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3. Wasserspeier. Aus einem »Jungbrunnen«. Holzschnitt um 1520

Einleitung

Das Wort, das der biedere Hans Weiditz über einen seiner kräftig gezeichneten Holzschnitte schrieb: »Wer will das Höchst' aus Wollust mache, der krönt ein Schwein in wüster Lache« (Bild 4) war nicht nur für die derb-sinnliche Zeit des 16. Jahrhunderts eine wohlangebrachte Morallehre, sondern es gilt für jede Zeit und für jedes Volk, und nicht weniger für jedes Einzelindividuum. Dieser Mahnung muß jedoch als nicht weniger wichtige Erkenntnis noch ein zweiter Satz ergänzend hinzugefügt werden: daß jede entgegengesetzte Tendenz, die Wollust als das Verächtlichste anzusehen, ebenfalls zu einem kulturhemmenden Resultat führt, nämlich zur schöpferischen Ohnmacht. Auch dieser Satz gilt für alle Zeiten, für alle Völker und für alle Einzelindividuen.

Die Geschichte der Menschheit kennt keine größeren Heimsuchungen als diese beiden: das moralische Verkommen und das schöpferische Versagen. Und zwar deshalb, weil die ursächlichen Tendenzen, – sowohl der Ausschweifung wie die der Asketik, – einen verbrecherischen Frevel an dem Fundamentalgesetz alles bewußten Lebens darstellen. In dem Augenblick, in dem sich die Menschheit hierüber klar zu werden begann, hat sie Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit aufgestellt, und die Gesellschaft hat diese Gesetze mit jeder neuen Erkenntnis anders formuliert, verbessert oder verschlechtert, je nachdem die Kulturentwicklung nach oben ging oder auf Abwege geriet. Die genaue und rückhaltslose Geschichte dieser Gesetze zu schreiben, wird für die Zukunft eine der Hauptaufgaben der Geschichtswissenschaft sein, und die mutige Beantwortung aller sich aufrollenden Fragen wird unbedingt zu einem Teil der wichtigsten Erkenntnisse der Kulturgeschichtschreibung führen. Man wende nicht ein, daß diese Überzeugung längst durchgedrungen ist. Gewiß, sie ist prinzipiell schon ziemlich lange anerkannt, aber die konsequenten Schlußfolgerungen sind bis jetzt nur in einem höchst spärlichen Maße gezogen worden. Wer sich auf dem Gebiete der Sittengeschichte bewegt, der wird sofort und ständig auf unbeackerte Flächen stoßen, er wird sogar bald entdecken, daß überhaupt bis jetzt nur der allergeringste Teil ernstlich bearbeitet ist. Selbst auf den am nächsten liegenden Gebieten, wie z. B. denen der Mode, des Tanzes, der Sprache, fehlen noch die erschöpfenden Werke. In welchem Maße bestimmend die Gesetze der Erotik in der Modebildung wirken und sich offenbaren, wie sie jede einzelne Mode bis in ihre scheinbar zufälligsten und nebensächlichsten Kleinigkeiten prägen, das hat noch kein Autor historisch mit ausreichenden Dokumenten illustriert dargelegt Einen ersten Versuch zur Lösung dieser Aufgabe soll das Kapitel »Ich bin der Herr dein Gott« in meinem Buche »Die Frau in der Karikatur« (S. 263-349) darstellen. In diesem Kapitel habe ich versucht, die modebildenden Gesetze zu entschleiern, freilich entsprechend dem Thema vornehmlich in bezug auf die Frauenkleidung.. Dasselbe gilt von den erotischen Grundlagen aller Tänze, deren zahmste Formen freilich nicht bei den modernen Tänzen zu finden sind. Man denke hierbei nur an einige der Modetänze der letzten Jahre, an den Cakewalk, und an La Matchiche. Wenn man diese beiden Tänze auf ihr Wesen untersucht, so schwindet selbst dem Naivsten sehr rasch jeder Zweifel darüber, um was für Probleme es sich in den Pas und Windungen dieser Tänze handelt. Beide sind nichts anderes als groteske und vor allem brutal durchsichtige rhythmische Versinnbildlichungen des Geschlechtsaktes. Damit löst sich auch das Geheimnis ihrer jähen und großen Popularität. Solche kulturhistorische Untersuchungen, wie diese und ähnliche, setzen neben der notwendigen wissenschaftlichen Einsicht in das Wesen der Dinge natürlich ebensosehr absolute Deutlichkeit der Sprache und völligen Verzicht auf feiges Umgehen peinlicher Gegenstände voraus. Anläufe in dieser Richtung werden ja neuerdings in der Kulturgeschichtsforschung gemacht; es sei z. B. an die Arbeiten von Eugen Dühren (Dr. Iwan Bloch) und Friedrich Krauß erinnert. Von den Kraußschen Publikationen sei die Anthropophyteia Anthropophyteia, Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral. Gegründet im Verein mit Prof. Dr. med. B. H. Obst, weiland Direktor des Museums für Völkerkunde in Leipzig, herausgegeben von Dr. Fr. S. Krauß, Leipzig 1904-1907 (Deutsche Verlagsaktiengesellschaft). besonders erwähnt, von der bis heute vier dicke Bände vorliegen. Der Wert dieses nur Wissenschaftlern und Bibliotheken zugänglichen Werkes besteht vor allem in der reichen Fülle des darin vorgeführten Tatsachenmaterials, das besonders in folkloristischer Beziehung dem Forscher wichtige Aufklärungen bietet. Auch die ungekürzte oder originalgetreue Herausgabe, Übertragung und Wiedergabe von sittengeschichtlich wichtigen erotischen Literatur- und Bildwerken der Vergangenheit kann ein dankbar anzuerkennendes Verdienst sein. Es muß jedoch hier hinzugefügt werden, daß die Neuherausgabe jeder beliebigen alten und selten gewordenen Cochonnerie an sich nicht viel mit Materiallieferung zum Aufbau der uns noch fehlenden erschöpfenden Sittengeschichte zu tun hat.

 

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Die Erotik erfüllt oder bildet alle Beziehungen zwischen Mann und Weib. Es gibt überhaupt keine intimen Beziehungen zwischen zwei normalen Personen verschiedenen Geschlechtes, die nicht erotische Untergründe haben, bei denen also keinerlei sinnliche Reizungen mitspielen. Abgesehen natürlich von verwandtschaftlichen Beziehungen und bei gesunden Menschen zwischen weitabstehenden Altersstufen. Die so häufig gemimte »innige Freundschaft, die absolut frei jeder sinnlichen Voraussetzung« sein will, ist bei geschlechtsreifen Menschen in neunzig von hundert Fällen Humbug. Ein Humbug, der teils aus Feigheit, teils aus Interesse aufgetischt wird; im harmlosesten Fall aber ist es Selbstbetrug.

In südlichen Ländern, in denen die Glut der Sonne das Blut heißer und rascher fließen läßt, die Sinne glühender, verlangender, unersättlicher macht, da tritt dieses wahre Wesen der bewegenden Gesetze ziemlich unverhüllt und klar hervor. Besonders in bäuerlichen Kreisen und in den vom Kulturlack noch unberührt gebliebenen Volksschichten kommt es auf Schritt und Tritt derart vulkanisch zum Durchbruch, daß man schon blind und taub sein muß, um es nicht zu gewahren. Hier äußert sich die Erotik in den deutlichsten Taten und Worten, man benützt keine übertragenen Ausdrücke, sondern nennt es als die natürlichste Sache von der Welt mit den deutlichsten Namen und verheimlicht auch nicht, daß es einem zugleich die wichtigste Sache von der Welt ist. Das, was den Mann ausmacht, das habeat und die Potenz, steht im Mittelpunkte alles Denkens und Fühlens. Es ist des geschlechtsreifen Mannes größter Stolz, eine Sache, mit der er so laut wie möglich prunkt. Die Geliebte, die Braut, die junge Frau und die betrübte Witwe nennen es ebenso offen mit den verständlichsten Worten als den Inhalt aller ihrer Gefühle, ihrer Wünsche, ihres Glückes und ihrer Sehnsucht. Ein überaus bezeichnendes Dokument dafür haben wir in einem Berichte gefunden, den R. P. Knight in seinem 1785 zum erstenmal erschienenen und heute überaus seltenen Werk » A discourse on the Worship of Priapus« mitteilt. Dieser Bericht schildert eine Prozession, welche im Jahre 1780 in Isernia bei Neapel nach der den Heiligen Cosimo und Damian geweihten Kirche stattfand. Bei dieser Prozession verkauften Händler unterwegs an die sich beteiligenden Mädchen und Frauen phallische Wachsfiguren, welche von den Käuferinnen als Votivgaben dem heiligen Cosimo geopfert wurden. Wie man sonst bei Krankheiten der Hand, des Fußes, der Finger usw. wächserne Hände, Füße und Finger den Schutzheiligen weihte und sie dabei um Heilung anflehte, so opferten die Mädchen und Frauen hier phallische Votivgaben, indem sie um Befreiung von Sterilität, um wiederkehrende Potenz oder auch um stärkere Potenz ihrer Liebhaber und Männer beim Liebesgeschäfte flehten. Die köstlichste Szene, die sich bei diesem Vorgang abspielte und deren absolute Wahrheit der Gouverneur von Isernia ausdrücklich bestätigte, ist die folgende: Ein junges, stattliches Weib opferte dem heiligen Cosimo einen auffallend großen, in strotzender Gebärde sich präsentierenden Phallus, und die Bitte, mit der sie ihr Opfer begleitete, während sie es der Übung gemäß küßte, lautete: »Heiliger Cosimo, der du gesegnet bist, laß ihn sein wie diesen!« – » Santo Cosimo benedetto, cosi lo voglio!« Welche überwältigende Naivetät! Ob dieses junge Weib an der Schwelle ihrer Hochzeitsnacht stand, oder ob sie gewillt war, einem drängenden Liebhaber seine verliebten Wünsche zu befriedigen, das ist natürlich nebensächlich. Wichtig dagegen ist, daß das einzige Ideal, das die Liebe dieses jungen Weibes ausfüllt, in dem Wunsche bestand, ihren Geliebten in der bevorstehenden Liebesnacht physisch derart beschaffen zu finden, daß er imstande ist, ihr die denkbar wollüstigste Befriedigung zu bereiten. Und das sagt sie laut vor aller Welt, jedermann kann es hören, sie demonstriert es obendrein durch genaue Formatangabe, so daß niemandem ein Zweifel darüber bleibt, wie weit ihre Wünsche gehen! Und sie ist nicht einmal eine Ausnahme – Hunderte von Frauen handelten genau so wie sie! Freilich die Lösung ist sehr einfach: In der Verehrung der genannten Heiligen lebt der alte Phalluskult weiter. Das Christentum hat nur die Namen geändert. Aus dem heidnischen Gotte Priap wurde der christliche Heilige Cosimo. So ist es denn ganz natürlich, daß die liebessehnsüchtige Tochter des neapolitanischen Südens es in ihrer Herzenseinfalt für ganz natürlich, ja, als das Selbstverständlichste findet, einen Heiligen mit dieser delikaten Aufgabe zu betrauen. Der Gedanke, daß sich eine solche Mission für einen Heiligen vielleicht doch nicht ganz schicken könnte, kann ihr gar nicht in den Sinn kommen, er ist ja gerade für diese Aufgabe bestellt, und diese Vorstellung ordnet sich auch ganz logisch ihrer naiven Lebensauffassung ein. Wenn der Heilige dazu da ist, von Krankheit und Not zu erlösen, so hat er auch dafür zu sorgen, daß den Geliebten das auszeichnet, was ihn für ihre sinnliche Phantasie am begehrenswertesten macht. Solche Tatsachen beleuchten die Volkspsyche erhellender als alle möglichen Deklamationen.

Die Bewohner nördlicher Zonen sind aber im Wesen nicht etwa anders organisiert, weil es bei ihnen nicht immer zu solchen Explosionen kommt, wenn Eros seine siegreichen Fahnen aufpflanzt. Übrigens muß man, gerade was den eben geschilderten süditalienischen Brauch anbetrifft, konstatieren, daß man ihm in allen katholischen Ländern begegnet, und wer die Wallfahrtskirchen des gläubigen Tirol und Bayern aufmerksam durchmustert, der wird gar manches ähnliche Votiv finden, das von einer biederen Tiroler Dirn oder von einem oberbayrischen Madel wohl einst mit denselben Wünschen gestiftet worden ist. Außerdem wimmelt es in der deutschen Literatur nicht weniger als in der eines jeden anderen Landes von Dokumenten über das Thema: Was das Wichtigste bei der Liebe ist. Man denke nur an die zahllosen alten Schwänke über dieses Thema, an die Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert, die Volkslieder, die zahlreichen Volkssprichwörter und anderes mehr. Eine einzige Probe möge an dieser Stelle genügen. In dem »hübschen Fastnachtsspiel von den siebzehn Bauern«, die ihre Tugenden preisen, deklamiert der siebte Bauer also:

Heur ein fart da ging vom Wein,
Da puolt ich um unser Müllnerin,
Und redt mit ihr gar hübschlich und schan.
Daß sie mir mein Esel sollt einthan,
Und ließ mir die Kotzen vor der Thür hangen.

Da waren ihr zwen Pfaffen nachgangen,
Die hatten größere Esel, denn ich;
Da versagt sie mir und verschmäht mich;
Da merkt ich, daß die Pfaffen zu ihr muolen,
Darum ich nimmer um sie wollt puolen.

(Vergleiche die »Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert«; herausgegeben vom Literarischen Verein unter dem Protektorat des Königs von Württemberg). Die Schwankliteratur späterer Zeiten wiederholt dieses Motiv immer wieder; es ist stets eines der bevorzugtesten. Bei der Beurteilung vergesse man jedoch das eine nie, daß wenn diese Stücke zwar das niedere Volk in seinem brutalen Gebaren kennzeichnen sollten, sie wiederum in der Hauptsache der Unterhaltung des Bürgertumes und des Adels dienten.

Daß aber nicht nur primitive Völker und unkultivierte Volksschichten, sondern daß alle Menschen diesem Gesetze folgen, daß Eros bei allen intimeren Beziehungen zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes seine Fackel anzündet, und daß nur die Formen, in denen es sich manifestiert, variieren, dessen braucht sich wahrlich kein Vernünftiger zu grämen, denn es ist eben die Basis alles Lebens.

 

Diese Sätze enthalten nun freilich für alle denkenden Menschen die hausbackenste aller bekannten Wahrheiten, aber sie müssen an dieser Stelle unbedingt betont werden, wenn man zur Beurteilung des hier in Frage stehenden Materials von vornherein in die richtige Distanz kommen will.

Eine ebenfalls längst erworbene Erkenntnis enthält der Satz, daß es keine ewigen Gesetze der Sittlichkeit gibt, Gesetze, die immer gleich gelautet haben. Alle Begriffe der Moral, alle Anschauungen über das, was sich ziemt, sind etwas langsam Gewordenes, etwas, das sich aus primitiven Urzuständen erst allmählich entwickelt, modifiziert hat; genau wie alle organischen Gebilde. Daraus ergibt sich für die Frage »Was ist sittlich?« die Antwort, daß jede Kulturepoche gemäß ihrer verschiedenen Entwicklungshöhe und ihrer anderen historischen und ökonomischen Grundlagen eine andere, somit ihre eigene, von der heutigen durchaus verschiedene Moral hat.

Die beste Möglichkeit, zur Klarheit darüber zu gelangen, was jeweils, wenn auch nicht als sittlich, so doch als zulässig im Rahmen der Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit galt, wird immer das Studium über die jeweilige Stellung gegenüber der Nacktheit bieten. Unsere moderne Moral erklärt meist Nacktheit und Unsittlichkeit als gleichbedeutend. Diese Auffassung ist zum mindesten falsch für alle südlichen Völker und ebenso für die Vorstellungen unserer Vorfahren. Nacktheit und Unsittlichkeit sind nicht zu allen Zeiten identisch gewesen, jede Entwicklungsstufe dachte darüber anders, und gerade diese verschiedenartige Auffassung formte das Wesen der Erotik, ihre Offenbarungs- und ihre Huldigungsformen. Das läßt sich schon durch einen einzigen Hinweis begründen: Von dem komplizierten erotischen Reiz der weiblichen Dessous kann man zu einer Zeit wie dem Mittelalter, das nicht einmal das Hemd auf seinem Kleideretat hatte, und wo beide Geschlechter nackt zu Bette gingen, unmöglich eine Vorstellung haben. Schon daraus ergibt sich, daß das Mittelalter der Nacktheit mit harmloser Unbefangenheit gegenüberstand, es sah – wie heute noch die Japaner – im nackten Körper an sich nichts Erotisches. Wirkt aber die Nacktheit, oder genauer ausgedrückt, eine bestimmte teilweise Entblößung bei der Allgemeinheit nicht erotisch auf die Sinne, so hört sie damit auch auf, für diese Zeitabschnitte unsittlich zu sein.

Daraus folgt nun aber noch etwas anderes, nämlich das, daß die moderne Skala der erotischen Genüsse sozusagen hundertteilig ist, die Skala der Erotik des Mittelalters dagegen nur einteilig; ein ähnlicher Unterschied herrscht durch alle Zeiten und zwischen den verschiedenen Zonen. Im Norden ist das geringste Retroussee und die delikateste Dekolletierung ein Reizmittel der Erotik. In Ländern, die der Nacktheit noch unbefangen gegenüberstehen, wird sich kein Blick darnach wenden. Im Süden Italiens oder in den Balkanstaaten, wo man täglich bei zahlreichen Gelegenheiten eine entblößte Frauenbrust sehen kann und wo sich der Frauenbusen nur hinter der leichten Leinwand des schmiegsamen Hemdes verbirgt, da läuft den Menschen beim Anblick eines entblößten jungen Busens kein brünstiges Zittern durch die Glieder. Ganz anders in den Sälen der Londoner Alhambra, des Berliner Wintergartens oder anderer ähnlicher Lokale. Da lauern tausend Augen auf den Moment, in dem eine Diva der Saison es durch eine kokette Bewegung fertig bringt, »die kleinen roten Beeren am schneeigen Abhang« für einen Moment vor den opernglasbewaffneten Blicken aufleuchten zu lassen. Ebenso verzehrend funkeln die Augen, wenn eine andere kokette Bewegung die zarten Löckchen unter ihren Armen zwischen der Achselschleife ihres Kostüms durchschimmern läßt. Die einteilige erotische Skala primitiver Zeiten und Volkskreise besteht diesem komplizierten Raffinement gegenüber nur im direkten Geschlechtsgenusse. Gewiß wirken in primitiven Zeiten und in den von der Kultur noch unberührten Volksschichten die sekundären Geschlechtsmerkmale ebenfalls auf die Sinne, aber sie sind sehr häufig nur im Unterbewußtsein tätig und werden darum auch meistens nur unbewußt in den Dienst des gegenseitigen Werbens gestellt.

Ist man sich über diese Fragen klar, so löst sich einem auch sofort das Rätsel von der sogenannten Derbheit früherer Zeiten oder der niederer Volksschichten. Die »direkten« Scherze, die nur die Sache selbst in ihrer engsten Begrenzung zum Gegenstand haben, somit einzig auf die Technik des Geschlechtsaktes sich beziehen, sind ganz natürlich; es sind die einzigen Witze, die diese Zeiten und Volksschichten überhaupt machen konnten und können. Das Bestreben der Kultur ist, zu bereichern und zu steigern. Für die Erotik heißt das, die Wege zum Ziele zu vermehren und zu verlängern. Aus dem rein Tierischen das delikateste und erhabenste Kunstwerk zu machen, dessen Schönheiten und Wonnen von Tag zu Tag sich reicher und ehrfurchtserweckender gestalten. Diese Umwege mußten aber erst angelegt werden, bevor Völker und Klassen sie beschreiten konnten. Die geschichtliche Betrachtung aber offenbart, daß im gleichen Maße, wie diese neuen Wege angelegt werden, auch jede Art der künstlerischen Gestaltung des Erotischen in ihren Mitteln immer weniger direkt wurde. Das ist der Schlüssel zur Beurteilung jeder Epoche.

Aus alledem ergibt sich schließlich noch das eine und letzte, daß man bei jeder historischen Schau gut daran tut, mit dem Wort unsittlich recht haushälterisch umzugehen. Es kann eine Sache, an den Maßstäben der Gegenwart gemessen, sehr unmoralisch, sehr unzüchtig, sehr schamlos sein, im Rahmen ihrer Zeit aber dabei doch nicht mehr sein, als was unsere Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit für zulässig bezeichnen. Andererseits kann sich eine Zeit oder eine Klasse äußerlich ganz dezent gebärden und darum doch bis ins Mark verfault sein. Jede Zeit muß daher an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden. Die verschiedenen Maßstäbe aber kennen zu lernen, sie so richtig wie nur möglich zu bestimmen, gerade darum handelt es sich für die Sittengeschichtschreibung. Die Dokumente, die wir in diesem Bande vereinigen, werden zu dieser Erkenntnis ohne Zweifel besonders wichtige Beiträge darstellen, denn sie illustrieren das, was frühere Epochen an erotischer Deutlichkeit ertragen konnten, und nicht nur das, was auch unsere modernen Gesetze der öffentlichen Sittlichkeit zulassen. Und gerade darauf kommt es eben an.

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4. Hans Weiditz. 16. Jahrhundert


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