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1.
Beim Beginn des sechzehnten Jahrhunderts.

Der Zeitraum von 1500 bis 1600 umfaßt die größte geistige Bewegung, welche je eine Nation in den innersten Tiefen aufgewühlt hat. Für immer hat nach menschlichem Ermessen dies Jahrhundert dem Geist und Gemüth der Deutschen sein Gepräge aufgedrückt. Eine einzige Zeit, wo eine große Nation emsig und angstvoll ihren Gott suchte, Frieden für die beängstigte Seele, sittlichen und gemüthlichen Inhalt für ein Leben, das ihr reizlos, trübe, arm und verdorben erschien. – Sehnsucht nach Erkenntniß der Wahrheit und heißes Ringen nach der ewigen Liebe, das sollte auf lange die herrschende Leidenschaft der Deutschen werden.

Solche Anstrengung, das gesammte Leben neu zu gestalten durch ein tiefes Erfassen des Ewigen, hat auch die politische Entwickelung der Deutschen in einen Lauf gebracht, welcher dem anderer großer Culturvölker scharf entgegengesetzt ist. Denn dieser leidenschaftliche Kampf hat die volle Kraft der Nation in Anspruch genommen bis zur äußersten Erschöpfung, er hat die politische Concentration Deutschlands um Jahrhunderte aufgehalten, die furchtbarsten innern Kriege, eine totenähnliche Ohnmacht sind ihm gefolgt; er hat einen tiefen Riß gemacht zwischen Deutschen und Deutschen, zwischen der neuen Zeit und dem Mittelalter. Er hat verursacht, daß ein großer Theil des deutschen Volkes, welches seine Geschichte in ununterbrochener Zeitfolge bis auf die Jahre Ariovist's und Armin's zurückführen kann, jetzt die Hohenstaufenzeit, ja das Reichsregiment des ersten Maximilian betrachten darf wie eine dunkle Sage, denn seine Staatenbildung, seine Rechte, seine Gemeindegesetze sind kaum so alt als die der nordamerikanischen Freistaaten. Die älteste unter den stolzen Nationen, welche auf den Trümmern des Römerreichs entstanden, ist jetzt in vieler Beziehung das jüngste Mitglied der Staatenfamilie Europa's. Aber wie verhängnißvoll auch jener Streit des sechzehnten Jahrhunderts für die politische Gestaltung des Vaterlandes geworden ist, dennoch soll jeder Deutsche mit Ehrfurcht darauf zurücksehen, denn ihm verdanken wir alles, was jetzt unsern Stolz und unsere Hoffnung ausmacht, unsere Opferfähigkeit, Sittlichkeit, die Freiheit des deutschen Geistes, einen unwiderstehlichen Trieb nach Wahrheit, die unerreichte Methode unserer Wissenschaft, unsere Kunst, zuletzt auch die große Verpflichtung, welche die Ahnen auf unsere Seele gelegt haben, die Pflicht, das zu vollenden, was ihnen mißlang.

Wer in die Seele der Deutschen zu blicken versucht, zu jener Zeit, wo das sechzehnte Jahrhundert emporstieg, der wird in den untern Schichten des Volkes eine geheimnißvolle Unruhe erkennen, etwa wie bei den Wandervögeln, wenn der Frühling herannaht. Auch wurde dieser unbestimmte Drang häufig zur uralten deutschen Wanderlust. Die Zahl der Landläufer, junger und alter, der Kleinkrämer, Pilger, Bettler, fahrenden Schüler war sehr groß, durch alle deutschen Stämme bis in die Slavenländer des Ostens, nach Frankreich und vor allem nach Italien ging der abenteuerliche Zug. Vieles wirkte zusammen, die Armen unruhig, aufsässig, nach Neuem begierig zu machen.

Wunderbare Nachrichten klangen aus der Ferne. Hinten im fernen Mittelmeer auf dem Wege nach Jerusalem, den deutsche Pilger noch alljährlich suchten, hatte sich ein neuer Stamm, ein neuer Glaube eingedrängt, unheimlich und grauenhaft. Jeder Pilger, der aus dem Osten kam, berichtete in den Herbergen von der wilden Streitkraft des Türken, von seiner Vielweiberei, von Christenkindern, die er raubte und sich zu Sklaven erzog, von den Gefahren der christlichen Inseln und Seestädte. Und wieder auf der andern Seite, im Westen, tauchten der Phantasie aus dem Grauen des unendlichen Meeres neue Goldländer herauf, Landschaften wie das Paradies, braune Völker, die von Gott nichts wußten, eine unendliche Beute und Herrschaft für die gläubigen Christen. Dazu kamen die Botschaften aus Italien selbst, wie unzufrieden die Südländer mit dem Papste seien, wie arg die Simonie, wie lasterhaft die Fürsten der Kirche.

Und die von solchen Dingen zu erzählen wußten, in Stadt und Land, waren nicht mehr furchtsame Handelsleute, arme Pilger, sondern sonnenverbrannte feste Gesellen mit kühnem Antlitz und scharfer Wehr, Nachbarkinder und sichere Leute, die als Söldner des Kaisers nach Welschland gezogen waren, sich dort mit Italienern, Spaniern und Schweizern gerauft hatten und jetzt mit Beute zurückkehrten, Goldstücke im Seckel und goldene Ritterketten am Halse. Mit Ehrfurcht starrte die Jugend des Dorfes auf den Landsknecht, der seine Hellebarde vor der Schenke in den Boden stieß und die Herberge für sich und seine Gäste in Beschlag nahm wie ein Edelmann oder Fürst; denn er, der Bauernsohn, hatte die welschen Ritter unter seine Füße getreten; er hatte tief in die Geldkasse eines italienischen Fürsten gegriffen, er hatte für seine deutschen Hiebe vom Papste Ablaß vollauf bekommen, ja, wie man raunte, einen geheimen Segen, der ihn unverwundbar machte gegen Hieb und Stich. Eine Ahnung der eigenen Kraft und Tüchtigkeit zog nach langer Zeit zum ersten Mal durch die Seele der Gemeinen. Auch sie waren Männer, in ihrer Hütte hing der Knebelspieß und an ihrem Gürtel das lange Messer. Und wie war ihre Lage in der Heimat! Ihre Hände und Gespanne forderte der adlige Junker für seinen Acker, ihm gehörte Holz und Wild im Walde, der Fisch im Wasser; selbst wenn der Bauer starb, nahm jener dem Erben das beste Haupt der Heerde oder Geld dafür. Auch die Bauern hatte Christus durch seinen Tod erlöst und frei gemacht, und jetzt waren sie in der Mehrzahl eigene Leute des Gutsherrn. In jeder Fehde, die dem Junker auflag, waren sie die Opfer, dann fielen fremde Reisige in ihr Vieh, schossen gegen sie selbst den Bolzen und warfen sie in ein finsteres Loch, bis sie Lösegeld zahlten. Und wieder nach ihren Garben und nach jedem versteckten Gulden spähte die Kirche. Unredlich, listig und üppig wie die Welschen, war auch der Dechant, der mit den Jagdfalken, mit Dirnen und Reisigen durch ihr Dorf ritt; ihr Pfaffe, den zu wählen und zu entlassen sie kein Recht hatten, der ihre Weiber verführte oder in ärgerlichem Haushalt mit Wirthin und Kindern lebte; der Bettelmönch, der sich in ihre Küche einnistete und für sein Kloster das Fleisch im Rauchfang, die Eier im Korbe verlangte. Eine dumpfe Gährung kam in die Landgemeinden des südlichen Deutschlands, schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts begannen lokale Aufstände, Vorboten des Bauernkrieges.

Aber noch größere Einwirkung übte die neue Kunst, durch welche auch der Aermste klug und gelehrt werden konnte. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war am Rheinstrom erfunden worden, geschriebene Worte ins Tausendfache zu vervielfältigen. Schon seit mehren hundert Jahren hatte man mit Holztafeln Muster gedruckt, manchmal einzelne Seiten Schrift darin ausgeschnitten, endlich ersann ein Bürger, daß man mit gegossenen Lettern ganze Bücher drucken könne. Es war für die nächste Folge wichtig, daß die neue Erfindung sich unabhängig vom geistlichen Stand, ja in Opposition gegen die mönchischen Abschreiber ausbildete, als eine Erfindung des Bürgerstandes. Denn sie gelangte dadurch sogleich zu der gesunden industriellen Stellung, welche Arbeit und Handel des Handwerks zu geben vermochte, mit wunderbarer Schnelligkeit wurde sie durch die wandernden Gesellen in viele deutsche Städte und in das Ausland getragen. Ihr zur Seite der neue Bilderdruck von Holztafeln. Neben den großen Druckwerken des fünfzehnten Jahrhunderts, deren Technik wir noch jetzt bewundern, verbreiteten sich bald kleine, billige in den Häusern der Stadtleute, ja in den Hütten der Bauern: Kalendertafeln, Arzneimittel gegen Krankheiten, Organisationen frommer Brüderschaften, moralische und Gebetbücher, dazwischen schnell kleine Staatsschriften und die komische Litteratur: Fastnachtsscherze, Narrenstreiche, volksthümliche Gedichte. Der Trieb lesen zu lernen wurde mächtig, auch der Landmann erfuhr mit einer Genauigkeit, die der zufällige mündliche Bericht selten gehabt hatte, von einer geheimnißvollen Weissagung oder Geistererscheinung, einem Fastnachtsspiel zu Nürnberg; gläubig buchstabirte er neue Gebete und Verheißungen seiner Kirche und verwundert nahm er in sich auf, so deutlich, als hätte er's selbst gesehen, daß sich die Baiernherzöge der Gewalt des Königs Maximilian unterworfen hatten. Dem Volk war die Pforte geöffnet für geistigen Erwerb, und mit Eifer suchte die Masse ihr Heil in dieser Richtung.

Aber die alte Wissenschaft der Kirche, welche sonst den lernbegierigen Sohn des Volkes im Chor und Kreuzgang ausgenommen hatte, war in tiefem Verfall. Noch saß die Gelehrsamkeit des Mittelalters anspruchsvoll in den Lehrstühlen der deutschen Universitäten, aber sie war zu geistlosen Formeln und scholastischer Spitzfindigkeit verknöchert. Die Kunde alter Sprachen war gering, Hebräisch und Griechisch fast unbekannt; in barbarischem Mönchslatein wurde geschrieben und gelehrt, die alten Quellen ernster Wissenschaft, Bibel und Kirchenväter, römische Historiker, Institutionen und Pandecten, die griechischen Texte des Aristoteles und der Schriftsteller über Natur und Heilkunde lagen in bestäubten Handschriften, nur die mittelalterlichen Erklärer und Systematiker wurden immer wieder erläutert, auswendig gelernt und bekämpft. So in Deutschland. In Italien aber war seit länger als hundert Jahren aus dem Studium einiger römischen und griechischen Dichter, Historiker und Philosophen eine Bildung aufgegangen, welche Adel der Seele und Freiheit fern von den Pfaden der christlichen Kirche suchte. Die Freude über die Schönheit lateinischer Sprache und Poesie, Bewunderung der gewandten Dialektik des Cicero, Erstaunen über das mächtige Leben des römischen Volkes erhob die Besten jenseits der Alpen. Behend rankte ihre Poesie, Geschichtschreibung, Rechtskunde, Heilkunst an den antiken Stützen empor. Es schien dort, als sollte das alte römische Leben aus seinem Grabe wieder auferstehen, und ein zweihundertjähriger Kampf begann zwischen den Schatten des August und Virgil und dem Schatten des heiligen Petrus, der finster über der Siebenhügelstadt schwebte. Das geistliche Wesen, tyrannisch, beschränkt und sittenlos, wie es damals in Italien war, sank in tiefste Verachtung, die vornehmen Geistlichen selbst, arm an Zucht und Pflichtgefühl, wurden von dem Zauber der neuen Bildung ergriffen. Und die römische Kirche bot das seltsame Schauspiel, daß ihre höchsten Würdenträger den Glauben an den Gekreuzigten, dessen Stellvertreter auf Erden sie sein wollten, innerlich verlachten und die Gläubigkeit der Christen schamlos ausmünzten zur Befriedigung verruchter Sinnlichkeit oder ihres Familieninteresses.

Erst seit Erfindung des Bücherdrucks, während der Kriege, welche die Deutschen auf den Schlachtfeldern der Halbinsel ausfochten, kam die neue Humanistenbildung allmählich nach Deutschland. Aber sie fand hier ein anderes Volksthum. Der redliche Sinn und das einfache Gemüth der Deutschen verarbeitete sie nüchterner und doch inniger und so wie damals deutsche Art war, methodisch und zunftmäßig. Emsig wurde die lateinische Sprache, welche den Deutschen wie ein neuer Fund erschien, in lateinischen Schulen studirt und durch Lehrbücher verbreitet. Die angestrengte und lange Arbeit über der fremden Grammatik, welche in Deutschland nöthig war, diente den Geistern zur Zucht. Scharfsinn und Gedächtniß wurden kräftig angestrengt, die logische Seite der Sprache wirkte stärker als die phonische, die Größe und Weisheit des antiken Inhalts mehr als die Schönheit und Eleganz der Form; die Gymnastik des lernenden Geistes in Deutschland mußte angestrengter sein, dafür war der Gewinn dauerhafter, schon deshalb, weil jetzt die Herrschaft über zwei grundverschiedene Sprachen gewonnen wurde.

In kurzem war die deutsche Gelehrsamkeit der romanischen mehr als ebenbürtig. Für ihre vornehmsten Vertreter aber galten allgemein Johann Reuchlin, der die erste hebräische Grammatik schrieb, und Erasmus von Rotterdam, der durch den Zauber seiner Bildung der ganzen Humanistenschule Deutschlands, wenige ausgenommen, das Gepräge seines feinen ironischen Geistes aufgedrückt hat. Auch die deutschen Humanisten ergossen ihre Begeisterung in lateinischen Versen, auch bei ihnen traten Jupiter, Minerva und der Sonnenlenker Sol wunderlich an die Stelle des Christengottes, der Jungfrau Maria und des großen Lichtes der mosaischen Urkunde. Auch sie wurden zuweilen durch die Bekanntschaft mit alter Philosophie bis zu heimlicher Speculation über das Wesen der Gottheit geführt, auch sie standen sämmtlich in geharnischter Opposition gegen die Verderbnisse der römischen Kirche, aber ihre Opposition hatte einige Momente, welche sie von der italienischen unterschied. Sie wurde durch deutsche Gesinnung geadelt. Zwar galt vielen humanistischen Schullehrern die deutsche Sprache für eine barbarische, sie latinisirten ihre Namen und nahmen sich die Freiheit, in vertraulichen Briefen ihre Landsleute ungehobelt zu nennen; aber sie, die Vertreter römischer Wissenschaft, waren die eifrigsten Hasser italienischer List und Unsittlichkeit und des despotischen Hochmuthes, mit welchem der römische Priester auf ihr deutsches Volksthum blickte. Und sie selbst hörten nicht auf gute Christen zu sein. Während sie die einfältigen Pfaffen verhöhnten oder schalten, suchten sie sorgfältig aus dem Alterthum Beispiele der Frömmigkeit, gottseliger Gesinnung und männlicher Tugend. Und neben den unaufhörlichen Angriffen auf die Laster der italienischen Geistlichkeit wagten sie auch zögernd, vorsichtig und gewissenhaft eine historische Kritik der Quellen, aus welche sich die Ansprüche des Papstes stützten. Ein herzliches Freundschaftsband schloß sie zu einer großen Gemeinde. Bösartig verfolgt von den Vertretern der alten Scholastik und ihren Verbündeten, den »Romanisten und Courtisanen«, gewannen sie auch Bundesgenossen überall, in den Bürgerhäusern der Reichsstädte, an den Fürstenhöfen, in der Nähe des Kaisers, sogar in Domcapiteln und auf Bischofstühlen.

Aber freilich fand die Bildung der Humanisten in dem deutschen Leben selbst noch wenig Bürgschaften der Dauer. Zu fremd war die Grundlage ihrer Cultur den realen Bedürfnissen und dem Gemüthsleben des Volkes, zu willkürlich und unklar die Ideale, welche sie für ihr Leben aus der antiken Welt geholt hatten, nicht günstig für die Entwickelung ihres Charakters war die immer noch dilettirende und phantastische Beschäftigung mit einer versunkenen Welt, deren realen Inhalt sie zu wenig kannten. Wie die Zeit kam, wo die ganze Nation für das, was ihr das Höchste war, in zwei feindliche Heerlager zerrissen wurde, wie es für die Gebildeten nothwendig war, in solchem Kampfe Partei zu nehmen und das eigene Wollen in bestimmten Forderungen zu concentriren, wie die Glut männlicher Überzeugung wichtiger wurde als das souveräne Lächeln von freiem Standpunkt, da gelang der Mehrzahl nicht, sich rein und sicher zu erhalten. Einige zwar wurden Vorkämpfer in dem Glaubensstreit, andere aber, durch Unholdes und Beschränktes einer neuen Lehre verletzt, fielen zur alten Kirche zurück, die sie früher so strenge verurtheilt hatten. Dem enthusiastischen und hochsinnigen Talent dieser Schule aber, Ulrich von Hutten, der am leidenschaftlichsten deutsch war und sich am leidenschaftlichsten an die Lehre Luther's anschloß, wurde seine Hingebung an die populäre Richtung zum tragischen Verhängniß.

Im Anfang des Jahrhunderts aber führten die Humanisten fast allein den Kampf gegen den feindseligen Druck, unter welchem die Nation stöhnte. Die Wetterwolken, welche sie in ihrer luftigen Region gegen die Feinde deutscher Selbständigkeit sammelten, sanken in zahllosen Tropfen befruchtend auf das Volk hernieder; selbst was sie lateinisch schrieben, ging der Menge nicht ganz verloren, die behaglichen Reimer der Städte wurden nicht müde, Witzworte und derbe Angriffe der Humanisten in der Form von Lehrsprüchen, Schwänken, Spielen auszubreiten.

In den lateinischen Schulen konnte man die geheimnißvollen Kenntnisse erwerben, welche den Besitzer aus der gedrückten, armen und freudeleeren Masse des Volkes hervorhoben. So wurde die Begierde gelehrt zu werden in der Seele des Volkes mächtig. Kinder und halbwüchsige Burschen liefen aus den entlegensten Thälern hinein in die unbekannte Welt, die Wissenschaft zu suchen. Wo eine lateinische Schule war, bei einem Stift oder im reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich die Kinder des Volkes, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, verwildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte gaben solchen Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager in besondern Häusern, aber ihren Lebensunterhalt mußten diese zum größten Theil erbetteln.

Aus den Tausenden, welche sich zur lateinischen Schule drängten, gewann die steigende Bewegung gegen die Schäden der Kirche die eifrigsten Novizen. Mit unermüdlicher Rührigkeit trugen diese Kinder des Volkes Nachrichten und neue Ideen von Haus zu Haus. Viele von ihnen gelangten nicht bis auf die Universität, durch Privatunterricht, als Correctoren bei Druckereien suchten sie sich zu erhalten. Die Mehrzahl der Stadt- und später der Dorfschulen wurden mit solchen besetzt, welche den Virgil lasen und die bittere Laune des Klagebriefes de miseria plebanorum verstanden. So hoch stieg ihre Zahl, daß ihnen bald die Reformatoren den dringenden Rath gaben, noch spät ein Handwerk zu erlernen, um sich redlich zu ernähren. Und nicht wenige Zunftgenossen der deutschen Städte waren im Stande, die Bullen des Papstes mit Glossen zu versehen und ihren Mitbürgern zu übersetzen, auch subtile theologische Fragen wurden in den Trinkstuben mit Leidenschaft erörtert. Ungeheuer war der Einfluß, den solche Männer auf die kleinen Kreise des Volkes ausübten. Wenige Jahre darauf verwuchsen sie mit armen Studenten der Gottesgelahrtheit, welche sich als Prädicanten über alle Länder deutscher Zunge verbreiteten, zu einer großen Genossenschaft, und diese Demokraten der neuen Lehre waren es, welche in Volksschauspielen den Papst als Antichrist vorstellten, in den Heerhaufen der empörten Bauern Reden hielten, in gedruckten Reden, Volksliedern und groben Dialogen die alte Kirche befehdeten.

So bereiteten auch sie vor, was kommen sollte. Aber wie gut immerhin die Humanisten in ihrer Höhe bewiesen, daß die Kirche manche Stellen der heiligen Schrift falsch deute, und wie launig sie das Werkzeug der Ketzerrichter, den getauften Juden Pfefferkorn mit seinem hübschen Weiblein verspotteten, wie eifrig auch die kleinen Schullehrer unten im Volk Gespräche des Erasmus von Fasten und Fleischessen, von zwei Sterbenden und das Buch über Kinderzucht umhertrugen: – nicht ihre neue Wissenschaft allein hat Reformation und geistige Freiheit der Deutschen lebendig gemacht, tiefer liegen die Quellen dieses mächtigen Stromes, aus dem Grunde des deutschen Gemüthes entspringen sie und durch geheimnißvollen Zug des Herzens werden sie an das Licht geführt, um zerstörend und befruchtend das Leben der Nation umzugestalten.


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