ihrer Gesamtheit und in ihrem Gesamtinhalte, so jetzt, und das ist eben das Wesen des Spielerischen, in ihren Einzelheiten. Damit wandelt sich auch die Auffassung des Erotischen. Auch hier reizte nicht mehr der Gesamtinhalt, sondern einzig der spezielle Genuß, der damit verbunden ist. Dadurch entstand in der Kunst die künstlerische Verherrlichung der Mittel des Genusses, der Attribute der Sinnlichkeit. Eine besonders bevorzugtes Reizmittel der Wollust ist z. B. der schöne Hintere einer Frau, – also wurde ein hohes Lied auf diese Schönheit gesungen, und dieses hohe Lied wurde die höchste künstlerische Aufgabe. Das wunderbarste, aller Welt bekannte Beweisstück für diesen Kultus ist die Venus Kallipygos; zweifellos eine der sinnlichsten Plastiken der griechischen Antike. Der unbekannte Schöpfer der Venus Kallipygos löste seine Aufgabe, indem er Venus selbst in dieser, ihrer besonderen Schönheit, schwelgen läßt. Indem er Venus aber so darstellte, mußte er die Harmonie auflösen und alles diesem einen Zwecke unterjochen. Venus sagt hier nicht mehr: »Ich bin die Schönheit,« sondern: »Ich habe eine bestimmte Schönheit.« Und sie zeigt diese, stellt sie den Blicken demonstrativ zur Schau und zur Prüfung. Und wenn sie auch nur selbst in dieser Schönheit schwelgt, so ist das nur eine Form, durch die sie eben auf diese ihre besonders bevorzugten Reize, denen gegenüber alle anderen Nebensache sind, aufmerksam macht. Durch diesen inneren Sinn wird die Venus Kallipygos zu einem ausgesprochenen erotischen Kunstwerk. Diesen inneren Sinn zu bestreiten, würde heißen, gewaltsam an der Logik dieses berühmten Kunstwerkes vorbeizusehen (Bild 7).

Als Griechenland schließlich nur mehr noch eine Provinz Roms war, wurde seine Kunst zum bloßen Sklaven, dem weiter nichts oblag, als treu seinem Herrn zu dienen, jedes Winkes, selbst des leisesten, gewärtig zu sein. Und da dieser Herr in dieser Zeit ebenfalls nur ein Genießer ist, der das Können seines Sklaven einzig zur Steigerung seines Genußlebens verwendet, so hatte sein Können auch keine höhere Aufgabe, als in dieser Richtung sich zu entfalten und zu betätigen. Je mehr dabei Rom zum Weltbeherrscher wurde und je mehr dieser Weltbeherrscher infolge der ungezählten Reichtümer, die ihm seine Weltherrschaft auf den Tisch schüttete, zum ausschweifenden Genießer sich entwickelte, eine um so größere Rolle spielten die sinnlichen Freuden in diesem Leben. Allen voran selbstverständlich die Wollust. Denn wenn Genießen der oberste Lebenszweck ist, dem alles untertan gemacht wird, so wird von allen Genüssen wiederum stets die Wollust der begehrteste der Genüsse.

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69. David Teniers d. J.: Der Alte und die Küchenmagd. Kaiserliche Gemäldegalerie, Wien. 17. Jahrhundert

Im Rahmen eines solchen Bildes wäre das Fehlen direkt erotischer Darstellungen schon deshalb undenkbar, weil die bildliche und figürliche Vorführung wollüstiger Szenen sich immer als ein wirkungsvolles Stimulansmittel erwiesen hat; im Dienste der Verführung sowohl, wie um die erotischen Freuden zu erhöhen. Man hat dieses Mittel darum auch im Rom jener Zeit in starkem Maße genützt. Und zwar offen vor aller Welt und sozusagen in demonstrativster Weise. Anders kann man z. B. die Anbringung großer erotischer Freskogemälde nicht nennen. Besonders die Wände der Speisesäle zierten häufig solche Fresken. Als Beispiel sei hier nur auf die berühmtesten hingewiesen, und vor allem auf die, die in der Casa Vettii in Pompeji, dem Landhaus eines römischen Lebemannes, aufgefunden wurden. Das interessanteste Stück zeigt, wie der übermäßig große Phallus eines Jünglings einem schweren Beutel mit Gold die Wage hält. Der ungefähre Sinn dieses Bildes, das zugleich eine Karikatur des Göttersohnes Paris darstellt, ist: Ein großer Phallus wiegt mehr als ein Haufen Gold (Bild 8 und 107). Nicht weniger interessant ist die Darstellung einer androgynischen Venus, die einem werbenden Silen, der sie durch seine Brunst betören will, ihr Zwittergeschlecht enthüllt (Bild 13). Aus einem anderen Lause Pompejis stammt ein Freskogemälde, das uns einen Polyphem zeigt, wie er Galatea vergewaltigt. In den Häusern der Hetären, von denen der vornehmsten bis herab zu denen der Winkelhuren, waren die Wände ebenfalls häufig mit stark gepfefferten erotischen Bildern geschmückt. Den Beweis dafür liefert die Straße der Lupanare in Pompeji. In den dort sich befindlichen Dirnenwohnungen hat man bei den Ausgrabungen eine ganze Reihe gut erhaltener erotischer Wandgemälde aufgefunden. Speziell über den Lagern, die ehedem als Betten dienten, fand man solche Bilder. »Praktische Einführungen in die Technik der Liebe« könnte man die hier aufgefundenen Darstellungen bezeichnen. Hier mag eingeschaltet werden, daß eine derartige künstlerische Ausschmückung der Orte der käuflichen Liebe durch alle Zeiten Brauch und Sitte war. Zahlreiche londoner, pariser, petersburger und neuyorker Bordelle sind auch heute noch in dieser Weise mit großen erotischen Wandgemälden geschmückt.

Daß die Herstellung direkt erotischer Kunstwerke im klassischen Altertum ein überaus blühendes Gewerbe gewesen ist und niemals bloße Gelegenheitsarbeit für einige wenige raffinierte Liebhaber, das beweist u. a. auch die große Zahl erotischer Mosaiken, die man im Laufe der Jahre aufgefunden hat. In Neapel wird ein erotisches Mosaik aufbewahrt, das nicht weniger als etwa vier Quadratmeter umfaßt. In ziemlich großen schwarzen und weißen Würfeln ausgeführt, stellt es Liebesspiele auf dem Nil dar. In drei Kähnen huldigen ebensoviel Liebespaare den intimsten Freuden der Wollust. Dasselbe Motiv, nur in kleinerem Maßstabe, wurde in Pompeji auch noch als Freskogemälde aufgefunden. Aus dem Museum Borghese in Rom stammend besitzt Neapel ein Mosaik, das ein junges Weib zeigt, das zwischen den Beinen eines am Boden sitzenden Satyrs kniet und mit hilfreicher Land den Wünschen des brünstigen Halbgottes entgegenkommt.

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70. P. Moreelse: Die schöne Hirtin. Sammlung Skeengracht, Haag

Waren die Wände der Lusthäuser reicher Römer und reicher Hetären mit zum Teil äußerst kostbaren erotischen Freskogemälden geschmückt und in die Fußböden ebensolche Mosaiken eingelassen, so standen auf den Säulen und Kapitälen, die überall angebracht waren, erotische Gruppen aus Marmor und Bronze. Von solchen Stücken, die zugleich die künstlerischsten erotischen Dokumente der Antike repräsentieren, hat sich infolge der Unvergänglichkeit des Materials eine noch größere Zahl erhalten, und es bedürfte fürwahr eines umfangreichen Bandes für sich allein, wollte man auch nur diesen Teil der erotischen Kunst der Antike erschöpfend katalogisieren und behandeln. Berühmte Beispiele sind die Marmorgruppe »Faun und Nymphe« aus dem Vatikanischen Museum in Rom und »Satyr und Ziege« aus Pompeji. Beide Stücke sind in höchster technischer Vollendung in Marmor ausgeführt. Weniger bekannt, aber technisch und künstlerisch ebenso vollendet, ist ein entzückender Torso eines Liebespaares, der ebenfalls aus Rom stammt. Ein auf dem Boden sitzender Jüngling sucht ein junges Mädchen, die seinen verliebten Wünschen offensichtlich nur einen scheinbaren Widerstand entgegensetzt, in seinen Schoß zu zwingen. Es kann wahrlich keine glanzvollere Einführung in die erotische Kunst geben als gerade diese drei Werke. Alles, was große Kunstwerke ausmacht, eignet diesen Marmorgruppen. Kraft, Größe, Kühnheit, gepaart mit Eleganz. Es steht wahrlich viel an klassischen Berühmtheiten in der Welt herum, was täglich hundertfach ange»aht« und ange»oht« wird, und doch nicht die Konkurrenz mit diesen Stücken siegreich bestehen würde. Kühnere Motive lassen sich nicht leicht ausdenken als die beiden ersten, aber, und das ist das Grandiose daran, wie beherrschend ist das vom Künstler bearbeitet, wie hoch hat ihn sein Können und dieses das Werk über das Stoffliche hinausgetragen! (Bild 14, 15 und Beilage.) Hierher gehört auch eine höchst interessante kleine Bronze aus Pompeji, eine Nymphe und ein Faun in knieender Stellung; die Nymphe kommt den Werbungen des brünstigen Liebhabers, von dem sie von rückwärts angegriffen wird, willig entgegen (Bild 11). Aus dem Museum Borghese in Rom stammt weiter ein herrlicher Marmorsarkophag, der auf der einen Seite einen erotisch aufgefaßten Bacchuszug in Relief gearbeitet zeigt. Dieser Zug wird links von einer stolzen Priapsäule flankiert, an der eine lüsterne Faunin ihre Begierden in bekannter Weise (vgl. Bild 17) stillt. In ähnlicher Reliefform hat sich noch eine ganze Reihe erotischer Darstellungen erhalten, so befindet sich im Museum zu Neapel ein Relief, das eine ganz realistische Liebesszene zeigt; ein junges Weib sitzt im Schoß eines jungen Mannes und genießt in dieser Stellung die Freuden der Liebe.

Selbstverständlich blühte auch in der Kleinkunst das Erotische aufs üppigste. Alles, was zum täglichen Gebrauche gehörte, war mit erotischen Darstellungen geziert. Vor allem das Tafelgeschirr (Bild 21) und die Tonvasen, dieser Hauptartikel der antiken Industrie. Vasen mit erotischen Darstellungen findet man nach Hunderten, zahlreiche Museen und auch viele Privatsammlungen besitzen solche Stücke. Erotische Darstellungen auf Vasen sind überaus alt, so sind aus den Gräbern von Apulien, die wohl etruskischen Ursprunges sind, zahlreiche Tonvasen mit erotischen Darstellungen ausgegraben worden. Eine solche aus Apulien stammende Tonvase, die heute in Neapel aufbewahrt wird, zeigt einen Faun, der im Stadium höchster geschlechtlicher Erregung eine fliehende Nymphe verfolgt. Auf einer anderen etruskischen Vase gelingt es einem Faune, sogar im stürmischen Lauf eine fliehende Frau zu begatten (vgl. auch Bild 10).

Zur Kleinkunst gehört auch der Steinschnitt, der niemals sonst eine ähnliche Höhe erreicht hat wie in der Antike. In den Steinschnitten begegnet man wohl den allermeisten erotischen Darstellungen. Und wie im Großen, so findet man hier im Kleinen dieselbe Reife, dieselbe künstlerische Überlegenheit, dasselbe souveräne Beherrschen des kühnsten Stoffes. Unter den erotischen Gemmen der Antike befindet sich eine Menge Stücke von solch künstlerischer Schönheit, daß das Motiv aus der Sphäre des Niedrigen vollständig losgelöst ist und selbst das an sich Verwerflichste für Momente vom Schimmer des Erhabenen umflossen erscheint. Und darum kann man wohl gerade angesichts des in den Gemmen vorhandenen Reichtumes an erotischer Kunst sagen: Welch leuchtender Goldglanz erotischen Genießens sich über das gesamte klassische Leben ergossen haben muß, wird sich unseren asketisch verbildeten Sinnen vielleicht nie ganz enthüllen; daß es aber ein wahres Lichtermeer gewesen sein muß, so strahlend, daß unsere matten Augen es gar nicht zu ertragen vermöchten, das ist offenbar, wenn wir uns klar machen, daß das, was uns zu Gesicht kommt, nur einige wenige verlorene Strahlen einer Sonne sind, die einst viele Tausende solcher fein geschliffener Strahlen gespendet hat. Die Hauptgegenstände der Darstellung waren hier die galanten Liebesaffären der Götter, besonders häufig Leda mit dem Schwan, Bacchuszüge mit erotischen Orgien, Priapsfeste, die verschiedenen Stellungen beim Liebesgenuß und selbst Tierbegattungsszenen. Die erotische Gemme war zweifellos ein Haupthandelsartikel in der Antike. Und auch über sie ließe sich leicht ein besonderes Werk schreiben. Daß sich freilich gerade von diesem Artikel der antiken Kunst so vieles erhalten hat, hängt nicht nur mit der Unvergänglichkeit des Materials zusammen, sondern auch damit, daß von allen Steinschnitten zahlreiche Abgüsse in Glas gemacht worden sind (Bild 16-20 und 23).

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71. Jean Steen: Im Frauenhaus. Sammlung Steengracht, Haag

Wir haben oben gesagt: Die Wollust ist in diesen Zeiten kein Erfüllen, sondern stets nur Genießen. Das Wesen des Genießens aber ist: Variation. Denn Abwechslung ist sein oberstes Programm. Das diktiert der erotischen Kunst das Gesetz, an Stelle der Kraft nun das Vergnügen zu ideologisieren. Solche Darstellungen wie die bis jetzt beschriebenen sind der Beweis für diese Behauptung. Ein weiterer Beweis dafür ist, daß jetzt auch die künstlerische Ideologisierung der Mittel der Wollust obenan steht. Und darum dominiert auch überall der Phallus. Gewiß ist das nur einer der Gründe seiner Vorherrschaft; auf die anderen nicht minder wichtigeren werden wir noch weiter unten im zweiten Buch, im Kapitel Altertum, zu sprechen kommen. Überall reckte sich der Phallus in strotzender Gebärde den Blicken entgegen. Nicht hunderte Mal, nein tausende Mal ist so die männliche Potenz künstlerisch verherrlicht. Der Mann war dieser niedergehenden Zeit anscheinend nur Phallus; nur die Potenz interessierte an ihm, nur das verlieh ihm Achtung und Wert. Und darum prunkt der Mann damit auf Weg und auf Steg, darum wird der Phallus oberster künstlerischer Vorwurf. Man wird nicht fertig, ihn immer wieder von neuem zu zeigen. Das schon oben beschriebene Freskogemälde aus der Casa Vettii könnte als Symbol für dies alles gelten. Eine direkte Phallusstatue, deren Original sich in Neapel befindet, zeigt Bild 12. Selbst wenn Priap ein Gewand trägt, präsentiert er aller Welt seine Potenz. Das Neapler Museum besitzt ein Herme aus Marmor, an der leider der Kopf fehlt, auf der anliegenden Tunika zeichnet sich deutlich die strotzende Gebärde »seiner Würde Amtssymbol« ab. Am häufigsten haben sich solche Darstellungen in Bronze erhalten. Beispiele dafür sind Bild 9 und vor allen der künstlerisch wunderbare Dreifuß, der einst als Opferbecken der Göttin Venus gedient hat und im Hause der Julia Felix, einer berühmten römischen Hetäre in Pompeji, gefunden worden ist (Bild 6). Am häufigsten wurde der Phallus als Lampe verwertet. Übrigens die sinnreichste Anwendung: Er allein leuchtet würdig durch die Nächte des Lebens. Bildproben für diese Verwendung des Phallus als Lampe werden wir jedoch erst im zweiten Teile des Buches vorführen und besprechen, weil er in dieser Verwendung stets in grotesker Vergrößerung dargestellt wurde. Hierher dagegen gehört eine andere Verwendung des Priap, oder die Darstellung der männlichen Potenz im Zustande der Aktivität: Priap als Brunnenfigur (Bild 22). Das Brüsseler »Männeken Piß« des 17. Jahrhunderts, das uns heute noch ergötzt, ist also, wie man sieht, eine sehr alte Erfindung. Aber wenn die modernere Schöpfung Ausfluß eines harmlosen Scherzes ist, derart aufgefaßt und derart gelöst, – man hat das köstliche Bild vor sich, wie so ein kleiner Guckindiewelt mit aller Freude über das Schauspiel, das er sich selbst verschaffen kann, dieses Geschäft erledigt –, so hat man in den derartigen Brunnenfiguren der Antike etwas ganz anderes vor sich. Hier ist es der geschlechtsreife Mann, der protzig vor aller Welt demonstriert, daß ihn im schönstem Maße das ziert, was die Frauen beim Mann am höchsten schätzen. Und was in diesem Zustand aus ihm hervorquillt, das ist natürlich »das Wasser des Lebens«. In einer solchen Auffassung hatte es einen ganz klaren Sinn, wenn er im Atrium vor dem kleinen viereckigen Wasserbecken die Stelle des Hausgottes einnahm, und dabei als immer tätiger, niemals versiegender Wasserspeier oder Brunnen diente. Das Exemplar, das im Nationalmuseum zu Neapel aufgestellt ist, stammt aus Pompeji und wurde ebenfalls in dem Hause des Vettii gefunden. Das Atrium schöner Hetären dürfen wir uns wohl in ähnlicher Weise geziert gewesen denken. Und diese sinnige Brunnenfigur wird sicher um so häufiger aufgestellt gewesen sein, je häufiger sich die Türen der betreffenden Hetären dem mehr zahlungsfähigen als dem potenten Alter geöffnet haben. Denn hier war es doppelt nötig, die Fiktion aufrecht zu erhalten: Aber ganz besondere körperliche Vorzüge muß man verfügen, wenn man meine Gunst genießen will, und beileibe nicht bloß über Geld …

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Die Toilette der Venus. Nach einem Gemälde aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts

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72. L'Art de Fontainebleau. Kupferstich. 17. Jahrhundert

Es gibt in der Antike in dieser Richtung kein Ende. Das hier Vorgeführte ist, wie gesagt, nur ein ganz kleiner Teil des Erhaltenen. Aber würde man das Belegmaterial auch verzehnfachen, das Ergebnis, das man schon aus diesem kleinen Ausschnitt ableiten kann, und was wir hier zu erweisen hatten, würde immer dasselbe sein. Es würde sich nur in verstärktem Maße bestätigen, daß Form und Inhalt der Erotik in der Kunst getreu dem jeweiligen gesellschaftlichen Sein folgen.

 

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Die Renaissance. Auch die Renaissance ist reich an erotischen Kunstwerken, und auch das ist eine innere Notwendigkeit. Und ebenso innere Notwendigkeit ist, daß in ihr trotz allem Auf und Nieder doch eine ganz bestimmte Linie vorherrscht.

Diese Epoche der europäischen Kultur mußte unbedingt voll potenzierter Sinnlichkeit sein, da das Schöpferische, das hier in die Geschichte der europäischen Menschheit eintrat, wie wir oben (S. 46) gezeigt haben, in jeder Faser durchaus revolutionären Ursprunges war, und außerdem in den stärksten ökonomischen Potenzen, die bis dahin das gesellschaftliche Sein gestaltet hatten, seine Antriebskräfte hatte. Die ungeheuren Kräfte, die in dieser Zeit die Gesellschaft durchfluteten, mußten die Sinnlichkeit zu einer Glut und zu einer zauberischen Fülle steigern, die sozusagen jeden einzelnen Menschen zu einem Repräsentanten der Kraft und zu einem Vulkane von Leidenschaften machten. Dem sinnlichen Gebaren dieser Zeit mußte ebensosehr ein großer Zug eignen, denn die Umgestaltung der Welt, zu der das neue Wirtschaftsprinzip drängte, war nicht von heute auf morgen zustande gekommen, oder wie ein Geschenk den Menschen mühelos in den Schoß gefallen, sondern sie war, wie wir ebenfalls schon dargelegt haben, das Resultat einer langen Kette gewaltiger Revolutionen. Und Kampf, Tatkraft, betätigte Kraft waren infolgedessen für jene Zeit der Hauptinhalt des Lebens. Das Spielerische war da kategorisch ausgeschaltet und hatte nur geringe Geltung. Aus diesem Grunde war auch die Sinnlichkeit dieser Zeit in ihrem Wesen gesund, natürlich, ebenfalls Kampf, ebenfalls Kraft, und vor allem: schöpferisches Betätigen. Solchen Voraussetzungen entspricht in der Kunst natürlich einzig und stets die heroische Linie, und diese ist denn auch die augenfälligste Linie der ganzen Renaissance.

Das Wesen der künstlerischen Renaissance, zu der es damals kommen mußte, besteht darin, daß sie der Eroberung der sinnlichen Welt, des Lebens greifbaren Wirklichkeiten, gegenüber der übersinnlichen Welt, den übersinnlichen Freuden, die seither die Gemüter beherrschten, in der Kunst Form gab. Der Menschheit Reich ist von dieser Welt, und schön ist diese Welt, voll von so viel strahlender Schönheit, daß es wohl wert ist, darin sich heimisch zu machen, von all dieser Schönheit Besitz zu ergreifen und nur ihr nachzustreben, nichts anderes mehr über sie zu stellen – so formte sich die Lebensphilosophie der bürgerlichen Welt, die jetzt entstand. Diese Philosophie konnte in der Kunst nicht anders als in einer strahlenden Herrschaft der Sinnlichkeit gipfeln. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß in dieser Zeit wiederum Nacktheit und Kunst zwei sich deckende Begriffe werden mußten, und weiter, daß die stärkste Lust und ein unbändiger Drang vorherrschen mußten, alles zu erschöpfen und alles bis zum Gipfel zu steigern.

Das führte nicht nur zur Erotik in der Kunst, sondern auch zu einer Vorherrschaft derselben und damit zu einem wahren Reichtum an direkt erotischen Kunstwerken. Gewiß, jene Überfülle an ausgesprochen erotischen Kunstschöpfungen, die die Antike aufweist, konnte in der Renaissance nicht entstehen. Schon deshalb nicht, weil, wenn man auch zur sinnenfreudigen Lebensphilosophie der Alten zurückgriff, Gott Priapus wohl als heimlicher Kaiser regieren konnte, seines offiziellen Göttercharakters jedoch entkleidet blieb. Aber an künstlerischem Gehalte konnte die erotische Kunst der Renaissance der Antike ebenbürtig sein. Und das ist sie sehr häufig auch gewesen. Die Renaissance hat in ihrer Art wirklich Ebenbürtiges der Antike an die Seite zu stellen. Sie hat eine große Zahl erotischer Kunstwerke hervorgebracht, bei denen man mit gleichen Rechte wie bei der Antike sagen kann, daß das Stoffliche derart überwunden ist, daß die größte erotische Kühnheit als reine makellose Schönheit auf den Beschauer wirkt. Das gilt von ihrem frühesten Beginn im Süden bis hinauf in den holländischen Norden, wo sie mehr als zweihundert Jahre später ihren letzten Pinselstrich tat. Gewiß ist es, um es gleich an einigen Beispielen zu erweisen, von unserer modernen Auffassung aus angesehen, überaus unzüchtig, wie der Jüngling auf dem Bilde des Francesco Cossa seine linke Hand in den Kleiderschlitz des jungen Mädchens einschiebt (Bild 25), und es ist auch anzunehmen, daß man so etwas selbst um das Jahr 1450 öffentlich nicht so ostentativ in Ferrara machte. Aber man muß schon ein schmutziger Zelote sein und vollständig abgestumpft gegen alle zart und naiv klingenden Akkorde, wenn man beim Anblicke dieser Szene auf gemein sinnliche Gedanken kommt und der Weihe nicht teilhaftig wird, die alles dieses als etwas Heiliges empfinden läßt. Das Gleiche gilt auch von Motiven, die bis zum äußersten gehen. Man nehme nur als Beispiel den Silberguß »Liebesszene« von dem berühmten Plakettenkünstler Moderno (Bild 51). Hier ist das Erfüllen des Lebensgesetzes zu einer wahrhaft köstlichen Harmonie der Linien gesteigert, zu einem wunderbaren Bewegungsmotive, in dem alles aufs delikateste zusammenklingt. Dieses Werk ist dadurch auch ein klassischer Beleg für die oben gemachten Ausführungen, daß sich in der sinnlichen Vereinigung zweier Menschen die wunderbarsten künstlerischen Linien ergeben. Daß aber diese Wirkung sich nicht nur auf die Sphäre des Idealen beschränkt, sondern ebenso für die naturalistische Auffassung des Heroischen gilt, das erweist einer der größten Renaissancemeister, Rubens, gleichsam durch sein ganzes Werk. Rubens' oberster Vorwurf ist schließlich immer die wilde Umarmung brünstig Liebender. »Der verliebte Hirte« aus der Münchner Alten Pinakothek, eines seiner herrlichsten Meisterwerke, in dem er überdies sich selbst dargestellt hat, ist ein klassisches Zeugnis dafür (s. Beilage). Wer wollte bestreiten, daß wir hier vor einer der erhabensten Offenbarungen der Kunst stehen, daß hier das animalische Erfüllen rein als grandiose Urkraft des Lebens sich offenbart und zur makellosesten Schönheit im höchsten Sinne des Wortes geworden ist?

Die Entwicklung der Renaissance konnte natürlich nicht in einer schnurgeraden und ununterbrochenen Linie nach oben gehen. Das sinnliche Schwelgen mußte sogar von absoluten Gegensätzen, von Perioden der fanatischen Askese unterbrochen sein – das bedingte die ganze Art, in der die gewaltige ökonomische Umwälzung, deren Ausfluß die Renaissance ist, in Erscheinung trat.

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73. Adrian Ostade: Bäuerliche Scherze. 17. Jahrhundert

Das gewaltige Erobern der irdischen Welt durch die damalige Menschheit, dieses grandiose Besitzergreifen der Wirklichkeit war ohne Zweifel ein förmlicher Siegeszug und ein wahrer Triumphzug. Aber auf diesem Eroberungszuge gab es auch ganz furchtbare Niederlagen, die die gesamte Menschheit erbleichen ließen und deren Sinne für lange Jahre mit Schrecken und Grauen erfüllten, und zwar mit Schrecken, wie sie die Menschheit bis dahin noch niemals in solcher Furchtbarkeit gekostet hatte. Diese Entsetzen verbreitenden Niederlagen wurden verursacht durch die furchtbaren Begleiter, die mit der neuen Wirtschaftsordnung ihren mörderischen Einzug in Europa hielten, durch die Pest und die Syphilis. Wo diese Begleiter sich den jeweiligen Klassenkämpfen zugesellten, haben sie jedesmal zu einem völligen Stimmungsumschwunge, der logisch immer in einer zeitweiligen Herrschaft der Askese gipfelte, geführt. Diese zeitweilige Herrschaft der Askese hat natürlich auch alle Gebiete des geistigen Lebens in ihren Bann gezogen.

Daß es gerade diese Faktoren gewesen sind, die den jeweiligen Stimmungsumschwung in der Kunst bedingt haben, und nicht irgendwelche individuelle Mächte, ist ungemein wichtig festzustellen, weil sich dadurch ganz augenfällig beweisen läßt, daß im letzten Grunde die ökonomischen Mächte das Wesen und den Inhalt der Kunst bestimmen. Und darum wollen wir diese Behauptung etwas eingehender begründen.

Wenn man in unseren besseren Kunstgeschichten nach den Ursachen forscht, die zu dem gewaltigen Umschwung in der Kunst am Ausgange des 15. Jahrhunderts geführt haben, zu der auffälligen Fin-de-siècle-Stimmung, der Müdigkeit und der Schlaffheit auf der ganzen Linie, wo kurz zuvor noch tobende Sinneslust und heidnische Erotik geherrscht hatte, so wird stets als einzige Ursache das Auftreten Savonarolas, des großen florentinischen Bußpredigers, angegeben. Ein sehr verdienstreicher Kunsthistoriker begründet dies in einer Geschichte der Malerei z. B. folgendermaßen:

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74. François Watteau: Le faux Pas. Louvre, Paris

Die Jahre des theokratischen Regimentes brechen an. Der Platonismus der aristokratischen Kreise hatte das Gemüt nicht ausfüllen können. Es herrschte Übersättigungsstimmung nach all der Schönheitstrunkenheit, glühendes Heilsverlangen nach all den weltlichen Freuden, puritanischer Fanatismus nach all dem Sinnenkult, dem genußfrohen Epikuräertum von früher. Savonarola gehörte zu den seltenen Männern, die zu ihrer Stunde kommen. Dasselbe kleine Kloster von San Marco, wo zu Fiesoles Zeiten der heilige Antonin gewirkt, warf sich von neuem zum Bollwerke des Christentumes auf. Jene Ideen von Askese und Weltverneinung, die damals nur in engen Mönchskreisen ihr Dasein fristeten – Savonarola trug sie wieder in die leidenschaftlich erregten Massen hinaus. Den lockenden Idealen des Altertumes, dem Sirenengesang der Sinnenfreude und antiken Schönheit trat die Macht der tausendjährigen kirchlichen Überlieferungen, das dunkle Gefühlswalten religiösen Lebens entgegen. Schon im Januar 1491 hatte er seine Bußpredigten in Santa Maria del Fiore begonnen, und in wenig Monaten war Florenz verändert. Gleich einem Hagelwetter platzte sein dämonisches Wort auf die lebenslustige Menge nieder. Ein von Gott gesendeter Prophet schien herabgestiegen, die üppige Stadt zur Buße, zur Zerknirschung zu rufen. An die Stelle weltlicher Lustbarkeiten traten kirchliche Umzüge. Statt mutwilliger Karnevalslieder tönten geistliche Lobgesänge zum Himmel. Täglich vergrößerte sich die Zahl seiner Anhänger. Mochte der Papst mit dem Bannfluche drohen und die vornehmen Kreise gegen den Demagogen wüten – mit dem Kampfrufe » Viva bristo« stürmten die elektrisierten Massen daher, derwischhafte Szenen, die an die Geißlerfahrten des Mittelalters mahnen, begannen. Nicht mehr das Haus Medici herrschte, sondern Jesus Christus populi Florentini decreto creatus war in eigener Person König und Schutzherr von Florenz. Das »Autodafé der Eitelkeiten«, am Karnevalstag 1497 veranstaltet, bezeichnet wohl den Höhepunkt seiner agitatorischen Tätigkeit. 1300 Kinder hatten Haus für Haus den Tand der Welt eingefordert. Seidene Kleider und Musikinstrumente, Teppiche und Ausgaben des Dekamerone, antike Klassiker und mythologische Bilder – alles wurde zu hoher Pyramide getürmt, und der Rauch stieg lohend gen Himmel. Frauen und Mädchen, mit Olivenzweigen bekränzt, umtanzten in mystischer Verzückung den Scheiterhaufen, opferten Ringe, Armbänder oder was sie noch besaßen an Schmuck, den Flammen. Eine dämonische hypnotisierende Kraft muß von dem Zeloten ausgegangen sein …

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75. François Boucher: Der verliebte Gott. (Ludwig XV. und die Marquise von Pompadour.) Privatbesitz

Was der betreffende Kunsthistoriker hier sagt, ist trotz der äußerlichen Richtigkeit doch jene fehlerhafte Logik der Ideologie, die die Dinge aus dem Kopf, anstatt den Kopf, das Bewußtsein, aus den Dingen erklärt. Gewiß ging von Florenz der große Umschwung der Kunst aus, wie von dort scheinbar auch die Askese ausging, und gewiß kann man sogar verschiedene große zeitgenössische Künstler nennen, die direkt durch Savonarola zur Lebensanschauung der Askese bekehrt worden sind. Aber das beweist rein gar nichts, denn es ist nur ein roh empirischer Beweis. Man muß den Dingen anders gegenübertreten, wenn man ihnen auf den Grund kommen will. Man muß fragen: welche geschichtlichen Umstände sind es gewesen, die den Reden Savonarolas ihre Überzeugungskraft verliehen haben? Welche gesellschaftlichen Faktoren haben es bedingt, daß die Reden dieses fanatischen Mönches eine solche ungeheure geistige Epidemie entfachen konnten, daß dasselbe Geschlecht, das eben noch in heidnischer Angebundenheit schwelgte, nun plötzlich das Haupt in zitternder Angst vor dem Christusbilde beugte? Kurz, man muß davon ausgehen, daß Savonarola nur ein Instrument der Geschichte gewesen sein kann, nur der auslösende Hebel, indem er der Mund wurde, aus dem nichts anderes als die geschichtliche Notwendigkeit gesprochen haben kann. Nur wenn man auf diese Weise nach den Untergründen forscht, findet man die richtige und ausreichende Antwort für den ungeheuren Stimmungsumschwung am ausgehenden 15. Jahrhundert.

Und die richtige Antwort auf diese Fragen liegt so offen zutage, wie es selten in der Geschichte der Fall ist: Es ist das Zusammenwirken der furchtbaren politischen und wirtschaftlichen Kämpfe jener Jahre mit dem unheimlichen erstmaligen Auftreten der Syphilis in Europa. Die Syphilis war der unheimliche Gast, der mit den heimkehrenden Matrosen des Kolumbus in Venedig landete. Nach den Darlegungen Iwan Blochs in seiner Geschichte der Syphilis ist es heute ganz zweifellos, daß die Syphilis nicht nur vor der Entdeckung Amerikas in Europa unbekannt gewesen ist, sondern daß sie tatsächlich durch zwei Matrosen der Mannschaft des Kolumbus eingeschleppt wurde, und zwar aus Haiti. Bloch weist genau den »Siegeszug und Siegesweg« dieser Seuche nach, wie sie von den Krankheitsträgern in das Heer Karls VIII. von Frankreich verschleppt wurde, und von diesem wiederum in seinem Kriege gegen Italien durch ganz Italien getragen wurde. Daher auch der Name »Franzosenkrankheit«. Diese Art der Verbreitung erklärt auch den explosionsartigen Charakter ihres ersten Auftretens, daß sie in zahlreichen Städten zu gleicher Zeit, d. h. sowie diese mit dem französischen Heer in Berührung kamen, auftauchte.

Die Überraschung der europäischen Kulturwelt durch diesen grauenhaften Gast erscheint uns seltsam, aber nur weil wir diese Krankheit in ihrer lähmenden Schrecklichkeit heute nicht mehr nachempfinden können. Der erste medizinische Geschichtschreiber der Syphilis, Hensler, begann sein berühmtes Werk über die Geschichte der Lustseuche mit den Worten: »Es sind manche Seuchen für das Menschengeschlecht um vieles verwüstender und mörderischer gewesen als die Lustseuche, die zu Ende des 15. Jahrhunderts ausbrach. Aber keine von jeher und ohne Ausnahme, keine bösartige Seuche, keine Pest, kein schwarzer Tod hat einen so fürchterlichen Eindruck gemacht, keine ein solches Grausen hinterlassen.« Und dieses Grausen wird einem verständlich, sowie man die Schilderungen der Krankheitserscheinungen, die von zeitgenössischen Schriftstellern gemacht wurden, nachliest, diese sind geradezu grauenerregend und fehlen dem heutigen Krankheitsbilde völlig. Wenn man sich obendrein noch darüber klar wird, daß alle Welt damals von dieser Krankheit ergriffen wurde, alt und jung und beide Geschlechter, so begreift man auch, daß sie zum auslösenden Hebel für alle die durch die Folgen der wirtschaftlichen Umwälzung vorbereiteten asketischen Neigungen werden mußte.

Um diesen jäh sich vollziehenden Stimmungsumschwung jedoch voll zu begreifen, muß man noch zwei weitere Umstände besonders in Betracht ziehen. Erstens: Die traurige Philosophie, die diese Rache der Natur zeitigte, konnte aus dem Grunde noch mehr als wie die Pest eine alle Klassen umspannende Macht werden, weil es hier im Gegensatze zu dieser keine Schranken gab, die den Reichen Schutz gewährten. Im Gegenteil, deren größerer Anteil an der Nutznießung der Prostitution zog die Besitzenden womöglich noch stärker als das Proletariat in Mitleidenschaft, wenn auch bei dem letzteren die traurigen Wohnungsverhältnisse den günstigeren Nährboden lieferten. Der zweite Umstand ist der: In diesem sinnlichen Zeitalter mit seiner enormen sexuellen Expansion mußte dies der grausamste Kontrast sein, der sich ungefähr denken läßt. Auf die aktive Lebensfreude, zu deren schwelgerischer Betätigung jeder neue Schritt nach vorwärts intensiver drängte, war in der Syphilis die grauenhafteste Strafe – für viele Tausende direkt die Todesstrafe unter den entsetzlichsten Qualen! – gesetzt. Die Unwissenheit der Zeit, unterstützt von den sowieso vorhandenen asketischen Tendenzen, konnte in dieser Epidemie also nur eine von einer höheren Macht diktierte Strafe sehen.

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76. Adrian van der Werff: L'Illusion vaut quelquefois la réalité.. 17. Jahrhundert

Dieses sind die Faktoren, die den allgemeinen Stimmungsumschwung am ausgehenden 15. Jahrhundert bedingten, sie sind das Ursächliche. Und von ihnen ist auch Savonarola auf den Plan gerufen worden. Sie haben ihm den Mund geöffnet, sie haben ihm den Geist beschwingt, sie haben Logik seinen Reden verliehen, und sie haben ihm vor allem – die Hörer zugeführt. Sie sind die Nährquelle, daß seine Bußpredigten eine geistige Epidemie entfachen konnten, so daß dem Losungswort, nur in der Askese sei Heil und Erlösung zu finden, selbst die stärksten Geister der Zeit unterlagen. Und an der Hand der einzelnen Daten der Geschichte von Florenz läßt sich die Nichtigkeit dieser Geschichtsbetrachtung geradezu datumgetreu belegen. Vom Jahre 1490 an war Florenz von heftigen Klassenkämpfen heimgesucht. In keiner Stadt Italiens erreichten diese damals eine solche Höhe, und kaum irgend sonstwo herrschte eine ähnliche Massenarmut. Im Frühjahr 1495 kam die Syphilis hinzu, denn im November 1494 war der Einzug der Heere Karls VIII. in Florenz erfolgt, vom Frühjahr 1495 bis zum Ende des Jahres 1497 wütete die Syphilis in schrecklichster Weise in Florenz; 1498 war ihre Macht gebrochen. Wie lauten demgegenüber die Daten der Wirksamkeit und Erfolge Savonarolas? 1491 trat er zum erstenmal auf, 1495-97 ist der Höhepunkt seiner Wirksamkeit und seines Einflusses, 1496 erschienen seine Predigten, aber 1498 wird er bereits vom Volk im Stich gelassen, so daß der Papst die Macht hat, den ihm unbequemen Kritikus hinrichten zu lassen.

Nun herrschte aber damals überall in Europa eine ähnliche historische Situation, also erlebte man auch überall zur gleichen Zeit denselben Umschwung in der Kunst, dieselbe sogenannte Verinnerlichung. Aus demselben Grunde fanden auch Savonaralas Reden weit über Italien hinaus ein lautes Echo. Deshalb, deshalb allein. Nicht aber darum, weil man von Savonarola hörte, fielen die Götter der Freude von ihren Stühlen. –

Aber die Herrschaft der Askese konnte trotzdem nur eine ganz vorübergehende sein. Die Siegkraft der ungeheuren wirtschaftlichen Mächte war auf lange hinaus unüberwindlich und jedenfalls so groß, um einer Reaktion vorerst immer relativ rasch wieder Herr zu werden. Immer wieder mußte im Leben und darum auch in der Kunst die glühendste Sinnlichkeit, die alles, auch das Nichtigste wie in einen goldenen Mantel einhüllte, von neuem siegend und herrschend werden. Und als Gesamtbild konnte darum nur eines aus diesen Heimsuchungen resultieren: Ein Auf und Nieder in der großen Entwicklungslinie der Renaissance; daß Perioden, die von Kraft strotzen, von Perioden weicher Sinnlichkeit und von solchen glühendster Lüsternheit unterbrochen wurden. Andererseits bedingten diese Faktoren aber wiederum eine Steigerung ihres Inhaltes, die Vertiefung der köstlichen animalischen Auffassung des Körperlichen in der Richtung der psychischen Verinnerlichung, um schließlich nach alledem und mitten aus alledem heraus zu jener strahlenden Schönheit emporzusteigen, auf deren Sonnenbahnen ein Tizian, ein Michelangelo, ein Rubens und zahlreiche andere gegangen sind.

 

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Mit der Eroberung des körperlichen Menschen setzte die Renaissance ein. Damit mußte sie einsetzen. Von ihm mußte sie zuerst Besitz ergreifen, denn die Geheimnisse seiner physiologischen Körperlichkeit mußte sie logischerweise zuerst ergründen. Sie mußte damit anfangen, den Menschen in seiner absoluten Realität nachzubilden lernen, und sie mußte weiter als Nächstes und Wichtigstes die Bewegungsgesetze des nackten menschlichen Körpers feststellen. Denn der Mensch als höchste Erscheinungsform der Wirklichkeit war ja Wesen, Ausgangspunkt und Endpunkt aller Wirklichkeit, deren Basis und deren Gipfel.

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Galante Schäferszene. Nach einem Gemälde von Boucher. Im Auftrage Ludwigs XV. für das Boudoir der Marquise von Pompadour gemalt. 18. Jahrhundert

Das war die erste Aufgabe, die der neuen Epoche, in die die Menschheit trat, entstand. Und diese Aufgabe wurde auch sofort aufgegriffen und erfüllt. Aber wohlgemerkt: Nicht deshalb jetzt erst, weil sie früher absolut nicht möglich gewesen wäre, sondern weil sie jetzt erst gesellschaftliches Bedürfnis geworden war. Es ist dies im letzten Grunde ganz derselbe Vorgang wie bei technischen Umwälzungen. Den menschlichen Körper lernte man in dem Augenblick richtig nachbilden, als der körperliche Mensch durch die historische Entwicklung wieder wie einst in der Antike zur Hauptpointe der Wirklichkeit, zum Mittelpunkt und zum Hauptzweck alles Lebens wurde. In weiten Kreisen, und selbst von sehr klugen Köpfen vertreten, ist heute noch die Meinung verbreitet, man habe im Mittelalter die organisch-richtige Nachbildung des menschlichen Körpers infolge der angeblichen äußeren Folge der Askese, der hermetischen Verhüllung des Körpers vor den Blicken, verlernt. Diese Ansicht ist durchaus irrig. Die körperliche Nacktheit war für den mittelalterlichen Künstler niemals eine Terra incognita. Abgesehen davon, daß jeder Künstler doch stets an sich selbst sehen konnte, wie der nackte Mensch aussieht, hatte er es kaum jemals in der Geschichte, seit dem Altertum, so leicht, die körperliche Physiognomie auf ihre Richtigkeit nachzuprüfen. In einer Zeit, in der alles, hoch und nieder, jung und alt, völlig nackt zu Bette ging, hatte man wahrlich die denkbar reichste Gelegenheit, die Nacktheit zu studieren. Aber etwas anderes hatte man eben nicht: das Bedürfnis dazu. Und dieses mangelnde Bedürfnis entsprach derselben historisch-ökonomischen Basis, der die religiös-dogmatische Lehre entsprang, die im menschlichen Körper im letzten Grunde nur einen erbärmlichen Madensack sah, nur die vergängliche Hülle der Seele. Nur dieses wollte man im Körperlichen sehen, also stellte man diesen so dar. Erst als sich diese Voraussetzung änderte und der Mensch zum wichtigsten Instrument der Geschichte wurde, konnte der menschliche Körper der Begriff der Vollkommenheit und das Mittel höchster Freuden werden. Als dieser Zeitpunkt eintrat, mußte für den Künstler das Schwelgen im Nackten ebensosehr das Ziel werden. Dieses letztere war die Hauptsache und das Thema nur die Formel, in der man diese Tendenz erfüllte. Darum waltete derselbe Drang, ob man die Taufe Christi oder heidnische Göttersagen künstlerisch nachschuf.

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77. Galanter Kupfer. 18. Jahrhundert. Buchillustration

Als die historisch-ökonomische Entwicklung zu diesem Punkte geführt hatte, stellte sich selbstverständlich auch das ein, was ebenfalls eine Vorbedingung der Lösung dieser Aufgabe war: Die Kenntnis der Gesetze, von denen die Maschine Mensch bewegt ist. Am das Körperliche in seiner organischen Gliederung harmonisch und somit künstlerisch richtig wiederzugeben, reicht das bloße Vorhandensein des Modelles nicht aus, es müssen auch die Bewegungsgesetze in ihrem Wesen bekannt sein. Darum mußte auch die Wissenschaft eine bestimmte Höhe erreicht haben und im Dienste der ökonomischen Interessen der Zeit eine bestimmte Tendenz verfolgen. Dieser Zeitpunkt trat jetzt ebenfalls ein. Das Mittelalter kannte in der Kunst nur den Schemen: Der Körper war nichts anderes als der Schatten der Seele. Der Schemen mußte jetzt Fleisch werden. Das psychische Motiv mußte sich unbedingt in ein physisches, ein Bewegungsmotiv, umsetzen. Das heißt: Der Körper mußte wirklich von der Seele durchdrungen werden; also galt es, jeder seelischen Regung die ihr entsprechende Bewegung zu finden, und weiter, zu erkennen, daß jeder seelischen Regung eine bestimmte Bewegung, eine bestimmte Linie adäquat ist.

Aus demselben Grunde kam man jetzt auch zur richtigen Darstellung der Natur, der Struktur der Landschaft, der Pflanzen usw., die man doch auch das ganze Mittelalter hindurch vor Augen gehabt hatte und doch nicht oder nicht in ihrem Wesen künstlerisch richtig wiederzugeben vermocht hatte. Jetzt aber wies die Erkenntnis die Zusammengehörigkeit nach, daß der Mensch mitten in der Natur steht. Und nachdem die Anatomie aus einer Sünde, aus einer Gotteslästerung zu einer Wissenschaft wurde – wenn man sich vorerst auch mit Formeln begnügte –, wurde alles anatomisiert, auch die Natur. Wiederum aus denselben Gründen wurden jetzt auch die Gesetze der Perspektive von der Kunst untersucht, begriffen und richtig angewandt.

Dies ist in seiner Gesamtheit die große Errungenschaft der Renaissance. Die besondere Größe dieser Errungenschaft besteht darin, daß die Renaissance dadurch sozusagen die höchste wissenschaftliche Erkenntnis des 19. Jahrhunderts antizipierte. Nämlich die Formel alles menschlichen Geschehens, welche lautet: »Ich bin, darum denke ich« und nicht: »Ich denke, also bin ich«. In der kongenialen künstlerischen Verkörperung dieser gewaltigen Einsicht besteht im letzten Grunde die ungeheure Größe der Renaissance. Daß dies bis heutigen Tages der zünftlerischen Kunstgeschichte noch nie zum Bewußtsein gekommen ist, ist nicht das geringste Defizit, das dem Mangel einer Naturgeschichte der Kunst und einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen geschriebenen Kunstgeschichte entspringt. –

 

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Die sinnliche Urkraft dieser Zeit offenbart sich vor allem in der sinnlich-erotischen Auffassung religiöser Motive. Die Muttergottesbilder sind darum vielleicht die bezeichnendsten Dokumente des in allem expansierenden sinnlichen Empfindens dieser Epoche. Man malte nach wie vor immer noch religiöse Bilder. Aber freilich nicht nur weil der Hauptauftraggeber der Künstler noch auf lange hinaus die Kirche blieb, sondern auch aus anderen Gründen. Wohl hatte das Leben in der Renaissance einen anderen Inhalt bekommen und es sind damit neue Denknotwendigkeiten und neue Bewußtseinsinhalte entstanden. Aber eine dementsprechend neue Ideologie, die sich von der alten rein religiösen Anschauung der Dinge bewußt abkehrte, mußte sich um so langsamer entwickeln, als die neuen herrschenden Klassen gar keinen Grund hatten, die alte Ideologie zu zerstören, sondern im Gegenteil ein sehr großes Interesse, daß sie den Massen erhalten blieb. Die Religion, mit der man seither die Massen im Zaume hielt, konnte sich auch in Zukunft bewähren. Soweit trotzdem eine neue Ideologie aufkam, und das war im Humanismus der Fall, blieb sie ein Reservatrecht der Besitzenden. Hieraus erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch, warum speziell in Italien, wo der Humanismus in den kirchlichen Würdenträgern seine bedeutendsten Vertreter hatte, gerade die Humanisten den geringsten Anlaß nahmen, sich von der päpstlichen Kirche abzukehren. Aber wenn man es auch verhindern konnte, daß der Inhalt der Kunst verweltlicht wurde, so war man doch dagegen machtlos, daß dies bei ihren Formen geschah, denn diese war die unbewußte Ausstrahlung des neuen Bewußtseinsinhaltes. An Stelle der gotischen Dome traten in Italien die festsaalmäßigen Renaissancekirchen und an Stelle der asketischen Heiligenbilder die mit erotischer Sinnlichkeit getränkten Darstellungen der biblischen Geschichte. Wie malte man jetzt vor allem die Madonnen! Jede Frau ist ein Gefäß unaussprechlicher Wollust – so lautete die Philosophie der Zeit. Und von dieser Philosophie erfüllt, malte man auch die Heiligenbilder. Man schaue sich einmal die Darstellungen der Jungfrau Maria daraufhin an. Maria wird von der Himmelskönigin jetzt zur Liebeskönigin. Ihre Schönheit wird eine rein sinnliche. Der Anblick ihres Busens und ihrer sonstigen fraulichen Formen erweckt alles andere, nur keine überirdischen Gedanken und Wünsche. In der Darstellung der Verkündigung ist sie die erotisch erglühende Jungfrau, vor deren Seele sehr verführerische und sehr irdische Vorstellungen auftauchen. Von ätherischer Keuschheit ist da keine Spur mehr vorhanden. Wenn sie das Jesuskindchen stillt, ist das für den Maler oft nur eine Gelegenheit, eine schöne junge Frau pikant zu dekolletieren. Wenn man sie älter darstellt, stellt man sie nicht als wunschlose alte Matrone dar, sondern im Gegenteil mit der Pikanterie der jungen Witwe. Auf diese Weise wurden aus den Heiligenbildern im letzten Grunde direkt erotische Bilder. Nur das leiblich Schöne wollte man darstellen, und darum mußte es zu der eben genannten Wirkung kommen. Und das war auch um so naheliegender, als in derartigen Marienbildern nicht selten gerade solche Frauen verewigt wurden, deren hauptsächlichster Wirkungskreis der Alkoven gewesen ist. Man denke nur an die berühmte Darstellung der Agnes Sorel, la belle des belles, gemalt von Jean Foucquet, in der Antwerpener Galerie. Als Madonna mit dem Jesusknaben auf dem Arm, offenbart sie die ganze Pracht ihres wegen seiner Schönheit berühmten Busens. Das ist die Hauptsache am ganzen Bild. Einzig um die Offenbarung dieser Schönheit war es zweifellos allen zu tun, die bei dem Bild in Frage kamen: dem Maler, dem Auftraggeber und dem Modell. Das Motiv der Mutter Gottes war dazu nur die Formel. (Bild 26.) Nicht uninteressant ist auch, daß in dieser Zeit aus den meisten Darstellungen der Jungfrau Maria der biedere Joseph verschwand. Maria offenbart ihre Schönheit nicht dem Gemahle, sondern den anderen. Da braucht man ihn natürlich nicht dabei; um ihn handelte es sich ja nicht, sondern einzig um sie und um die anderen. Dieser erotische Charakter der Heiligenbilder ist logischerweise noch viel offenkundiger bei Motiven, bei denen es sich überdies um etwas Erotisches selbst handelte, wie z. B. bei der Darstellung der büßenden Magdalena. Die büßende Magdalena wurde um diese Zeit eine schöne Sünderin, »die alles begreiflich macht«, und ihr Anblick läßt nichts weniger als Gedanken von Zerknirschung und Reue aufkommen. Man denkt viel eher an die Mysterien des Alkoven als an die Schrecken des Fegefeuers.

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78. Deshayes: Susanna im Bade. Kupferstich. 18. Jahrhundert

Bei Bildern für weltliche Besteller holte man auch das Alte Testament herbei. Und was hier vor allem? Nun ebenfalls mit Vorliebe jene Geschichten, bei denen es sich um erotische Motive handelte: »Joseph und die Potiphar«, »David und Bathseba«, »Susanna im Bade« usw. In solchen Motiven konnte sich der Drang nach sinnlicher Betätigung natürlich restlos und mit vollstem Behagen ausleben. Aber auch diese Motive reichten noch nicht aus, den mächtigen sinnlichen Drang im Bildlichen zu stillen, und zwar nicht zum wenigsten, weil eben die christlichen Ideengänge dem Inhalte der Zeit nicht entsprachen, und zwar am wenigsten dem Denken derer, die als Bildkäufer in Frage kamen. Ihnen entsprach viel mehr der Gedankeninhalt der Antike. Indem man in der Kunst auf die Antike zurückgriff, wurde der ganze Olymp wieder lebendig. Er wurde die künstlerische Ideologie der Besitzenden. Natürlich wurde nicht wahllos an die Antike angeknüpft; was man von ihr entlehnte, wurde von der spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt, in der man sich damals befand. Im 16. Jahrhundert, ja sogar schon im 15. Jahrhundert war das Bürgertum nicht nur längst aus seinem Heroenzeitalter herausgetreten, sondern infolge der kolossalen Entwicklung des Kapitalismus hatte das gesellschaftliche Leben schon immer mehr Ähnlichkeit mit der Zeit des untergehenden Roms zur Kaiserzeit bekommen. Diese Ähnlichkeit führte dazu, daß man an die Kunst des Roms zur Kaiserzeit anknüpfte, wenn man auf die Antike zurückgriff. Die künstlerischen Vertreter jener Epoche wurden die besonders beliebten Vorbilder. Begeisterte man sich ehedem für die antiken Helden, so trank man jetzt mit den antiken Genießlingen, mit den Ovid und den Martial Bruderschaft. Und wenn man Jupiter, Mars, Venus, Juno, Diana und andere Götter und Göttinnen des Olymps darstellte, so in jenen Situationen, die einem schwelgerischen Genußleben entsprachen. Man malte die Hunderte von Götterliebschaften und stets die pikantesten Episoden daraus. Damit war natürlich der Stoffkreis ins Unermeßliche gestiegen und ein geradezu unerschöpflicher geworden. Wenn man aber bei der Darstellung der Jungfrau Maria nur die zeitgenössische Auffassung von Frauenschönheit malte, so malte man auch in den antiken Göttern und Göttinnen nur sich; man verherrlichte sich, sein eigenes Leben. Es war nichts weniger als etwas Abstraktes, wenn man Neptun in kühner Umarmung mit einer Nymphe zeigt, die Satyrn bei der Belauschung der Diana, Jupiter bei Semele usw., sondern es war das eigene Genußleben, die selbstgekosteten Freuden, denen man leuchtende Altäre errichtete. (Bild 2, 24, 25, 27-37, 40, 43, 44, 45; Beilage, Versuchung des heiligen Antonius)

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79. Eluin: Die Versuchung des heiligen Antonius. Farbenkupfer. Um 1780

Wenn über alles dieses, und vor allem über diese speziellen Zusammenhänge mit der niedergehenden antiken Kunst kein Zweifel sein kann, so ist doch der Umstand nie aus den Augen zu lassen, daß es sich in der Renaissance um eine aufsteigende Periode der geschichtlichen Entwicklung handelte. War das antike Vorbild eine Epoche des Niederganges gewesen, der Ausklang einer Kultur, so war man jetzt bei aller Zügellosigkeit im ersten Anstieg, und die Ausschweifung war mehr eine Vergeudung überschüssiger Kräfte. Darum verklärte sich dieses auch alles, und darum wurde der künstlerische Niederschlag kein Zerfalls-, sondern trotzdem ein Höhenprodukt.

Wenn selbst das Heiligenporträt in dieser Zeit erotisch wurde, mußte es auch das profane Frauenporträt werden. Und das war auch im höchsten Maße der Fall. Als Beweis schaue man sich nur einmal die Bildnisse der berühmten Simonetta von Boticelli an. Ihre Darstellung ist fast immer eine ausgesprochen erotische. Der frauliche Reiz ihres schönen Busens ist die Hauptsache. Simonettas Büste fesselt immer zuerst die Blicke, auch wenn das Kostüm nicht mehr als die schöne erhabene Wölbung des Busens erkennen läßt. Die Phantasie konstruiert selbstschöpferisch stets eine vom Mieder gebändigte schwellende Brust. Natürlich ging man auch weiter: das Schultertuch wurde bei unzähligen Frauenporträts weit auseinandergefaltet, so daß man den Busen, dieses erhabenste erotische Wunder der Schöpfung, in all seiner Pracht sieht. Mit Wollust entkleideten die meisten Maler dieser Zeit ihre Modelle vor den Blicken der Welt. Es gibt eine ganze Reihe von Frauenporträts aus der Renaissance, bei denen man mit der Annahme nicht fehlgeht, daß es bei der Darstellung hauptsächlich um die Demonstration eines schönen Busens zu tun gewesen ist, daß vor allem diese Schönheit offenbar werden sollte, und daß es Modell und Maler sozusagen am meisten um dessen Porträtähnlichkeit zu tun gewesen war. Bei einer solchen Auffassung konnte man sich mit der Entschleierung des Busens allein nicht begnügen, sondern man mußte die Schönen am liebsten bis aufs Hemd ausziehen. Und zahlreiche berühmte Renaissanceschönheiten waren damit auch vollkommen einverstanden und ließen sich völlig nackt porträtieren. In dieser Weise hat sich die schöne Diana von Poitiers malen lassen, die Herzogin von Urbino, Fornarina, die Geliebte Raffaels, und so stellten auch noch zahlreiche andere zeitgenössische Damen ihres Leibes Pracht willig zur Schau. Julia Farnese, die durch ihre Schönheit wie durch ihre Liebeskunst berühmte Papsttochter, ließ sich sogar für ihr Grabmal in der Peterskirche nackt in Marmor nachbilden. Und beides ist ganz organisch: die Lust des Künstlers und die Bereitwilligkeit des Modells; beides waren notwendige Ergebnisse des schöpferischen Dranges der Zeit. Kraftfülle drängt stets dazu, sich zu offenbaren. Und selbstherrlich korrigiert sie darum den Anstandsbegriff der öffentlichen Sittlichkeit nach ihren Wünschen.

Die erotische Deutlichkeit der Renaissance erreichte ihre höchste Höhe im 16. Jahrhundert. Auf die asketischen Umwandlungen um die Wende des 15. Jahrhunderts folgte eine Reaktion der ausgelassensten Sinnlichkeit. Diese Reaktion war wohlbegründet. Nicht nur, daß um diese Zeit die revolutionäre Flutwelle in Europa kulminierte, – die von neuem gesteigerte Sinnlichkeit war sogar bis zu einem gewissen Maß ein Gegengift gegen die gesteigerten Gefahren des Lebens: Man wollte auf diese Weise die Angst übertäuben. Das »heute rot, morgen tot« peitschte die Genußsucht und die Lebensfreude um so mehr an, als man gesehen hatte, daß auch die Zerknirschung nicht vor den Heimsuchungen der Syphilis bewahrt hatte. Corregio einerseits, Giulio Romano andererseits sind die Gipfel dieser Entwicklung. Von diesen Künstlern kann man wohl sagen, daß sie das Nackte niemals ohne direkt wollüstige Sinnlichkeit zu empfinden vermocht haben. Es gibt sicher nichts Erotischeres als das berühmte Bild »Jupiter und Jo« von Corregio im Wiener Museum – die erotische Ekstase der Frau bei der Umarmung (Bild 28). Ein ebenso klassisches Beispiel für die erotische Auffassung aller Motive ist »Die schlafende Venus« von Poussin. Die schlummernde Venus hat obendrein in dem Augenblick, als sie der Satyr frech entblößt, wollüstige Träume (Bild 52).

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80. Kupferstich von E. de Ghendt nach Baudonin. Aus der Serie Le Matin, Le Midi, Le Soir, La Nuit

Giulio Romano war einer der kühnsten Erotiker der italienischen Renaissance. Repräsentiert der schon weiter oben genannte Francesco Cossa die geheimnisvoll flüsternde Zartheit der erwachenden Sinnlichkeit, die langsam aufdämmernde Renaissance, so der hundert Jahre später schaffende Giulio Romano die schon im Taumel überschäumende, strotzende Kraft, die stürmisch begehrt und genießt. Bei Giulio Romano kam die Sinnlichkeit sozusagen zu ihren letzten Rechten. Der Moment, den er aus der Verführung der herrlichen Olympia durch Zeus sich zur Darstellung ausgewählt hat, läßt an Klarheit und Deutlichkeit gewiß nichts zu wünschen übrig (Bild 40). Wonach der zum Drachen gewandelte Zeus strebt und was die schöne Olympia dem brünstig sich nahenden Gotte keinen Augenblick ernstlich wehren wird, ist so einfach und dabei so überzeugend wie nur möglich dargestellt, jeder Irrtum ist da ausgeschlossen, denn jeder symbolische Umweg ist, wie man sieht, vermieden. Angesichts dieses Freskos kann man nicht bestreiten, daß es nicht nur vom Standpunkte der Sittengeschichte, sondern auch von dem der Kunst tief zu bedauern ist, daß die sechzehn direkt erotischen Gemälde, die Giulio Romano im Auftrage Leos X. gemalt hat, restlos verschwunden sind. Giulio Romano hat in der deutschen Kunst sein Seitenstück in Peter Flötner. Aber nur was die erotische Kühnheit anbetrifft; an künstlerischer Gestaltungskraft steht Flötner höher. In dem trefflichen nürnberger Meister manifestierte sich die ganze Urkraft der deutschen Renaissance, und als imponierende Beweisstücke dieser Kraft werden immer jene kühnen Kompositionen, wie der herrliche Holzschuher-Pokal, den wir an anderer Stelle zu reproduzieren gedenken, zu gelten haben. Flötners Werke sind neben denen des Nikolas Manuel in dieser Richtung zweifellos die bedeutsamsten für die deutsche Renaissance. Es ist das vollsaftige, genußfrohe deutsche Bürgertum in seinem schöpfungsfreudigen Anstieg, das sich in solchen Werken spiegelt. Derb, ausgelassen, zügellos bis zum wagehalsigsten Zynismus wagte man zu sein; aber jede Nervenfaser war gesund, das Rückenmark war noch nicht angegriffen. Und das rechtfertigt sowohl die Modelle als auch seine Gestalter, wie es die künstlerischen Dokumente dieser Kraft gleichzeitig zu ewigen Kunstwerken stempelte (Bild 41, 42, 157, 160 u. 161; Beilage »Mönch und Nonne«). Im besonderen muß auf den köstlichen Bilderscherz »Der lüsterne Alte« von Lukas Cranach verwiesen werden. Es ist der köstlichste erotische Bilderscherz, der sich denken läßt. Natürlich ist es nur die Hand des Alten, nach der die Linke der jungen Frau greift, und nur unkeusche Augen sehen hier ein lüsternes Renaissanceweibchen, das mit einem famischen Alten zärtliche Liebesspiele treibt (Bild 47).

Von direkt erotischen Gemälden ist aus dem 15. und 16. Jahrhundert nicht allzuviel erhalten geblieben. Aber solche Gemälde wie »Neptun und Nymphe« des Barend van Orley (Bild 30) und ähnliche sind zweifellos nur die spärlichen Reste eines ehemals reichen Gutes, denn eine ganze Reihe zeitgenössischer Notizen berichtet von derartigen Darstellungen. Um so mehr hat sich in der Kleinkunst an direkter Erotik erhalten, im Holzschnitt, im Kupferstich, in der Plakettenkunst, – hierher gehört vor allem Flötner – in den Emaillearbeiten, kurz in den Reproduktionskünsten. Weil hier von den meisten Werken eine ganze Reihe Abdrücke oder Abgüsse hergestellt wurden, konnte das Allzukühne dem Reinigungseifer späterer Zeiten nicht so restlos zum Opfer fallen wie in der großen Kunst. Zum Beweis genügt es, die Namen Beham, Aldegräver und Virgil Solis zu nennen; in den Werken eines jeden von diesen strotzt es von handgreiflicher Erotik. Mit Behagen haben sie die ganze Wirklichkeit der Liebe dargestellt. Sie haben dutzendmal ihre Beschauer hinter die Hecken der Gärten geführt, wo der unternehmende Landsknecht mit einer nichts weniger als spröden Dirne schäkert (Bild 49), sie haben den Beschauer in die Schenken geleitet, wo hübsche Frauen trotz alles Sträubens es nicht allzusehr verübeln, wenn ein kecker Bursche verwegene Handgriffe wagt. Ebenso haben sie manchen Blick in den verschwiegenen Alkoven tun lassen, wo der zärtliche Gatte, und noch häufiger der begünstigte Hausfreund zu seinem letzten Rechte kommt. Wenn sie dann unter diese Bilder »Der verlorene Sohn« oder »Joseph und die Potiphar« und ähnliche Titel schrieben, so liegt der Knüppel nur allzu sichtbar beim Hund. Es war nur der vorgeschützte Grund, um sich mit dem »Laster«, das ja so schön war, recht eingehend und recht oft beschäftigen zu können. (Bild 2, 50, 53, 59, 166.)

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Le Prince: Le Curieux. Galanter französischer Kupfer. Um 1780

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81. J. B. Huet: Bäuerliche Scherze. Farbenkupfer. Um 1780

Ein überaus häufiges Motiv, speziell in der deutschen Kleinkunst, das ebenfalls das Sinnlich-Schöpferische der Renaissance dokumentiert, sind die Tierbegattungsszenen. Hühner, Enten, Hunde, Hirsche, Pferde, Schafe, Ziegen, Schweine, Stiere – kurz alles, was da kreucht und fleucht, wurde mit Behagen beim Liebesgeschäft dargestellt. (Vgl. Ergänzungsband »Renaissance« meiner Sittengeschichte.)

In der italienischen Kleinkunst ist der fruchtbarste Meister auf dem Gebiete direkter Erotik Agostino Carraci und die sich ihm angliedernde Schule gewesen. Carraci hat seine Zeit wohl am besten verstanden, denn seine erotischen Kupferstiche müssen in großer Menge verbreitet gewesen sein, immer und immer wieder stößt man auf sie. Carraci gehört zu jenen, die ihre Stoffe mit Vorliebe aus dem Olymp geholt und diesen bei seinem allerintimsten Tun abkonterfeit haben. Als Probe seiner Manier und der Eleganz, mit der er diese Probleme behandelte, verweisen wir besonders auf die reizende Darstellung der »Toilette der Venus« (Bild 61; vgl. auch Bild 54, 55 und 159). Die Stiche von Carraci wurden auch in späteren Jahrhunderten immer wieder nachgestochen, so groß und so andauernd war der Beifall, den sie gefunden haben.

War Gott Priapus offiziell auch längst entthront, so spielte er in der Renaissance doch noch eine ganz respektable Rolle. Ganz naturgemäß, denn er ist doch die klarste Verkörperung des schöpferischen Prinzips. Außerdem kehrten mit dem Kultus der Antike auch dessen Symbole in der Erotik wieder. Und darum tauchte Priap besonders in Italien an allen Ecken und Enden wieder auf. Bacchusfeste wurden wieder mit Vorliebe dargestellt, und vor allem Opfer des Priaps, teils als Einzelblätter, teils als Buchillustrationen und Buchvignetten, wie z. B. im Poliphilo (Bild 24 und 385) usw. Auch in den zahlreichen Nachbildungen der antiken Gemmen, die in der Renaissance gemacht wurden, erlebte Gott Priap seine fröhliche Auferstehung. In Deutschland bot besonders das beliebte Jungbrunnenmotiv eine günstige Gelegenheit, Priap vorzuführen. Und zwar als Spender des Lebenswassers. Das Wasser, das er spendet, ist es, dem jene verjüngende Kraft innewohnt, die wieder jung macht, wenn man sich in ihm badet. Die Verführung, hier Priap in der Figur des Wasserspenders einzuführen, war um so naheliegender, als die naiven Vorstellungen, Sprichwörter und Scherze über die Verjüngerungskraft von Priaps begehrter Gabe, die im Volksmunde kursierten – »Sie macht die ältesten Weiblein wieder jung«, – überaus zahlreich gewesen sind (Bild 3). In gleicher Weise verwendet begegnen wir Priap auch in Frankreich. Im Louvre befindet sich unter den bezaubernden Limoger Emaillearbeiten eine ganz wundervolle Darstellung eines Jungbrunnens, und zwar in einer ganz eigenartigen Auffassung. Ein viereckiger, von einer Mauer eingefaßter Raum bildete den Jungbrunnen: Rechts baden vier Frauen, und links steht eine stolze Priapsäule, die in der bekannten Weise als Wasserspender dient. Auch diese Verwendung Priaps ist, wie wir wissen, nur eine Reminiszenz aus der Antike (Bild 22). So wurde die humanistische Wissenschaft in die Kunst übersetzt.

An Erotik gab der Norden dem Süden nichts nach. Das rein Erotische triumphierte sogar in den Gemälden des Peter Paul Rubens mächtiger, strahlender und vor allem eruptiver wie sonstwo. Die Mehrzahl von Rubens' Bildern sind direkt erotische Orgien. Man denke nur an das unvergleichliche Kirmesbild im Louvre, das alle Stadien urwüchsigen erotischen Genießens gestaltet. Dieses herrliche Werk ist nichts anderes als ein Hohes Lied der Erotik, eine Verherrlichung der Sinnlichkeit als Urkraft des Lebens. Um dieses Lied würdig zu gestalten, mußte Rubens sich natürlich den Typ der menschlichen Urkraft, den Bauern, auswählen (abgebildet in dem Band »Renaissance« meiner Sittengeschichte). Das ideale Seitenstück dazu ist das unvergleichliche Venusfest in der Wiener Galerie. Freilich darf bei einem Manne wie Rubens und in der Zeit des beginnenden 17. Jahrhunderts der Begriff »ideal« nicht etwa mit »vergeistigt« übersetzt werden. Denn nichts weniger als entmaterialisiert ist auch hier, wie man weiß, die Sinnlichkeit.

Das ganze Werk von Rubens ist verkörperlichte Sinnlichkeit. Sinnlichkeit ist Feuer, denn Feuer ist Leben. Feuer freilich nicht als zerstörendes Element, sondern als die höchste Kraft, als die gewaltigste Potenz. Rubens' Werk ist ein derart flutendes Feuer. Und es tritt uns vor allem in der Gestalt von sinnlich erregten Lebewesen entgegen. In den Bildern von Rubens ist alles sinnlich erregt: Männer, Frauen, Tiere, ja selbst die Pflanzen. Die Rubensschen Frauen sind nur dazu da, sinnliche Wünsche zu wecken, sinnliche Wünsche auflodern zu lassen, in diesen Fluten weiblicher Herrlichkeit unterzutauchen und sinnliche Wünsche zu erfüllen. Es sind ohne Ausnahme grandios gestaltete Tempel unermeßlicher Wollust, Tempel, die würdig sind, daß in ihnen immer und immer wieder der Liebe geopfert wird. Die Rubensschen Frauen haben gar keine andere Bestimmung als einzig diese animalische, ob es sich nun um Bäurinnen, um vornehme Damen der Antwerpener Gesellschaft, um Diana oder um die fromme Angelika handelt, an deren entblößter Schönheit sich die Geilheit eines alten Eremiten sättigt (Bild 58, 60 und Beilage »Der verliebte Schäfer«).

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82. Galanter französischer Kupfer nach einem Bild von Lawreince. 1785

Freilich offenbart sich das alles in der denkbar edelsten Form, in dem großen heroischen Stil eines durch und durch schöpferischen Zeitalters, der das Gemeinste vergöttlicht. Und darum erscheint hier die Geschlechtsliebe selbst in ihrer derbsten Auffassung, wie sie z. B. das Kirmesbild zeigt, immer als das heilige, imponierende Gesetz des Lebens, und niemals als genießlich meckernde Lüsternheit. Der Busen ist die Nährquelle des menschlichen Lebens, er ist das köstlichste Symbol der Gesundheit, der Kraft und damit auch der Schönheit. Seine hymnenhafte Verherrlichung ist der gewaltige Oberton in dem feurigen Hymnus, den das Werk Rubens' darstellt. Ist die Apothese des Fleisches das, was er insgesamt gestaltete, so ist ihm innerhalb dieses Programmes die Schönheit des weiblichen Busens das Wichtigste, und hundertmal demonstriert er ihn. Er malt die Frau nur in dem Alter, wo der Busen entwickelt sein muß, und er malt nur Frauen mit herrlichen Brüsten. Busen und schön sind für Rubens beinahe unzertrennliche Begriffe. Deshalb haben bei ihm alle, auch die alten Frauen, schöne Brüste. Immer und immer wieder malt Rubens Helene Fourment, seine Frau, aber er malt eigentlich nur ihren wundervollen oder richtiger: ihren Rubensschen Busen, und das gleiche tut er bei ihrer Schwester Susanna. Schaut, schaut, schaut! scheint er zu rufen, wenn er seine Frau malt. Er ist wie ein trunkener Gott, der sich selbst nicht sattsehen kann, und der, ein grandioser Verschwender, darum die ganze Welt bei dieser Pracht zu Gaste ladet (Bild 63).

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83. Venus und Amor. Erotische Buchillustration. 1771

Rubens steht mit seinem schwelgerischen Gebaren in Flandern nicht isoliert da, sowenig wie ein Tizian (Bild 27) in Italien oder ein Flötner in Deutschland. Seine Zeitgenossen, man denke nur an Jordaens (Bild 62), lieben genau so wie er das quappliche, das massige Weiberfleisch, – alles ist rubens'sch. Rubens ist nur die höchste Erfüllung dieser Tendenz. Daraus muß man auf das Organische schließen. Also darauf, daß der Rubenssche Akkord der Zeitakkord gewesen ist. Und vor allem, daß er die in der wirtschaftlichen Entfaltung Flanderns bedingte künstlerische Zeitnotwendigkeit gewesen ist. Und weil dies in der Tat auch das formende Gesetz ist, darum ist diese Kraft auch dort vorhanden, wo es sich statt um Menschen um Tiere, um Landschaften oder um Stilleben handelte. Die Sinnlichkeit als Lebensgesetz durchflutet die Blumenstücke der Flämen ebenso sichtbar, wie die in Wollust sich reckenden Leiber brünstiger Männer oder Frauen.

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84. Huet: Les nymphes non scrupuleuses. 1780

Das Werk von Rubens repräsentiert nicht nur die künstlerische Ideologie der Gebildeten im allgemeinen, es ist im besonderen das künstlerische Widerspiel der europäischen Thronbesteigung des fürstlichen Absolutismus. Die Rubenssche Kunst ist ebenso prunkvoll und demonstrativ wie dieser. Ihn hat Rubens symbolisch verherrlicht und ideologisiert. Es ist eine vergöttlichte Erotik, die Rubens gestaltete. Und Götter, die auf Erden wandelten, wollten die Repräsentanten des Absolutismus sein. Es sind die Heiligenbilder derer, die sich selbst anbeteten. In die Sammlungen der absoluten Fürsten, vor allem nach Spanien, wanderten auch von Anfang die meisten und die besten Bilder von Rubens. Es war der passendste Ort für sie.

Die im wahren Sinne des Wortes bürgerliche Kunst, die auf den Umweg über die Symbole der Antike verzichtete und in der selbsterlebten Wirklichkeit Form und Ideal suchte und fand, erstand, wie schon früher dargelegt wurde, erst im eigentlichen Holland. Und auch hier war es der sinnlich-erotische Inhalt der Dinge, was man mit besonderer Vorliebe gestaltete.

Gewiß holte man bei diesem Bestreben auch in Holland noch die erotischen Mythen der biblischen Geschichte und des Altertumes heran, aber sie wurden stets derart vermenschlicht, daß die Phantasie den klassischen Vorgang nicht mehr erst in die Gegenwart übersetzen mußte. Rembrandt radierte »Joseph und die Potiphar«, aber so wie er es tat, hatte es mit dem biblischen Stoffe gar nichts mehr zu tun. Es wurde einfach eine Darstellung weiblicher Geilheit, bei der der Name, unter dem die Sache läuft, gar nicht in Betracht kommt. Es ist viel eher die Darstellung einer mannstollen Frau, die irgendwo dort um die Ecke wohnte. Diese Frau weiß, daß einen Mann nichts mehr verführt, als wenn eine Frau zu ihm sagt: Ich will. Also sagt sie dem, auf den sie ihr Auge geworfen hat, in geilster Weise, daß sie will (Bild 65). Ähnlich verfuhr man mit den symbolischen Figuren, soweit man sie noch anwandte. Diana wurde zur strammen Holländerin, die selbst einen Herkules in ihren Armen zu zermalmen vermag, wenn er ihrer Lust Genüge tut. Der »Aufbruch des Adonis« wurde der Abschied eines vernünftigen Liebhabers, der bis in den frühen Morgen in glühender Liebe der schönen Geliebten zugetan war, der aber doch nicht vergißt, daß, wenn er noch eine halbe Stunde länger verweilt, die schlechtschlafende Nachbarin ihn beim Gehen erblickt und es dann bald die ganze Straße weiß, daß Jungfer Soundso ihrem Buhlen zu nächtlicher Stunde Einlaß gewährt hat. Aber so gegenwartsmäßig man auch die klassischen Stoffe gestaltete, sehr bald wurde auch auf diesen bloßen Schein der Unpersönlichkeit verzichtet. Als der bürgerliche Staat sich in der Weise in Holland durchsetzte, wie im ersten Teil gezeigt wurde, daß er gemäß der Größe der wirtschaftlichen Kräfte, die ihn in Holland entwickelten, zur Selbstherrlichkeit sich entfaltete, wurde man schließlich derart selbstbewußt, auch die eigene Erotik zum künstlerischen Vorwurf zu wählen. Die Sinnlichkeit wurde verbürgerlicht, indem man sie mit sich selbst personifizierte. Und auch dieser künstlerische Spiegel wurde großartig und imponierend, trotzdem das erotische Gebaren, das man verherrlichend darstellte, nichts weniger als salonfähig sich präsentiert. Es war die pralle, vollsaftige Derbheit in jedem Zuge. Man ißt tüchtig, man greift tüchtig zu, man nippt nicht bloß. Man liebt tüchtig, man tändelt nicht bloß. Oder: Das Nippen besteht in einem »Kuhmaul voll«, und das Tändeln sind kecke, verwegene Handgriffe, die man dann lachend als – »das Gefühl« symbolisiert (Bild 68, 69 und 73). Und dessen schämt man sich auch nicht im geringsten. Im Gegenteil, mit Protzenhochmut zeigt man immer und immer wieder, daß man Muskeln, Schenkel, Brüste, Waden hat (Bild 70). Hundert neugierige Blicke kann man aus dem gleichen Grunde in die Schlafstuben (Bild 66, 67 und 71) und in die Badestuben tun, wo man die kraftstrotzende holländische Weiblichkeit schließlich völlig nackt schauen kann. Indem die Holländer aber dieses Intimste vor den Blicken entschleierten, schrieben sie gleichzeitig mit unsichtbarer Schrift unter jedes einzelne Bild, daß sie Menschen sind mit Blut und starken Wünschen in den Adern, daß sie küssen können und geküßt sein wollen, und daß ihre Weiber des Taues der Liebe bedürfen wie die holländischen Wiesen des Regens.

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85. Honoré Fragonard: La Chemise enlevée. Louvre, Paris

Und nochmals muß es gesagt werden: Alles dieses ist groß und erhaben. Es ist wie Form gewordene Naturgewalt, wenn die holländischen Realisten die Götter und Göttinnen nach ihrem Bilde formen und nach ihrem Wunsche sich gebärden lassen, wenn sie aus Venus und Diana breithüftige und vollbusige Bürgerinnen machen, – dieses ist groß, weil hier nicht die spielerische Genußsucht am Werk ist, sondern weil das lebendig gewordene schöpferische Prinzip gestaltete …

Als Rembrandt und Franz Hals tot waren, stand die bürgerliche Welt überall auf den Füßen; das ökonomische Prinzip, auf dem sie sich aufbaute, hatte sich überall siegreich durchgesetzt. Aber sie trat gleichwohl jetzt in ein Stadium des Niederganges. Die Logik der Tatsachen war vorerst an der noch nicht genügend entwickelten Wirklichkeit zerbrochen. Die sich daraus ergebende Konstellation der wirtschaftlichen Mächte führte zum Interregnum der absoluten Monarchie, und damit mußte, gemäß der Gesetze, die wir oben entwickelt haben, jetzt auch ein ganz neues, im Wesen anders geartetes Kunstzeitalter einsetzen und die Formen der Renaissance ablösen.

 

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86. Vivan Denon: Die Kupplerin. Radierung. 1790

Rokoko. Die politische Logik der Tatsache, daß im 15., 16. und 17. Jahrhundert an Stelle der feudalen Wirtschaftsweise überall die Geldwirtschaft getreten war, wäre gewesen, daß sich daraus eine dauernde Herrschaft der Bourgeoisie entwickelt hätte. Dazu kam es nicht, weil die feudalen Widerstände noch zu stark und die Kräfte der Bourgeoisie noch zu schwach waren, die politische Macht des Königtums einzig in das Interesse der neuen wirtschaftlichen Mächte zu stellen. Darin bestand die vorhin genannte, nicht genügend entwickelte Wirklichkeit. In dieser historischen Situation mußte es auch zu einem allgemeinen geistigen Rückschlag kommen. Dieser Rückschlag drückte sich darin aus, daß die freigewordenen Kräfte, die die Fassungs- und Bändigungskräfte der Menschen überragten, diese unerbittlich auf die Abwege des Mystizismus führten. Diese Lebensphilosophie erwuchs aus dem scheinbaren Zusammenbruche des Geistes der neuen Zeit, der mit dem 15. und 16. Jahrhundert in die Welt gekommen war. Man fühlte sich allmählich alt. Aber man fühlte sich in Wahrheit nur deshalb alt, weil man ohnmächtig war, die Dinge konsequent weiterzuführen. Für das sinnliche Gebaren bedeutete dieser Bankrott der Logik in der historischen Entwicklung, daß an Stelle der gesunden Sinnlichkeit der Renaissance nun eine hysterische Sinnlichkeit trat. Dem Hysterischen entspricht aber stets das Perverse, und so war es ganz folgerichtig, daß man in der Kunst bei Behandlung erotischer Motive nun mit Vorliebe nach Stoffen forschte, in denen entweder ein perverser Einschlag vorhanden ist, oder die man pervers pointieren konnte. Solche Motive fand die Zeit z. B. in dem Stoffe »Lot und seine Töchter«. Es ist das Motiv der Blutschande, und gerade dieser Vorwurf wurde einer der beliebtesten der Zeit (Bild 57). Pervers ist ebenso die lüsterne Geilheit, mit der der Mönch die unbefleckte Maria umschwärmt; das Gegenstück dazu ist die brünstige Verliebtheit der hysterischen Nonnen in Jesus Christus. Auch jene ekstatischen Ausbrüche, wenn die büßende Magdalena brünstig den Stamm des Kreuzes küßt, sind nur erotische Orgien hysterischer Phantasien. Und alles dieses stellte man jetzt dar. Man begnügte sich jedoch, wie gesagt, nicht bloß damit, daß man direkt perversen Motiven den Vorzug gab, sondern die Kunst variierte außerdem zahlreiche andere Motive ins Perverse. Das Potipharmotiv wurde jetzt das geile Verlangen eines unbefriedigten alten Weibes nach der »Jungfrauschaft« eines Jünglings. Die Überraschung der »Susanna im Bade« durch die beiden Greise war nicht mehr nur die erotische Neugier, sondern die widerliche Brunst der Impotenz (Bild 78).

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87. Vivan Denon: Priapische Orgie. 1793

Zum Perversen gehört auch die Grausamkeit. Die Grausamkeit nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich. Man wollte die größte Buße erleiden für seine Sünden. Also zerfleischte man sich ununterbrochen selbst. Diese Art Selbstzerfleischung ist nur eine krankhafte Steigerung der Wollust, und wenn die Kunst jetzt ebenfalls mit Vorliebe in dem entsetzlichen Agathemotiv schwelgte, so ist das nur die entsprechende künstlerische Ausstrahlung des erotischen Paroxysmus der Wirklichkeit.

Diese Bewegung sehen wir überall in der Kunst einsetzen, als die wirtschaftlichen Antriebskräfte der Renaissance erlahmten. Ihren Gipfel mußte sie in dem Land erreichen, in dem dieser Zustand gemäß der gesamten historisch-ökonomischen Entwicklung am frühesten erreicht wurde und am klarsten sich herauszubilden vermochte. Das war in Spanien der Fall. Ribera und Murillo sind die berühmten Namen der spanischen Kunst jenes Zeitalters der Gegenreformation; sie beide verkörpern nun auch in der Tat in ihrem gesamten künstlerischen Werk im letzten Grunde nichts anderes als den herrschend gewordenen Mystizismus und eine durchaus perverse Sinnlichkeit. –

Die politisch-ökonomische Entwicklung gipfelte schließlich, wie man weiß, in der völligen Herausbildung des unumschränkten fürstlichen Absolutismus. Zu diesem kam es allmählich überall, aber durch den Übergang der Weltherrschaft von Spanien auf Frankreich am ausgeprägtesten in diesem Lande. Den Tendenzen dieser Entwicklung entsprachen der Reihe nach die Kunstformen des Barock und des Rokoko. Haben wir im Barock den künstlerischen Ausdruck, der dem gesellschaftlichen Sein der Blütezeit der absoluten Monarchie entspricht, so im Rokoko zugleich den Spiegel der widerstreitenden Mächte, die den Niedergang und die schließliche Auflösung des fürstlichen Absolutismus herbeiführten.

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88. Vivan Denon. 1792

Unumschränkte Einzelgewalt und unbeschränktes Verfügungsrecht über alle wirtschaftlichen Quellen des Staates müssen ihren Träger und die von ihm einesteils abhängige, anderenteils gestützte Klasse erst zum schwelgerischen und dann zum zügellosen Genußleben führen. Das ist ein unvermeidliches historisches Schicksal; welche Faktoren dies im einzelnen bedingen, werden wir weiter unten in dem entsprechenden Kapitel des zweiten Teiles noch darzulegen haben. Da nun, wie immer zu wiederholen ist, der Höhepunkt alles Genießens stets in den Freuden der Wollust gesucht wird, so folgt daraus, daß die Kunst, in der ein solches Zeitalter reflektiert, zu einer durch und durch erotischen wird. Und das ist das Rokoko. Das Rokoko ist in jedem Strich erotisch. Aber es ist eben die formgewordene Erotik des Genießers und nicht die des Schöpfers. Das Rokoko ist als Form zweifellos von einer unbeschreiblich bezaubernden Grazie. Es konnte das werden, weil sich dem Drange des Genießens auch nicht eine einzige Schranke entgegenzusetzen vermochte, und das Gesetz, das Leben zu einer sich fortsetzenden Reihe von Genüssen zu machen, darum restlos alle Fasern ausfüllen konnte. Nur dieses in der gesamten geschichtlichen Entwicklung einzigartige Ausleben des Genießens hat zu der ebenso einzigartigen Kunst des Rokoko geführt, bei dem jede Linie nur Ausdruck und Resultat des Anmutig-Spielerischen ist. Aber wenn man die künstlerische Feinheit und Delikatesse als Kunstform des Rokoko auch noch so sehr bewundern muß, so erheischt ihre Beurteilung dennoch eine wesentlich andere Wertung als z. B. die gleichartigen Schöpfungen der Renaissance. Und zwar eben auf Grund der Kräfte, die das Rokoko zeugten und erfüllten. Die erotischen Schöpfungen des Rokoko können unsere Bewunderung erwecken, aber sie können trotzdem niemals zum stolzen Kulturbesitz der Menschheit werden, der befreiend das Selbstbewußtsein in allen gesunden Menschen auslöst. Denn die Kräfte, die sie zeugten, waren eben nicht jene, die die Menschheit vorwärts und nach oben führen; es war nicht die himmelstürmende Kraft, die hier am Werke war, sondern die raffinierte Genußsucht, die im gesellschaftlichen Leben immer in einen erstickenden Sumpf einmündet. Wenn die Freiheit der Renaissance einen Rubens die Umarmung zweier Liebenden zu einem Dokument der menschlichen Kraftfülle erheben ließ, so machte im 18. Jahrhundert ein Baudouin aus demselben Vorwurf ein spielerisches Kunstwerk, bei dem ein hohes künstlerisches Können der gemeinsten Auffassung vom Sinnlichen untergeordnet wurde. Da aber das gesellschaftliche Sein die Form und den stofflichen Inhalt der gesamten Kunst bildet und bestimmt, so mußte das, was Baudouin charakterisiert, die stereotype Erscheinung in der gesamten Rokokokunst sein. Alles mußte zum spielerischen Genießen, zum raffiniertesten Genießen sich wandeln. Und so wurde es. Die Nachprüfung jedes einzelnen Motives und jedes einzelnen Meisters bestätigt das. Man denke z. B. nur an das Magdalenenmotiv. Für Tizian war die büßende Magdalena ein Motiv, dieses Erlebnis gewissermaßen ins Heroische zu steigern, in der Gegenreformation war sie der Vorwurf für die sich zerfleischende Hysterie, in der galanten Kunst des 18. Jahrhunderts wurde sie dagegen nichts anderes als die mit dem pikanten Odor behaftete Jungfrau, die sich eben in die Mysterien der Liebe hatte einweihen lassen. Die Reue der Büßerin des 18. Jahrhunderts wurzelt obendrein nur in der Angst vor etwaigen Folgen und darum schwelgt sie gleichzeitig in der angenehmen Rückerinnerung: aber schön war es doch. Ein anderes bezeichnendes Motiv für die spielerisch-raffinierte Auffassung der Erotik in der Kunst des Rokoko ist die allgemeine Einführung des heimlichen Zuschauers beim Intimsten, des sogenannten Voyeur. Der höchste Grad der sinnlichen Korruption, das Intimste aus dem Leben des Nebenmenschen, vor allem die Heimlichkeiten seines Liebeslebens zu belauschen, galt bei den männlichen und weiblichen Libertins dieser Zeit als der Gipfel des Genießens. Der unbeteiligte Zuschauer als »Voyeur«, der nicht selten auch eine Frau ist (Bild 77), ist die künstlerische Verherrlichung dieser Korruption; er ist in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eines der Hauptmotive der galanten Kunst, handelte es sich um das Belauschen einer Frau bei der Toilette, beim Bad oder beim täglichen Klistier – das Hauptmotiv! – so wird das Raffinement der Darstellung noch dadurch gesteigert, daß der Künstler die betreffende Dame in pikanter Weise als Mitwisserin entlarvt. Natürlich tut sie stets so, als ahne sie nichts von dem Lauscher auf seinem Beobachtungsposten. Aber indem sie bei all ihrem Tun stets eine möglichst pikante Stellung einnimmt, indem sie mit allen Umständlichkeiten einverstanden ist und geduldig bis zum letzten Augenblick ausharrt, verrät der Künstler ihre heimliche Mitwisserschaft; daß es ihr ein mindestens ebenso großes Vergnügen macht, sich bei diesem intimen Tun belauscht zu wissen. Ist solches naturgemäß viel mehr die Konstruktion des Lebens – »wie schön wäre es, wenn man es so träfe!« – als dieses selbst, so ist damit gleichwohl der Frau des 18. Jahrhunderts nichts unterschoben. Die Damen der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts spielten stets Theater, und sie wären wahrscheinlich am meisten beleidigt gewesen, wenn gerade hier das Publikum gefehlt hätte.

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89. Edm. de Beaumont: Verschmähte Liebe. 1850

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90. Wilhelm von Kaulbach: Die Erzeugung des Dampfes Karton zu einem projezierten Wandgemälde für eine Industriehalle. Um 1880

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91. Hans Makart. Aus dem Zyklus: Die Pest in Florenz

Die bildliche Darstellung der Frau in der Rokokokunst war ausschließlich erotisch. Die Zeit wertete sie nur als »Genußobjekt«, die Kunst präsentierte sie nur als erotischen Leckerbissen, ob Bäuerin oder Marquise, und darum im Porträt genau so wie im Genrebild. Das geschah auf die mannigfaltigste Weise. Die häufigste war, indem man die Frau mit Vorliebe in Situationen zeigte, die die Gedanken des Beschauers unbedingt auf das Liebesgeschäft hinlenken mußten; das pikant drapierte Himmelbett lockt z. B. dutzendemal als verführerisches Liebeslager aus dem Hintergrund. Ist es nicht das Bett, dann ist es irgendein Ort, der zur Liebe »wie geschaffen erscheint«. Noch auffälliger ist die typische körperliche Haltung der Frau. Ob eine Frau auf einem Bilde sitzt oder steht, ob sie träumt oder schläft, – die ihr vom Künstler verliehene Haltung ist stets eine günstige Gelegenheit für den Mann, es zu versuchen, die letzte Gunst bei ihr zu erlangen oder zum mindesten erotische Angriffe oder Scharmützel zu wagen. Immer ist sie in Erwartung dieses Augenblickes – er könnte kommen! er wird kommen! er muß kommen! – und immer ist sie zugleich die Frau, die bereits eingewilligt hat. Denn ihre Haltung oder Lage entspricht eben der, in die der Mann die Frau erst bringen muß, um zu einem Erfolg bei ihr zu gelangen. Das ist ihre Vorgabe an den Mann, und darin besteht ihre stille Aufforderung an ihn: wage es! Mit anderen Worten: die Frau ist nie anders als »bereits liebend« dargestellt. Auch aus ihren Mienen spricht nur dieses eine Thema. In dieser Darstellung besteht die raffinierteste Auffassung des 18. Jahrhunderts der Frau in der Rokokokunst. Ein Ausfluß dieses Raffinements ist auch, daß die von der Kunst gestaltete Frau in jedem Alter zur Liebe reizt; man verleiht schon der Jungfrau im frühesten Mädchenalter jene Rundung der Formen, die geeignet ist, sinnliche Begierden zu erwecken. Natürlich muß in diesem Rahmen auch der Mann so aufgefaßt sein. Verrät die Frau keine andere Lebensaufgabe, als sich möglichst oft verführen zu lassen, so der Mann nur die, zu verführen, und zwar ebenfalls schon im frühen Knabenalter. Schon der Knabe denkt an nichts anderes und beschäftigt sich mit nichts anderem. Er klettert nicht auf die Bäume oder Zäune, sondern spielt mit dem Busen einer hübschen Frau oder treibt andere Liebesspiele mit ihr. Und bereits mit zwölf Jahren ist er schon völlig reif zur »Liebe«. Die Sinnlichkeit des 18. Jahrhunderts ist eben nicht die Manifestation der Kraft, welche Reife voraussetzt, sondern nur Genuß und Spiel.

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92. Wiertz: Darf ich kommen?

Man – d. h. die regierenden Klassen des Ancien régime – lebte einzig dem Vergnügen, und als Vergnügen faßte man auch einzig die erotische Lebensbetätigung auf. Das Vergnügen kann man willkürlich verlängern, willkürlich ausdehnen und in zahlreiche Stationen zerlegen. Die erotische Ausschweifung dieses Zeitalters steigerte die sinnlichen Genüsse ins Endlose, hierdurch entwickelte sich eine neue, und zwar ebenfalls charakteristische Variation der Erotik in der Kunst. Hat das Drama einen einzigen Höhepunkt, in dem sich alles knotet und löst, so hat das Amüsement dagegen zehn, fünfzig, hundert Stationen. Die Kunst der Zeit mußte logisch nur der Illustrierung dieser Stationen dienen. Die erotischen Romane des 18. Jahrhunderts zerlegten die erotischen Genüsse in alle ihre einzelnen Bestandteile und beschrieben jeden einzelnen bis ins kleinste Detail. Die Handlung des Romans, auch wenn sie Monate umfaßte, beanspruchte fünfzig Seiten, die Schilderung einer erotischen Pointe, die im Erleben vielleicht eine Stunde füllte, beanspruchte hundert Seiten. Genau so verfuhr die Malerei. Das führte zur Serienmalerei. Jedes erotische Erlebnis ist in mindestens zwei oder drei, sehr häufig aber in noch mehr Bildern dargestellt. Man illustrierte die »Stufenleiter der Wollust«. Und jedes einzelne der Bilder trägt deutlich den Stempel, daß auch sein Zweck nur der war, das Vergnügen zu verlängern. Der kühne Former des Ewigen, als welcher der Renaissancekünstler sich zeigt, wurde als Rokokokünstler zum Verherrlicher und zum Anbeter des rein Animalischen in der Liebe. Das Werkzeug wurde zum Gott, und nicht die Kraft, die darin waltet. Und darum verwendete die Rokokokunst ihr ganzes Können auf die delikate Schilderung des rein Physischen. Das, womit beide Geschlechter der Liebe huldigen, wurde zum Fetisch für beide Geschlechter. Tausend Opferaltäre weihte die Kunst diesem Fetisch. Kein erotisches Attribut des menschlichen Körpers, keine Sekunde des erotischen Genusses, dem nicht ein hundertstimmiger Hymnus ertönte, keine künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers anders, denn als Instrument der Wollust. Nie wurden, wie schon gesagt, Mann und Weib anders denn »galant« aufgefaßt. Kein Bild ohne eine kleine Cochonnerie, selbst beim Vornehmsten ist sie irgendwo in einer verschwiegenen Ecke zu finden. Die Olympia des 18. Jahrhunderts hatte ihre Hand stets im Schoße des Zeus, Zeus stets die seine im Schoße der Olympia, und aus Zeus und Juno, aus Mars und Venus wurden obendrein Personen aus der Gesellschaft – das war wiederum das Raffinierte, denn das ist für die Phantasie des Beschauers am allerpikantesten. Es ist die bekannte Marquise A oder die ebenso bekannte Herzogin B, der man jeden Tag auf dem Wege nach Versailles begegnen kann, die auf dem einen Bilde ihrem Anbeter beim Kirschenpflücken die Gewißheit verschafft, daß ihre intime Schönheit sehr wohl sich lohnen würde, zu genießen, oder die sich auf einem anderen Bilde auf der Rasenbank beim ländlichen Feste bei aller Harmlosigkeit so zu setzen versteht, daß die verwegenen Hände ihres Kavaliers ohne jede Schwierigkeiten »den sicheren Weg zum Glück« finden müssen usw. usw.

Priap, dem man im Rokoko ebenfalls wieder begegnet, bekam natürlich auch eine entsprechend raffiniert-lüsterne Auffassung. Der letzte Rest dessen, was ihn zum Symbol des Schöpferischen macht, wurde ausgeschaltet. Durchgehends wurde er in dieser Zeit auf seinen sozusagen maschinellen Charakter reduziert. Er wurde einzig und allein Instrument der Befriedigung. Wenn er in der Renaissance immer noch in heiterer oder naiver Selbstherrlichkeit sich präsentierte, so im 18. Jahrhundert stets mit schwülen Hintergedanken. Und wurde einst das Menschliche an ihm vergöttlicht, so wurde jetzt das Göttliche an ihm raffiniert vermenschlicht. Er wurde stets dargestellt als ein schamloser Wüstling, der sich in der Sprache des Wüstlings mit den Frauen seiner Zeit unterhält, und die sich in gleicher Weise mit ihm unterhalten (Bild 82-84).

Wenn man im Rokoko erotische Stoffe aus der Bibel auswählte – und man wählte nur erotische Stoffe – so wählte man ebenfalls stets solche, die der herrschenden Korruption entgegenkamen. Die herrschende Korruption fand es z. B. für besonders pikant, wenn sich die beiden Gatten gegenseitig selbst den Liebhaber oder die Geliebte zuführten. Der dementsprechende künstlerische Vorwurf war die Darstellung, wie Sara ihrem Gatten die schöne Hagar ans Bett bringt. Die anderen Motive variierte man zum mindesten in der Richtung der herrschenden Korruption.

Natürlich konnte es in dieser Zeit niemals bei den bloßen Andeutungen bleiben, und wären diese noch so kühn gewesen; es mußte auch zur handgreiflichen Darstellung des Kühnsten kommen. Das heißt: Gerade die Darstellungen dieses Allerletzten, des Allerintimsten, der rein technische Vorgang mußte zu einem Hauptgegenstand der erotischen Kunst werden. Und in dem Reigen der Künstler, die hier mittaten, fehlte denn auch kaum einer. Die berühmtesten Namen dieser Zeit: Watteau, Boucher, Baudouin, Lancret, Fragonard usw. haben ohne Ausnahme für die zahlungsfähigen Libertins direkt erotische Gemälde gemalt. Wir haben im Laufe der Jahre Gelegenheit gehabt, eine ganze Reihe solcher Schöpfungen zu sehen; darunter zum Teil künstlerische Kostbarkeiten ersten Ranges. Werke, die mit derselben peinlichen Sorgfalt bis zum letzten Pinselstriche durchgeführt sind wie die heute weltberühmten Galeriestücke dieser Meister. Ein überaus reiches Repertoire der Erotik tut sich in diesen Bildern auf. Alle Schauplätze und alle Altäre der Liebe, alle jene geschickt benutzten Gelegenheiten verwegener Galanterie, und am häufigsten alle Etappen und Raffinements der Wollust, alle Phantasien und Kombinationen findet man hier gestaltet: Die Marquise, die sich von dem Abbé in pikanter Situation überraschen läßt, die Komtesse, die in den Armen eines Bauernburschen ihren Heißhunger stillt, die Schloßherrin, die dem Gaste gefügig ist, der den Weg ins eheliche Schlafgemach gefunden hat und dabei auf den gesunden Schlaf des Hausherrn rechnet usw. Das Repertoire ist nicht nur reich, sondern direkt unerschöpflich. Als Bildproben verweisen wir auf die beiden Gemälde von Boucher, die, wie schon eingangs angeführt wurde, jener großen Serie ähnlicher Gemälde entstammen, die seinerzeit von Boucher im Auftrage Ludwigs XV. für das Boudoir der Marquise von Pompadour gemalt worden sind (s. Beilagen). Gewiß fehlt auch die legitime Liebe in diesem Rahmen nicht. Es ist jedoch bezeichnend, was man von ihr zu sagen hatte und wie man dieses vortrug. Die bevorzugtesten Motive für die künstlerische Darstellung der legitimen Liebe waren die Einführung der jungen Frau in die Mysterien des Ehebettes und die Darstellung des girrenden Verlangens der jungen Frau, um Wiederholung der Freuden Hymens. Aber diese Motive sind weder in ihrer Erhabenheit noch in ihrer köstlichen Delikatesse und Naivetät aufgefaßt, sondern immer nur vom Standpunkte des pikanten Vergnügens.

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93. Toulouse Lautrec: Après. Lithographie. Aus der Serie »Elles«. 1895

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94. Aubrey Beardsley. Aus Lysistrata. 1890

Die Kleinkunst, die vornehmlich zu Reproduktionszwecken hergestellt wurde, ist um keinen Grad zahmer, im Gegenteil, hier hat die Erotik sogar ihre ausschweifendsten Orgien gefeiert. Und wenn je einmal etwas harmloses mit unterlief, so hat man es verstanden, durch den Text das Defizit auszugleichen. Auf diesem Wege hat man sogar nicht selten das direkt harmlose zum ausgesprochen Erotischen gestempelt. Ein einziges Beispiel genügt, um dieses Verfahren zu illustrieren. In einem Zyklus, der die vier Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde darstellt, zeigt der eine der Kupferstiche, der das Wasser symbolisiert, ein junges Mädchen, das an einer Fontäne ein Fußbad nimmt. Die Darstellung dieses Vorganges ist an sich durchaus dezent, im Ausdruck sowohl wie in der Kleidung; das Mädchen zeigt nur ihre nackten Füßchen. Aber so etwas entspricht eben dem Zeitgeiste nicht, und so korrigiert der erläuternde Text gewissermaßen das Unvermögen des Künstlers. Dieser Text lautet:

 

L'eau.

Envain l'amour cruel qui cause ses desirs
Lui fait chercher près de cette fontaine,

De quoi satisfaire à sa peine
Une autre eau seule pent appaiser ses soupirs.

 

Man muß zugeben, daß selbst der harmloseste, nachdem er diesen Text gelesen hat, die geschilderte bildliche Darstellung mit wesentlich anderen Augen anschauen wird; das sachverständige Gekicher ist unfehlbar beim Beschauer ausgelöst. Es ist dabei ausdrücklich zu wiederholen, daß es sich in dem hier geschilderten Verfahren nicht um einen einzelnen Fall handelt, sondern um ein typisches Beispiel.

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Liebesrausch. Spanische Lithographie von Torne Esquius

Schließlich darf das reichste Kapitel der erotischen Kleinkunst dieser Zeit nicht übersehen werden: das erotisch illustrierte Buch; der erotisch illustrierte Roman, die erotisch illustrierten Gedichtsammlungen. Das 18. Jahrhundert ist das Blütezeitalter des erotischen Buches, und selbstverständlich deckten sich Bild und Text in der Deutlichkeit der Mittel. Niemals früher und niemals später gab es einen solchen Reichtum an erotischer Buchkunst. Im erotischen Buche war der Zweck der erotischen Kunst in einem solchen Zeitalter, der Stimulans und der Verführung zu dienen, am offenkundigsten und (auch) am raffiniertesten entwickelt. Diese buchtechnischen Kostbarkeiten waren darum in den Händen aller reichen Lebemänner und nachweisbar in denen zahlreicher vornehmer Damen. Sie flatterten durch alle Boudoirs und lagen auf allen Toilettetischen – ein würdiger Zeitvertreib für die zwar nicht allzu vielen und allzu langen Zwischenpausen in der realen Betätigung der Galanterie, in denen man aber doch nicht aus der Gewohnheit kommen wollte (Bild 77, 83, 197-202, 209, 214 und 215).

Wenn man alles dieses zusammenfaßt, so ist wohl zur Genüge das bekräftigt, was wir oben als das Kennzeichnende der Kunst dieser Zeit hervorhoben: Die Kunst war in diesem Zeitalter der gefällige Knecht der gemeinsten Leidenschaften geworden. Aber sie mußte es eben auch werden, gemäß den Gesetzen, die die Kunst formen.

 

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95. Max Klinger: Jupiter und Antiome. Originalfederzeichnung

Schluß. Die große französische Revolution hat in intensivstem Maße diesen Auflösungsprozeß fortgesetzt, so daß schließlich alle seitherigen Normen ihre frühere Gültigkeit verloren haben und Keuschheit vor der Ehe, eheliche Treue usw. beinahe zu komischen Begriffen geworden waren. Und zwar vollzog sich dies in der gleichen Steigerung, je tiefer die Revolution den Boden der Gesellschaft durchfurchte. Aber dieses war doch nur das letzte Chaos, das der Geburt des Neuen voranging, oder in dem sich stets das Neue ins Dasein ringt. Die neue, hinfort zur Herrschaft berufene Klasse, das Bürgertum, stand längst auf dem Plan und hatte in seiner Literatur auch schon die Gesetzbücher aufgestellt, in denen sie die ihren Interessen entsprechende Moral festlegte. Gesundung und Regeneration der Menschheit war die Voraussetzung für die historische Aufgabe, die das Bürgertum zu erfüllen hatte. Also erforderte das Herrschafts- und Lebensinteresse des Bürgertumes eine neue Sittlichkeit. Es forderte für den Geschlechtsverkehr Keuschheit des Weibes vor der Ehe und Treue beider Teile in der Ehe; es forderte weiter in Zusammenhang damit eine nach jeder Richtung strengere Auffassung der Ehe und der Familie; die Frau mußte wieder Mutter werden, die im Gegensatz zu den Müttern des Ancien Régime ihr Kind selbst ernährt und selbst aufzieht. Der Spiegel dieser Tendenzen in der Kunst mußte diese, wie alle anderen geistigen Manifestationen aus der Jugendzeit des modernen Bürgertumes, zur Moralpredigt machen. In Malern wie Chardin und Greuze erfüllte sich dies am augenfälligsten. Die Werke dieser Maler sind der deutliche Niederschlag des auch zur politischen Herrschaftsübernahme drängenden Bürgertumes. Es sind in erster Linie Familientugenden, die den Stoff ihrer Werke bilden. Bei Greuze erweist freilich das pikant-galante »Wie« seiner Werke, das noch echt Rokokomäßige daran, auch wiederum das, was wir oben im ersten Abschnitte darlegten, daß das Neue zuerst im Gegenständlichen einsetzt. Das neue »Wie« konnte erst später kommen, als die Umformung der Gesellschaft nicht mehr bloß Programm war, sondern Wirklichkeit geworden war.

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96. Charles Jakob: Vergewaltigung. Radierung

Zu jener herrlichen Regeneration der Gesellschaft, die das Bürgertum in seinen stolzen und schöpferischen Jugendtagen prognostizierte, ist es nun freilich niemals gekommen. Es konnte auch nicht dazu kommen, gemäß den sein Wesen und seine Herrschaft begründenden ökonomischen Mächten und Interessen. Aber wenn wir selbst bis heute noch nicht zu dieser Regeneration der Gesellschaft gelangt sind, so können wir doch das eine jetzt mit fester Gewißheit sagen, daß wir endlich auf dem sicheren Wege dazu sind. Wohl befindet sich gegenwärtig die bürgerliche Entwicklung überall in einer niedergehenden Konjunktur, der bürgerliche Geist erlebt Niederlage auf Niederlage, eine schmählicher denn die andere, Niederlagen, bei denen das letzte seiner ehemaligen Ideale in Trümmer geht. Aber das ist ja gerade einer der wichtigsten Beweise eines nahenden Umschwunges. Denn immer noch ist das die ewige geschichtliche Erfahrung, daß eine rapid sich vollziehende Auflösung der ehemaligen politischen Ideale herrschender Klassen stets nur Dokument davon gewesen ist, daß innerhalb der menschlichen Gesellschaft bereits neue Kräfte am Werke sind, und zwar Kräfte, die unerbittlich zu neuen Anstiegen führen. Das Miterleben solcher Zeiten ist gewiß sehr qualvoll, und sie sind für die Zeitgenossen nur erträglich durch die erhebende historische Logik, die sie eröffnen. –

 

An dem Weg aus dem Zeitalter des Absolutismus in unsere Gegenwart herauf kann man nicht übersehen, daß die Richtungslinie nach oben geht. Trotz aller täglichen Abirrungen und trotz der vielen peinlichen Moräste, durch die dieser Weg führte. Und es ging in der Tat durch recht viele schmutzige Pfützen. Wenn man nach ihren auffälligsten künstlerischen Reflexen fragt, so mag als bezeichnendes Beispiel nur auf die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts verwiesen werden, in denen der Bordellgeruch des zweiten französischen Kaiserreiches sich die seiner würdige Form in der Kunst schuf. Jene Werke, in denen zwar nicht das Odor des Bordells gemalt ist, die aber anmuten, als wären sie mit diesem Odor gemalt. Man denke nur an die Werke der Cabanel, Bougereau, Wiertz (Bild 92) usw. Wenn man nach ähnlichen Werken in der deutschen Kunst fragt, so mag auf das Werk Wilhelm Kaulbachs und seiner Schule verwiesen sein. In der Kunst der zuletzt genannten erstand geradezu klassisch jene bürgerliche Wohlanständigkeit, die offiziell den höchsten Tugenden und den »ewigen Idealen« dient, sich aber im Hinterzimmer wiehernd mit Zötchen rächt. (Vgl. auch Bild 90 und 91.)

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97. Klimt: Illustration zu Lukians Hetärengesprächen

Aber dieses sind trotzdem nur die peinlichen Zwischenspiele, die die Vergangenheit und Gegenwart von einem neuen Zeitalter trennen. Dieses neue Zeitalter ist mit der Entwicklung zur Großindustrie und zum Großkapitalismus angebrochen. Und wenn wir in diesen beiden seitherigen Resultaten auch noch nicht mehr als den ersten Akt des sich vollziehenden geschichtlichen Dramas hinter uns haben, in dem sich der Knoten erst schürzt, so ist folgerichtig in diesem ersten Akte doch bereits ein Teil der wichtigsten Vorarbeiten erledigt worden. Die Entwicklung der Großindustrie hat die gesamten sittlichen Normen in ihren wichtigsten Teilen korrigiert, – die Massenanhäufung von Menschen in der Großstadt und in der Fabrik hat andere Lebensbedingungen geschaffen und damit andere Bewußtseinsformen, mit dementsprechenden neuen Ideologien. Neue Wünsche sind in der Menschheit wachgeworden, und was das Wichtigste ist: Die neuen ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft schufen aber auch zugleich die Leiter, auf der diese Wünsche aus dem Reiche der Utopie in das der erreichbaren Wirklichkeit herabgestiegen sind: das Recht eines jeden Menschen nicht nur zum Leben, sondern zu einem Leben in Vollendung. Diese Umwälzung formte auch die Kunst. Die Sinnlichkeit mußte damit wieder als schöpferisches Prinzip zum Bewußtsein kommen, und sie mußte außerdem neue, reinere und größere Vorstellungen vom Begriffe menschlicher Schönheit herausbilden, Vorstellungen, die sich mit den höchsten Lebenszwecken würdig decken.

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98. Auguste Rodin: Les Amies

Das ist selbstverständlich nur die allgemeine Linie. Denn es ist unvermeidlich, daß die große Vielgliedrigkeit der Gegenwart, ihr Reichtum an Formen, das Durcheinanderwogen der sich auflösenden und der sich neu bildenden gesellschaftlichen Organisationsformen – was bekanntlich nie größer ist als in revolutionären Zeitaltern – sich ebenso deutlich in unserer Gegenwartskunst wiederspiegelt. Die raffiniertesten Fäulnisblüten stehen denn auch direkt neben den derben Schößlingen, die einem sich vorbereitenden neuen Aufstieg entsprechen. Man müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß heute Künstler, die im Leben beinahe Schulter an Schulter miteinander stehen, in der Tat schon durch Welten voneinander getrennt sind. Man denke – um besonders in Deutschland bekannte Künstlernamen zu nennen – einerseits an Künstler wie Beardsley und ähnliche, andererseits an Männer wie Klinger, Slevogt, Rodin usw. Beardsley, bei dem jede Linie eine durchaus perverse Sinnlichkeit atmet, belegt geradezu klassisch, mit welchem Raffinement eine untergehende Welt ewige Gedanken zu gestalten vermag. Gewiß ist seine Kunst die Offenbarung des entwickeltsten Geschmackes und nicht selten sogar von entzückender Schönheit. Aber ob des wunderbaren Geschmackes, der in diesen Werken zum Ausdruck kommt, kann man doch nicht übersehen, daß die physische Impotenz einer Gesellschaftskultur, in der alles Schöpferische am Erlöschen ist, bei ihm Form wurde.

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99. Max Klinger: Die Sirene. Gemälde

Daß man aber das Neue, das uns auf die Zukunft weist, nicht mit der Schönheit bezahlen muß, beweisen die als Gegensatz genannten Namen. Man denke der herrlichen Werke der vorhin genannten Künstler, der Klinger, Slevogt – die strotzendste Kraft der deutschen Kunst seit vielen, vielen Jahrzehnten! – und Rodin. Auch in den Werken dieser Meister ist alles Sinnlichkeit, aber jene Sinnlichkeit, die uns ein Lied der Kraft und der Potenz singt. Das sind die Linien, die deutlich nach einer neuen Zukunft weisen. Es offenbart sich in ihnen unzweideutig, daß die erhabene Schönheit der Antike von neuem sich gestaltet, aber auch das offenbart sich, daß es sich hier um eine Schönheit handelt, die in ihren schließlichen Resultaten noch unendlich größer zu werden verspricht als die der Antike. Denn wo diese nur höchste animalische Form war, wird die neue Schönheit ausgefüllt sein mit einem grandiosen geistig-seelischen Inhalt, mit der ganzen Summe der geistigen Errungenschaften der Kulturmenschheit. Und das wird wohl überhaupt das Wesen einer neuen Renaissance sein, die freilich nicht früher einsetzen kann, als bis das beklemmende Morgendämmern der Menschheit, in dem wir heute noch stehen, vom strahlenden Tag abgelöst sein wird. (Bild 95-100.)

 

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Anmerkung. Bei dem im Sommer 1912 im Auftrag von Albert Langen, München veranstalteten Neudruck dieses Buches mußte aus technischen Gründen der seitherige Rahmen beibehalten werden. Soweit es dieser Rahmen aber zuließ, habe ich sowohl in diesem ersten wie im zweiten Teil überall, wo es mir nötig schien, Verbesserungen jeder Art vorgenommen. Die Zahl dieser teils kürzeren teils umfangreicheren Korrekturen hat zwar am Hauptcharakter dieser Arbeit nichts geändert, da aber – speziell im ersten Teil – fast jede Seite wichtige Korrekturen aufweist, dürfte sie sich doch um vieles reifer gegen früher darstellen. Außerdem wurde dieser Neudruck um ein Bilder- und Namenverzeichnis vermehrt.

E. F.

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100. Max Slevogt: Frauenraub. Radierung


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