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3.
Aus der Clausur in den Kampf.

Das Wetter bricht los. Durch die ganze Nation zuckt es wie elektrisches Feuer, die Worte des Augustiners von Wittenberg dröhnen gleich Donnerschlägen, und jeder Schlag bezeichnet einen Fortschritt, einen Sieg. Noch jetzt, nach viertehalb hundert Jahren, zieht die ungeheure Bewegung der Nation mit unwiderstehlichem Zauber an. Niemals, so lange das deutsche Volk lebt, hat sein innerstes Wesen sich so rührend und großartig offenbart. Alle schönen Eigenschaften deutschen Gemüths und Charakters treten zu dieser Zeit in Blüte: Begeisterung, Hingebung, ein tiefer sittlicher Zorn, inniges Suchen des Höchsten und ernstliche Freude an systematischem Denken. Jeder Einzelne nahm Theil an dem Streit. Der reisende Händler focht am Nachtfeuer der Herberge für, oder gegen den Ablaß, der Landmann im entlegensten Thale hörte erstaunt von dem neuen Ketzer, dem sein geistlicher Vater jetzt bei jeder Predigt fluchte; der Sack des terminirenden Bettelmönchs blieb leer, nicht einmal die Frauen im Dorfe spendeten Käse und Eier Solche Zustände der ersten Reformationsjahre werden in den zahlreichen Dialogen zuweilen gut geschildert, die Terminirenden z. B. in: Eyn freüntlichs Gesprech, zwischen eynem Parfussermünch vnd eynem Löffelmacher. 4. (o. O. u. I.). Die kleine Literatur schwoll zu einem Meere, hundert Druckerpressen waren thätig, die zahlreichen Streitschriften, gelehrte und populäre, zu verbreiten. An jeder Pfarrkirche, in jedem Domcapitel zürnen die Parteien, überall erklären sich entschlossene Geistliche für die neue Lehre, die schwächern ringen in bangem Zweifel; die Klosterpforten werden geöffnet, bald stehen die Zellen leer. Jeder Monat bringt dem Volk Neues, Unerhörtes.

Es ist kein Streit mehr zwischen Pfaffen, wie im Anfang Hutten verächtlich den Zwist der Wittenberger mit Tetzel genannt hatte; es ist ein Krieg geworden der Nation gegen die römische Herrschaft und die Helfer derselben. Immer mächtiger erhebt sich die Gestalt Luther's vor den Augen seiner Zeitgenossen. Verbannt, verflucht, verfolgt von Papst und Kaiser, von Fürsten und hoher Geistlichkeit, wird er in vier Jahren der gefeierte Held des Volkes. Schon wird seine Reise nach Worms im Ton der heiligen Schrift beschrieben, und er von Übereifrigen mit den Blutzeugen des Neuen Testaments in Parallele gestellt Doctor Martin Luther's Passio durch Marcellum beschrieben. 4. o. O. u. I. – Verfasser ist wahrscheinlich der Straßburger Marschalck.. Aber auch die Gebildeten fühlen sich unwiderstehlich in den Kampf hineingerissen, sogar Erasmus lächelt noch Beifall und Hutten's Seele brennt hell auf für das Recht der neuen Lehre; nicht mehr lateinisch schreibt er: in deutscher Sprache, stürmischer und wilder als die Wittenberger, mit einem Feuer, das ihn selbst verzehrt, ficht der Ritter seine letzten Fehden für den Bauernsohn.

So tritt das Bild des Einen, in dem sich während eines halben Menschenalters das beste Leben seiner Nation concentrirte, sehr nahe. Doch bevor wir versuchen, seine Seele zu verstehen, sei noch angedeutet, wie seine Art auf unbefangene Zeitgenossen wirkte. Zuerst das Zeugniß eines nüchternen und klaren Geistes, der Luthern nie persönlich nahe trat, der auch später in einer Mittelstellung zwischen den Wittenberger und Schweizer Reformatoren Ursache genug hatte, mit Luther's Störrigkeit unzufrieden zu sein. Es ist ein Bruder aus dem alten Benedictiner-Kloster Alpirsbach im wildesten Theile des Schwarzwaldes, Ambrosius Blaurer, geboren in Constanz aus edlem Geschlecht, damals dreißig Jahre alt. Er hatte 1522 (8. Juli) den Convent verlassen und war zu seiner Familie geflüchtet. Auf Antrag seines Abtes wurde vom Statthalter des Fürstenthums Würtemberg bei Bürgermeister und Rath von Constanz seine Auslieferung in's Kloster gefordert. Blaurer ließ eine Vertheidigung drucken, der das Folgende entnommen ist Wahrhafft verantwortung Ambrosij Blaurer, an aynen ersamen weysen Rat zu Costentz. 1523. Von Luterischer maysterlosigkeit. 4.. Er wurde kurz darauf Prediger in Constanz, Dichter geistlicher Lieder, nach der letzten Restauration Herzog Ulrich's einer der Reformatoren Würtembergs, und starb in hohen Jahren und thatenmüde zu Winterthur als ein unsträflicher, würdiger, maßvoller Mann. Was er an Luther rühmt und tadelt, kann als die allgemeine Ansicht betrachtet werden, welche die ernsten Geister jener Jahre hatten.

»Ich rufe Gott und mein eigen Gewissen an zu bezeugen, daß mich kein Muthwille oder nichtiger Beweggrund aus dem Kloster getrieben und zu weichen gereizt hat, wie denn jetzt ein Gassengeschrei ist, Mönche und Nonnen liefen aus ihrem Orden, in Trotz gegen klösterliche Ruhe und Stille, um in fleischlicher Freiheit zu leben und ihrem Muthwillen und weltlichen Begierden Luft zu machen. Sondern was mich herausgetrieben hat, sind ehrenhafte, gewichtige, große Beschwerden und dringendes Mahnen meines Gewissens auf Grund und Anweisung des göttlichen Wortes. Und ich hoffe, daß alle Gelegenheit und Umstände meines Abganges nicht Leichtfertigkeit, Frevel oder irgend einen unziemlichen Vorsatz anzeigen; denn ich habe weder Kutte noch Kappe von mir gelegt, außer etliche Tage nach meinem Abgänge zu meiner größern Sicherheit, bis ich meine Zuflucht erreicht hatte; ich bin auch weder in Krieg noch mit einer hübschen Frau dahin gezogen, sondern habe mich unverzüglich, so schnell es mir nur möglich gewesen, zu meiner viel lieben Mutter und zu meinen Verwandten begeben, welche von unbezweifeltem christlichen Gemüth sind und bei der Stadt Constanz in solcher Achtung der Ehrbarkeit stehen, daß sie mir zu keinem unbilligen Vornehmen rathen oder helfen würden. –

Dazu traue ich, daß mein bisheriges Leben und Wandel den Argwohn eines unziemlichen, muthwilligen Vornehmens leicht von mir abwenden wird. Denn obwohl ich mich vor Gott in nichts übernehme, darf ich mich doch vor den Menschen, weil es jetzt die Noth erfordert, wohl in dem Herrn rühmen, daß ich in dem Kloster, auf der Schule, hier und überall, wo ich gewesen bin, gute Meinung und Nachruf, viel Liebe und Gunst wegen meiner Ehrbarkeit bewahrt habe. Auch hat mir die Botschaft aus Würtemberg vor euren Ohren das Lob selbst verliehen, daß in dem Kloster zu Alpirsbach meines Wesens und Wandels halber keine Klage oder Nachrede über mich sei, sondern ich hätte mich wohl und fromm gehalten, nur daß ich mich, wie sie sagen, um die verführerische und verdammte Lehre Martin Luther's zu viel gekümmert, die Schriften desselben gelesen, gehalten und gegen das Verbot des Abtes öffentlich in dem Convent und meinen Laienpredigten gelehrt, und als mir auch das verboten wurde, dennoch heimlich und in den Winkeln in die Seelen etlicher Conventsherren gegossen habe. Mit solchem Lob meiner Väter und Mitbrüder bin ich ganz und gar content und wohlzufrieden, und will mich dieser einzigen Missethat christlich und auf Grund des göttlichen Wortes wohl verantworten, und ich hoffe, meine Entschuldigung soll nicht allein mir, sondern auch etlichen Andern zur Abwendung eines falschen und ungegründeten Argwohns förderlich sein.

Als in den letztvergangenen Jahren die Schriften und Bücher Martini Luther's ausgingen und ruchbar wurden, sind sie auch mir zu Händen gekommen, ehe sie von geistlicher und weltlicher Obrigkeit verboten und verdammt wurden. Und wie andere neu gedruckte Schriften habe ich sie besehen und gelesen. Anfänglich ist mir solche Lehre etwas fremd und seltsam erschienen, auch unhold und im Widerspruche mit lang hergebrachter Theologia und kluger Lehre der Schule, auch mit etlichen Satzungen der päpstlichen geistlichen Rechte, und im Widerspruch mit alten und, wie mich damals bedünkte, löblichen, von unsern Voreltern auf uns erwachsenen Herkommen und Bräuchen. Da ich aber nichts desto weniger dabei deutlich merkte, daß dieser Mann allenthalben in seine Lehre einstreute helle, klare Sprüche der heiligen biblischen Schrift, nach welchen alle anderen menschlichen Lehren gerichtet, beurtheilt, angenommen oder verworfen werden sollten, verwunderte ich mich sehr und wurde dadurch veranlaßt, solche Lehre nicht ein- oder zweimal, sondern oft, fleißig und mit ernstem Aufmerken zu lesen, zu erwägen und gegen die evangelische Schrift zu halten, auf welche sie sich mehrmals beruft. Aber je länger und fleißiger ich dies that, desto mehr verstand ich, wie dieser hochgelehrte, erleuchtete Mann mit so großer Würde die heilige Schrift tractirte, wie so ganz rein und säuberlich er mit ihr umging, wie er sie so klug und zierlich allenthalben anzog, wie hübsch und künstlicher sie zusammen verglich und mit einander verschränkte, die dunkeln, schweren Texte durch Zuziehung anderer klarer, verständlicher Sprüche erläuterte und merklich machte, und ich sah, daß in seiner Behandlung der Schrift die größte Meisterschaft und die allerzuträglichste Hilfe zu einem recht gründlichen Verständniß ist, so daß auch ein jeder verständige Laie, der seine Bücher recht ansieht und fleißig liest, deutlich begreifen kann, daß diese Lehre eine ganz wahre, christliche, starke Grundveste hat. Deshalb traf sie auch sehr mein Gemüth und ging mir tief zu Herzen, und es ist mir nach und nach der Nebel vieler alter Mißverständnisse von dem Gesicht gefallen. Denn diese Lehre wurde mir keineswegs verdächtig, wie die vieler anderer Schullehrer, die ich vormals gelesen habe, darum weil sie weder auf Herrschaft, Ruhm oder zeitlichen Genuß zielt, sondern uns allein den armen, verschmähten, gekreuzigten Christus darstellt, und uns ein reines, bescheidenes ganz gelassenes und der Lehre Christi in allen Dingen gleichförmiges Leben lehrt, weshalb sie auch den geschwollenen, aufgeblasenen Doctoribus, die mehr ihre eigene Ehre und Ruhm als den Geist Gottes in der Schrift suchen, und den gewaltsüchtigen, vielpfründigen Pfaffen unleidlich und zu schwer ist. Deshalb will ich eher Leib und Leben und all' mein leibliches Vermögen verlieren, als mich davon abdrängen lassen, nicht um des Luther willen, dessen Person mir, abgesehen von seinen Schriften, fremd und unbekannt ist; auch er ist ein Mensch, und kann deshalb wie andere Menschen irren und fehlen; aber um des göttlichen Wortes willen, das er so hell und klar in sich trägt, mit so großem Sieg und Triumph aus freimüthigem, unerschrockenem Geiste redet und erhellt. –

Die Feinde wollen uns auch diesen Honig zumeist dadurch verbittern, daß Luther so sehr kitzelig, leicht gereizt, anfällig und bissig ist und seine Widersacher, namentlich die großen Fürsten und geistliche und weltliche Herren mit so frevlem Muthe antastet, schilt und lästert, und brüderlicher Liebe und christlicher Bescheidenheit so sehr vergißt. Darin hat er wahrlich auch mir oft mißfallen; ich möchte auch gar ungern jemanden anleiten, daß er es ihm darin gleich thäte; ich habe aber nichts desto minder seine gute christliche Lehre darum nicht verwerfen und zurückweisen, auch seine Person in dem Punkt nicht verurtheilen wollen, und zwar deshalb nicht, weil ich seinen Geist und das heimliche Urtheil Gottes nicht durchschauen kann, das vielleicht durch diesen einzigen Mangel viele Leute von seiner Lehre abziehen wird. Und da er nicht seine eigene Sache, sondern das göttliche Wort verfechten will, darf ihm viel nachgesehen und alles als gotteseifriger Zorn ausgelegt werden. Hat doch auch Christus, der Brunnen und das Abbild aller Sanftmuth, die verstockten, steinherzigen Pharisäer oft vor allen Andern rauh angefahren, ihnen geflucht und sie falsche Gleißner, gemalte Totengräber, Hurenkinder, Blinde und Blindenführer, auch des Teufels Kinder genannt, wie die evangelische Historie anzeigt (Matth. 12. 15. 23. Joh. 8.). Vielleicht würde Luther Manchem gern einen großen Titel beilegen, wenn er es mit Wahrheit thun könnte. Doch mag er meinen, es schicke sich nicht, daß er die Verfinsterten durchläuchtig, die reißenden Wölfe gute Hirten, die Ungnädigen gnädig nennen solle; denn ohne Zweifel, wenn ihm bisher Gott nicht gnädiger als sie gewesen, wäre seines Gebeins nicht mehr auf Erden. Doch wie dem allen sei, ich will es an diesem Ort nicht vertheidigen. Das Spotten und Schelten wollen wir abweisen und den Ernst seiner tapfern christlichen Schriften zu unserer Besserung mit Dank annehmen.

Als ich nun auf meinem gegründeten Vornehmen freimüthig allerwegen beharrte und mich durch kein menschliches Verbot davon abbringen lassen wollte, wie ich ja als Christ nicht durfte, wuchs der Unwille meines Herrn von Alpirsbach und etlicher seines Convents immer mehr und heftiger wider mich, und das Schwert des Zornes Gottes fing an zu schneiden und Uneinigkeit zu machen zwischen den Brüdern. Zuletzt ward mir auf's höchste geboten, daß ich von meinem Vornehmen abstehen, auch zu den Andern des Convents, die mir günstig und christlicher Lehre geneigt waren, dieser Sache wegen nicht sprechen sollte. Ferner sollte ich nicht predigen und im Convent lesen, sondern allerwegen sein wie ein anderer Conventbruder. Ich wollte nicht widerstehen, sondern wollte solche Gewalt in christlicher Geduld gern leiden, doch mit dem Vorbehalt, daß ich mir für meine Person keineswegs wehren lasse, alles zu lesen und zu halten, was nach meinem Erkennen heiliger Schrift gemäß und meinem Seelenheil förderlich sei. Ferner, daß ich Andern, die solches von mir begehren und bedürftig sein sollten, Lehre, Schriften, Bücher und brüderliche Unterweisung mittheilen wollte. Denn so sei mir von Gott meinem Herrn geboten worden, und sein Geheiß wollte ich höher achten als allen andern menschlichen Gehorsam. Das aber ward mit großer Ungunst aufgenommen und unleidlicher Frevel genannt, der tägliche Unfrieden wurde gemehrt, die klösterliche Ruhe untergraben und zerrüttet. Der eine sagte, er wolle in dieser Ketzerschule nicht länger bleiben, ein anderer, die Lutherischen müßten aus dem Kloster, oder er wolle hinaus; der dritte wandte vor, das Gotteshaus müßte um meinetwillen üble Nachrede ertragen und zeitlichen Nachtheil leiden, denn man wolle annehmen, sie wären alle meiner Meinung; der vierte sprach von Schlagen, der fünfte von sonst etwas, so daß ich die Sache nicht länger ertragen, auch ohne Verletzung meines Gewissens in solcher Zwietracht nicht weiter verharren wollte. Deshalb hielt ich bei meinem Abt und Convent ernstlich und mit höchstem Fleiß um einen gnädigen gutwilligen Urlaub an, ich wollte mich ein Jahr oder zwei ohne Kosten des Gotteshauses auf einer Schule oder anderswo erhalten, ob vielleicht unterdeß durch göttliches Einsehen die Ursache unserer Zwietracht zu friedlichem Ende käme, so daß wir in evangelischer Lehre vereinigt mit freundlicher, ganz brüderlicher Liebe wieder zusammenkämen.

Als mir aber auch dies von ihnen abgeschlagen wurde, bin ich wohlbedacht, nachdem ich vorher Rath gehalten hatte mit weisen, gelehrten, hochverständigen und gottesfürchtigen Herren und Freunden, selbst aus dem Kloster gewichen.« – Soweit Ambrosius Blaurer.

Während Bruder Ambrosius aus dem Fenster seiner Klosterzelle noch sorgenvoll über die Fichten des Schwarzwaldes in das Freie sah, ritt ein Anderer aus dem Thore einer Fürstenburg am Thüringer Waldgebirge. Hinter ihm lag die finstere Drachenschlucht, vor ihm der lange Rücken des zauberhaften Hörselberges, worin eine Teufelin saß; zu ihr hatte einst der Papst, der schlechte Sündenvergeber, den reuigen Tannhäuser zurückgetrieben. Aber der dürre Stab, den der Papst damals in den Boden gesteckt, war grün geworden über Nacht. Gott selbst hatte den Papst widerlegt. Der arme, reuige, Mensch mit kindlichem Glauben bedarf den römischen Bischof nicht mehr, um Erbarmen und Gnade bei seinem himmlischen Vater zu finden. Der schlechte Papst aber soll hinabfahren in die Schlucht des alten Drachen.

Das Äußere des Mannes, der die Wartburg hinabritt gen Wittenberg, soll jetzt ein junger Student schildern, der mit einem Freunde aus der Schweiz nach Sachsen zog. Sein Bericht ist einer der bekanntesten aus jener Zeit, dennoch durfte er hier nicht fehlen. Er ist uns erhalten in: Johannes Keßler's Sabbata, Chronik der Jahre 1523–1539, herausgeg. von E. Götzinger.

Johannes Keßler, um 1502 von armen Bürgersleuten zu St. Gallen geboren, besuchte die dortige Klosterschule, studirte Theologie in Basel und zog im ersten Frühjahr 1522 mit einem Genossen nach Wittenberg, dort unter den Reformatoren weiter zu lernen. Im Winter 1523 kehrte er in seine Vaterstadt zurück, und da die neue Lehre dort noch keine Stätte hatte und er sehr arm war, entschloß auch er sich, ein Handwerk zu erlernen. Er wurde Sattler. Bald sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, er lehrte, predigte, arbeitete in seiner Werkstatt und schrieb Bücher, wurde endlich Schullehrer, Bibliothekar, Schulrath. Er war eine anspruchslose, sanfte, reine Natur, mit einem Herzen voll Liebe und milder Wärme; an den theologischen Streitigkeiten seiner Zeit nahm er keinen thätigen Antheil. Seine Erzählung beginnt:

»Da wir die heilige Schrift zu studiren gen Wittenberg reisten, sind wir nach Jena im Land Thüringen weiß Gott! in einem wüsten Gewitter gekommen und nach vielem Umfragen in der Stadt um eine Herberge, wo wir über Nacht blieben, haben wir keine erhaschen noch erfragen können; überall ward uns Herberge abgeschlagen. Denn es war Fastnacht Es war der Abend des 4. März 1522., wo man nicht viel Sorge für die Pilger und Fremdlinge trägt. Da haben wir uns aus der Stadt wieder herausgewandt, um weiter zu gehen, ob wir ein Dorf erreichten, wo man uns doch beherbergen wollte. Indem begegnete uns unter dem Thor ein ehrbarer Mann, sprach uns freundlich an und fragte, wo wir doch so spät hinwollten, da wir in keiner Nähe weder Haus noch Hof, wo man uns behielte, vor finsterer Nacht erreichen würden. Zudem sei es ein Weg leicht zu fehlen und sich zu verirren; deshalb wolle er uns rathen allhier zu bleiben.

Wir antworteten: »Lieber Vater, wir sind bei allen Wirthshäusern gewesen, an die man uns hin und her gewiesen hat, allenthalben aber hat man uns abgewiesen und Herberge versagt, müssen also aus Noth fürbaß ziehen.« Da sprach er, ob wir auch im Wirthshaus zum schwarzen Bär gefragt hätten? Da sprachen wir: »Es ist uns nie vorgekommen; Lieber, sagt, wo finden wir dies?« Da zeigte er's uns an, ein wenig vor der Stadt. Und als wir den schwarzen Bär sahen, siehe, wie uns vorher alle Wirthe Herberge abgeschlagen hatten, so kam hier der Wirth unter die Thür, empfing uns und erbot sich selbst gutwillig uns zu beherbergen und führte uns in die Stube.

Dort fanden wir einen Mann allein am Tische sitzen und vor ihm lag ein Büchel; er grüßte uns freundlich, hieß uns näher kommen und zu sich an den Tisch setzen. Denn unsre Schuhe waren – hier mit Verlaub zu schreiben – so voll Koth und Schmutz, daß wir aus Scham über die Kothflecken nicht fröhlich in die Stube eintreten konnten, und drückten uns heimlich bei der Thür auf ein Bänkli nieder. Da bot er uns zu trinken, was wir ihm nicht abschlagen konnten. Als wir so seine Freundlichkeit und Herzlichkeit vernahmen, setzten wir uns zu ihm, wie er geheißen, an seinen Tisch, ließen ein Maß Wein auftragen, damit wir der Ehre wegen wiederum auch ihm zu trinken böten. Wir vermeinten aber nicht anders, als es wäre ein Reiter, der nach Landsgewohnheit da saß, mit einem rothen Lederkäppel, in Hosen und Wamms, ohne Rüstung, ein Schwert an der Seite, die rechte Hand auf des Schwertes Knopf, mit der andern das Heft umfassend. (Seine Augen waren schwarz und tief, blitzend und funkelnd wie ein Stern, so daß sie nicht wohl mochten angesehen werden Das Eingeklammerte steht im Original einige Seiten später, bei einer anderen Beschreibung des Reiters..

Bald fing er an zu fragen, von wannen wir gebürtig wären. Doch gab er sich selbst Antwort: »Ihr seid Schweizer. Woher seid ihr aus dem Schweizerland?« Wir antworteten: »Von St. Gallen.« – Da sprach er: »Wollt ihr von hier, wie ich höre, nach Wittenberg, so findet ihr dort gute Landsleute, nämlich Doktor Hieronymus Schurf und seinen Bruder Doktor Augustin.«

Wir sagten: »Wir haben Briefe an sie.« Da fragten wir ihn wieder: »Mein Herr, wißt ihr uns nicht zu bescheiden, ob Martinus Luther jetzt zu Wittenberg oder an welchem Ort er sonst sei!«

Antwortete er: »Ich habe gewisse Kundschaft, daß der Luther jetzt gerade nicht zu Wittenberg ist; er wird aber bald dahin kommen. Philippus Melanchthon aber ist dort, er lehrt die griechische Sprache, so auch Andere die hebräische lehren. In Treue will ich euch rathen, beide zu studiren; denn sie sind vorher nothwendig, um die heilige Schrift zu verstehen.« Sprachen wir: »Gott sei gelobt! Denn so Gott unser Leben fristet, wollen wir nicht ablassen, bis wir den Mann sehen und hören; denn seinetwegen haben wir diese Fahrt unternommen, da wir vernahmen, daß er das Priesterthum sammt der Messe als einen ungegründeten Gottesdienst umstoßen will. Dieweil wir von Jugend auf von unsern Eltern dazu gezogen und bestimmt sind, Priester zu werden, wollen wir gern hören, was er uns für einen Unterricht geben wird und mit welchem Fug er solchen Vorsatz zu Wege bringen will.«

Nach solchen Worten fragte er: »Wo habt ihr bis jetzt studirt?« – Antwort: »Zu Basel.« – Da sagte er: »Wie steht es zu Basel? ist Erasmus Roterodamus noch daselbst? was thut er?«

»Mein Herr,« sprachen wir, »wir wissen nicht anders, als daß es wohl steht; so ist auch Erasmus da, was er aber treibe, ist jedermann unbekannt und verborgen, da er sich gar still und heimlich verhält.«

Diese Reden kamen uns gar fremd an dem Reiter vor, daß er von den beiden Schurf, von Philippo und Erasmo, desgleichen von der Erforderniß beider, der griechischen und hebräischen Zunge, zu reden wußte. Zudem sprach er dazwischen etliche lateinische Worte, so daß uns bedünken wollte, er sei eine andere Person als ein gemeiner Reiter.

»Lieber,« fragte er uns, »was hält man im Schweizer Land von dem Luther?«

»Mein Herr, es sind, wie allenthalben, mancherlei Meinungen. Manche können ihn nicht genugsam erheben und Gott danken, daß er seine Wahrheit durch ihn geoffenbart und die Irrthümer zu erkennen gegeben hat, manche aber verdammen ihn als einen unleidlichen Ketzer und vor Andern die Geistlichen.«

Da sprach er: »Ich denke mir's wohl, es sind die Pfaffen.«

Unter solchem Gespräch ward er uns gar heimlich, so daß mein Gesell das Büchel, das vor ihm lag, aufhob und sperrte es auf. Es war ein hebräischer Psalter. Da legte er es schnell wieder hin, und der Reiter nahm es zu sich. Daraus kam uns noch mehr Zweifel, wer er sei. Und mein Gesell sprach: »Ich wollte einen Finger von der Hand hergeben, daß ich diese Sprache verstünde.« Antwortete er: »Ihr werdet sie wohl begreifen, wenn ihr anders Fleiß anwendet; auch ich begehre sie weiter zu erlernen und übe mich täglich darin.«

Unterdeß ging der Tag ganz hinunter und es wurde sehr dunkel, und der Wirth kam an den Tisch. Als er unser hoch Verlangen und Begierde nach dem M. Luther vernommen, sprach er: »Liebe Gesellen, wäret ihr vor zwei Tagen hier gewesen, so wär' es euch gelungen; denn hier an dem Tisch hat er gesessen und« – er zeigte mit dem Finger – »an der Stelle.« Das verdroß uns sehr und zürnten, daß wir uns versäumt hatten, ließen den Zorn an dem kothigen und schlechten Weg aus, der uns verhindert hatte. Doch sprachen wir: »Nun freuet uns doch, daß wir in dem Haus und an dem Tische sitzen, wo er saß.« Darüber mußte der Wirth lachen und ging damit zur Thür hinaus.

Nach einer kleinen Weil ruft mich der Wirth vor die Stubenthür hinaus, ich soll zu ihm kommen. Ich erschrak und bedachte, was ich Unschickliches gethan, oder was mir ohne meine Schuld verargt würde.

Da sprach der Wirth zu mir: »Dieweil ich erkenne, daß ihr den Luther in Treue zu hören und zu sehen begehrt: – der ist's der bei euch sitzet.«

Diese Worte nahm ich für Spott und sprach: »Ja, Herr Wirth, ihr wollt mich gern foppen und meine Begier durch des Luther's Trugbild ersättigen.« Er antwortete: »Er ist es gewißlich. Doch thue nicht, als ob du ihn dafür haltest und erkennst.« Ich ließ dem Wirth Recht, ich konnte es aber nicht glauben. Ich ging wieder in die Stube, setzte mich wieder zu dem Tisch, hätte es auch gern meinem Gesellen gesagt, was mir der Wirth eröffnet hatte. Endlich wandt' ich mich zu ihm und raunte heimlich: »Der Wirth hat mir gesagt, der sei der Luther.« Er wollt' es auch, wie ich, nicht gleich glauben und sprach: »Er hat vielleicht gesagt, es sei der Hutten, und du hast ihn nicht recht verstanden.« – Weil mich nun die Reiterkleidung und Geberde mehr an den Hutten, denn an den Luther, als einen Mönch, gemahnten, ließ ich mich bereden, er hätte gesprochen: »es ist der Hutten,« da die Anfänge beider Namen schier zusammenklingen. Was ich deshalb ferner redete, geschah so, als ob ich mit Herrn Huldrich ab Hutten, Ritter, redete.

Während alle dem kamen zwei von den Kaufleuten, die auch allda über Nacht bleiben wollten, und nachdem sie sich entkleidet und entspornt, legte einer neben sich ein uneingebundenes Buch. Da fragte Martinus, was das für ein Buch wäre; er sprach: »Es ist Doktor Luther's Auslegung etlicher Evangelien und Episteln, erst neu gedruckt und ausgegangen; habt ihr die nie gesehen?« Sprach Martinus: »Sie werden mir auch bald zukommen.« Da sprach der Wirth: »Nun verfügt euch zum Tisch, wir wollen essen;« wir aber sprachen und baten den Wirth, er möchte mit uns Nachsicht haben und uns etwas Besonderes geben. Da sprach der Wirth: »Liebe Gesellen, setzt euch zu den Herren an den Tisch, ich will euch geziemend halten.« Da das Martinus hörte, sprach er: »Kommt herzu, ich will die Zehrung mit dem Wirth schon abmachen.«

Unter dem Essen sprach Martinus viel gottselige, freundliche Reden, daß die Kaufleute und wir vor ihm verstummten, mehr auf seine Worte, als auf alle Speisen achteten. Unter diesen beklagte er sich mit einem Seufzer, wie gerade jetzt die Fürsten und Herren auf dem Reichstag zu Nürnberg wegen Gottes Wort, diesen schwebenden Händeln und der Beschwerung deutscher Nation versammelt wären, aber zu nichts mehr geneigt wären, als die kurze Zeit mit kostbarem Turnier, Schlittenfahrt, Unzucht, Hoffart und Hurerei zu verbringen, da doch Gottesfurcht und ernstliche Bitte zu Gott besser dazu helfen würde. »Aber das sind unsere christlichen Fürsten.« Weiter sagte er, er sei der Hoffnung, daß die evangelische Wahrheit mehr Frucht bei unsern Kindern und Nachkommen bringen werde, die nicht von dem päpstlichen Irrthum vergiftet, sondern jetzt auf lautere Wahrheit und Gottes Wort gepflanzt werden, als an den Eltern, in welchen die Irrthümer so eingewurzelt wären, daß sie nicht leicht ausgerottet werden könnten.

Darnach sagten die Kaufleute auch ihre gute Meinung, und sprach der ältere: »Ich bin ein einfältiger, schlichter Laie, versteh' mich auf die Händel nicht besonders, das sprech' ich aber: wie mir die Sach' erscheint, muß der Luther entweder ein Engel vom Himmel oder ein Teufel aus der Hölle sein. Ich habe Lust, noch zehn Gulden ihm zu Liebe aufzuwenden, damit ich ihm beichten kann, denn ich glaube, er würde und könnte mein Gewissen wohl unterrichten.« Indem kam der Wirth neben uns und sprach heimlich: »Habt nicht Sorge um die Zehrung, Martinus hat das Nachtmahl für euch berichtigt.« Das freute uns sehr, nicht wegen des Geldes und Genusses, sondern daß uns dieser Mann gastfrei gehalten hatte. Nach dem Nachtmahl stunden die Kaufmänner auf, gingen in den Stall, die Rosse zu versehen. Indeß blieb Martinus allein bei uns in der Stube, da dankten wir ihm für seine Verehrung und Spende und ließen uns dabei merken, daß wir ihn für Huldrich ab Hutten hielten. Er aber sprach: »Ich bin es nicht.«

Dazu kam der Wirth, und Martinus sprach: »Ich bin diese Nacht zu einem Edelmann geworden, denn diese Schweizer halten mich für Huldrichen ab Hutten.« Sprach der Wirth: »Ihr seid es nicht, aber Martinus Luther.« Da lächelte er mit solchem Scherz: »Die halten mich für den Hutten, ihr für den Luther, bald werde ich wohl gar Markolfus Komische Volksfigur des 15. und 16. Jahrhunderts, wie jetzt noch Till Eulenspiegel. werden.« Und nach solchem Gespräch nahm er ein hoch Bierglas und sprach nach des Landes Brauch: »Schweizer, trinken wir noch einen freundlichen Trunk zum Segen!« – Und wie ich das Glas von ihm empfangen wollte, wechselte er das Glas, bot dafür ein Glas mit Wein und sprach: »Das Bier ist euch unheimisch und ungewohnt, trinket den Wein.« Indem stand er auf, warf den Waffenrock auf seine Achsel und nahm Abschied. Er bot uns seine Hand und sprach: »So ihr nach Wittenberg kommt, grüßet mir den Dr. Hieronymus Schurf.« Sprachen wir: »Wir wollen das gerne thun, doch wie sollen wir euch nennen, daß er den Gruß von euch verstehe?« Sprach er: »Saget nichts weiter als: der kommen wird, läßt euch grüßen, – so versteht er die Worte sogleich.« Also schied er von uns und ging zu seiner Ruhe.

Darnach kamen die Kaufmänner wieder in die Stube und hießen den Wirth ihnen noch einen Trunk auftragen, während welchem sie viel Unterredungen hielten des Gastes halber, der bei ihnen gesessen hätte, wer er doch wäre. Aber der Wirth ließ sich merken, er hielte ihn für den Luther, und sie, die Kaufleute, ließen sich bald bereden und bedauerten und kümmerten sich, daß sie so ungeschickt von ihm geredet hatten, und sprachen, sie wollten am Morgen um so früher aufstehn, ehe er wegritte, und wollten ihn bitten, er möge nicht auf sie zürnen noch im Arg daran denken, da sie seine Person nicht erkannt hätten. Dies ist geschehen und sie haben ihn am Morgen im Stall gefunden. Aber Martinus hat geantwortet: »Ihr habt zur Nacht beim Nachtmahl gesagt, ihr wollt zehn Gulden wegen des Luther's ausgeben, um ihm zu beichten. Wenn ihr ihm einmal beichtet, werdet ihr wohl sehen und erfahren, ob ich der Martinus Luther sei.« Weiter hat er sich nicht zu erkennen gegeben, ist darauf bald aufgesessen und auf Wittenberg zu geritten.

An demselben Tage sind wir auf Naumburg zu gezogen und wie wir in ein Dorf kommen – es liegt unten an einem Berge, ich vermeine, der Berg heißt Orlamünde und das Dorf Naßhausen – dadurch fließt ein Wasser, das war vom übergroßen Regen ausgetreten und hatte die Brücke zum Theil hinweggeführt, daß keiner mit einem Pferd hinüberreiten konnte. In demselbigen Dorf sind wir eingekehrt und haben durch Zufall die zween Kaufmänner in der Herberge gefunden, welche uns daselbst um des Luther's willen auch bei sich gastfrei hielten.

Am Samstag darauf, den Tag vor dem ersten Sonntag in der Fasten sind wir bei dem Dr. Hieronymus Schurf eingekehrt, um unsere Briefe zu überantworten. Wie man uns in die Stube beruft, siehe, so finden wir den Reiter Martinus, ebenso wie zu Jena. Und bei ihm ist Philippus Melanchthon, Justus Jodocus Jonas, Nicolaus Amsdorf, Dr. Augustin Schurf, sie erzählen ihm, was sich während seiner Abwesenheit in Wittenberg ereignet hat. Er grüßt uns und lacht, zeigt mit dem Finger und spricht: »Dies ist der Philipp Melanchthon, von dem ich euch gesagt hab'.«

In der treuherzigen Darstellung Keßler's ist nichts merkwürdiger als die heitere Ruhe des gewaltigen Mannes, der unter Acht und Bann durch Thüringen ritt, im Herzen leidenschaftliche Sorge um die größte Gefahr, welche seiner Lehre drohte, um den Fanatismus seiner eigenen Parteigenossen.


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